Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.
Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.
Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. In Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. Letztes Mal war Schröder an der Reihe. Weiter geht es mit Angela Merkel.
Platz 5: Angela Merkel (2005-2021)
Angela Merkel ist ein schwieriger Fall. Ihre lange Regierungszeit allein lässt erwarten, dass zentrale Weichenstellungen in sie fallen, aber wie bei Kohl ist eine lange Regierungszeit nicht mit großen Weichenstellungen gleichzusetzen. Vielmehr scheint es, als ob diese einer solchen eher im Wege stehen. Zudem gibt es einige Entscheidungen, die noch während der Amtszeit wieder aufgehoben wurden – man denke nur an die Krankenkassengebühr beim Arztbesuch.
Die Ära Merkel ist daher, sehr typisch für sie Kanzlerin, vielleicht vor allem dafür relevant, welche Entscheidungen nicht getroffen wurden. Denn wie jeder in der Politik weiß ist eine Nicht-Entscheidung auch immer eine Entscheidung mit Konsequenzen. Es gibt keine echte Neutralität. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf wollen wir uns nun der ersten Frau an der Spitze der Nation zuwenden.
Innenpolitik
Einige der zentralen innenpolitischen Weichenstellungen der Merkel-Ära fallen in den Bereich der Gesellschaftspolitik. Es gibt nur Weniges, das sich aus der Warte des Wahlkampfs 2005, in dem die CDU sich mit Friedrich Merz und Paul Kirchhof ein betont neoliberales Profil gab und damit kolossal gegen die Wand fuhr, absurder scheint als die folgende Expansion des Sozialstaats auf Druck der Unionsparteien. Obwohl in einer großen Koalition mit der SPD war es die Sozialdemokratie, die weitere Einschnitte in den Sozialstaat (Rente mit 67!) und die entsprechende Rhetorik („waschen und rasieren Sie sich, dann finden Sie einen Job“) in den Vordergrund stellte (was die SPD als Machtfaktor praktisch beseitigte und dauerhaften Absturz unter 25% der Stimmen zementierte), während ausgerechnet die Christdemokraten über die größte Ausweitung des Sozialstaats seit der Rentenreform 1972 präsidierten, als sie das Elterngeld verabschiedeten.
Die innere Logik dieser Reform war praktisch unausweichlich und ein Ausfluss des Dilemmas der CDU. In ihren marktfreundlichen Reformen, wie sie etwa in der Person Friedrich Merz‘ verkörpert wurden, steckte immanent der Abschied vom klassischen konservativen Familienmodell, da Einernährer-Haushalte schlichtweg materiell nicht mehr möglich waren. Die sinkende Geburtenzahl vor allem im Bereich der Familien, in denen Frauen ökonomisch wie persönlich attraktive Jobs hielten, musste vor allem Konservative besorgen. Das Elterngeld war logische Konsequenz dieses Dilemmas.
Ebenso logische Konsequenz war der konservative Aufstandsversuch seitens der CSU gegen die Entwicklung, die sie selbst mit angestoßen hatte. Die Lösung, noch mehr Geld in eine weitere Sozialleistung mit dubiosem Effekt zu pumpen – das Betreuungsgeld -, während die Kitas dem rasant steigenden Bedarf wegen ihrer Unterfinanzierung nicht hinterher kamen, ist geradezu prototypisch für die Ära Merkel.
Ebenfalls typisch für Merkels Regierungsstil ist die Einführung der Homo-Ehe 2017. Jahrzehntelang ein heftiges gesellschaftspolitisches Streitthema hatte sich die öffentliche Meinung in den 2010er Jahren rapide gewandelt; rund drei Viertel der Deutschen befürworteten die „Ehe für alle“. Um der SPD im Bundestagswahlkampf desselben Jahres nicht ein polarisierendes Thema zu geben, erklärte Merkel es kurzerhand zur Gewissensfrage und gab es zur Abstimmung frei, wohl wissend, dass das Gesetz angenommen werden würde.
Eine ähnliche Ausrichtung an einer sich ändernden Mehrheitsmeinung sehen wir beim Atomausstiegsausstieg und dem folgenden Atomausstiegsausstiegausstieg. So wie Rot-Grün mit großer Fanfare Kohls Rentenreform zurückdrehte, um den linken Parteiflügel zu befrieden, drehte Merkel zur Beruhigung des rechten Parteiflügels nach der Wahl 2009 den Atomausstieg zurück – nur um dann, ähnlich der Regierung Schröder mit der Rente, eine weitere 180°-Drehung hinzulegen und 2011 unter Eindruck der Katastrophe von Fukushima endgültig von der Atomkraft Abschied zu nehmen – nicht ohne die Energiewende Rot-Grüns torpediert und die Bundesrepublik auf Jahrzehnte auf die teuren, ineffizienten und schmutzigen Kohlekraftwerke als Zwischenlösung festgelegt zu haben.
Ebenfalls vor allem gesellschaftspolitisch relevant ist die Aussetzung der Wehrpflicht. Die Bundeswehr und mit ihr die Wehrpflicht waren unter dem Primat der „Friedensdividende“ seit der deutschen Einheit bis auf die Substanz abgewertet worden; die Verschiebung der deutschen Außenpolitik zu Interventionseinsätzen unter Rot-Grün, ein Trend, der unter Merkel unvermindert anhielt, machte die Wehrpflicht zunehmend überflüssig. Gerechtigkeit war angesichts Einziehungsraten von unter einem Drittel ohnehin längst nicht mehr gegeben. Es war daher nur folgerichtig, dass Verteidigungsminister Guttenberg 2011 die Wehrpflicht aussetzte und die Bundeswehr zu einer reinen Berufsarmee machte, ein tiefgreifender Strukturwandel, mit dem seine NachfolgerInnen heute noch kämpfen.
Angela Merkel gebührt grundsätzlich der Verdienst, die CDU modernisiert und von einer Partei des 20. Jahrhunderts in eine des 21. Jahrhunderts verwandelt zu haben. Wir besprachen bereits den Wandel des Familienbilds und das Abstreifen der Homophobie in der Partei; die Amtskirchen verloren zudem weiterhin an Einfluss – analog zum Rest der Gesellschaft. Vor allem um 2010-2012 herum versuchte die Partei zudem, ein entspannteres Verhältnis zum Islam zu gewinnen, das in Bundespräsident Christian Wulffs berühmten Statement „Der Islam gehört zu Deutschland“ kulminierte. Leider fand diese Öffnungspolitik keine Fortsetzung, als Krisen zunehmend Merkels Agenda zu bestimmen begannen.
Die erste innenpolitische Krise, die über das Land hereinbrach, war die Flüchtlingskrise 2015. Sie ist die wohl größte Hinterlassenschaft Merkels zur Veränderung der Republik. Rund anderthalb Millionen Menschen dürften zwischen 2015 und heute als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein; ein Teil von ihnen wird für immer bleiben. Bereits vor der Flüchtlingskrise lag der Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund vor dem der USA (!), seit der Flüchtlingskrise dürfte niemand mehr behaupten wollen, wir seien kein Einwanderungsland.
Die Bewältigung dieser Krise ist bislang schwer zu beurteilen. Sehr gute Leistungen muss man der Regierung beim Bereitstellen von Unterkünften, Versorgung und Deutschkursen bescheinigen; besonders letztere wurden in einem Mammutverfahren auf ein Vielfaches ihres ursprünglichen Umfangs aufgebläht und sorgten dafür, dass alle Flüchtlinge auf einen Kurs zum B-Niveau und dem Hauptschulabschluss gebracht wurden. Gleichwohl gibt es zahlreiche Probleme, die bis heute ihrer Lösung harren. Dieses Feld wird Historiker noch eine ganze Weile beschäftigen.
Unstrittig ist aber, dass die Flüchtlingskrise das deutsche Parteiensystem so tiefgreifend verändert hat wie zuvor Schröders Agenda2010. War der Sozialdemokrat mit seinem Reformwerk für die Etablierung einer linkspopulistischen, tendenziell systemkritischen Linkspartei verantwortlich, so erwies sich die Flüchtlingskrise als lebensrettende Infusion für die absinkende AfD, die sich als klar rechtspopulistische, schnell ins rechtsradiakale und zunehmend sogar rechtsextreme Spektrum abgleitende, systemfeindliche Partei etablierte, die erste ihrer Art seit 1945. Dafür ist mit Sicherheit nicht Merkel allein verantwortlich; eine extrem freundliche Presseumgebung und eine geradezu fahrlässige Normenverschiebung nach rechts gekoppelt mit der Selbstradikalisierung großer Teile des bürgerlichen Spektrums spielten mit eine entscheidende Rolle. Es ist aber klar, dass das ohne die Flüchtlingskrise nicht passiert wäre.
Die zweite große innenpolitische Krise Merkels ist die Coronakrise, in deren Anfangsstadien diese Artikelserie entsteht. Aktuell ist noch nicht absehbar, welche Langzeitfolgen – abgesehen von einem mit Sicherheit rapide steigenden Schuldenstand – die Bewältigung der Krise haben wird. An dieser Stelle soll daher auch nicht spekuliert werden. Wir werden in den kommenden Jahren mit Sicherheit noch darüber debattieren; dass die Krise Effekte haben wird, dürfte unbestritten sein.
Außenpolitik
In den Bereich der Außenpolitik fällt Merkels dritte große Krise (und die erste ihrer Kanzlerschaft), die Eurokrise. Als Folgewirkung der weltweiten Finanzkrise 2007-2009 (die wir in den nicht gegangenen Wegen näher untersuchen werden) gerieten die Staatsfinanzen zuerst Griechenlands, dann des Rests der despektierlich PIIGS-Staaten genannten Gruppe vorrangig, aber nicht exklusiv im Mittelmeerraum verorteter Staaten in eine nicht mehr zu haltende Schieflage.
Die Regierung Merkel reagierte darauf, indem sie versuchte, die Krise in Griechenland einzudämmen und ein Überschwappen auf die bedeutenderen Volkswirtschaften Italiens und Spaniens zu verhindern. Das Rezept dafür war radikale Austerität, die den betroffenen Staaten über die EU-Institutionen aufgezwungen wurde. Dies führte zu ungeliebten und schnell fallenden Regierungen von Technokraten in Italien und der rapiden Auflösung der alten christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien zugunsten jeweiliger populistischer Ausleger in Griechenland und Spanien; in Italien übernahmen nach dem Fall der Technokraten die bereits sattsam bekannten Rechtspopulisten unter Berlusconi die Macht.
Die Euro-Politik basierte auf einem Ansatz von Zuckerbrot und Peitsche: Würde die oktroyierte Austerität eingehalten, so flossen Stabilisierungskredite des neu geschaffenen ESM. Diese Politik spannte die CDU und FDP bis zum Zerreißen, Merkel verlor ihre eigene Mehrheit bei mehreren Abstimmungen und konnte die Rettungspakete nur dank der Stimmen der stets loyalen, eigentlich oppositionellen SPD verabschieden. In Folge konstituierte sich am rechten Rand der schwarz-gelben Parteien eine immer offenere Opposition, deren radikalste Elemente eine eigene, eurofeindliche Partei formten: die Alternative für Deutschland, die damals vor allem als nationalliberale Partei zu reüssieren versuchte, 2013 jedoch knapp scheiterte (dafür aber die FDP mit in den Abgrund riss). Die Eurokrise wurde nie wirklich gelöst, sondern durch die 2015 beginnende Flüchtlingskrise überdeckt und abgelöst.
Demgegenüber verblassen andere Elemente der Merkel’schen Außenpolitik. Die Verabschiedung des Lissabon-Vertrags 2009 stellte die Europäische Union auf ein neues, tragfähigeres Fundament, das sich seither unter Bedingungen einer Dauerkrise zu bewähren hat – mit bestenfalls gemischten Folgen. Das Lissabonner System ist aber mit Sicherheit tragfähiger als der gescheiterte Kompromiss von Nizza und trägt den neuen Realitäten seit der Wiedervereinigung Rechnung. Seine institutionelle Logik wurde schnell von allen Parteien anerkannt und hat seither eine eigene Dynamik entwickelt. Gleichwohl sind Merkel im Speziellen und Deutschland im Allgemeinen nicht prominent mit der Konzeption und Verabschiedung des Vertragswerks verknüpft.
Im Jahr 2011 zeigte sich eine besorgniserregende Entwicklung, als FDP-Außenminister Westerwelle Deutschland international mit einer Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Libyen-Intervention brüskierte. Der Versuch, sich ein eine neutrale Mittlerposition zwischen der NATO und Russland und China zu stellen, entfremdete das Land von seinen Verbündeten, ohne einen klaren Gewinn mit sich zu bringen – rhetorisch und faktisch unterstützte Deutschland die Intervention schließlich! Rückblickend ist die Enthaltung ein Zeichen der kommenden Konflikte in der NATO; inzwischen ist ein merkwürdiges Bündnis aus FDP, LINKEn, SPD und AfD für eine Distanz zum Bündnis und Annäherung an Russland, während die Transatlantiker allenfalls noch eine Heimat in CDU und Grünen (!) haben. Die Langzeitfolgen für die Außenpolitik, die diese Entwicklung aufzeigt, sind kaum absehbar.
Nur einmal wandte sich Merkel aktiv gegen diesen Trend, als sie – ungewohnt entschlossen – in der Krim-Krise 2014 klare Position gegen Putin bezog und gegen den Widerstand der oben genannten Allianz die Russland-Sanktionen und die Minsk-Verhandlungen durchsetzte, die bis heute die Verhältnisse zum eurasischen Nachbarn bestimmen. Mit der verteidigungspolitischen Aufwertung der EU-Battle-Groups hat Deutschland in den vergangenen Jahren zudem den NATO-Partnern in Osteuropa gegen Russland den Rücken gestärkt. Insgesamt aber bleibt die Außenpolitik der Bundesrepublik sehr unberechenbar.
Nicht gegangene Wege
Ein erstes Szenario, das ich kurz streifen möchte, betrifft das Scheitern der Koalitionsverhandlungen 2005. Angesichts des unerwartet knappen Ausgangs der Wahl hätte sich die SPD durchaus der Koalition verweigern und damit Neuwahlen nötig machen (oder gar eine rot-rot-grüne Koalition eingehen) können. Das wäre das Ende von Merkels Karriere gewesen; sie hatte damals noch genug innerparteiliche Widersacher, die nur darauf warteten, sie in so einer Situation zu beerben. Ähnlich sieht es für die Erfüllung von Lafontaines Wunschtraum aus, dem Koalitionsbruch um 2007/2008, den er der SPD damals mehrmals schmeichelnd anbot. Ab 2009 gab es dafür keine Mehrheiten mehr; die Gefahr war für Merkel vom Tisch.
Relevant ist koalitionstaktisch dann das Szenario einer Ampel-Koalition 2009, das die bevorzugte Lösung der SPD-Spitze war. Ich habe darüber ausführlich geschrieben und will mich hier nicht wiederholen. Eine dauerhaft sich auf der Mitte-Rechts etablierenden SPD aber würde der CDU die Luft zum Atmen abschnüren und hätte ein völlig anderes Parteiensystem zur Folge als das, das wir jetzt haben.
Ein letztes koalitionstechnisches Szenario wäre der Erfolg der Jaimaka-Verhandlungen 2017. Ich habe wenig Hoffnung, dass dies die unverantwortlich agierende FDP arg domestiziert hätte; vielmehr lässt einen die Vorstellung, Lindner und Kubicki würden in der aktuellen Corona-Krise Verantwortung tragen, erschaudern. Allenfalls die Hoffnung auf eine tatsächliche Stärkung des digitalen Bereichs, die Lindner versprochen hatte, verschafft einen Lichtstreifen am Horizont.
Ein anderes eher kleinteiliges Szenario ist eine erfolgreiche Amtszeit Verteidigungsminister Guttenbergs mit Aussicht auf den ersehnten Außenministerposten. Guttenberg war ein politisches Talent, das die CDU dringend gebrauchen konnte, wenngleich nur wenig Substanz vorhanden war. Die Substanz, die er besaß, lag in seiner klaren transatlantischen Ausrichtung. In seiner kurzen Amtszeit begann er mit der Modernisierung der Bundeswehr (und hinterließ seinen NachfolgerInnen einen Scherbenhaufen), aber wenn wir ihm den benefit of the doubt geben, wäre vorstellbar, dass Guttenberg eine deutlich kohärentere, wenngleich enger an die USA und interventionistischere Außenpolitik betrieben hätte.
Unsere restlichen Szenarien sind alle innenpolitischer Natur.
Zuerst wäre da eine stärkere Konzentration auf die Integrations- und Islampolitik zu nennen. Die Versuche, institutionelle Ansprechpartner für die islamische Religion zu schaffen und mit diesen in Dialog zu treten war grundsätzlich richtig und hätte möglicherweise eine domestizierende Wirkung auf den radikalen Islam haben können; faktisch fand das leider nicht statt. Spätestens das unrühmliche und widerwärtige Ende der Wulff-Präsidentschaft markierte einen deutlichen Bruchpunkt in dieser Entwicklung.
Ein Dreifachthema betrifft die Energie- und Umweltpolitik. Ohne die zweifache Trendwende bei der Energiepolitik oder ohne die Ablenkung von einer grundsätzliche energiepolitischen Reform durch die Flüchtlingskrise wäre vorstellbar, dass dieser Themenkomplex heute deutlich weniger Probleme machen würde als er es tut. Damit einhergehen könnte dann auch eine vernünftigere Umweltpolitik, ein Thema, das die SPD zwischen 2005 und 2015 für sich entdeckt hatte und zielstrebig auszubauen versuchte, ehe die Flüchtlingskrise das alles über den Haufen warf und die Trümmer dann den Grünen zum Auflesen ließ, als die Fridays-for-Future-Bewegung das Thema 2019 in die Schlagzeilen brachte.
Völlig ohne äußere Einflüsse scheiterte die Regierung Merkel durch gezieltes Nichtstun beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. Deutschlands katastrophaler Stand auf diesem Gebiet wurde kaum angegangen, das Thema kontinuierlich kleingehalten. Die Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit allein sind dramatisch. Hätte Merkel hier entschlossener agiert und die erforderlichen Investitionen getätigt, wäre Deutschland auch in der Corona-Krise besser vorbereitet gewesen.
Wesentlich durchgreifendere Folgen hätte gehabt, wenn die Wahl 2005 nicht so knapp ausgegangen und die ursprünglich stark neoliberal geprägte Parteiplattform des Leipziger Parteitags 2003 Bestand gehabt hätte. Das läuft auf eine deutliche Verschärfung der Agenda2010 hinaus, die das Antlitz der Bundesrepublik noch einmal einschneidend verändert und vom Sozialstaat, der uns gerade das Überleben in der Corona-Krise ermöglicht, wenig übrig gelassen hätte. Dass die Reformpolitik mit der SPD-Regierung ihren Höhepunkt und nicht ihren Anfang nehmen würde, war 2005 jedenfalls nicht abzusehen und wurde auch von kaum jemandem erwartet.
Ähnlich sieht es in der Finanzkrise aus. Eine neoliberale Krisenpolitik, wie sie eine schwarz-gelbe Regierung gefahren hätte, hätte vermutlich dafür gesorgt, dass die Krise nicht den Sargnagel für die Reformer darstellte (seither ist, sehr zum Bedauern der Sozialstaatskritiker, die Reformperiode endgültig vorbei), sondern vielleicht wie im britischen Vorbild Gelegenheit zu weiteren massiven Kürzungen gegeben hätte – erneut mit unwägbaren, aber mit Sicherheit negativen Folgen in der Corona-Krise jetzt.
Um die Summary vorwegzustellen: enttäuschend und wenig tatsächlich begründet. Zwar stellst Du vorweg, dass Merkel Entwicklungen eher über sich ergehen ließ als sie aktiv zu beeinflussen. Das jedoch bildet sich wenig in Deinem Ranking ab. Denn zur Bewertung sollte doch gelten, was ein Kanzler gestaltet und nicht was er / sie erduldet hat.
Wie schon zuvor bei Willy Brandt kannst Du es Dir nicht verkneifen, die Bewertung mit freundlichen Farben zu zeichnen, wo sie Dir politisch ins Kontor passt. Diese extrem subjektive Färbung macht es für andere nicht leicht nachvollziehbar. So siehst Du die aufnehmende Gesellschaft stets in einer starken Bringschuld gegenüber Migranten, thematisierst jedoch nie, was bei einzelnen Migrantengruppen entgegen steht.
Angela Merkel hat während ihrer Kanzlerschaft viele Krisen erlebt. Bis auf die aktuelle Corona-Krise wurden sie alle aufgezählt. Das verbindende Element ist jedoch keineswegs schmeichelhaft für die so präsidial wie kein Kanzler zuvor agierende Amtsinhaberin. Keine dieser Krisen wurde in ihrer Substanz gelöst. Das führt zu der für Merkel katastrophalen Schlussfolgerung, keine Problemlöserin zu sein, sondern nur eine Managerin beim Ausbruch. Katastrophenmodus kann sie. Aber reicht das wirklich?
Auch 12 Jahre nach der Finanzkrise verfügt das europäische Bankensystem, anders als das ebenfalls 2008 hart getroffene US-System über keine ausreichende Substanz. Gerade in den Brandherden Italien und Griechenland gibt es weitgehend nur Zombiebanken und der einzige Lösungsansatz der europäischen Politik besteht darin, einem mit nordeuropäischem Geld finanzierten Rettungsschirm zu spannen – zu Lasten deutscher Sparer.
Die sich anschließende Staatschuldenkrise bekam sie im Verbund mit den europäischen Institutionen ebenfalls nicht in den Griff, im Gegenteil. Am Ende tanzten die Populisten Brüssel auf der Nase herum und jammern jetzt, sie bräuchten dringend Eurobonds. Die Verschuldung der Eurozone stieg von 2008 bis 2018 um rund 50% von 6,6 auf 9,9 Billionen Euro. Die Lösung für das Schuldenproblem sieht eindeutig anders aus.
Das gleiche Bild bei der Flüchtlingskrise. Merkel wusste zwar schnell, wie man den Stau von Flüchtlingen an den Außengrenzen und in Ungarn auflöst, aber bis heute gibt es weder eine tragfähige Lösung für eine europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik noch ein effizientes Abschiebesystem für abgelehnte Asylbewerber. Die Bewältigung der Integration wurde weitgehend privaten Initiativen überlassen, eine Leistungs- und Teilnahmekontrolle bei der Belegung von Sprachkursen findet erst gar nicht statt. Nur einem gut geschmiert laufenden Konjunkturmotor war es überhaupt zu verdanken, dass die Integration in den Arbeitsmarkt in Ansätzen gelang. Doch weiterhin sind 2015 zugewanderte Flüchtlinge weitgehend vom Sozialsystem abhängig.
Die Grundstruktur wiederholt sich: auch in der Coronakrise wusste Merkel schnell, welche Einschränkungen notwendig waren. Mit der Lockerung und dem Wiederanlaufen des gesellschaftlichen Lebens, dafür fehlt ihr jedes Konzept. Die Regierung dilettiert seit dem Shutdown des öffentlichen Lebens ohne Strategie dahin. Um dies zu verdecken, wird eine Rückkehr mit drakonischen Maßnahmen bei Zuwiderhandlung gedroht und Kritiker als Verschwörungstheoretiker und gefährliche rechtsextreme Spinner abgetan. Du selbst wiederholst es ja permanent in Deinen Vorwürfen an die FDP.
Merkel ist die einzige Regentin dieses Landes, die trotz langer Amtsdauer keine echte Reform wirklich initiiert noch vorangetrieben hat. Das ist eine Bankrotterklärung der Politik. Ohne Kompass in der Steuerpolitik, klammerte sie sich an das Konzept des ausgeglichenen Haushalts. Das Land stöhnt inzwischen unter einer rekordhohen Abgabenlast, welche die OECD gerade erneut bescheinigt hat. Auch das ist das Erbe des Nichtstuns der Kanzlerin.
Merkel hat in diesen Jahren einen wesentlichen Teil ihrer Partei verloren. Man sollte nicht vergessen, dass die Union zuletzt auf Zustimmungswerte von unter 25% abgesunken war. Berücksichtigt man, dass die Union einstmals 2004 / 2005 mit Umfragewerten nahe der 50% gestartet war, hat sie ihre Partei halbiert. Das ist selbst Schröder nicht annähernd gelungen, der nur im einstelligen Prozentbereich ausgehend von einem historisch hohen Niveau verlor und mit einer langjährigen Rezession im Gepäck. Bei Merkel sind die Vorzeichen umgekehrt. Auch das ist kein Ausweis politischer Klasse.
Am Ende ihrer Zeit sind die Grundrechte eingeschränkt, die Bürger zu folgsamen Untertanen dressiert, die nicht nur die Einschränkungen weitgehend klaglos erdulden, sondern sich das finanzielle Blut in Form von Steuern abzapfen lassen und zulassen, dass ihnen die Regierung ihre wirtschaftliche Existenz nimmt. Der Staatshaushalt nimmt das Verschuldungsniveau der Vor-Merkel-Ära an, während die europäischen Partner vor dem Kollaps stehen. Die Europäische Union liegt in Trümmern, das Verhältnis zu den USA ist unter dem Gefrierpunkt. Die Europäische Zentralbank betätigt sich an Hauptfinanzier der Staaten der Eurozone, was von den Deutschen immer abgelehnt wurde und nun heute sogar die Verfassungsrichter auf den Plan ruft.
Mit einer solchen Bilanz wären schon andere Politiker weit früher zum Teufel gejagt worden.
Jung, jedem Artikel dem du zustimmst lobst du, wenn du nicht zustimmst sagst du er sei schlecht geschrieben. Trenn das doch bitte.
Hat Helmut Schmidt die Ölkrise in der Substanz gelöst? Oder Kohl den Aufbau Ost? Welche Krise wird schon in einer Amtszeit überzeugend gelöst? Das sind Ansprüche, die an dir nicht verhasste Kanzler nicht stellst. Also lass es auch hier.
Bei Brandt und Merkel hast Du viel Sympathie einfließen lassen, was Du bei den anderen weggelassen hast. Du möchtest aber ein Ranking nach einigermaßen objektiven Kriterien aufstellen, bitte korrigiere, wenn ich falsch liege. Die Mischung zwischen beidem ist jedoch tödlich und desavouiert Deinen Ansatz.
Helmut Kohl war zumindest bei der Regelung Aufbau Ost sehr weit. Und er hatte für das Mega-Projekt „nur“ 6 1/2 Jahre Zeit. Wir sind im Jahr 12 nach der Finanzkrise und sorgen uns weiter um den Zusammenbruch unseres Bankensystems. Wenn Du da keinen qualitativen Unterschied siehst, solltest Du mal die Brille wechseln.
Schmidt hat den RAF-Terror erfolgreich bekämpft. Er hat auch die bei Brandt aus dem Ruder laufenden Staatsfinanzen einigermaßen wieder in den Griff bekommen. Am Ende seiner Kanzlerschaft war Deutschland hoch angesehen in der Welt. Nochmal: nehmen wir den Anfang der Kanzlerschaft Merkels und vergleichen diesen Stand mit heute, so sind keine Fortschritte in den objektiven Daten und Fakten erkennbar. Um zu Deinem Urteil zu kommen, kleisterst Du halt eine Menge Wohlwollen drüber. Weder bei Schmidt, noch bei Kohl noch bei Schröder stand Deutschland hinterher auf einem schlechteren oder ähnlichen Level wie bei der Amtsübernahme. Das, Stefan, sitzt.
Fürs Protokoll: Kohl war der einzige bei mir verhasste Kanzler. Wenn ich so etwas überhaupt sagen könnte.
Ich finde nicht, dass ich viel Sympathie für Merkel da rein habe. Ich kritisiere deutlich mehr als ich gut heiße. Das ist nur deine verschobene Lesart.
Wie Kning4711 schreibt, sehe ich die Merkel-Ära als eine Zeit verpasster Chancen. Nie zuvor hat jemand so ambitionslos das Amt geführt. Alle Projekte, die man dachte, Merkel würde sie verfolgen, hat sie still und leise beerdigt.
Stichwort Atomausstieg: Als Umweltministerin und später CDU-Vorsitzende konnte man der festen Überzeugung sein, die gelernte Physikerin sei eine große Anhängerin der Kernenergie. Entsprechend konsequent war 2009 ihr Eintreten für die teilweise Aufhebung des Ausstiegsbeschlusses. Nur kurze Zeit später lässt sie alle Reaktoren in Deutschland auslaufen.
Auch das ist nicht schlüssig. Keiner, der eine Grundüberzeugung in den Nutzen der Kernkraft hat, lässt sich so leicht aus den Angeln heben. Und schon gar nicht sind andere Staaten dem deutschen Vorgehen gefolgt. Auch da erkennt man keine Überzeugungskraft in ihrer Politik. Und das ist wirklich einmalig unter den bisherigen Kanzlern.
„… der eine Grundüberzeugung in den Nutzen der Kernkraft hat…“
Man könnte natürlich auch annehmen, daß eine „gelernte Physikerin“ ihre Grundüberzeugungen aufgrund von aktuellen Erkenntnissen ändert.
„Und schon gar nicht sind andere Staaten dem deutschen Vorgehen gefolgt.“
Italien hat 2011 in einer Volksabstimmung mit 94,1 % einen Wiedereinstieg in die Atomkraft abgelehnt, ebenso Litauen 2012 mit 64,8 %. Taiwan will bis 2025 aussteigen. In anderen Ländern wird es ein Auslaufen der Atomenergie geben, weil der Bau neuer Reaktoren zu teuer und zu langwierig ist und die alten Reaktoren sich dem Ende ihrer Nutzungsdauer nähern.
Merkels Fehler war der Atomausstiegsausstieg, nicht der Atomaussiegsausstiegausstieg.
„Merkels Fehler war der Atomausstiegsausstieg, nicht der Atomaussiegsausstiegausstieg.“
Merkel hat beide Fehler gemacht.
Man kann eine Energieversorgung mit oder ohne Atomkraft organisieren. Aber wenn man aussteigt, muß man sich um Alternativen kümmern. Das hat sie nie wirklich gemacht.
Der Ausstieg war eine lächerliche Inszenierung mit „Ethikbeirat“ und viel Klamauk. Und danach (wie davor) hat Merkel dann das Übliche gemacht: Nichts.
Und deswegen fehlen die Leitungen, deswegen fehlt ein vernünftiges Netzkonzept, deswegen werden planlos von allen möglichen Subventionsabgreifern Windräder etc. in die Landschaft gepflanzt ohne daß klar ist, wie diese Kapazitäten verwertet werden sollen und welche Ersatzkraftwerke einspringen, wenn die nicht produzieren.
Die ganze „Energiewende“ ist ein Organisationschaos und letztlich ein Flop, weil die Bundesregierung sich nie wirklich um das Thema gekümmert hat.
Stimme dir völlig zu. Und dieses Energiechaos wird uns noch mindestens zwei Jahrzehnte beschäftigen. Ziemlich prägend, wenn du mich fragst.
Im Prinzip würde ich Ihnen nicht widersprechen. Doch wenn das Merkmal einer Person ist, dass sie den Eindruck erweckt, an nichts festzuhalten, wenn die Gelegenheit besteht, die Position zu wechseln, dann ist die Umschreibung dafür Opportunist. Stefan hat ja aufgezählt, womit Merkel ins Rennen gegangen ist. Ein Jahr nach Regierungsantritt gab sie dem SPIEGEL ein Interview und verneinte die Frage, ob sie ihre Überzeugungen in Wirtschafts- und Steuerfragen geändert habe. Diese Reformen kämen noch. Auf die Erfüllung dieses Versprechens warten einige immer noch. Oder Homoehe: als die Mehrheit für die Öffnung der Ehe für alle sicher war, gab sie die Abstimmung frei und bekannte, nach ihrer Überzeugung sei die Ehe nur Mann und Frau vorbehalten. So etwas ist dann ohne Risiko ein persönlichen Einsatz. Helmut Kohl hätte die Abstimmung über den Paragrafen 218 nicht freigegeben, um nur ein Beispiel zu nennen.
Das ist die Generalkritik: Grundsätzliche Überzeugungen lassen sich bei Merkel, anders als bei den Kanzlern zuvor, nicht ausmachen. Wenn Sie so einen Politikertypus mögen, werden Sie zweifellos Merkel mögen. Doch stellen Sie sich vor, Sie haben Grundüberzeugungen zu bestimmten Sachverhalten und wählen diesbezüglich. Würden Sie es akzeptieren, wenn dieser Politik nach gewonnener Wahl stets das Gegenteil von dem tut, wo Sie dachten, da lägen die Gemeinsamkeiten? Ehrliche Antwort?
Es ist nichts dagegen zusagen, wenn Unternehmen nicht in eine Energieform investieren, die sie für nicht tragfähig und lukrativ halten. Problematisch ist das, wenn Staaten das verordnen. Keine Ihrer Beispiele (Ausnahme vielleicht Italien) sind eine unmittelbare Reaktion auf Fukushima.
Und Litauen plant derweil als Ersatz für den einen Meiler des Landes den Neubau eines anderen. Taiwan betreibt noch 3 von 4, der Bau eines neuen Reaktors ist seit Jahrzehnten – nicht erst seit 2011 – umstritten. Weltweit befinden sich 55 Reaktoren in Bau (Stand: 2018).
Italien bezieht rund 80% seines Primärenergiebedarfs aus der Verfeuerung kohlehaltiger Energieträger. Sie richtig prima fürs Klima ist das wahrscheinlich nicht.
Woher willst du wissen, was Kohl in der Situation getan hätte? Ist nicht so, als sei der Mann als besonders unflexibel aufgefallen, wenn Mehrheiten sich ändern. Wenn, dann hätte eher Helmut Schmidt dem nicht nachgegeben. Der ist ein Typ, der wenn er glaubt dass er Recht hat lieber die ganze Regierung riskiert. ^^
Kohl hatte Grundüberzeugungen. So wie Schmidt. Der ließ lieber seine Regierung scheitern als sich seiner Partei gegen den NATO-Doppelbeschluss anzuschließen.
Kohl setzte im Wahlkampf 1983 durch, nicht auf die (erreichbar scheinende) absolute Mehrheit zu gehen, sondern der FDP mit einer Leihstimmenkampagne über die Klippe zu helfen.
Europapolitik wurde schon angemerkt. Kohl verlangte zwar unbedingte Loyalität, zeigte sich aber auch loyal gegenüber Parteifreunden, die bei Ausflügen in die Länder scheiterten. Er galt als außerordentlich zuverlässig.
Ob der Maastricht-Vertrag aufgrund eines gegebenen Versprechens gegenüber Mitterand zustande kam, lässt sich im Nachhinein nicht mehr klären. Aber Kohl setzte durch, dass Italien zu den Gründungsmitgliedern des Euros gehörte, wogegen auch in seiner Partei heftig polemisiert wurde (Esperanto-Geld).
Oh doch, Kohl hatte seine Überzeugungen, selbst wenn diese ihm Häme einbrachten, so wie beim Gedenken in Verdun. Und letztendlich beharrte Kohl gegen den Zeitgeist auf der Überzeugung der Wiedervereinigung, weswegen wahrscheinlich nur er in der Lage war, in einer Nacht einen 11-Punkte-Plan zu entwerfen, der die gesamte politische Klasse samt Opposition überrumpelte. Als im Anschluss Hans-Jochen Vogel ans Rednerpult trat, wirkte er perplex und sagte in seinen ersten Worten Zustimmung zu.
Ich zweifle doch nicht an Kohls Überzeungen! Ich habe das im Artikel ja auch herausgestrichen. Nur sollten wir ihn nicht als ehernen Prinzipienverfechter darstellen. Das war er – zum Glück! – nicht.
Nein, das war kein Kanzler. Aber völlig ohne Prinzipien finde ich eben schwer.
Merkel ist auch nicht völlig ohne Prinzipien, das halte ich für eine ziemliche Fehleinschätzung. Aber sie ist sicherlich flexibler als manch andere. Aber auch darin ist sie nicht einzigartig. Darf ich an „was geht mich mein dummes Geschwätz von gestern an“-Adenauer erinnern?
@ Stefan Sasse 5. Mai 2020, 18:03
Woher willst du wissen, was Kohl in der Situation getan hätte? Ist nicht so, als sei der Mann als besonders unflexibel aufgefallen, wenn Mehrheiten sich ändern.
E shat sich keine Mehrheit geändert.
„Doch stellen Sie sich vor, Sie haben Grundüberzeugungen zu bestimmten Sachverhalten und wählen diesbezüglich. Würden Sie es akzeptieren, wenn dieser Politik nach gewonnener Wahl stets das Gegenteil von dem tut, wo Sie dachten, da lägen die Gemeinsamkeiten? Ehrliche Antwort?“
Die Diskussion ist überflüssig, denn wenn zwei dasselbe tun, stehe *ich* fest zu meinen Grundüberzeugungen und *der andere* ist dogmatisch und verbohrt – bzw. *ich* bin flexibel, und *der andere* ist ein opportunistischer Wendehals.
Gefällt mir. 🙂
@ sol1 5. Mai 2020, 16:52
Man könnte natürlich auch annehmen, daß eine „gelernte Physikerin“ ihre Grundüberzeugungen aufgrund von aktuellen Erkenntnissen ändert.
Wie das? Ausstieg wegen
• einer plötzlichen Ablehnung durch die Bevölkerung? Die hat Atomkraft schon vorher mehrheitlich abgelehnt.
• eines Tsunami?
Wird es bei uns nicht geben.
• wegen mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen, die, ausgelöst durch den Tsunami, zum GAU führten?
Keines unserer Kraftwerke hätte in dieser Situation hochgehen können.
Hat sich nix geändert, außer der Meinung der Kanzlerin.
Hätte sie alles so gelassen wie von rot-grün angeschoben, wäre alles gut gewesen
„Keines unserer Kraftwerke hätte in dieser Situation hochgehen können.“
In *dieser* Situation – aber natürlich gibt es unzählige andere Situationen, die einen GAU herbeiführen könnten.
Wenn in einer High-Tech-Nation wie Japan so eine Katastrophe möglich ist, dann auch in Deutschland.
Es gibt aber auch ohne Tsunami reichlich Vorfälle in der Geschichte deutscher Atomkraftwerke, die oft genug nur durch mehr Glück als Verstand nicht in größere Unfälle mündeten.
Den letzten Satz sehe ich allerdings ähnlich. Den Konsenz um ein weitgehend befriedetes Thema wieder aufzubrechen, war eine politische Dummheit.
Allerdings hätte sie bzw. die Union die Grenze schon deutlich früher ziehen müssen, denn der größte Schaden durch das Versprechen, den Ausstieg nicht umzusetzen, sobald sich eine schwarz-gelbe Mehrheit ergibt, war dass die Stromkonzerne rund 10 Jahre nach Abschluss der Vereinbarung nichts getan haben, um die deutsche Energieinfrastruktur auf erneuerbare Energien auszurichten. Diese Verloren Jahre hängen uns jetzt noch nach.
Ich sehe die Merkel-Ära ebenfalls als Zeit der vertanen Chancen. Erneut, du liest einen anderen Artikel als dasteht. Allzu freundlich stehe ich ihr sicherlich nicht gegenüber.
Helmut Kohl war zumindest bei der Regelung Aufbau Ost sehr weit. Und er hatte für das Mega-Projekt „nur“ 6 1/2 Jahre Zeit. Wir sind im Jahr 12 nach der Finanzkrise und sorgen uns weiter um den Zusammenbruch unseres Bankensystems. Wenn Du da keinen qualitativen Unterschied siehst, solltest Du mal die Brille wechseln.
Es ist ja aber auch nicht so, als wäre der Aufbau Ost zum Ende von Kohls Kanzlerschaft abgeschlossen oder auch nur all zu weit fortgeschritten gewesen.
Die Arbeitslosigkeit etwa war 1998 auf einem (vorläufigen) Höhepunkt und Sank erst Mitte der 2000er im Aufschwung nach dem Finanzkrise.
In Kohls Zeit fallen vor allem erstmal die Versprechen von „blühenden Landschaften“ ohne Steuererhöhungen und der Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft.
Nein.
1998 war der Aufbau in Ostdeutschland sehr weit fortgeschritten, zumindest dort, wo der Staat unmittelbare Verantwortung trägt. Wie erwähnt war ich in den Neunzigerjahren berufsbedingt oft im Osten. Straßen waren repariert, Gebäude instand gesetzt bis hin zur Dresdner Frauenkirche.
Die Häuser und Wohnungen der Ostdeutschen wurden grundsaniert, die Umwelt- und Luftqualität nahm rapide zu. Der Unterschied zu den Jahren zuvor war frappierend.
Natürlich war die Arbeitslosigkeit ein Thema, deswegen wurde Kohl ja auch abgewählt. Nur war der Rechtsrahmen, in diesem Fall das Steuer- und Arbeitsrecht, der DDR einfach übergestülpt worden. Dies hatte bereits in der alten Bundesrepublik zu einem regelmäßigen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit geführt. Dass sich dies im Osten wiederholte, konnte niemanden ernsthaft überraschen und zeigt, worin die Wurzel des deutschen Problems Dauerarbeitslosigkeit lag. Nebenbei: wir hatten auch bis Mitte der Neunzigerjahre bei wachsender Arbeitslosigkeit einen Aufschwung und nochmals von 1999 – 2001. Das Problem blieb.
Ralf wies darauf hin, dass Kohl in den Neunzigerjahren die Steuern so massiv wie kein Kanzler zuvor erhöhte. Weder Ihre Position noch seine ist so richtig. Damit liege ich in der Mitte wohl richtig.
Ich habe zum Thema Steuern nichts gegenteiliges behauptet. Sein Versprechen (oder Versprecher?) war, dass es ohne Steuererhöhungen gehen würde. Die SPD und da vor allem Lafontaine haben dem seinerzeit Widersprochen, was ihnen nahezu als Vaterlandsverrat ausgelegt wurde.
Der Fairness halber gilt aber zu erwähnen, dass Kohl beim ursprünglichen Ruf nach Steuererhöhungen, die es 1990 durchaus vernehmlich gab, lange gezögert hat, bis er sich festlegte. Ich kann den Zeitpunkt nicht mehr aus der Erinnerung her lokalisieren, aber es waren Monate.
Lafontaine hatte noch zur Jahreswende und bis ins Frühjahr 1990 hinein sehr stark gegen eine Wiedervereinigung argumentiert, was in seiner Partei für großes Befremden sorgte und die Entfremdung von seinem Ziehvater Willy Brandt. Er ist von Beginn an in einen Wahlkampf, in dem er festgelegt war, während der Zug in die andere Richtung fuhr. Wenig verwunderlich sanken die Umfragewerte Woche für Woche und er erzielte das bis dato schlechteste Ergebnis der SPD seit Jahrzehnten.
Jepp, das hat Lafontaine, wie man so sagt, royal verkackt.
Die Steuererhöhungen waren aber auch keine Frage des Wollens, sondern unausweichlich, wenn man auch nur Ansatzweise das Versprechen von sich angleichenden Lebensverhältnissen wahr machen wollte. Und das war auch damals klar zu sehen und wurde ja – nicht zuletzt von Lafontaine – artikuliert.
Zu Lafontaine selbst: Dass ihm in diesem Moment vollkommen der Instinkt verloren gegangen ist, in welche Richtung sich das Momentum bewegte, ist sicher richtig.
Gleichzeitig war er aber zum Beispiel deutlich näher an den Vorstellungen der bzw. des Großteils der Bürgerrechtsbewegung der DDR und hat darüber hinaus tatsächliche Risiken benannt (ähnlich wie knapp 10 Jahre später beim Thema Finanzwirtschaft).
Die Bürgerrechtsbewegung hat 1990 immerhin 2,3% der Stimmen geholt.
Bei den Debatten über Steuererhöhungen ging es nicht um Schaffung gleicher Lebensverhältnisse, sondern die Frage, wie die zunehmend klarer werdenden Finanzierungskosten der Deutschen Einheit eigentlich gestemmt werden sollten. Eine durchaus beliebte Argumentation vor Kohls Machtwort war, dass ja auch künftige Generationen von der Beseitigung der deutschen Teilung profitieren würden, eine Regelung über Schulden also durchaus zu rechtfertigen sei. Es ist das klassische Argument, das bei großen Herausforderungen immer auftaucht. Kohl war nicht dessen Erfinder.
Lafontaine war weniger der Analytiker als derjenige, der mit aller Macht die Zeitläufe aufhalten wollte. Diese Abneigung gegen jede Symbolik Deutschlands war zwar aus heutiger Sicht extrem, nicht aber in der Nachkriegsgeschichte. Brandts Tränen im Deutschen Bundestag, als die Mauer fiel, löste auch Befremden in der linken Szene aus. Lafontaine selbst empfindet sich selbst weit mehr Frankreich nah als den ostdeutschen Gebieten. Er schätzt die französische Lebensart und hatte mit der Teilung kein emotionales Problem. Und gerade wegen dieser egalistischen Haltung war er auch der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung nicht nah. Ein letztes Mal flammte Lafontaines distanziertes Verhältnis zur Einheit Deutschlands auf dem legendären Parteitag der Linkspartei in Göttingen auf, wo die Partei ob des zur Schau getragenen Hasses (Gregor Gysi) und Verachtung vor der Spaltung stand.
Es werden letztendlich nicht die Mahner und Analytiker gewählt, sondern die Politiker, denen die Menschen die Lösung von Problemen zutrauen. Das sind dann meist nicht die Mahner und Analytiker.
Witzigerweise hat Lafontaine in der Beziehung unendlich viel mehr mit Adenauer gemein als Kohl es je hatte.
Und was politisch nicht gerade ein Meisterstreich war.
So geht das, wenn man unverrückbar an ehernen Überzeugungen festhält. Das sind die Gefahren, die jenen drohen, die nicht auf das Leben reagieren. Außer Gorbatschow fällt mir da noch Herr Keuner ein.
Wer?
Von Bertolt Brecht: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“
😀
Ich denke, Kohl wird zu harsch kritisiert, das habe ich ja auch geschrieben. Genauso wie Merkels Flüchtlingspolitik war er in einer Lage, wo sich effektiv nichts richtig machen ließ. Egal was du machst, Kritik kommt auf jeden Fall, und jeder wird sagen, was auch immer du tust ist zu wenig. Ich sehe das immer als „den Umständen entsprechend ordentlich“. Es gibt viel zu kritisieren, ja, aber die Idee, jemand anderes hätte es perfekt hingekriegt ist irreführend.
Von perfekt spricht ja auch keiner, aber es ehrlich anzugehen, wäre ein Anfang gewesen. (Ob ihm das natürlich seine Wiederwahl 1990 gesichert hätte, wäre eine andere Frage.)
1990?
@ Stefan Pietsch 5. Mai 2020, 15:22
Bei Brandt und Merkel hast Du viel Sympathie einfließen lassen, was Du bei den anderen weggelassen hast.
Vorab: Auch diesen Artikel halte ich für gut geschrieben.
Ja, auch ich sehe Sympathie bei der Beschreibung von Merkel, aber dass Stefan Sasse sie rosarot zeichnet, sehr ich auch nicht. Sind eigentlich alle Kritikpunkte vom „Führungsstil“ bis zur Ergebnislosigkeit zumindest angesprochen.
Vielleicht liegt Ihr Eindruck daran, dass Stefan Sasse Zeitgenosse Merkels ist und vieles direkt und persönlich mitbekommen hat, was bei anderen Kanzlern nicht so der Fall war.
Ich sehe auch keine Unterschiede darin, wie ich Artikel schreibe. Ich mag etwa Schröder und Schmidt nicht sonderlich, und ich glaube, ich habe sie trotzdem fair beschrieben. Was mich hier stört ist, dass Stefan halt Brandt und Merkel nicht mag. Fair enough. Aber das mit dem Vorwurf zu verknüpfen, ich würde sie übermäßig sympathisch zeichnen, stößt mir auf.
Irgendwie unverständlich. Ich kann nur herauslesen, warum Du Schmidt nicht so schätzt, weil Du seine politische Leistung für überschaubar hältst und wiederum angeblich nicht so viel auf Sekundärtugenden gibst.
Doch ich denke, das bist Du nicht ehrlich – zu Dir selbst. Im Grunde schätzt Du an Merkel (wie auch an Barack Obama) genau das: ihre Haltung. Für Dich sorgt für Bewunderung wie die Kanzlerin ihre Partei modernisiert habe, obwohl das wenig mit ihrer Amtsführung zu tun hat, die es doch zu bewerten gilt.
Ich verstehe, dass Du Schröder nicht magst, steht er doch für eine ganz andere Politikergeneration und Deinen Überzeugungen des Umgangs miteinander entgegen. Aber auch hier geht es vor allem um Fragen des Stils, nicht der Politik.
Das ist übrigens das, weshalb ich Merkel nicht in Bausch und Bogen verdamme: Sie beweist immer Haltung.
Sicher.
Ausnahmsweise bin ich mal fast vollständig einer Meinung mit Dir.
🙂
@ Stefan Pietsch 5. Mai 2020, 12:40
Merkel ist die einzige Regentin dieses Landes, die trotz langer Amtsdauer keine echte Reform wirklich initiiert noch vorangetrieben hat. Das ist eine Bankrotterklärung der Politik.
Zustimmung. Damit ist eigentlich alles gesagt.
Bitter …
Merkel ist das typische Beispiel für Politiker, denen es ausschließlich nur um die eigene Position geht und die politisch alles und das Gegenteil vertreten würden, wenn das noch ein paar Tage im Amt bringt.
Den Schaden den sie angerichtet hat kann man derzeit noch nicht annähernd ermessen, dürfte sie aber mit Abstand zur schlechtesten Besetzung des Kanzleramts machen.
Ganz typisch dabei ist, daß sie sich grundsätzlich nur und immer verspätet um Fragen kümmert, die sich absolut aufdrängen. Proaktiv oder vorausschauend kann sie nicht.
Sie läßt die Sachen treiben und tut dann hinterher so, als wäre das irgendwie entstandene Ergebnis ihr Ziel und Verdienst.
Sieht man am deutlichsten bei der Einwandererkrise und der Coronakrise.
„Sehr gute Leistungen muss man der Regierung beim Bereitstellen von Unterkünften, Versorgung und Deutschkursen bescheinigen“
Aber überhaupt nicht!
Wie üblich hat Merkel erst einmal überhaupt nichts gemacht, obwohl die Krise schon deutlich im Anrollen war. Schon im Frühjahr 2015 diskutierten die Experten was zu tun wäre, die Bundesregierung ignorierte das bis in den Herbst, als die Migranten schon in Ungarn waren.
Dann „handelte“ Merkel, indem sie den Sicherheitsbehörden ein Eingreifen verbot und die ungehinderte Einwanderung aller Migranten zuließ.
Anschließend taucht die Bundesregierung wieder ab. Es waren in erster Linie die Kommunen, die die Leute versorgten und unterbrachten, dann auch die Länder. Vom Bund kam lange nichts, dann kam eine Teilfinanzierung. In den meisten Bereichen ist bis heute eigentlich nichts passiert, um die Probleme anzugehen. Das Bau-, Arbeits- und Sozialrecht ist nicht reformiert worden, entsprechend schlecht läuft der Bau der nötigen Wohnungen und die Integration in den Arbeitsmarkt.
Corona-Krise ähnlich. Ende 2019 kamen die ersten ernst zu nehmen Warnungen. Im Januar war Merkel völlig abgetaucht. Im Februar war ihre einzige Priorität, einen FDP-Ministerpräsidenten zu verhindern. Im März war sie wieder abgetaucht.
Erst nachdem die Ministerpräsidenten die nötigen Maßnahmen beschlossen hatten, tauchte die Kanzlerin wieder auf und setzte sich medienwirksam in Szene. Ohne irgendeinen sinnvollen Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten.
„Angela Merkel gebührt grundsätzlich der Verdienst, die CDU modernisiert und von einer Partei des 20. Jahrhunderts in eine des 21. Jahrhunderts verwandelt zu haben.“
Aber so überhaupt nicht.
Merkel hat die Republik stark nach links gerückt und einen großen Teil der alten CDU-Programmatik über Bord geworfen. Aber nicht weil sie das politisch gewollt hätte, sondern weil sich das in tagesaktueller Opportunität gerade angeboten hat.
Sie hat sich nie die Mühe gemacht ihre Partei dabei „mitzunehmen“ oder die Änderungen zu erläutern. Die CDU stand (meist ziemlich fassungslos) daneben und mußte hinnehmen, daß die Kanzlerin den Kurs änderte.
Offiziell gilt auch immer noch das Grundsatzprogramm von 2007 – das hat mit der heutigen Regierungspolitik nur noch ansatzweise etwas zu tun.
Unterstützt wird Merkels Kurs im wesentlichen von der Funktionärsschicht, die ähnlich wie sie rein machttaktisch denken. Es gibt so gut wie keine prominenten CDU-Vertreter, die den neuen CDU-Kurs (wenn man ihn überhaupt so nennen kann) inhaltlich wirklich mittragen, es gibt immer nur die parteisoldatische Unterstützung für die Chefin.
Entsprechend hat die CDU auch massiv Mitglieder und Wähler verloren. Ein großer Teil der CDU-Mitglieder ist in der inneren Emigration abgetaucht. Die CDU ist nicht modernisiert, sondern orientierungslos.
„Im Februar war ihre einzige Priorität, einen FDP-Ministerpräsidenten zu verhindern.“
Wie würde wohl Thüringen mit einem Ministerpräsidenten von Nazis Gnaden in der jetzigen Krise dastehen?
Ziemlich ähnlich wie jetzt.
Was gut zeigt, welche Prioritäten man in Berlin besser gesetzt hätte.
„Ziemlich ähnlich wie jetzt.“
https://www.youtube.com/watch?v=_n5E7feJHw0
Halte ich auch für Wahnsinn.
„Entsprechend hat die CDU auch massiv Mitglieder und Wähler verloren.“
Die CDU hat von 1990 bis zum Beginn der Ära Merkel mehr Mitglieder verloren als von seitdem bis heute. Und von einem „massiven“ Wählerverlust ist auch nichts zu sehen.
Aber der eigentliche Test für die These, Merkels Kurs hätte der CDU geschadet, ist ein Blick auf die Ministerpräsidenten, die von ihr gestellt werden:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a5/Ministerpr%C3%A4sidenten_der_deutschen_L%C3%A4nder.svg
Baden-Württemberg, Hamburg und Thüringen gingen verloren, nachdem die CDU als Regierungspartei das Ruder nach rechts umgerissen hatte. Umgekehrt hat es die CDU geschafft, mit einem gemäßigten Kurs in den notorisch polarisierten Ländern Hessen und Schleswig-Holstein den Ministerpräsidenten zu stellen.
„Aber der eigentliche Test für die These, Merkels Kurs hätte der CDU geschadet, ist ein Blick auf die Ministerpräsidenten, die von ihr gestellt werden:“
Nein.
Bei den Ministerpräsidenten spielt ja eine wesentliche Rolle, daß die SPD zeitgleich auch im Niedergang war.
Die aktuelle CDU (mal den Corona-bedingten Umfragen-Hype weglassend) ist nur noch ein Schatten der Partei vor Merkel. Ausgezehrt und politisch ohne Perspektive.
Die CDU im Niedergang, die SPD im Niedergang – klar, daß Merkel da den kommenden Politstar Kemmerich meucheln mußte.
Dieser „Früher hatten die Ochsen größere Köpfe“-Quatsch wird durch einen Blick in die von mir verlinkte Grafik widerlegt.
Und dann haben wir ja noch die CSU als Vergleichsmaßstab, der es mit einem harten Anti-Merkel gelungen ist, die AfD *und* die Grünen groß zu machen.
@ R.A.
Absolute Zustimmung. Ich schätze sie auch eher für „katastrophal“ als für „geht so“ ein.
Merkel ist die einzige Regentin dieses Landes, die trotz langer Amtsdauer keine echte Reform wirklich initiiert noch vorangetrieben hat. Das ist eine Bankrotterklärung der Politik.
Volle Zustimmung – gemessen an den Möglichkeiten, welche die Boomjahre der deutschen Wirtschaft ihr ermöglichten, war sie viel zu reaktiv. Für mich ist die Ära Merkel eine Ära verpasster Chancen. Ich würde nicht so weit gehen Sie als prinzipienlos zu bezeichnen. Ihr Handeln in der Flüchtlingskrise, war sicherlich der größte Ausdruck von Haltung in Ihrer ganzen Amtszeit. Aber Sie hat selten Führung übernommen und die Dinge in eine Richtung gelenkt. Sie setzte sich dann an die Spitze, als der Kurs ohnehin schon klar war.
Zudem hat Merkel mit Ihrer asymetrischen Demobilisierung der demokratischen Kultur in diesem Land einen Bärendienst erwiesen. Statt Führungsstärke ein machtpolitischer Opportunismus. Sorry, trotz langer Amtszeit keine prägende Kanzlerin dieser Republik. Ich hätte da jemand anders gesehen…
Wissen wir wirklich, dass Merkel das Schicksal der Flüchtlinge am Herzen lag? Oder war es Hilflosigkeit? In mein Gedächtnis hat sich dies eingebrannt:
https://www.youtube.com/watch?v=2jbqei-bz7M
Niemand kann diese Diskrepanz in Verhalten und politischer Aussage erklären. Zwischen dieser Begegnung und dem Öffnen der Grenzen für Flüchtlinge lagen gerade 2 Monate.
Ich dachte eigentlich, ich hätte die verpassten Chancen deutlich genug gemacht im Artikel.
Es gäbe so viel an Angela Merkel zu kritisieren, aber ich möchte mich auf einen Punkt fokussieren, weil dieser besonders wichtig im Vergleich zu Helmut Schmidt, ist, den ich vor Angela Merkel positionieren würde. Beide haben ja gemeinsam, als Techniker der Macht sich vor allem als Krisenmanager in Erinnerung zu bleiben.
Was mich an Angela Merkel am meisten befremdet, ist ihr Unwillen bzw. ihre Unfähigkeit länger tragende Allianzen zu bilden, die beiden Seiten nützen. Das gilt für ihre Koalitionen, aber noch vielmehr in der Aussenpolitik. Gerade hier gab es genug Chancen, Krisen in internationaler Kooperation anzugehen (insbesondere Bankenkrise und Eurokrise, aber auch Energiewende und Flüchtlingsfrage sind hier zu nennen). Das Muster war immer das gleiche, Deutschland verwunderte Nachbarn durch Alleingänge und/oder schlug Vorschläge zur Kooperation aus (zB Sarkozys Vorschläge zur Bankenrettung). Zuletzt meinte Angela Merkel sogar, dass es am klügsten wäre, konstruktive Vorschläge des französischen Präsidenten schlicht totzuschweigen.
Im Vergleich dazu gelang es Helmut Schmidt , beispielsweise mit Giscard d’Estaing pragmatische Lösungen, in denen jeder ein wenig entgegen kommen musste, nach der Auflösung von Bretton Woods (EWS) zu finden.
Zum jetzigen Zeitpunkt wird die Ära Merkel als Wendepunkt der europäischen Integration eingehen, in dem gemeinsames Kapital und Vertrauen verspielt wurde und desintegrierenden Kräften der Boden bereitet wurde. Daran trägt Angela Merkel (wie auch andere, zB Hollande, oder David Cameron) einen massgeblichen Anteil.
Daher würde ich sie hinter Schmidt einordnen (also nur vor Erhard und Kiesinger, die zu Recht ganz hinten einzuordnen sind).
„Zum jetzigen Zeitpunkt wird die Ära Merkel als Wendepunkt der europäischen Integration eingehen, in dem gemeinsames Kapital und Vertrauen verspielt wurde und desintegrierenden Kräften der Boden bereitet wurde.“
Sehr richtig.
Natürlich waren auch andere an diesem Prozeß beteiligt, aber Merkel war da ganz vorne mit dabei und wegen der Bedeutung Deutschlands innerhalb der EU hat sie eindeutig die Hauptschuld.
Besonders zynisch dabei immer ihre pro-EU-Rhetorik, während sie real das Gegenteil tut. Das hat dem Ansehen der EU in Deutschland besonders geschadet.
Ich teile deine Kritik, würde Merkel aber gerade darin eine gewisse Kontinuität zugestehen. Zwar lehne ich diese Politik entschieden ab, aber es ist nicht so, als würde sie da nicht eine Strategie verfolgen. Sie hat eine Sicht auf deutsche Interessen, die ich emphatisch nicht teile, nach der sie aber ihr Handeln ausrichtet.
Großes Lob für diesen Artikel wie für die vorhergehenden, aber einen zentralen Punkt bei den nicht gegangenen Wegen hast du ausgelassen – das Scheitern der schwarz-grünen Koalitionssondierungen 2013.
Daß beide Seiten nachträglich erkannten, hier eine Chance verpaßt zu haben, zeigte sich dann vier Jahre später bei den Jamaika-Verhandlungen, wo die Vertrauensbasis zwischen Union und Grünen viel größer war als zwischen Union und FDP.
Ist doch bei nicht gegangenen Wegen dabei…?
Das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen 2017 wird kurz erwähnt, aber über die Sondierungen von 2013 habe ich im Text nichts gefunden.
Da hatte ich tatsächlich nichts zu. Ich ergänze es.
Tja, da Merkel aktuell ist, wird die Debatte etwas unruhiger als bei den längst Verblichenen aus Opas Zeiten.
Bei den beiden noch ausstehenden Kurzzeitkanzlern aus den 60ern wird sich vermutlich keiner mehr aufregen^, obschon das zu deren aktiver Zeit anders war. Ach so, Schmidt fehlt ja auch noch….erst nach Merkel….kopfschüttel.
Angie dagegen lässt die Leidenschaften hochkochen, obwohl sie doch so wenig davon hat; interessant eigentlich. Stattdessen – wie beim Gerd davor – legt sie Wert auf post-moderne Beliebigkeit und alles auf Sicht, die sich ja immer ändern kann.
Zitat Stefan Sasse:
„man denke nur an die Krankenkassengebühr beim Arztbesuch.“
Das passt gut in die Geschichtsbücher unter der Überschrift: „Das Wichtigste über die Kanzlerin Angela Merkel“.
Zitat:
„2005, in dem die CDU sich mit Friedrich Merz und Paul Kirchhof ein betont neoliberales Profil gab und damit kolossal gegen die Wand fuhr, “
Das hört sich so an, als ob Merkel damit nix zu tun gehabt hätte. Das war IHR Wahlkampf und sie ist auf das FDP-Programm, das die CDU da im Angebot hatte, voll abgefahren. „Der Professor aus Heidelberg“, wie Schröder Herrn K. so schön nannte, war ja ihre Erfindung. Nachdem 2005 das Ding einschließlich Professor in die Hosen ging, wurde der Schalter einfach umgedreht und die Sache war erledigt. Nach dieser Methode hat auch ihr Vorgänger gewaltet und gestaltet.
Nachdem Schröder in jenem weltberühmten TV-Auftritt am Wahlabend 2005 Merkel herunterzuputzen beliebte, müsste die CDU die Wahlverliererin ja behalten. Schröder ist der eigentliche Merkelmacher und hat ihr mit seinem Rumgeschnauze den Rest gegeben, also den Rest ihrer Karriere, also die bis jetzt 15 Jahre, die wir alle kennen.
Zitat:
„hätte sich die SPD durchaus der Koalition verweigern und damit Neuwahlen nötig machen (oder gar eine rot-rot-grüne Koalition eingehen) können. “
Dazu hätte der Schröder aber erstmal dranbleiben und sich wählen lassen müssen; dann darauf spekulieren, dass der BuPrä bei nur relativer Mehrheit nicht ernennt sondern auflöst. Oder die Vertrauensfrage, aber erst nach der Ernennung. Aus der geschäftsführenden Regierung heraus geht gar nix (in dieser Hinsicht). alles sehr komplex und riskant. Kann man sich bei Schröder als typischen Gambler zwar vorstellen, aber er hat’s ja nicht gemacht. Er wollte lieber Putins Kohle geniessen. Und RRG ging damals einfach noch nicht. SchwarzGrünGelb (wäre möglich gewesen) lief damals ja auch noch unter pervers.
Zitat:
„Das wäre das Ende von Merkels Karriere gewesen;“
Wie gesagt, Schröder hätte Merkel in der berühmten Talgschau nur streicheln statt ausschimpfen müssen und die CDUler hätten sie weggemobbt.
Zitat:
„Eine dauerhaft sich auf der Mitte-Rechts etablierenden SPD aber würde der CDU die Luft zum Atmen abschnüren “
Du meinst, die Sozen könnten auch asymmetrische Demobilisierung, wenn sie nur wollten ?
Zitat:
„Ich habe wenig Hoffnung, dass dies die unverantwortlich agierende FDP arg domestiziert hätte“
Ich glaub schon. Davor hatte Bambi ja Angst, nitt ganz zu Unrecht in Anbetracht der Vorvorperiode. Was oft vergessen wird: Die CSU ist der eigentliche FDP-Fresser.
Zitat:
„und die ursprünglich stark neoliberal geprägte Parteiplattform des Leipziger Parteitags 2003 Bestand gehabt hätte“
Da is halt „der Wähler“ davor (die Wählerin erst recht); außerdem die CSU. Das funzt nicht.
Zitat:
„Insgesamt aber bleibt die Außenpolitik der Bundesrepublik sehr unberechenbar.“
So isses; sollte aber nicht so sein.
Die Tunix-Mentalität respektive – wie Kirkd ganz richtig schreibt – die Unfähigkeit länger tragende Allianzen zu bilden ist insbesondere (aber nicht nur da) europapolitisch tödlich. Eigentlich sind außen- und namentlich europapolitische Irritationen das allerletzte, was sich Deutschland leisten kann, aber man gönnt sich ja sonst nix.
Also: Merkel for Schlusslicht. Oder allenfalls vor Erhard kurz davor. Aber Erhard war eigentlich persönlich sympathisch und fachlich in seinem Spezialgebiet versiert, als BK aber vollkommen daneben. Aber das kommt ja hier noch^.
Klar war das ihr Wahlkampf. Ich wollte Merz und Kirchhof nur hervorheben als Symbole. The buck stops with her.
Stimme dir bei den Chancen alternativer Koalitionen zu. Gleiches bei Schröders ungeschicktem Taktieren.
Ob die SPD asymmetrische Mobilisierung kann ist unklar. Probiert haben sie es ja nie.
Sympathie spielt für das Ranking keine Rolle. Merkel war trotz alledem prägend. Im Guten wie im Schlechten.
@ Stefan Sasse on 5. Mai 2020
Wie von mir erwartbar, bin ich mit einer Platzierung Angela Merkels vor Helmut Schmidt überhaupt nicht einverstanden. Zum einen zählt hier (nicht mein Punkt, aber ich nehme ihn gerne bestätigend auf), dass Helmut Schmidt ein „Überzeugungstäter“ war, der für seine Werte und Ansichten einstand, auch wenn er dafür vom Hof gejagt wurde. Dann war er mit der Nachrüstung (wie Willy Brandt mit seiner Ostpolitik oder Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010) auch bereit, Kopf und Kragen für eine Politik einzusetzen, wenn sie ihm richtig erschien. Er stellte das Land über die Partei, und Überzeugungen oder ähnliches sucht man bei dieser Kanzlerin vergeblich.
Die Lösung, noch mehr Geld in eine weitere Sozialleistung mit dubiosem Effekt zu pumpen – das Betreuungsgeld -, während die Kitas dem rasant steigenden Bedarf wegen ihrer Unterfinanzierung nicht hinterherkamen, ist geradezu prototypisch für die Ära Merkel.
Ja. Das Konzept, einen Scheck auszuschreiben und ihn für gute Politik zu nehmen, ist in der Tat typisch für Merkels Regierungen.
Eine ähnliche Ausrichtung an einer sich ändernden Mehrheitsmeinung sehen wir beim Atomausstiegsausstieg und dem folgenden Atomausstiegsausstiegausstieg. So wie Rot-Grün mit großer Fanfare Kohls Rentenreform zurückdrehte, um den linken Parteiflügel zu befrieden, drehte Merkel zur Beruhigung des rechten Parteiflügels nach der Wahl 2009 den Atomausstieg zurück – nur um dann, ähnlich der Regierung Schröder mit der Rente, eine weitere 180°-Drehung hinzulegen und 2011 unter Eindruck der Katastrophe von Fukushima endgültig von der Atomkraft Abschied zu nehmen – nicht ohne die Energiewende Rot-Grüns torpediert und die Bundesrepublik auf Jahrzehnte auf die teuren, ineffizienten und schmutzigen Kohlekraftwerke als Zwischenlösung festgelegt zu haben.
Mit ein Grund, vielleicht der ausschlaggebende, war meiner Meinung nach die Landtagswahl in Baden-Württemberg, bei der herauskam, dass der damalige Ministerpräsident Mappus am Landesparlament vorbei und damit gesetzeswidrig das Land am (Atom-)Stromerzeuger EnBW beteiligte. Die Kanzlerin versteht genug vom Thema, um zu wissen, dass selbst bei einem derartigen Tsunami (der bei uns nie hätte auftreten können) die Kraftwerke sicher gewesen wären. Auch hat sich die Mehrheitsmeinung nicht geändert; das gros der Bevölkerung war schon vorher gegen Atomkraft zur Energieerzeugung.
Aber ja: die mit deutlich mehr Sachverstand eingeleitete Energiewende durch Rot-Grün ging den Bach runter, und was dann folgte, waren Chaos, überstürztes Handeln, der Verlust von Arbeitsplätzen im fünfstelligen Bereich, horrende Energiekosten etc.
Ebenfalls vor allem gesellschaftspolitisch relevant ist die Aussetzung der Wehrpflicht.
Da war sie schlichtweg feige. Man hätte diese „Wehrpflicht“ in eine Art soziales Jahr für alle ausdehnen sollen, dass von der Bundeswehr über Technisches Hilfswerk, Feuerwehr, Polizei bis hin zu Kranken- und Altenpflege oder der Betreuung von Kinder- und Jugendlichen und Unterstützung von anderen Problemgruppen (Immigration, Obdachlose, Frauenhäuser etc.) hätte reichen können. Das haben zwar auch ihre Vorgänger nicht kraftvoll angestrebt, aber sie hat die Tür für immer zugeschlagen.
Angela Merkel gebührt grundsätzlich der Verdienst, die CDU modernisiert und von einer Partei des 20. Jahrhunderts in eine des 21. Jahrhunderts verwandelt zu haben.
Wie bitte? Was heißt hier modern? Unter ihre Ägide wurde die moderne Energiepolitik von Rot-Grün an die Wand gefahren, es wurden keine modernen Verkehrskonzepte entwickelt, es wurde die Digitalisierung nicht vorangetrieben (weder in den eigenen Behörden noch als Infrastruktur), Bundeswehr und Polizei arbeiten nach veralteten Strukturen und mit veraltetem Material, die sich durch den Föderalismus ergebenden Bildungsprobleme wurden nicht angegangen – NICHTS. Wenn Abwarten und Tee trinken modern ist, dann (nur dann) haben wir in der Tat eine „moderne“ Kanzlerin.
Sie hat die CDU nicht modernisiert, sondern einfach nur die innerparteiliche Diskussion unterdrückt. Wer früher dem rechten bzw. konservativen Flügel angehörte, ist jetzt bei der AfD oder heimatlos; wer im linken Flügel war, ist Richtung grün gerutscht (da sind natürlich weder SPD noch LINKE eine Alternative). Ohne Corona-Krise (in der sie nichts zu sagen hatte, aber so tat) könnte man sie inzwischen einfach auffegen; mehr Substanz wäre nicht mehr da.
… das Abstreifen der Homophobie in der Partei …
Dein Ernst? Es war früher nie so schlimm wie befürchtet, und ist heute immer noch nicht so gut wie erhofft.
Die
erstegrößte innenpolitische Krise, die über das Land hereinbrach, …Sie „brach“ nicht „herein“, sondern schlich sich über einen langen Zeitraum an. Da war nichts überraschend (außer der Überraschung der Kanzlerin).
… war die Flüchtlingskrise 2015. Sie ist die wohl größte Hinterlassenschaft Merkels zur Veränderung der Republik. Rund anderthalb Millionen Menschen dürften zwischen 2015 und heute als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein; …
Da nimm mal eher zwei Millionen an. Zum einen weiß man bis heute nicht, wer alles gekommen ist; zum anderen zählt der Familiennachzug nicht als Zuwanderung und taucht aus gutem Grund in der Statistik nicht auf.
… ein Teil von ihnen wird für immer bleiben.
Das impliziert, dass ein anderer Teil wieder gehen wird. Er wird sehr klein sein.
Bereits vor der Flüchtlingskrise lag der Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund vor dem der USA (!), …
Dann schreib doch auch die Gründe dazu, warum das so ist …
. seit der Flüchtlingskrise dürfte niemand mehr behaupten wollen, wir seien kein Einwanderungsland.
Nein. Wir sind nur ein Einwanderungsland ohne klare Einwanderungsregeln.
Sehr gute Leistungen muss man der Regierung beim Bereitstellen von Unterkünften, Versorgung und Deutschkursen bescheinigen; …
Die Regierung hat nicht eine Flüchtlingsunterkunft gebaut, nicht einen Flüchtling direkt versorgt. Das waren Probleme, die die Länder bzw. Kommunen lösen durften. Am besten hat übrigens das oft beschimpfte Bayern die Situation in den Griff gekriegt; bemerkenswert, da sie praktisch jeden Flüchtling aufnehmen und bewältigen mussten, bevor er auf ein anderes Bundesland weiterverteilt wurde.
Die Aufgaben, für die die Regierung zuständig war, hat sie (vom typischen Scheckausstellen) weitgehend versenkt
• Sie hat im Vorfeld keine Vorbereitungen getroffen; ihre recht spontane Entscheidung hat Ministerien in Bund und Ländern über die Grenzen des Möglichen gebracht. Ohne extreme private Initiative wäre alles den Bach runter gegangen.
• Die Bundesregierung überwies den Ländern Gelder zur Unterstützung der Flüchtlinge, hat aber nicht sicherstellen können, dsas es da ankam. Während CDU- und CSU-regierte Länder die Bundesgelder einfach auf die Beiträge draufsattelten, die sie den Kommunen überwiesen, haben viele sozialdemokratisch regierte Bundesländer (allen voran Nordrhein-Westfalen mit Hannelore Kraft) das geld einfach verrechnet, und so auf Flüchtlingslosten den eigenen Haushalt saniert.
• Das überforderte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekam 2.000 neue Planstellen – das war’s. Anders als in früheren Krisen (z.B. Treuhand) wurden keine Beamten abkommandiert, um zu helfen. Als Ergebnis kam es zu monatelangen Verzögerungen bei Anträgen, Hilfen etc.
• Es gibt immer noch keine allgemeinen Regeln, immer noch kein Gesetzeswerk. Man ist der Meinung, dass alles in verschiedenen Gesetzen geregelt ist. Das meiste schon, teilweise aber auch unterschiedlich, teilweise sogar widersprüchlich.
Dafür ist mit Sicherheit nicht Merkel allein verantwortlich; eine extrem freundliche Presseumgebung und eine geradezu fahrlässige Normenverschiebung nach rechts gekoppelt mit der Selbstradikalisierung großer Teile des bürgerlichen Spektrums spielten mit eine entscheidende Rolle. Es ist aber klar, dass das ohne die Flüchtlingskrise nicht passiert wäre.
Wo Du das mit der extrem AfD-freundlichen Presse herhast, weiß der Teufel. Und ja, das Handling der Flüchtlingskrise durch Merkel, das Verweigern der Diskussion der Entscheidungen und Maßnahmen war Auslöser und Treibstoff für ein Erstarken der AfD, den starken Zulauf aus rechtsextremen Kreisen und für eine Radikalisierung eines Teils des Bürgertums. Auf so eine „Mutti“ kann ich echt verzichten.
Die zweite große innenpolitische Krise Merkels ist die Coronakrise, in deren Anfangsstadien diese Artikelserie entsteht.
Nach dem, was man gelegentlich hört, hat sie ein früheres gemeinsames Agieren in Europa aktiv verzögert. Innerhalb Deutschlands hat sie nicht viel zu melden, weil das in erster Ländersache ist. Die Arbeit in der Regierung hat Jens Spahn. Lobend zu erwähnen ist aber, dass Merkel nicht wie andere Regierungschef im Weg herumstand.
In den Bereich der Außenpolitik fällt Merkels dritte große Krise (und die erste ihrer Kanzlerschaft), die Eurokrise.
Gilt hier ähnlich: Innerhalb Europas hat sie erfolgreich moderiert, innerhalb Deutschlands hatte Steinbrück die Arbeit, aber sie stand auch hier nicht im Weg herum.
Zu Griechenland: Ich bin mir nicht sicher, welches der beste Weg gewesen wäre, aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass wir ihn nicht gefunden haben.
Im Jahr 2011 zeigte sich eine besorgniserregende Entwicklung, als FDP-Außenminister Westerwelle Deutschland international mit einer Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Libyen-Intervention brüskierte.
Libyen: Gaddafi hatte den Wahlkampf des französischen Präsidenten Sarkozy mitfinanziert; der drängte dann die USA, die Aufstände des arabischen Frühlings zu nutzen, um eine „demokratische Regierung in Libyen zu etablieren“. Die damalige US-Außenministerin Hillary Rodham-Clinton ging mit, und überredete den zögernden Obama zu einem Militäreinsatz.
Westerwelles einzige bemerkenswerte außenpolitische Tat war, sich bzw uns da rauszuhalten, was uns in der arabischen Welt Glaubwürdigkeit als Vermittler gab, und uns aus vielem Ärger heraushielt.
Ein letztes koalitionstechnisches Szenario wäre der Erfolg der Jaimaka-Verhandlungen 2017. Ich habe wenig Hoffnung, dass dies die unverantwortlich agierende FDP arg domestiziert hätte; vielmehr lässt einen die Vorstellung, Lindner und Kubicki würden in der aktuellen Corona-Krise Verantwortung tragen, erschaudern.
Au weia. Unverantwortlich ist solch ein großes Wort, dass zu einer so kleinen Partei wie der FDP gar nicht so recht passen mag. Die haben genug damit zu tun, sich ihre Klientel zu erhalten (nicht, dass ich über die Methoden meiner Partei stets begeistert bin). Ich habe damals die FDP gewählt, und konnte die Entscheidung, nicht in diese Regierung zu gehen (die ganz offensichtlich stark von schwarz-grün geprägt und auch in der Innen-, Finanz- und Wirtschaftspolitik wenig Platz für liberale Ansätze geboten hätte), nur zustimmen. Diese Meinung hat sich eher gefestigt; nicht, weil ich schwarz-rot für so toll halte, sondern weil ich sehe, wie scheißegal Merkel gewisse Dinge sind.
Was fehlt in Deiner Auflistung, als Ergebnis einer 15 Jahre dauernden Kanzlerschaft: Die starke innere Spaltung Deutschlands; die starke Spaltung Europas (mit teilweiser deutlich spürbarer Feindschaft aus Süd und Ost); ein stark gestörtes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten (Trump muss man nicht mögen, aber man muss mit ihm auskommen); das tatenlose Entgleitenlassen des Vereinigten Königreichs aus der EU.
Mag sein, dass es sich in den meisten Fällen nicht um aktives Agieren, sondern eher um unterlassene Hilfeleistung handelt. Aber wie Du anfangs schriebst, hat auch Nichtstun seine Konsequenzen.
Ist okay. Ich habe kein grundsätzliches Problem die Reihenfolge zu vertauschen.
Ich bin grundsätzlich kein Fan davon, Standhaftigkeit als Wert an sich zu sehen. Da bin ich bei Lafontaines Kritik der Sekundärtugenden.
Ich bin gegen ein soziales Pflichtjahr. Deswegen würde ich „Feigheit“ hier nicht stehen lassen, ich weiß nicht, warum das „mutig“ sein soll. Ich halte es für eine doofe Idee. Und das kann man diskutieren, aber es hat wenig mit Mut zu tun.
Ich sagte sie hat die CDU modernisiert, nicht das Land. Beispiele dafür hab ich gegeben, etwa in der Gesellschaftspolitik. Aber viel von dem alten rechten Wildwuchs ist unter ihr abgestorben oder in die Diaspora getrieben worden. Wenn man daran denkt, dass eine Erika Steinbach unter Schröder noch ernsthafte Staatskrisen mit Polen ausgelöst hat, kann man Merkel nur dankbar sein, diese irrlichternde Bande endlich aus der Partei gekriegt zu haben.
Von den jugoslawischen Flüchtlingen aus den 1990er Jahren ist mWn über die Hälfte wieder gegangen. Ich würde nicht unterschätzen, wie viele Syrer gerne in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn sich die Chance bietet. So toll ist deren Leben hier nämlich nicht.
AfD-freundliche Presse: Schau dir mal das TV-Duell an. Das war eine einzige AfD-Werbeveranstaltung.
Auch Merkels Kommunikation darf man in der Corona-Krise durchaus lobend erwähnen, genauso wie die aktiven Einkäufe von Tests ab Januar.
Ich bin wahrlich kein Freund von Merkels Kanzlerschaft. Aber sie hat das Land geprägt, allzuoft durch Unterlassen und Verzögern. Auch schlechte Entwicklungen sind halt Entwicklungen. Ich hab ja schon an anderer Stelle geschrieben, wir haben mit unseren Kanzlern ein saumäßiges Glück, dass wir ernsthaft darüber debattieren können, ob Merkel die schlechteste ist, die wir je hatten. Das muss man schon sagen.
@ Stefan Sasse 6. Mai 2020, 13:45
Ich bin grundsätzlich kein Fan davon, Standhaftigkeit als Wert an sich zu sehen. Da bin ich bei Lafontaines Kritik der Sekundärtugenden.
Ich verstehe den Punkt. Das bedeutet aber nicht, dass Bequemlichkeit, ein fehlen von Standpunkten und Werten sowie Entscheidungsunlust eine brauchbare Begründung für „Flexibilität“ abgeben. Keine Primärtugend (ihre nach außen hin getragene Bescheidenheit würde ich auch eher unter Sekundärtugend verbuchen). ist auch nichts, was man loben könnte.
Ich bin gegen ein soziales Pflichtjahr. Deswegen würde ich „Feigheit“ hier nicht stehen lassen, ich weiß nicht, warum das „mutig“ sein soll. Ich halte es für eine doofe Idee. Und das kann man diskutieren, aber es hat wenig mit Mut zu tun.
Na gut, „Feigheit“ ist von mir aus ein falscher oder zu starker Begriff. Und für eine Diskussion ist das hier das falsche Thema. Aber ich würde mich schon dafür interessieren, warum Du das ablehnst.
Ich sagte sie hat die CDU modernisiert, nicht das Land.
Das einzige, was sie gemacht hat, ist, jegliche Diskussion zu unterbinden. Selbst der eher bräsige Helmut Kohl umgab sich mit klugen Köpfen und Querdenkern á la Rita Süssmuth, Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler. Wen kannst Du aus Merkels langer Regierungszeit nennen, der ein ähnliches Kaliber hat? Ursula von der Leyen?
Wer durch Werte getrieben wird (mögen sie links oder rechts, progressiv oder konservativ sein), ist natürlich kein Ja-Sager. Aber andere hat Merkel nicht geduldet. Das ist nicht modern, das ist so altmodisch, wie es nur sein kann.
Aber viel von dem alten rechten Wildwuchs ist unter ihr abgestorben oder in die Diaspora getrieben worden.
Hier greifst Du zu wertenden Formulierungen, weil das eben nicht Deine Richtung ist. Aber es hat nichts mit Meinungsvielfalt zu tun, nichts mit offener Diskussion, sondern war reines Agieren zur Machterhaltung (mit den Folgen, die wir eben in der AfD sehen).
Von den jugoslawischen Flüchtlingen aus den 1990er Jahren ist mWn über die Hälfte wieder gegangen. Ich würde nicht unterschätzen, wie viele Syrer gerne in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn sich die Chance bietet. So toll ist deren Leben hier nämlich nicht.
Und sehr viele Türken taten das nicht. Da bekommen wir sicherlich noch Gelegenheit, das zu vertiefen.
AfD-freundliche Presse: Schau dir mal das TV-Duell an. Das war eine einzige AfD-Werbeveranstaltung.
Nehme ich anders wahr, und ein TV-Duell reicht nicht für Deine verallgemeinernde Behauptung.
Auch Merkels Kommunikation darf man in der Corona-Krise durchaus lobend erwähnen, genauso wie die aktiven Einkäufe von Tests ab Januar.
Ihr Verhalten in der Krise verbuche selbst ich auf der Habenseite ihre Kanzlerschaft. Immerhin: Ein Pluspunkt nach 15 Jahren ist auch was.
Aber sie hat das Land geprägt, allzuoft durch Unterlassen und Verzögern.
Also würde jemand, der 20 Jahre regiert und nichts tut, vor Merkel landen?
Auch schlechte Entwicklungen sind halt Entwicklungen.
Wenn das Dein Maßstab ist, dann hältst Du Trump für einen großen Präsidenten?
Ich hab ja schon an anderer Stelle geschrieben, wir haben mit unseren Kanzlern ein saumäßiges Glück, dass wir ernsthaft darüber debattieren können, ob Merkel die schlechteste ist, die wir je hatten. Das muss man schon sagen.
Ja, hast Du, und da mag ich dann nicht widersprechen.
Aber das es woanders schlechtere gibt, macht ihre Leistung nicht gut.
Völlig bei dir.
Ich finde es einen massiven Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte ohne eine ausreichende Rechtfertigung.
Keine Diskussion über die innerparteiliche Debatte, aber sie hat viel alten Mist über Bord geworfen.
Die Türken kamen aber auch als Arbeitsmigranten und nicht als Flüchtlinge!
20-Jahre-Frage: Kommt halt drauf an. Wenn in der Zeit nix passiert (sehr unwahrscheinlich) nicht, aber wenn die Person dadurch Pfade schließt oder öffnet, sicherluch.
Einmal in meinem Leben muss ich auch Merkel loben, jetzt ist es soweit. Die Entscheidung, Lockerungen den Ländern zu überlassen (wo sie auch hingehört), plus einer Grenze an Neuinfektionen für einen weiteren Lockdown, ist exakt das, was jetzt richtig ist:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-krise-bund-gibt-verantwortung-fuer-weitere-lockerungen-an-laender-ab-a-e7df4796-3ba3-424a-b51f-e76e3081f707
Ich sehe hier den Föderalismus als Stärke. Da auf Länderebene jetzt unterschiedliche Maßnahmen getroffen werden, haben wir 16 parallele Feldversuche. Dadurch lassen sich die positiven und negativen Wirkungen von einzelnen Maßnahmen analysieren. Bei einem einheitlichen Vorgehen gibt es diese Möglichkeit nicht. Der Schaden, den Maßnahmen mit negativen Folgen verursachen, wird zu einem positiven Lerneffekt für die übrigen – wenn man diese Chance nutzt.
Die hätten aber lieber Blöcke wie Süd/Nord/Ost bilden sollen. Den ganzen Kladderadatsch den Landkreisen zu überlassen ist Quatsch. Da steigt der Druck zwischen Sicherheit und Wirtschaft nur noch mehr. Und wenn nicht direkt eine Landkreis-Ausgangssperre verhängt wird, ist das vollkommen egal. Gibts denn Landkreise, die nicht winzig sind? Hier fährt man sowieso nach Bremen, wenn man bestimmte Dinge braucht und in die Nachbarkreise ist auch nicht weit. Und hier ist ja noch egal.
SH will ab 18. Mai wieder Touristen reinlassen. Und die Zahlen aus HH sind am Anfang in die Höhe geschossen, weil das ja so eine Metropole ist. Also geht das Theater von vorne los, nur ohne dass jemand eine größere Notbremse zieht. Und dann kann man auch nix mehr analysieren, weil man wieder Flöhe hüten muss und niemand weiß, wer wo ist.