Das große Kanzlerranking, Teil 3: Helmut Kohl


Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. In teil 2 war es Willy Brandt. Dieses Mal schauen wir zu Helmut Kohl.

KAS/ACDP 10-030 : 200 CC-BY-SA 3.0 DE

Platz 3: Helmut Kohl (1982-1998)

Helmut Kohl löste 1982 Helmut Schmidt mit dem ersten und einzigen erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum der bundesdeutschen Geschichte ab. Dass dies möglich war, lag an einer internen Machtverschiebung der FDP: Die Kräfte des sozialliberalen Flügels gerieten gegenüber dem wirtschaftsliberalen Flügel ins Hintertreffen. Die FDP betrieb den Koalitionsbruch und wählte Kohl zum Kanzler; dieser baute 1983 seine Mehrheit nach vorgezogenen Bundestagswahlen (auch auf Kosten der FDP) aus.

Er trat mit dem Versprechen einer „geistig-moralischen Wende“ an: Weg von den gesellschaftlichen Reformen der sozialliberalen Ära, hin zu einer Rückbesinnung auf das konservative Deutschland von früher, mit einem Schuss Angebotspolitik à la Thatcher und Reagan. Nichts davon geschah. Ohne Ereignisse von außen, die sich Kohl mit unvorgesehener Geschicklichkeit zunutze machte, wäre seine Kanzlerschaft eher in derselben Riege wie Kiesingers und Erhards geblieben.

Innenpolitik

Helmut Kohls Kanzlerschaft war vor allem eine der Kontinuität. In dieser Beziehung steht er seiner politischen Ziehtochter Angela Merkel in wenig nach. Vergleichsweise behutsam fuhr er einiges von dem, was er als Fehlentwicklungen der sozialliberalen Ära sah, zurück. Doch ähnlich wie die SPD akzeptierte die CDU die Bundesrepublik im Großen und Ganzen so, wie sie sie nach dem Koalitionswechsel überreicht bekam. Trotzdem setzte die Regierung Kohl einige Akzente, die die Bundesrepublik wenigstens im Kleinen prägen sollten. Anders als die Festsetzungen Adenauers und Brandts kann man jedoch von den meisten nicht behaupten, dass sie sonderlich groß waren.

Da wäre zuerst die Anerkennung der Umweltpolitik als Thema. Kohl setzte den ersten Umweltminister ein; ein Amt, in dem auch Angela Merkel sich später ihre Meriten verdienen würde. Gerade bei diesem Thema ist allerdings ziemlich unumstritten, dass auch eine SPD-Regierung ein solches Ministerium geschaffen hätte; zu eindeutig war der Zeitgeist. Zwar prägte die Umweltpolitik künftig die deutsche politische Landschaft mit, aber bis zu Schröders Kanzlerschaft war sie eher unter ferner liefen.

Ähnlich wenig bedeutend, wenngleich mit einigen Sekundäreffekten behaftet, war die große CDU-Spendenaffäre. Ich liste sie hier vor allem deswegen auf, weil sie die spätere Kanzlerschaft Merkels überhaupt erst möglich machte. Ohne sie wäre ziemlich sicher Schäuble der nächste CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat 2002 gewesen.

Ebenfalls von späterer Bedeutung war die Schaffung der Pflegeversicherung 1997. Doch auch hier gilt, dass eine solche auch von einer SPD-Regierung geschaffen worden wäre; ihr vergleichsweise geringes Volumen relegiert sie zudem klar gegenüber den bisher untersuchten Sozialstaatsreformen auf die hinteren Plätze. Dies mag sich allerdings in Zukunft noch ändern.

Bedeutender war demgegenüber schon Kohls Steuerreform. In einer mehrstufigen Überarbeitung der Einkommenssteuersätze wurde der „Mittelstandsbauch“ beseitigt, der deutsche Steuerrechtler lange zur Verzweiflung getrieben hatte. Gleichzeitig wurden die Höchststeuersätze gesenkt. Dies führte zu sinkenden Staatseinnahmen, die nirgendwo kompensiert wurden, und die schnell zu rasant steigenden Rekordschulden führten. Letztlich war es eine Steuersenkung auf Pump, wie sie ein Wahrzeichen der CDU-Reformpolitik bis zum heutigen Tag geblieben ist.

Einschneidend erweisen sollte sich dagegen die große Asyldebatte. Bereits in den 1980er Jahren forderte die Regierung Kohl eine Überarbeitung hin zu einer deutlichen Verschärfung des Asylrechts, für die sie freilich wegen der notwendigen Grundgesetzänderungen die Zustimmung der SPD brauchte. In diesem Zusammenhang wurde eine deutliche Verschärfung der Sprache in Diskussionen rund um Migration und Integration nicht nur willentlich in Kauf genommen, sondern auch aktiv befördert.

Diese Entwicklung erklomm nach der deutschen Einheit rasch einen neuen Höhepunkt, vor allem unter dem Eindruck des rasanten Anstiegs der Asylbewerberzahlen im Rahmen des jugoslawischen Bürgerkriegs. Angesichts des unsicheren Schicksals der neuen osteuropäischen Demokratien konnte sich die SPD dem Änderungsdruck auch nicht mehr erwehren, weswegen das Asylrecht 1993 deutlich verschärft wurde. Die Debatte stellt kein Ruhmesblatt der Kohl-Regierung dar, schon alleine deswegen nicht, weil die rechtsextremistischen Übergriffe bis hin zum Terrorismus weitgehend ignoriert wurden. Dazu gehört auch, die Gefahr des Rechtsextremismus in Ostdeutschland nicht anzugehen, sondern sich stattdessen anzuschmiegen, wie es etwa die CDU Sachsen tat.

Eine Weichenstellung von kaum zu überschätzender Bedeutung war dagegen die Medienpolitik Helmut Kohls. Während sich Helmut Schmidt noch mit Händen und Füßen gegen die Öffnung des Fernsehens für private Sender gewehrt hatte, gewährte Helmut Kohl dem ganzen Unternehmen, das sein langjähriger Spender gefordert hatte, durch ein exklusives Format („Zur Sache, Herr Kanzler“) reichlich Schützenhilfe. In rascher Folge wurden Sat1 und RTL gegründet und beglücken uns seither mit qualitativ hochwertiger Ware rund um die Uhr.

Doch die medienpolitischen Weichenstellungen der Kohl-Regierung enden nicht im Privatfernsehen, das auch eine breitflächige Verkabelung notwendig machte (Kosten, die, anders als heute schnelles Internet, selbstverständlich vom Staat getragen wurden). Als die Entscheidung anstand, in die angesprochene Verkabelung zu investieren, mussten auch die Telefonleitungen neu gemacht werden. Die Alternativen waren Fieberglas oder Kupfer. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung von der Materie hatte, riet in heftigster Weise von Kupfer ab. Kohls Postminister Schwarz-Schilling aber, der Kupferindustrie geschäftlich verbunden, optierte für Kupfer – und verdammte die Bundesrepublik zu der bis heute andauernden Internet-Diaspora mit miesen Verbindungsqualitäten.

Die allergrößte Weichenstellung der Kohl-Ära aber ist natürlich der innenpolitische Teil der Wiedervereinigung. Hier müssen vor allem zwei Stichworte fallen: Treuhand und Aufbau Ost.

Die Treuhand war der Versuch, ohne Verstaatlichungen die Industriebetriebe Ostdeutschlands abzuwickeln. Es wird für ewig umstritten bleiben, inwieweit die Treuhand rein zerstörerisch wirkte und in unnötigem Ausmaß sanierungsfähige Betriebe auflöste und die Filetstücke an den Westen verschacherte, wie ihre Kritiker behaupten, oder wie unmöglich die Sanierung der meisten Betrieb von Anfang an war. Fakt ist, dass die Treuhand der Privatisierung den Vorzug vor Sanierung gab und damit das Schicksal der maroden DDR-Betriebe besiegelte.

Ich tendiere zu der Annahme, dass angesichts der grausigen Lage der DDR-Wirtschaft – das ganze Ausmaß des dortigen Bankrotts wurde erst in den letzten anderthalb Dekaden wirklich ausgeforscht – ein Schwerpunkt auf Sanierung letztlich eine zeitlich nicht begrenzbare Subventionierung unrentabler Branchen bedeutet hätte, mit Niedriglöhnen und ohne Aussicht auf Erfolg. Die Treuhand fuhr demgegenüber eine Schockstrategie, aber ich halte es für zu optimistisch anzunehmen, dass subventionierte Dauerbaustellen den Osten besser befriedet hätten, als angesichts der Massenarbeitslosigkeit der Fall war. Diese kam ob der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und er verdeckten Arbeitslosigkeit in der DDR (die von Experten auf bis zu ein Viertel geschätzt wird!) so oder so.

Es ist auch nicht bekannt, dass die jahrzehntelang subventionierten Kohlekumpel des Ruhrgebiets und des Saarlands ihr Schicksal mit größerer Fassung getragen hätten. Daher sehe ich am Endergebnis – Massenarbeitslosigkeit und hohe Kosten – letztlich als alternativlos, und die Frage, wo die Kosten entstanden wären, als weitgehend akademisch.

Ähnlich sieht das bei der Weichenstellung für den Aufbau Ost aus. Hier gibt es ein kontrafaktisches Szenario, das ich weiter unten diskutieren will, aber grundsätzlich hätte auch eine SPD-Regierung riesige Transfers installiert, um die Lebensstandards anzugleichen und „blühende Landschaften“ zu schaffen. Offiziell sollte dies 20 Jahre dauern; intern rechneten Experten mit 40 Jahren. Diese haben wir jetzt erreicht – und letztlich muss man dem Aufbau Ost eine Erfolgsgeschichte bescheinigen. Die vom Grundgesetz geforderte Angleichung der Lebensverhältnisse ist zwar bei weitem noch nicht erreicht.

Aber wenn man sich ansieht, von welchem Stand man den heutigen erreicht hat, und welche gewaltigen regionalen Disparitäten westliche Länder wie Frankreich, Großbritannien oder gar die USA ohne 40 Jahre realsozialistischer Misswirtschaft kennen, dann muss man vor den Leistungen des Aufbau Ost den Hut ziehen. Kohl hätte sicherlich so manches hier besser machen können. Aber das sind Detailfragen. Die grundsätzliche Stoßrichtung bleibt Notwendigkeit.

Außenpolitik

So durchwachsen Kohls Bilanz in der Innenpolitik auch ist, so unbestritten sind seine Verdienste in der Außenpolitik. Kein Kanzler seit Adenauer konnte Deutschlands Rolle in der Welt so nachhaltig ändern wie Kohl. Er präsidierte (kanzlerte?) über den Wandel Deutschlands von einem primus inter pares zur unangefochtenen Schlüsselmacht in Europa. Dabei wurden Grundsatzentscheidungen getroffen, die durch die Kanzlerschaften Schröders und Merkels nachhallten und auch Merkels NachfolgerInnen binden werden.

Die größte dieser Weichenstellungen ist sicherlich die Wiedervereinigung. Ich werde in der Sektion der nicht gegangenen Wege genauer auf die Gründe eingehen, aber meine grundsätzliche Prämisse ist folgende: Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung war sehr kurz. Wir reden von nicht einmal einem Jahr. Entsprechend schnell musste Kohl agieren. Zudem galt es, mit mindestens (!) fünf anderen Staaten eine Übereinkunft zu treffen, von der Konsensfindung im eigenen Land gar nicht zu reden. Das war eine gewaltige Aufgabe. Dass Kohl sie mit Bravour löste, wird immer seine herausragende Leistung bleiben und ist in meinen Augen in der Außenpolitik der BRD unübertroffen.

Das Managment der deutschen Einheit erforderte einige Weichenstellungen. Relativ unbedeutend war das Transferieren einiger Milliarden an die UdSSR, damit diese bis 1994 ihre Truppen abzog. An Geld hat es der deutschen Außenpolitik noch nie gemangelt (anders als der sowjetischen Wirtschaft). Das Bestätigen der weiteren NATO-Mitgliedschaft war ebenfalls unumstritten und beruhigte vor allem die USA.

Wesentlich problematischer war, die Zustimmung von Großbritannien und Frankreich zu erhalten. Hierzu ging Kohl zwei Verpflichtungen ein. Beide waren ihm als überzeugtem Europäer nicht fern. Einerseits blieb das wiedervereinigte Deutschland Mitglied in der EG, während die EG zur EU werden sollte. Andererseits würde diese EU eine gemeinsame Währung einführen, eine Forderung vor allem der Franzosen.

Beide EU-Reformen würden gewaltige Langzeitkonsequenzen haben. Offenkundig ist die Umwandlung der EG in die EU ein Paradigmenwechsel, der mit EU-Staatsbürgerschaft, dem Schengenabkommen und dem Vertrag von Maastricht nur unzureichend umrissen ist und die Lebensrealität weit über Deutschland hinaus maßgeblich geändert hat. Die Einführung des Euro ist eine Grundsatzentscheidung Kohls, deren Auswirkungen erst in der Kanzlerschaft Merkels wirklich spürbar wurden und dort tiefgreifender behandelt werden sollen.

Ebenfalls in Kohls Kanzlerschaft fällt die Entscheidung zur EU-Erweiterung nach Osten (die für die Erweiterung von 1995 war eine logische Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, wegen der Finnland, Schweden und Österreich bislang nicht hatten Mitglied sein können). Auch diese Entscheidung würde in ihrer Tragweite große Konsequenzen haben, die erst in der Kanzlerschaft Merkels wirklich spürbar werden würden.

Allen EU-Entscheidungen aber ist gemein, dass sie von so vielen Akteuren kollaborativ getroffen wurden, dass es schwer ist, sie direkt Kohl zuzuschreiben. Unzweifelhaft stand er ihnen nicht im Weg und hat sie im Sinne deutscher Interessen, wie er sie verstand, beeinflusst. Aber insgesamt muss wohl festgestellt werden, dass diese mehr in die Kanzlerschaft Kohl fallen als von ihr ausgingen.

Deutlich aktiver dagegen sehen wir die Rolle des Kanzlers bei der Bundeswehr und im Balkan. Es war Kohl, der die ersten deutschen Soldaten in den Auslandseinsatz schickte (1994 nach Somalia) und damit ein Grundsatzurteil des BVerfG erforderlich machte, das den Charakter der Bundeswehr als Interventionsarmee grundsätzlich ermöglichte, aber dem Parlamentsvorbehalt unterstellte. Dies wurde kurz darauf sehr relevant, als Deutschland – das neue Gewicht als europäische Regionalmacht nutzend – massiv auf dem Balkan intervenierte und die Auflösung Jugoslawiens vorantrieb. Später steuerte Kohl das Land nach einer Beteiligung an der Friedenserhaltungsmission SFOR auf eine deutsche Beteiligung im sich anbahnenden Krieg gegen Serbien hin. Dieser würde dann von der Regierung Schröder ausgeführt werden, aber die grundsätzliche Entscheidung traf Kohl.

Nicht gegangene Wege

Die Natur der Möglichkeiten zu Weichenstellungen, welche sich Kohl boten, erlaubt einige relevante kontrafaktische Szenarien, vor allem im Rahmen der Gestaltung der deutschen Einheit. Ich hatte eingangs das knappe Zeitfenster erwähnt. Wenn sich die Verhandlungen bis zu Gorbatschows Sturz 1991 hingezogen hätten, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass seine Nachfolger nicht bereit gewesen wären, die DDR so billig aufzugeben wie er. Allein das wirft gigantische Unwägbarkeiten in den Weg.

Es ist aber natürlich auch vorstellbar, dass Kohl die Gelegenheit schlicht nicht ergreift. Sein direkter Konkurrenz Oskar Lafontaine war wahrlich nicht der Einzige, der damals gegen die Einheit war, vor allem gegen die Einheit in dieser Geschwindigkeit. Auch die DDR selbst, sowohl ihre (rapide an Legitimität verlierende) Regierung als auch die Opposition, waren keine Freunde eines Beitritts zum Bundesgebiets. Grundsätzlich wäre etwa eine Art Föderationslösung vorstellbar gewesen – mit kaum zu übersehenden Folgen. Offene Grenzen, direkte Wirtschaftskonkurrenz und der bekannt marode Zustand der DDR würden de facto zu einem Billiglohnkonkurrenten im eigenen Land geführt haben, mit Verwerfungen auch in der westdeutschen Wirtschaft, gegen die die Globalisierung sich wie ein laues Lüftchen ausnimmt.

Ein letztes Szenario wäre ein unkontrollierter Zusammenbruch der DDR, der den gesamten Ostblock ins Chaos stürzt, entweder mit oder ohne Intervention der UdSSR, mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die sich in die BRD ergießen. Auch diese Alternative ist vorstellbar – auch wenn man die Übung lieber nicht unternehmen will.

Demgegenüber sind kleinere alternative Szenarien – ein anderer Umtauschkurs der D-Mark etwa oder eine andere Gestaltung der Treuhand – geradezu überschaubar. Die deutsche Einheit war eine Zeit voller Unsicherheiten, die in viele Richtungen hätte ausgehen können. Dass sie so gut ausgegangen ist wie sie ausging – das ist Kohl.

Ein weiteres Szenario, das sich im Umfeld der deutschen Einheit ergibt, wäre das Scheitern des Verhandlungsformats 2+4. Um ein Szenario wie Versailles zu vermeiden, wurden die Verhandlungen auf die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten begrenzt. Aber wenn, wie teilweise gefordert, auch andere Länder teilgenommen und/oder Reparationsforderungen gestellt worden wären, wären die Verhandlungen anders verlaufen – vor allem deutlich langsamer, was dann zu den bereits beschriebenen Problemen führt. Dies war allen Teilnehmern bewusst. Gerade die Griechen dürften ihre Zustimmung zum Verzicht auf Reparationen aber inzwischen bereut haben.

Ebenfalls spannend wäre die Frage, was geschehen wäre, wenn CDU und FDP darauf verzichtet hätten, ihre jeweiligen Blockflöten zu integrieren. Die SPD hatte ja ein Angebot der moderaten Teile der SED auf dem Tisch liegen, die Partei zu verlassen und zur SPD überzutreten. Dies hätte die Existenz der SED praktisch unmöglich gemacht und der SPD eine Machtstellung im Osten verschafft. Die SPD lehnte dies damals ab. CDU und FDP waren weniger skrupulös; sie vergaben und vergaßen den Blockflöten alles und nahmen ihre Hilfe im Wahlkampf an, den sie danach auch gewannen (nicht ohne Schützenhilfe eines irrlichternden Lafontaine, nebenbei bemerkt). Ein solches Szenario würde ein völlig anderes Parteiensystem im Osten Deutschlands bedeuten, und vermutlich auch eine deutlichere Trennung der beiden Landesteile.

Als letztes Einheitsszenario will ich die Option nennen, den Aufbau Ost als eine Art libertäre Dystopie zu begehen – völlig ohne Transferleistungen und Angleichung von Sozialleistungen. In diesem Fall haben wir einen wesentlich brutaleren Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, massenhaft Flüchtlinge in den Westen und desolate Landschaften. Zu keinem Zeitpunkt wurde diese Idee auch nur ansatzweise diskutiert – zu offensichtlich waren die Folgen.

Bevor wir Kohls Kanzlerschaft verlassen, brauchen wir noch ein weiteres, zentrales kontrafaktisches Szenario. Eine der schwerwiegendsten Nicht-Entscheidungen Kohls war es, sich auf die Behauptung zu versteifen, Deutschland sei kein Einwanderungsland und keine relevanten Schritte in der Integration der vielen ausländischen Mitbürger zu unternehmen. Dies sollte gigantische Folgeprobleme haben, die zu den Erblasten gehören, die Schröders und Merkels Kanzlerschaften hinterlassen wurden und die auch Merkels NachfolgerIn plagen werden. Fairerweise muss man sagen, dass Kohl dieses Problem von Schmidt, der von Brandt und der es von Kiesinger erbte. Aber es ist nicht schwer, sich ein Szenario auszumalen, in dem Kohl bessere Entscheidungen auf diesem Feld trifft und Deutschland von Anfang an die Realitäten anerkennt, statt sich 25 Jahre lang in die Tasche zu lügen.

Wer sitzt auf Platz 4 des Rankings? Lest unbedingt weiter!

{ 95 comments… add one }
  • Felix Benkenstein 3. Mai 2020, 10:10

    Platz 3 geht in Ordnung. Auch wenn die Spendenaffäre doch schwer wiegt. Ein nicht unerheblicher Teil seiner innerparteilichen Macht beruhte eben auf schwarzen Kassen. Aber seine außenpolitischen Leistungen sind derartig herausragend, dass ich ihn dann doch nicht hinter Schmidt auf Platz 4 setzen würde.

    Mein Ranking:
    Adenauer
    Brandt
    Kohl
    Schmidt
    Schröder
    Merkel (für bald 16 Jahre Kanzlerschaft ist ihre Bilanz recht mager)
    Kiesinger
    Erhard

    • R.A. 3. Mai 2020, 10:34

      „Ein nicht unerheblicher Teil seiner innerparteilichen Macht beruhte eben auf schwarzen Kassen.“
      Das sollte man nicht überschätzen. Jeder wichtige Politiker nutzt Möglichkeiten, um geleistete Dienste auch finanziell zu vergüten. Daß Kohl neben der üblichen Pfründenvergabe noch ein paar Mark mehr in Reserve hatte war nicht ausschlaggebend.
      Kohls wesentliche Machtbasis war sein persönliches Netzwerk über alle Funktionsebenen der CDU, daß er auch mit großem Aufwand gepflegt hat.

    • Erwin Gabriel 3. Mai 2020, 13:00

      @ Felix Benkenstein 3. Mai 2020, 10:10

      Auch wenn die Spendenaffäre doch schwer wiegt. Ein nicht unerheblicher Teil seiner innerparteilichen Macht beruhte eben auf schwarzen Kassen.

      Auf der einen Seite: Ja. Ein „Ehrenmann“ war er am Schluss nicht mehr (es sei denn, man legt die „Omerta“ als Maßstab an)
      Auf der anderen Seite: Auch SPD und CDU bekamen Geld angeboten, und nahmen es. Und ohne seine Netzwerk-Fäigkeiten und sein überragendes Gedächtnis für Namen und Gesichter aus dem „Fußvolk“ hätten die Kassen dem Kanzler vermutlich nicht viel genutzt.

      Aber seine außenpolitischen Leistungen sind derartig herausragend, dass ich ihn dann doch nicht hinter Schmidt auf Platz 4 setzen würde.

      Definitiv!

      Mein Ranking:
      Adenauer
      Brandt
      Kohl
      Schmidt
      Schröder
      Merkel (für bald 16 Jahre Kanzlerschaft ist ihre Bilanz recht mager)
      Kiesinger
      Erhard

      Dem kann ich weitgehend folgen, auch der Einschätzung zu Merkel. Für mich nicht ganz geklärt sind die Positionen zwischen Schröder und Schmidt. Aber da sie ihre Leistungen auf unterschiedlichen Gebieten erbrachten, ist das kein kriegsentscheidendes Drama.

    • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:20

      Ich konnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, Kohl unter Platz 3 laufen zu lassen.

      • Erwin Gabriel 4. Mai 2020, 09:02

        @ Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:20

        Ich konnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, Kohl unter Platz 3 laufen zu lassen.

        🙂 Passt doch.

        Ich mag ihn immer noch nicht, aber die Einheit war schon großartig gemacht.

  • R.A. 3. Mai 2020, 10:31

    Auch hier in erster Linie Zustimmung und auch mal einen herzlichen Dank für diese schöne Reihe.

    Und einige kleinere Anmerkungen:

    „Dass dies möglich war, lag an einer internen Machtverschiebung der FDP“
    Nicht wirklich. Die eigentliche Ursache des Mißtrauensvotums lag an einer internen Machtverschiebung der SPD.
    Im Zuge der Nachrüstungsdebatte hatte Schmidt eklatant auf dem Parteitag verloren, die Parteimehrheit wollte auch wirtschafts- und finanzpolitisch nicht mehr auf dem Kanzlerkurs bleiben.
    Innerhalb der FDP gab es inhaltlich eigentlich gar keine Verschiebungen. Sondern nur die Reaktion, daß mit der neuen SPD keine Koalition mehr möglich sei.

    „Zwar prägte die Umweltpolitik künftig die deutsche politische Landschaft mit, aber bis zu Schröders Kanzlerschaft war sie eher unter ferner liefen.“
    Das kann man nicht wirklich sagen.
    Die ganz entscheidende Phase der deutschen Umweltpolitik waren die frühen 70er Jahre. 1971 das sehr ambitionierte Umweltprogramm der Bundesregierung, 1972 bekam der Bund die Zuständigkeit für Umweltfragen, 1974 Gründung des Bundesumweltamts und vor allem Beschluß des Bundes-Immissionsschutzgesetzes.
    Daß wir heute wieder saubere Luft und saubere Flüsse haben liegt weitgehend an den damals beschlossenen Maßnahmen. In der Folgezeit hat es natürlich noch eine Fülle von weiteren Gesetzen und Verordnungen gegeben – aber das waren im wesentlichen Detailregelungen mit sehr eingeschränkter Wirkung.
    Die Einsetzung eines Umweltministers war eine PR-Maßnahme nachdem die eigentliche Arbeit längst erledigt war. Und daß dann einige linke Splittergruppen sich zu den „Grünen“ zusammentaten und behaupteten, mal etwas für den Umweltschutz zu tun, das war eher Erbschleicherei. De facto haben die Grünen für den deutschen Umweltschutz nicht viel erreicht.

    „Dies führte zu sinkenden Staatseinnahmen“
    Wie kommst Du darauf? Bis auf kleinere statistische Schwankungen sind die deutschen Steuereinnahmen über alle Reformen hinweg stetig gestiegen.

    „Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung war sehr kurz.“
    Absolut. Man kann viel Detailkritik an manchen Punkten des Einigungsprozesses finden – aber im wesentlichen mußte das schnell über die Bühne gehen und das ist gut gelungen.

    Abschließend: Kohl war in meinen Augen der letzte Kanzler einer Generation, die zur Durchsetzung von politischen Zielen in die Politik gegangen ist. Adenauer, Ehrhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl – für die war die Kanzlerschaft die Möglichkeit Sachen umzusetzen, für die sie sich persönlich immer engagiert hatten. Bei Kohl war das Hauptziel die europäische Einigung, dafür hat er dann auch unpopuläre Sachen wie den Abschied von der DM in Kauf genommen.

    Bei Schröder ging es dann schon in erster Linie um die persönliche Karriere, siehe seine Wandlungsfähigkeit zwischem linken Lafontaine-Kurs und Agenda. Und natürlich seine prinzipienlose Verkäuflichkeit nach Amtsende.
    Und bei Merkel gibt es überhaupt keine politischen Überzeugungen mehr. Sie wartet ab, wie sich die Umfragen und Medien-Mehrheit entwickelt, um das dann zu ihrem Anliegen zu machen. Es war zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere zu erkennen daß sie irgendeine konkrete Vorstellung hat, wie sich Deutschland entwickeln soll. Der Kontrast zu „Überzeugungstätern“ wie Brandt oder Kohl ist krass.

    • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:21

      Mein Wissensstand war, dass Kohl den Euro durchaus auch begrüßte und nicht quasi gezwungen werden musste.

      • R.A. 3. Mai 2020, 19:21

        Das ist richtig. Kohl teilte die DM-Nostalgie nie.
        Aber er wußte, daß das (gerade in der CDU) eine eher unpopuläre Sache war. Viele andere Politiker hätten deswegen darauf verzichtet – er hat es durchgezogen, weil er inhaltlich davon überzeugt war.

    • Erwin Gabriel 4. Mai 2020, 09:31

      @ R.A. 3. Mai 2020, 10:31

      Zustimmiung zu den meisten Punkten

      Und daß dann einige linke Splittergruppen sich zu den „Grünen“ zusammentaten und behaupteten, mal etwas für den Umweltschutz zu tun, das war eher Erbschleicherei.

      Ja. Das war damals schon eine ziemlich wuschige Bande. Von Herbert Gruhl über Otto Schily bis zu KPD-Vertretern. Lange her.

      De facto haben die Grünen für den deutschen Umweltschutz nicht viel erreicht.

      Gutes und Schlechtes; Sie haben auf der einen Seite allein durch ihre Existenz das Thema Umwelt in den Focus der Bevölkerung gehalten, auf der anderen Seite auch dafür gesorgt, dass viele Bürger meinten, allein das Kreuz bei ihnen sei schon eine gute Umwelttat.

      Betrachte ich alles eher mit gemischten Gefühlen.

  • Kning4711 3. Mai 2020, 11:04

    Abschließend: Kohl war in meinen Augen der letzte Kanzler einer Generation, die zur Durchsetzung von politischen Zielen in die Politik gegangen ist. Adenauer, Ehrhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl –
    Zustimmung, wobei ich glaube, dass all diese Politiker nicht zuletzt von den persönlichen Erfahrungen des zweiten Weltkriegs geleitet wurden. Den völligen Zusammenbruch des Landes erlebt zu haben, der Zerfall von Zivilisation und Ordnung das hat Spuren hinterlassen. Kohl war ein geschichtsbewusster Mensch – er sah in der Aufnahme der Osteuropäer in die EU eine Notwendigkeit vergangenes Unrecht zu Sühnen. Es war damals noch nicht abzusehen, dass einige Staaten autoritären Demagogen verfallen sollten.

    Kohls historische Leistung besteht in meinen Augen darin, dass gesamte außenpolitische Kapital aus 40 Jahren Bundesrepublik so eingesetzt zu haben, dass die Wiedervereinigung möglich wurde. Mit Fortune und einem Schuss Wagemut sprang der Kanzler ab dem 09. November ein Stück weit in eine ungewisse Zukunft. Fairerweise wurde er vom Koalitionspartner gut unterstützt. Der 10 Punkte Plan zur Einheit war weder mit CDU Bundesvorstand noch der FDP Führung abgestimmt, als Sie in den Bundestag eingebracht wurde. Mit Genscher und Schäuble fand Kohl Mitstreiter, die sich der Wiedervereinigung mehr verpflichtet fühlten, als Ihrem Parteibuch. Zum Glück befand sich Maggie Thatchers Stern schon am sinken. Es gelang ihr weder mit Bush sen. noch Mitterand Widerstand gegen die Einheit zu mobilisieren.

    Die Spendenaffäre lässt sich nicht wegdiskutieren. Sie diskreditiert Kohl als Helden, aber die Leistungen im Rahmen der Wiedervereinigung verlangen Respekt und historische Anerkennung.

  • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 12:23

    In Summe eine weit fairere Einordnung als bei Willy Brandt, was ja bereits ausreichend kritisiert wurde. Als Zeitgenosse hätte ich wahrscheinlich etwas härter geurteilt. Dennoch gehst Du auch hier Deiner Neigung nach, Wissenslücken großzügig mit politischer Wertung aufzufüllen. Fraglos die eklatantesten Fake News finden sich hier und ich frage mich, wie kommst Du darauf?

    Bedeutender war demgegenüber schon Kohls Steuerreform. In einer mehrstufigen Überarbeitung der Einkommenssteuersätze wurde der „Mittelstandsbauch“ beseitigt, der deutsche Steuerrechtler lange zur Verzweiflung getrieben hatte. Gleichzeitig wurden die Höchststeuersätze gesenkt. Dies führte zu sinkenden Staatseinnahmen, die nirgendwo kompensiert wurden, und die schnell zu rasant steigenden Rekordschulden führten. Letztlich war es eine Steuersenkung auf Pump, wie sie ein Wahrzeichen der CDU-Reformpolitik bis zum heutigen Tag geblieben ist.

    Die Stoltenberg’sche Steuerreform trat zum 01.01.1990 in Kraft. Zu der Zeit konnte noch niemand absehen, welche Kostenlawine tatsächlich auf den Bundeshaushalt zurollen würde. Wenige Wochen zuvor war gerade die Berliner Mauer gefallen, ein gemeinsames Staatswesen war nicht einmal am Horizont zu erkennen.

    Nach den Zahlen des Bundesfinanzministeriums stiegen die Einnahmen aus der Lohnsteuer allein von 1986 auf 1989 um 20%, während die Arbeitnehmerentgelte lediglich um 14% zulegten. Die veranlagte Einkommensteuer legte gar um 23% zu.
    https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Steuerschaetzungen_und_Steuereinnahmen/2-kassenmaessige-steuereinnahmen-nach-steuerarten-1950-bis-2017.html;jsessionid=35A95A5F38609BAE6E7AC77BE22E12AC.delivery2-replication

    Betrachten wir den Übergang von 1989 auf 1990, so sanken die Einnahmen aus der Lohnsteuer um rund 2 Milliarden Euro oder 2,3%. Dennoch lagen die Einnahmen damit über 5 Milliarden Euro über dem Stand von 1988. Die veranlagte Einkommensteuer zeigte keine Verluste und verharrte auf dem Vorjahresstand. Kurz gesagt, Deine Behauptung ist völliger Blödsinn oder maßvoller: unseriös und Fake News.

    Tatsächlich wuchsen die Ausgaben des Bundes danach dramatisch, was sich durch das Generieren von Steuereinnahmen in der Kürze nicht ausgleichen ließ.

    1. Umweltpolitik

    Auch hier gilt mein zuvor gemachter Vorwurf. Nur weil Du später geboren bist, ist da die Welt nicht erst entstanden. Das Amt des Bundesumweltministers wurde in der Schockstarre geschaffen, als im fernen Tschernobyl ein Kernkraftwerk kollabierte und in Westen Ängste Raum griffen. Der erste Amtsinhaber, Klaus Töpfer, war dann auch an der Entwicklung des Kyoto-Protokolls zur Eindämmung des Treibhausgases Kohlendioxid beteiligt. Dieses Abkommen ist noch heute der Master für weltweite Vereinbarungen zur Bekämpfung des Klimawandels. Wie schon früher geschrieben, trat Paris eher dahinter zurück. Auch die Schließung des Ozonlochs wurde durch weitreichende Maßnahmen in die Wege geleitet.

    Die Reinigung der Flüsse und die Bekämpfung des Sauren Regens fällt ebenfalls in die Regierungszeit von Helmut Kohl. Als Rot-Grün auf den Plan trat, waren die wichtigsten Weichen längst gestellt. Die Regierung mit der Umweltpartei in Regierungsämtern verregulierte eher den Umweltbereich, was Dir vielleicht spektakulär erscheint, für Umwelt und Klima aber eher weniger bringt.

    Die Formulierung, Angela Merkel habe sich „Meriten“ erworben, ist eher ein Euphemismus. Ihre Spuren sind die seichtesten aller bisherigen Umweltminister.

    2. Asylrecht

    Das Asylrecht ist als Individualrecht ausgestaltet. Es war nie dazu gedacht, jährlich tausende oder gar hunderttausende angeblich Schutz suchende Menschen aufzunehmen. Schon Ende der Achtzigerjahre zeigte sich, dass das Individualrecht unter dem Ansturm von Millionen Flüchtlingen nicht mehr exekutierbar war. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Einwanderung von unzähligen Flüchtlingen vom Balkan, Osteuropa und Asien führten zu einer Überforderung der Gesellschaft. Damals wie heute gilt: das kann niemand ernsthaft wollen, der an einem funktionierenden Staatswesen interessiert ist. Tatsächlich nahm die Bundesrepublik in diesen Jahren sehr viele Zuwanderer auf, hinzu kam die innerstaatliche Migration durch Ostdeutsche, die in den Westen wechselten. Über solche Spannungen lässt sich leicht aus dem Sessel räsonieren.

    Nie sind rechtsextreme Strömungen unter Kohl so bedeutend und so beängstigend geworden wie das unter Merkel der Fall ist. Auch das ist heutiges Politikversagen.

    3. Treuhand und Aufbau Ost

    Die Treuhand wechselte in ihrer Geschichte mehrmals die Strategie, was kaum aus dem Kanzleramt gesteuert wurde. Erst sehr spät verfolgte man die schon frühzeitig von Kurt Biedenkopf ins Spiel gebrachte Idee der industriellen Leuchttürme, die der spätere Sachsenpremier so erfolgreich implementierte. Ursprünglich glaubte man in Bonn wirklich, werthaltige Unternehmen übernommen zu haben, schließlich galt die DDR als eine der größten Industrienationen der Welt. Wie groß die Fata Morgana war, erfuhr man erst beim Praxistest.

    Ja, viele West-Konzerne fürchteten damals die Billigkonkurrenz aus dem Osten. Ich habe in der Zeit Unternehmen in den Neuen Bundesländern geprüft. Die Gefahr echter Konkurrenz war denkbar gering. Dies galt erst recht, da der gesamte Rechtsrahmen der West-Republik auf den Osten ausgedehnt wurde. Innerhalb kurzen Fristen mussten auch im Osten Umwelt-, Arbeitssicherheits- und Sozialrechtsstandards erfüllt werden – eine kaum zu bewältigende Aufgabe, von dem dafür notwendigen Investitionsvolumen ganz zu schweigen. Mit Billigkräften ist so etwas ohnehin nicht zu bewältigen.

    Die früheren Bruderstaaten des Ostblocks gaben besseres Anschauungsmaterial. Gerade in Tschechien, aber auch im Baltikum gelang der Transformationsprozess schneller und zu niedrigeren gesellschaftlichen Kosten als in der Ex-DDR. Auch diese Länder verzeichneten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen dramatischen Braindrain, stehen heute aber oft solider da als die drei Jahrzehnte lang gestützten Folgestaaten der DDR.

    Dies lag zum einen daran, dass die Politik den Fehler beging, den Wandel zeitlich in die Länge strecken zu wollen, was das Leiden verlängert hat. Die Hälfte der über eine Billion Euro Kosten für die Deutsche Einheit gingen für Sozialtransfers drauf, eine gigantische Summe, die andere ehemalige Ostblockstaaten gar nicht stemmen konnten. Zum anderen hätte man wie von Dohnanyi vorgeschlagen, ein Niedrigsteuergebiet im Osten bilden können, wie das zur gleichen Zeit im chinesischen Shenzhen erfolgreich praktiziert wurde.

    Statt mit einem attraktiven Steuermodell, wie im Baltikum oder der Slowakei Risikokapital anzuziehen und den Wandel zu pushen, arbeitete die deutsche Politik wie gehabt mehr oder eher weniger erfolgreich mit zeitlich begrenzten Subventionen, die irgendwann in einen Dauerzustand übergehen.

    Einerseits sind die Ostdeutschen wesentlich gemeinschaftlicher geprägt und stehen der Marktwirtschaft kritischer gegenüber. Andererseits sind die Menschen aus Thüringen und Sachsen wesentlich flexibler und leistungsbereiter als viele saturierte Bürger im Westen. Nicht von ungefähr hat sich gerade in Leipzig eine neue, interessante Start-up-Szene gebildet. In der Messestadt sammeln sich viele junge, akademisch Gebildete, die günstige Lebens- und Arbeitsbedingungen finden. Leipzig ist im Grunde das, was den Experten um den früheren Hamburger Bürgermeister von Dohnanyi einstmals vorschwebte.

    4. Europäische Währungsunion

    Erstaunlich ist, dass Du Kohls Beitrag zur Entwicklung des Euros völlig unter den Tisch fallen lässt. Dieser war massiv. Nicht zufällig wurde die EZB nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank entwickelt, die Beitrittskriterien wurden maßgeblich im Zusammenspiel zwischen Bundeskanzleramt und Bundesfinanzministerium definiert („3% sind 3%“) und auch der Euro hat seinen Namen unter tatkräftiger Mitwirkung von Theo Waigel. Dieses Projekt, über 6 Jahre im heißen Verlauf entwickelt, gehört zweifellos zu den großen Erfolgen Kohls – so oder so.

    Grundsätzlich hast Du Recht: das Zeitfenster für die Vollendung der Deutschen Einheit war denkbar klein. Das hat Kohl früh angemahnt und er hat mit dem Sturz von Gorbatschow von der Geschichte Recht bekommen. Von daher lässt sich seine diplomatische, noch dazu persönliche Leistung nur als grandios und überragend beschreiben. Mit Oskar Lafontaine hätte es keine Deutsche Wiedervereinigung gegeben.

    Rot-Grün hat gezeigt, dass die gelungene Integration von Zuwanderern nicht an einem Einwanderungsgesetz hängt. Das ist ein völlig überschätztes Symbolthema.

    • sol1 3. Mai 2020, 14:30

      „Der erste Amtsinhaber, Klaus Töpfer…“

      Töpfer war tatsächlich einer von Kohls glücksgriffen, aber er war nicht der erste Umweltminister. Sein Vorgänger Walter Wallmann hätte wohl weit weniger zustandegebracht, wenn man als Maßstab seine darauffolgende Zeit als hessischer Ministerpräsident heranzieht, aus der in erster Linie eine Affäre mit einem gewissen Alexander Gauland in Erinnerung geblieben ist.

      „Nie sind rechtsextreme Strömungen unter Kohl so bedeutend und so beängstigend geworden wie das unter Merkel der Fall ist. Auch das ist heutiges Politikversagen.“

      Mölln, Solingen, Lichtenhagen, Hoyerswerda… – da brauchte ich noch nicht einmal zu googeln, um diese These zu widerlegen.

      Und die Baseballschlägerjahre im Osten haben Verheerungen hinterlassen, die in den Erfolgen der AfD und Pegida sichtbar werden.

      • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 14:39

        Stimmt, ich habe die Reihenfolge verwechselt. Das meiste schreibe ich halt aus meinem Gedächtnis. Nach verlorener Landtagswahl in Hessen benötigte Wallmann eine Weiterverwendung.

        Ihre Darstellung ist jedoch nicht seriös. Walter Wallmann war eher ein Liberaler in der CDU. Petra Roth, die spätere langjährige Frankfurter Bürgermeisterin, war sein wichtigstes Ziehkind. Er hat ihre Karriere nach Kräften gefördert. Gauland spielte nicht in Wallmanns Fraktion, das war das Koch- und Kanter-Lager.

        Ereignisse wie die von Ihnen aufgezählten haben wir doch in den letzten 5 Jahren zuhauf erlebt. Der Unterschied: bei Kohl hatte das nach kurzer Zeit ein Ende. Auf das warten wir noch in der Merkel-Ägide.

        • sol1 3. Mai 2020, 15:18

          „…bei Kohl hatte das nach kurzer Zeit ein Ende.“

          Und das ist eben ein Irrtum:

          /// Kürzlich fiel mir eine Ausgabe der Märkischen Oderzeitung aus dem Jahr 1998 in die Hände. Darin wurden die rechtsextremen Vorfälle aufgelistet, die sich über die Silvestertage in Brandenburg ereignet hatten. Kostprobe:

          In Mahlow bei Potsdam wurde ein 14-jähriges Mädchen von sieben Teenagern misshandelt. Sie wurde geschlagen, ihr wurde das Haar geschoren und ein Hakenkreuz auf die Brust gesprüht.

          In der Uckermark veranstalteten rund 100 „rechtsgerichtete Jugendliche“ trotz Verbots eine „Silvesterfeier“. Als Polizisten versuchten, die Veranstaltung aufzulösen, griffen die Jugendlichen sie mit Gehwegplatten an und schlugen den Einsatzleiter zusammen.

          In Eberswalde attackierten zehn Neonazis einen türkischen Koch. Sie hielten ihm eine Schreckschusspistole an den Kopf.

          Immerhin reagierte Ministerpräsident Manfred Stolpe auf diese Taten, die sich wohlgemerkt in nur einem Bundesland innerhalb weniger Tage ereignet hatten. Er nannte sie „Einzelfälle“ und die Täter „Banditen“, was immer noch besser war als die Strategie von Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der den Neonaziterror routiniert wegschwieg.

          Es waren genau diese Neunziger, in denen die Terrorzelle NSU entstand, beschützt von einem Umfeld aus stillschweigender Sympathie oder schierer Angst. Eine Frau, die laut ihrem Twitter-Account heute in Köln lebt und damals in Jena wohnte, sagt, man habe damals schon gewusst, dass auf Konzerten „für eine bewaffnete Nazi-Gruppe aus Jena gesammelt wird“. ///

          https://www.zeit.de/2019/46/neonazis-jugend-nachwendejahre-ostdeutschland-mauerfall/komplettansicht

          • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 18:48

            Niemand behauptet, es habe in den letzten 30 keinen Rechtsextremismus gegeben. Was zählt ist die Breite in der Gesellschaft. Das hörte sowohl in der Zahl der Anschläge als auch in den Wahlergebnissen bald auf. Merkel verdanken wir nun bereits 5 Jahre Rechtsextremismus, der entfesselt wurde. Sehen Sie’s mir nach, dass ich das zu einem nicht unwesentlichen Teil der Politik der Kanzlerin zuschreibe.

            • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 19:24

              Sehe ich dir nicht nach, nein.

            • sol1 3. Mai 2020, 20:19

              „…in der Zahl der Anschläge…“

              https://de.wikipedia.org/wiki/Todesopfer_rechtsextremer_Gewalt_in_der_Bundesrepublik_Deutschland

              „…in den Wahlergebnissen…“

              Republikaner, DVU. Schill-Partei, NPD – auch hier gibnt es eine Kontinuität über die Kohl-Ära hinaus.

              Wir dürfen auch nicht vergessen, daß sich bis weit in den 2000er Jahre hinein Rechtsextremisten in der Union tummelten – erst mit dem Rauswurf von Martin Hohmann (unter Merkel) wurde eine klare Grenze nach rechts gezogen.

              • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 21:34

                Ich sehe hier bei Stefan auch sehr selektive Erinnerung.

                • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 21:58

                  Ich denke die selektive Wahrnehmung ist wie so häufig beim Thema Rechtsextremismus auf Deiner Seite – siehe meinen Link oben.

                  • Ariane 5. Mai 2020, 02:17

                    Wäre mir unbekannt, dass Stefan oder sonst irgendjemand Aktives hier im Blog jemals (und ich lese und schreibe schon sehr sehr lange) jemals linksextreme Morde so sehr verharmlost hast wie du nun zum wiederholten Male rechtsextremen Terrorismus. Es kommt übrigens auch niemand auf die Idee dir als Freund katholischer Rhetorik die Scheiterhaufentoten vor die Füße zu legen.

                    Wenn es um rechtsextreme Morde geht, gehören die vor die Füße von Rechtsextremen und nirgendwo anders hin. Und nein, das ist unverhandelbar. Schieb sie nicht irgendwohin, nur weil du das unappetitlich findest. Sowas will sonst auch keiner vor der Tür liegen haben.

                    • Stefan Sasse 5. Mai 2020, 09:13

                      Unterschreibe ich.

                    • Stefan Pietsch 5. Mai 2020, 09:46

                      Ich schreibe gegen die These, die AfD habe ihren Ursprung in den Exzessen von 1991 – 1993. Zudem schreibe ich über die Zeit von 1990 – 2010. Wie kann das eine Verharmlosung des (heutigen) Rechtsextremismus sein?

                      Und was hast Du daran nicht verstanden?
                      Seit 2001 verteilen sich diese schweren Gewaltdelikte etwa zu gleichen Teilen auf die gegen Migranten und Randgruppen gerichtete Hassgewalt und die Konfrontation gegen linke und sonstige Gegner.

                      No more words needed.

                    • Ariane 6. Mai 2020, 03:21

                      Irgendwelche Parteien oder Politiker sind mir dabei völlig egal. Es geht mir darum, dass wir hier einen Blogkonsens haben, dass jegliche Gewalt und Grausamkeit immer und überall inakzeptabel ist. Und auf gar keinen Fall verharmlost werden darf.

                      Und beim Thema Rechtsterror muss ich dir leider sagen, dass du diesen Konsens schon mehrmals recht weit verlassen hast. Ich lese nämlich genau und merk mir sowas, ich führe keine Zitatschlachten:

                      Der Terrorist von Hanau war ein verwirrter Amokläufer und irgendwie sind gemeine Linke daran schuld, weil sie mal einen Blumenstrauß geworfen haben. Walter Lübcke hat sich halt exponiert und „wusste worauf er sich einlässt“. Jetzt ist Merkel plötzlich darin verwickelt, dass Menschen angezündet werden.

                      Das ist Verharmlosung. Und nichts anderes. Ich habe dich schon ein paar Mal darauf aufmerksam gemacht und finde es schade, dass ich scheinbar nicht wirklich durchdringe.

                      Und spar dir jetzt bitte das Geweine, dass Linke immer so gemein sind. Ich hab in meinem Leben noch nie nicht mal einen Blumenstrauß geworfen oder Grausamkeit verharmlost.

        • TBeermann 3. Mai 2020, 16:43

          Im Gegenteil, es war die Kohl-Union, die dieses Thema überhaupt erst für sich entdeckt und immer wieder neu aufgebläht hat. Unter anderem die ganze Asyldebatte der späten 80er bis frühen 90er ist ein Ergebnis dieser bewusst und strategisch gewählten thematischen Schwerpunktsetzung.

          Man könnte eher sagen, der Rassismus der Neo-Nazi-Bewegung der 80er und 90er und die Neue Rechte ist das Erbe von CDU/CSU und Helmut Kohl.

          https://www.deutschlandfunkkultur.de/diskurs-um-flucht-und-asyl-in-den-1990er-jahren-hetze-gegen.976.de.html?dram:article_id=402509

          https://www.deutschlandfunkkultur.de/diskurs-um-flucht-und-asyl-in-den-1990er-jahren-hetze-gegen.976.de.html?dram:article_id=402509

          https://www.boell.de/de/2015/08/20/die-asyldebatte-gestern-und-heute

          • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 18:53

            Ich gebe Ihnen den Punkt, dass die SPD Anfang der Neunzigerjahre an den Innenminister Wolfgang Schäuble den Vorwurf erhob, durch Verschleppung der Bearbeitung von Asylanträgen die Situation anzuheizen. Das war und blieb jedoch immer eine politische Einschätzung, die während der entscheidenden Debatte im Bundestag für Tränen auf der Oppositionsbank sorgte. Bewiesen werden konnte es nie. Die Situation 2015 / 2016 legt nahe, dass die Dinge eben nicht so einfach sind.

            Ansonsten ist bemerkenswert, dass bestimmte Menschen einfach nicht älter zu werden scheinen. Wer 1988 rechtsextremistisch und gewaltbereit war, ist heute vielleicht Mitte 50. Es ist schon statistisch eher unwahrscheinlich, dass so jemand noch Asylbewerberheime ansteckt. Und es erklärt nicht, warum über 2 Jahrzehnte das Land politisch sehr ruhig war und nun praktisch aus dem Nichts eine neue Welle des Rechtsextremismus erlebt.

            • TBeermann 3. Mai 2020, 20:40

              Das ist es eben: Es kam nicht aus dem Nichts. Sol1 hat ja vorhin einen Link geteilt, der allein die Todesopfer rechter Gewalt auflistet. Das hat nie aufgehört und auch die niedrigschwelligere Gewalt hat nie aufgehört. Gerade aus den neuen Bundesländern gab es eine nicht abreißende Serie an Berichten über Überfälle etc. Wenn man es sehen wollte, konnte man.

              Ansonsten würde ich das Stichwort „Baseballschlägerjahre“ empfehlen, unter dem Betroffene in verschiedenen Sozialen Medien Erlebnisse zusammengetragen haben. Vieles davon ist schwer fassbar, wenn man selbst keiner Minderheit angehört und nicht in einem absoluten Brennpunkt aufgewachsen ist, aber gerade deshalb sollte man sich darauf einlassen.

              Was wir als Gesellschaft allerdings geschafft hatten, was das der all zu offene Rassismus eine Weile tatsächlich weitgehend geächtet war und zumindest aus dem Mainstream verdrängt wurde. Auch da gab es Ausreißer (wie die Wahlkämpfe von Koch oder Rütters, aber zumindest in der Regel mit einem entsprechenden Echo). Dieser Damm brach aber mit Sarrazin und seitdem ist der Riss in der Zivilisation nur größer geworden, weil immer wieder (Möchtegern-) Populisten den Rechtsradikalen und Rassisten in ihren Aussagen und Meinungen übernommen haben und ihnen so Legitimität verliehen haben.

              Aber noch mal zurück zur „alten“ Union: Es geht nicht darum, ob Asylanträge verschleppt wurden. Es geht darum, dass die Hetze gegen „Ausländer“ von CDU und CSU forciert wurde. (Einer der wenigen kritischen Stimmen war Heiner Geißler, der schon damals warnte, dass die Union die Geister nicht mehr loswerden würde, die sie gerufen hatte).
              Als schon die Asylbewerberheime brannten, kamen aus der CDU-Zentrale noch Argumentationsleitfäden, wie man an der Basis Stimmung gegen Asyl machen soll.

              • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 21:50

                Es gab auch immer Linksextremismus.

                Aus der Studie des Bundeskriminalamtes zur politisch motivierten Gewalt:
                Die rechte Gewalt der 1990er Jahre weist auch qualitative Besonderheiten auf. Zum einen war das Handeln eher durch Spontaneität und Expressivität gekennzeichnet. Zum anderen waren im Vergleich zum linken Phänomenbereich sehr viel höhere Anteile an Körperverletzungsdelikten und vor allem drastisch höhere Anteile an Tötungsdelikten zu finden. Ein beträchtlicher Teil der Gewaltwelle von 1991 bis 1993 waren Brandanschläge mit Personenbezug. Diese Mittelwahl hat eine eliminatorische Komponente und spielt zumindest unausgesprochen an Traditionen nationalsozialistischer Feindbekämpfung an, die immer auch die Möglichkeit der physischen Vernichtung einbezogen hat.(..)

                Seit dem Beginn des neuen polizeilichen Erfassungssystems PMK lassen sich aufgrund einheitlicher Kriterien Langzeitbetrachtungen anstellen. In diesem Zeitraum hat es keine mit den 1990er Jahren vergleichbaren dramatischen Ausschläge rechter Gewalt mehr gegeben. Gleiches trifft für die Entwicklung linker Gewalt zu. Allerdings waren ab 2005 wieder deutliche Anstiege zu verzeichnen. In den Jahren von 2005 bis 2009 lag das linke Aufkommen über dem rechten. Beide Verläufe bewegen sich aber in einem relativ engen Korridor und weichen im deutlichen Unterschied zu den 1980er und frühen 1990er Jahren nicht mehr signifikant voneinander ab.

                Das ist das Gegenteil von dem von Ihnen Behaupteten.
                https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/TerrorismusExtremismus/StudieGewalthandelnLinkerUndRechterMilitanterSzenen.html?nn=74220
                Vergleichende Analyse von Gewaltdelikten der Bereiche PMK rechts und PMK links aller Bundesländer für die Jahre 2006-2009

                Extremismusforscher stellen zudem fest, dass rechte und linke Gewalt in normalen Zeiten wie Kommunizierende Röhren funktioniert:
                Die Betrachtungen verweisen zuvorderst auf einen bedenklich hohen Anteil lebensbedrohlicher rechtsextremer Gewalt, bei der es oft lediglich situativen Zufälligkeiten überlassen bleibt, ob das Opfer zu Tode kommt oder nicht. Diese Charakteristik hat sich seit den 1990er Jahren offenbar nicht verändert. Seit 2001 verteilen sich diese schweren Gewaltdelikte etwa zu gleichen Teilen auf die gegen Migranten und Randgruppen gerichtete Hassgewalt und die Konfrontation gegen linke und sonstige Gegner. Bei der linken Gewalt ist die akute Dimension der Lebensbedrohlichkeit zwar geringer ausgeprägt, sie ist aber anzutreffen. Auch im linken Phänomenbereich scheint es Kontinuitäten von Tötungsbereitschaften zu geben: kaum überraschend am häufigsten im eskalationsträchtigen Feld der Konfrontation gegen rechts. Darüber hinaus ist die Polizei am zweithäufigsten betroffen, dies insbesondere wieder in jüngerer Zeit. Auch die Tatsache, dass das Jahr 2009 die seit der PMK-Erfassung höchste Zahl linker versuchter Tötungsdelikte aufweist – sechs von sieben gegen die Polizei gerichtet – lässt aufhorchen. Zwei der Sachverhalte betrafen die unter Linksmilitanten bevorzugte Handlungsweise des Stein-/Flaschenwurfs – ein Hinweis darauf, dass sich mancherorts gepflegte Bagatellisierungen dieses Verhaltens verbieten sollten.

                Das soll nicht zur Verharmlosung rechtsextremistischer Gewalt dienen, sondern einerseits der Darlegung, dass die Gewalt 1991-1993 sehr wohl besonders war als auch, dass die Zeichnung des Linksextremismus als harmlos falsch ist.

                Es ist unzweifelhaft, dass derzeit rechtsextremistische Gewalt ein weitreichendes Problem ist. Dies hat wie in den Neunzigerjahren sehr wohl mit gesellschaftlichen Reaktionen auf politisch herbei geführte Änderungen zu tun. Rechtsextremismus wird nicht vererbt.

                • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 22:04

                  Ich zeichne Linksextremismus nicht als harmlos.

                • sol1 4. Mai 2020, 00:50

                  /// Vergleichende Analyse von Gewaltdelikten der Bereiche PMK rechts und PMK links aller Bundesländer für die Jahre 2006-2009 ///

                  Ein Studie aus dem Jahr 2010 – also ein Jahr, bevor der NSU aufflog.

                  Das war also ein klassischer Fehlgriff.

                  • Stefan Pietsch 4. Mai 2020, 09:04

                    Und Sie sind der Ansicht, die zwischen 2000 und 2007 begangenen 10 Morde hätten die statistischen Zahlen das Bild völlig verändert? Leider lassen Sie uns nicht teilhaben, welche Aussage damit falsch sei.

                    Zur Erinnerung: Sie, Beermann und Stefan ziehen eine gerade Linie von den rechtsextremen Anschlägen 1991-1993 und dem Aufkommen der AfD. Ralf hatte das großzügig auf den Zeitraum Ende der Achtzigerjahre und Abtritt Kohls erweitert. Die Darstellung, dass die Gewalt damals wesentlich spontaner war, beeinflusst Ihr Bild ebenso wenig wie die langen zeitlichen Abstände.

                    Der NSU ist also das Bindeglied. Stefan schrieb von selektiver Erinnerung. Mir erscheint das wie selektive Wahrnehmung. Es scheint wie in der Studie dargestellt: Rechts- und Linksextremismus bedingen zu einem wesentlichen Teil einander.

                    • sol1 4. Mai 2020, 12:04

                      „Und Sie sind der Ansicht, die zwischen 2000 und 2007 begangenen 10 Morde hätten die statistischen Zahlen das Bild völlig verändert?“

                      Genau dieser Ansicht bin ich. Wenn du anderer Ansicht bist, darft du gerne die Todesopfer linksextremer Gewalt in diesem Zeitraum aufzählen.

                      Man kann dem BKA natürlich nicht den Vorwurf machen, Taten nicht aufzuzählen, die damals nicht bekannt waren – aber dir, daß du dich blind auf eine zehn Jahre alte Studie stützt.

                    • Stefan Pietsch 4. Mai 2020, 15:08

                      Dann sind wir im Bereich des Glaubens. Dafür bin ich nicht zuständig, wenn wir die Ebene der Fakten verlassen und ich begebe mich in die Kirche.

                    • sol1 4. Mai 2020, 15:35

                      Die Ebene der Fakten hast du verlassen, nicht ich.

                    • Stefan Pietsch 4. Mai 2020, 15:39

                      Wie kommen Sie darauf, dass es etwas mit Fakten zu tun hat, die Ausschreitungen von Mölln & Co. in den Jahren 1991-1993 mit spontanen Gewaltausbrüchen zum NSU und weiter zur AfD zu ziehen? Das hat nichts mehr mit der nach wissenschaftlichen Kriterien erstellten Studie zu tun und gründet allein auf Ihren Behauptungen.

                      Da ist kein einziger nachprüfbarer Fakt dabei.

            • Ariane 6. Mai 2020, 13:28

              Ansonsten ist bemerkenswert, dass bestimmte Menschen einfach nicht älter zu werden scheinen.

              Dein völliges Unvermögen der Selbstreflektion verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Nur gut, dass du natürlich mit den Jahren nur weiser und erwachsener geworden bist. Ich hörte, deine Erfahrungen erstrecken sich sogar mittlerweile auf Generationen von Frauen und Männer.

              Nur kann es sein, dass das mit der jüngeren Generation nicht so ganz zusammenpasst und du dich eher mit irgendwelchen Leuten aus der Bismarckzeit identifizierst als mit Menschen, die tatsächlich im Jahr 2020 leben?

      • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:30

        Das wurde nur damals nicht thematisiert. Wir sind heute glücklicherweise weiter.

      • Ariane 5. Mai 2020, 02:10

        Mölln, Solingen, Lichtenhagen, Hoyerswerda… – da brauchte ich noch nicht einmal zu googeln, um diese These zu widerlegen.

        Und die Baseballschlägerjahre im Osten haben Verheerungen hinterlassen, die in den Erfolgen der AfD und Pegida sichtbar werden.

        Zustimmung. Ich war damals nach einem dieser Vorfälle auf meiner ersten Demo (als Kind mit meiner Family), man muss konstatieren, dass die Zivilgesellschaft damals deutlich schneller und entschlossener reagiert hat als heutzutage. Und sollte eventuell auch bedenken, wie widersinnig es war, als Reaktion das Asylrecht zu verschärfen. Versteh ich bis heute noch nicht, wie man auf diese Idee kam.

        Und bevor ich weiterlese. Es sind immer die rechtsextremen Mörder schuld an Mord. Gibt positive und negative Außeneinflüsse, aber Mord ist Mord. Egal von wem an wem.

    • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:25

      1) Gute Punkte.
      3) Dito.
      4) Ich schreibe doch dass er das wollte…muss ich vielleicht noch deutlicher machen.

  • Erwin Gabriel 3. Mai 2020, 14:00

    @ Stefan Sasse on 3. Mai 2020

    Vorab und grundsätzlich:

    Da hast Du eine geniale Serie aufgelegt, von der ich jede neue Folge nägelkauend erwarte (“ Bitte noch nicht Angela Merkel, bitte noch nicht Angela Merkel, bitte noch nicht … 🙂 ).

    Ich habe auch schon eine Anregung für eine (sicherlich sehr spekulative) Fortsetzung, wenn Du damit durch bist: Was wäre geworden, wenn die anderen gewonnen hätten; Schumacher statt Adenauer, Barzel statt Brandt, Schäuble löst Kohl ab, Lafontaine statt Schröder etc.

    Aber nochmal: Das hier ist bravourös!

    Die Treuhand fuhr demgegenüber eine Schockstrategie, …

    Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Aber ich gebe zu, dass ich damals (als ich noch SPD wählte) anders dachte.

    Was mich auch heute noch stört, und was mir hier fehlt: Die Betriebe der DDR waren, anders als im Westen, Eigentum des Volkes. Sie in eine Treuhand-Gesellschaft zu stecken und weitgehend stillzulegen, war nicht in Ordnung.

    Ein weiterer Punkt: Viele Kosten der Einheit (u.a. Kranken-, Arbeitslosen-, Renten- oder Sozialversicherung) wurden den Beitragszahlern dieser Kassen aufgebürdet, ohne das von staatlicher Seite Ausgleichszahlungen erfolgten. Alle Beamte und viele Unternehmer / Selbstständige waren da außen vor. Auch hier verstieß man wissentlich gegen geltendes Recht.

    Wir reden von nicht einmal einem Jahr. Entsprechend schnell musste Kohl agieren. Zudem galt es, mit mindestens (!) fünf anderen Staaten eine Übereinkunft zu treffen, von der Konsensfindung im eigenen Land gar nicht zu reden. Das war eine gewaltige Aufgabe. Dass Kohl sie mit Bravour löste, wird immer seine herausragende Leistung bleiben und ist in meinen Augen in der Außenpolitik der BRD unübertroffen.

    Sei großer Moment! Dafür habe ich ihm vieles andere verziehen.

    Relativ unbedeutend war das Transferieren einiger Milliarden an die UdSSR, damit diese bis 1994 ihre Truppen abzog.

    Ein Großteil des Geldes wurde (sicher ist sicher) direkt an das Militär bezahlt, nicht an den Staat. Daraus entwickelten sich Strukturen, die man später als Russen-Mafia bezeichnete.

    Eine der schwerwiegendsten Nicht-Entscheidungen Kohls war es, sich auf die Behauptung zu versteifen, Deutschland sei kein Einwanderungsland und keine relevanten Schritte in der Integration der vielen ausländischen Mitbürger zu unternehmen.

    Fairerweise muss man sagen, dass Kohl dieses Problem von Schmidt, der von Brandt und der es von Kiesinger erbte.

    Das war, ähnlich der Umweltverschmutzung, ein Problem, von dem man bis dahin irgendwie wusste, dass es existiert, aber bei dem man die Langfristigkeit, die spätere Bedeutung nicht erkannte – die Tagespolitik hatte meist spannendere Themen zu bieten. Mit dem Zusammenbruch des Ostens wurde es ein wichtiges Thema. Hier keine Regelungen festzuschreiben, ist eines der größeren Versagen von Helmut Kohl; Gerhard Schröder drückte sich ebenso, und den mit Abstand schlimmsten Aussetzer hat an dieser Stelle Angela Merkel, die selbst in den 5 Jahren, die seit der Flüchtlingskrise vergangen sind, kein funktionierendes Gesetz- oder Regelwerk zustande brachte. Aber dazu kommen wir irgendwann (bitte noch nicht Angela merkel … ;.) ) sicherlich noch.

    • Ralf 3. Mai 2020, 15:21

      Ich habe auch schon eine Anregung für eine (sicherlich sehr spekulative) Fortsetzung, wenn Du damit durch bist: Was wäre geworden, wenn die anderen gewonnen hätten; Schumacher statt Adenauer, Barzel statt Brandt, Schäuble löst Kohl ab, Lafontaine statt Schröder etc.

      Da schließe ich mich an. Das wäre sehr spannend … ^^

      Hoffentlich hat Stefan neben seinem Blog nicht noch einen Nebenjob, der seine Arbeiten dahingehend verzögert … 😀

    • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:29

      Vielen Dank für dein Lob! Keine Bange. Merkel kommt noch nicht. ^^ Aber ich hoffe es ist okay, dass sie vor Kiesinger und Erhard steht 😛

      Ich bin unsicher, ob die kontrafaktischen Szenarien sich mit viel Seriosität machen ließen. Ich denke mal drüber nach.

      Ich habe die Schockstrategie ja gar nicht so sehr kritisiert; es ist echt nur eine Beschreibung.

      Ich denke ohne die Wiedervereinigung wäre Kohl auf dem Niveau Kiesinger/Erhard gelandet…

      Geld: Russland ist eh so ein Korruptionsloch…

      • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 18:58

        Vielen Dank für dein Lob! Keine Bange. Merkel kommt noch nicht.

        Puh, Schweißperlen wegwisch. Ich denke, dann hätte sich ein Drittel des Forums verabschiedet. 🙂

        Merkel vor Kiesinger? Ob das akzeptabel ist…

        Hätte es die Wiedervereinigung nicht gegeben, wäre Kohl 1991 abgewählt worden. Seine Werte waren schlecht, die Union verlor zahlreiche Bundesländer an die SPD, was immer einen Regierungswechsel angedeutet hat. Zudem hatten die Sozialdemokraten damals mit Lafontaine einen zumindest im Westen populären Kandidaten. Alle Zeichen standen auf Regime Change.

        Aber Geschichte ist oft gerecht. 🙂

        • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 19:25

          Hah! Ich kenn den „alten“ Lafontaine zu wenig um das beurteilen zu können.

          • CitizenK 3. Mai 2020, 19:51

            Doch, war so. Lafo wurde von vielen richtig verehrt. Von mir nicht so, wegen seiner Art – und wegen Mannheim/Scharping.

          • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 20:15

            Da hast Du etwas verpasst. Lafontaine war ein Politiker, der mich in jungen Jahren begeistert hat. Charismatisch und messerscharf. Ich habe 1990 Lafontaine gewählt, im Rückblick ein Fehler. Zum Glück habe ich nicht gewonnen.

            Die Entfremdung erfolgte danach, zumal der Saarländer sich nicht nur als Irrgänger entpuppt hatte, sondern auch als Flüchtling vor der Verantwortung. Der SPD-Parteivorsitz wurde ihm im selben Jahr auf dem Silbertablett angetragen. Er lehnte ziemlich brüsk ab und die Bürde ging an Björn Engholm. Irgendwann um 1993 wechselte ich ins Lager von Gerhard Schröder.

            Der Fairness halber muss man zu Oskar Lafontaines Entschuldigung anmerken: er war von dem Attentat im Frühjahr 1990 stark angegriffen. Das hat ihn wie Schäuble gezeichnet, weswegen beide sich übrigens danach immer geschont haben. Selbst in der Spendenaffäre hat Lafontaine keine einzige Attacke auf den fallenden CDU-Vorsitzenden gefahren. Umgekehrt hat sich Schäuble beim Abgang vom Amt des Finanzministers auffällig zurückgehalten, obwohl er Oppositionsführer war. Beide begegnen sich bis heute mit hohem Respekt.

            Wie gesagt, Lafontaine war noch brillanter als Schäuble. Ich erinnere mich noch heute voller Begeisterung an die Rede des SPD-Politikers im Bundesrat zu den Beratungen über die Mehrwertsteuererhöhung. In vollständig freier Rede zerriss er den Gesetzesentwurf der Kohlregierung.

            So viel Talent und am Ende so wenig geblieben. Das ist Lafontaines persönliches Drama.

      • Ariane 5. Mai 2020, 02:30

        Wus? Dachte Merkel läuft außer Konkurrenz als amtierende Kanzlerin, oder sowas wie als erste Frau dann Königin der Herzen oder sowas 😀

        Den jungen Lafontaine kenne ich ja nicht, aber die Verehrung, die viele für ihn damals und heute noch empfinden ist meiner Meinung nach schon ein Problem, immer noch. Sonst wäre ja die Abspaltung vielleicht nicht passiert oder ganz anders gelaufen und da meine eigene Erinnerung da erst anfängt: hatte immer das Gefühl, dass er zwar klug ist und reden kann, aber so selbstverliebt, dass das an einen Gott-Komplex erinnert. Weiß ja nicht, ob das direkt zusammenhängt, aber ich fand Wagenknecht auch immer wahnsinnig klug und auch wenn ich vieles nicht geteilt hab, hab ich ihr gerne zugehört und mittlerweile ist sie ja sowas wie seine Nachfolgerin und hat schon wieder ne Abspaltung gemacht mit ausländerfeindlichem Einschlag. Also es gibt Parallelen und das finde ich schon recht enttäuschend, obwohl das der LINKEn als Partei sicherlich nützt bei der Seriosität.

        • Stefan Sasse 5. Mai 2020, 09:13

          Wagenknecht ist klug, aber politisch eine Sektiererin. Und das sorgt dafür, dass sie eher ein Netto-Verlust ist. Leider.

  • sol1 3. Mai 2020, 15:04

    Faszinierende Gedankenspiele, die mich auch schon oft umgetrieben haben:

    „Ebenfalls spannend wäre die Frage, was geschehen wäre, wenn CDU und FDP darauf verzichtet hätten, ihre jeweiligen Blockflöten zu integrieren. Die SPD hatte ja ein Angebot der moderaten Teile der SED auf dem Tisch liegen, die Partei zu verlassen und zur SPD überzutreten. Dies hätte die Existenz der SED praktisch unmöglich gemacht und der SPD eine Machtstellung im Osten verschafft. Die SPD lehnte dies damals ab. CDU und FDP waren weniger skrupulös; sie vergaben und vergaßen den Blockflöten alles und nahmen ihre Hilfe im Wahlkampf an, den sie danach auch gewannen (nicht ohne Schützenhilfe eines irrlichternden Lafontaine, nebenbei bemerkt). Ein solches Szenario würde ein völlig anderes Parteiensystem im Osten Deutschlands bedeuten, und vermutlich auch eine deutlichere Trennung der beiden Landesteile.“

    Das hätte wohl die SPD zerrissen, nicht zuletzt, weil sich ja schon im Oktober 1989 eine Ost-SPD gegründet hatte. Der Nimbus der Bürgerrechtler leuchtete damals hell, und das Mißtrauen gegenüber den SED-Kadern war groß – sowohl im Westen wie im Osten. Daß CDU und FDP die Blockparteien übernahmen, verschaffte ihnen einen Startvorteil, der sich bei der FDP allerdings schnell verflüchtigte. Für Kohl stellten die Ost-CDU-ler jedenfalls eine Chance dar, den Ruf als „Kanzler der Einheit“ zu zementieren, und er hat sie weidlich ausgenutzt.

    Niemand konnte damals auch beurteilen, wer von denen, die nun im Osten Deutschlands in die Politik drängten, tatsächlich etwas taugte. Einige von ihnen gehören heute zur politischen Elite (Angela Merkel, Katrin Göring-Eckhardt), während andere (Vera Lengsfeld, Angelika Barbe) mit Aluhut durch die Gegend laufen.

    • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:31

      Wilde Zeiten eröffnen Spielräume. 🙂

    • R.A. 3. Mai 2020, 19:26

      Der wesentliche Unterschied war: Es gab keine Ost-SPD als Blockpartei.

      Bei einem Zusammengehen mit einer (selbst so definierten) „moderaten“ SED wäre die kleine Neugründung SPD schlicht übernommen worden. Das wäre dann schlicht die heutige „Linke“ gewesen, vielleicht mit ein paar ganz schlimmen Ex-Stasi-Kadern weniger.

      Dagegen haben CDU und FDP ihre Ost-Pendants problemlos aufnehmen können, nur ein kleiner Teil der ehemaligen Blockparteimitglieder ist überhaupt geblieben, der Rest hat sich der jeweiligen Westparteilinie weitgehend angepaßt. War also relativ risikolos.

      Und daß die Mitgliedschaft in einer Blockpartei deutlich weniger problematisch war als die in der SED selber liegt auch auf der Hand.

      • sol1 3. Mai 2020, 20:41

        Es gab noch einen Faktor, der ein Zusammengehen mit der SPD für die SED-PDS damals unattraktiv machte – ihr Vermögen.

        „Die SED-PDS gründete nach dem Sonderparteitag am 9. Dezember 1989, der einen entscheidenden Umbruch in der Parteigeschichte darstellte, eine interne Gruppe zur Sicherung des Parteivermögens.[1] Das ursprüngliche Vermögen der SED zum Stichtag betrug 6,2 Milliarden DDR-Mark (rund 2,8 davon als Barvermögen, 3,3 Mrd. in Fonds).“

        https://de.wikipedia.org/wiki/Vermögen_von_Parteien_und_Massenorganisationen_der_DDR

        Davon blieb dann allerdings nicht mehr viel übrig. Einiges verschwand in dunklen Kanälen, vom Rest mußte das meiste schließlich rausgerückt werden:

        „Im Juli 1995 beendete ein Vergleich zwischen der PDS, der Untersuchungskommission und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS) die weitere Zurückforderung des verschleppten SED-Vermögens. Im Gegenzug musste die PDS auf ihr noch vorhandenes Altvermögen in Höhe von rund 1,8 Mrd. DM verzichten. Zudem konnte die Untersuchungskommission Vermögen in Höhe von rund 1,16 Milliarden Euro sicherstellen.“

        https://de.wikipedia.org/wiki/Putnik-Deal

        Letztendlich hatte sich die PDS damit einen Klotz ans Bein gebunden, denn die anderen Parteien hatten damit einen guten Grund zur Ausgrenzung, mit dem man bis in die 2000er Jahre hinein punkten konnte.

      • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 21:31

        Stimmt sicherlich.

    • CitizenK 3. Mai 2020, 19:53

      Nicht zu vergessen die sich als IMs entpuppten wie Ibrahim Böhme.

      • sol1 3. Mai 2020, 20:29

        Im Demokratischen Aufbruch dann Wolfgang Schnur. Später dann in der CDU Lothar de Maizière.

        All die IMs, die aufflogen, verstärkten natürlich den Verdacht gegen das neue Politikpersonal aus dem Osten.

  • Ralf 3. Mai 2020, 15:19

    Mit Kohl auf Platz drei kann ich leben, wenngleich Kohl oft mehr Getriebener bzw. Profiteur von Umständen war und seine Akzente meist dadurch setzte, dass er keine Akzente setzte, Probleme ungelöst vor sich hin schwelen ließ und aussaß, was sich aussetzen ließ.

    Zwei Dinge vermisse ich Deinem Artikel, der insgesamt wieder – und die Einschätzung scheint hier im Blog ja auch breit geteilt zu werden – sehr gelungen ist. Das eine ist Kohls Stil in der EU-Politik. Kohl hat anders als Schröder und Merkel nach ihm, immer auf den Konsens auch mit den kleineren Ländern gesetzt. Das dürfte viel zum breiten Ansehen der EU in Europa beigetragen haben. Schröder hingegen traf sich meist nur mit den Großen in Frankreich und Großbritannien und ignorierte den Rest geflissentlich. Dieser Rest hatte dann halt einfach zu folgen. Basta. Unter Merkel wurde Deutschland dann noch dominanter. Überall in der EU entstand der Eindruck, dass Deutschland seine Wirtschaftsideologie, unter anderem seine Austeritätsexzesse, einfach brutal auf den Rest der Gemeinschaft übertrug. Dass das Ansehen der Europäischen Union heute so miserabel ist, hat viel mit diesen rücksichtslosen Machtdemonstrationen zu tun. Ich denke da müssen wir Kohl für seinen Ansatz in der Retrospektive danken. Er war der letzte Europäer im Bundeskanzleramt.

    Auf der negativen Seite fehlt in dem Artikel hingegen Kohls Jahrhundertlüge im Wahlkampf 1990. Keine Steuererhöhungen sollte es geben, versprach er und gewann damit die Wahl. Nur Wochen später kam die massivste Steuererhöhung, die das Land je gesehen hatte. Diese Unverfrorenheit, diese Bereitschaft offen zu lügen, um Wahlen zu gewinnen, wird immer ein Negativhöhepunkt der Demokratie in der Bundesrepublik sein. Der Schaden für die Glaubwürdigkeit der Politik, der damals entstand, ist immens und die Folgen des Vertrauensverlusts sind heute noch spürbar.

    • Stefan Sasse 3. Mai 2020, 17:31

      Nehme ich in die Überarbeitung mit auf.

    • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 19:12

      Ich finde Ihre Darstellungen, die ja einigermaßen populär in manchen Milieus sind, wenn es gegen die vermeintliche Übermacht Deutschlands geht, falsch. Richtig ist zwar, dass Kohl sich mehr um die kleinen Mitgliedsstaaten gekümmert hat. Aber falsch ist, dass Deutschland vor allem der Treiber der Austeritätspolitik war. Sie vergessen, wie rabiat Finnland Sicherheiten von Griechenland eingeklagt hat, Sie unterschlagen, wie die Balten auf den Barrikaden waren, als es um Haftungen für Athen ging. Deutschland war und ist wie Frankreich auf der anderen Seite nur die Vormacht des Lagers, nicht der Fundamentalist. Die beiden führenden Länder der EU funktionieren als Scharnier zwischen den immer oppositioneller gegenüberstehenden Lagern, was sich gerade beim letzten Gipfel zeigte. Dort agierten besonders die Niederlande als besonders hart gegenüber jeder Unterstützung für die Südländer.

      Beide sind heute die Schutzmacht der jeweils wesentlich machtlosen Kombattanten. Und noch zur Austeritätspolitik: diese wurde in den ersten Jahren maßgeblich vom IWF gesteuert, der schließlich in Rechtfertigung zu den vielen weit mittelloseren Mitgliedern stand, die wesentlich schärfere Auflagen in der Vergangenheit tragen mussten.

      Deswegen finde ich Ihre wiederkehrenden Darstellungen im Kern falsch.

      Erst 1991 verabschiedete die Bundesregierung das Förderprogramm Ost, in deren Folge 1992 der Solidaritätszuschlag befristet eingeführt wurde. Die Steuererhöhungen kamen, anders als Sie es darstellen, nicht auf einen Schlag, sondern über mehrere Jahre verteilt. So erhöhte die Bundesregierung 1993 den Mehrwertsteuersatz um einen Prozentpunkt auf 15% und 5 Jahre später nochmals auf 16%. Gegen die Erhöhung der ersten Merkel-Regierung 2005 von 16% auf 19% war das jedoch nichts.

      • CitizenK 3. Mai 2020, 20:07

        „falsch ist, dass Deutschland vor allem der Treiber der Austeritätspolitik war“

        Finnland, Balten Niederlande – stimmt schon. Aber die Wut in Italien und Spanien richtet sich fast nur auf Deutschland. Warum? Wegen Schäubles Rhetorik?

        Aber ob berechtigt oder nicht, das ist ein Riesen-Problem für den Fortbestand der EU. Da stellt sich schon die Frage, ob es nicht kontraproduktiv ist, auf dem Rechtsstandpunkt zu beharren.

        • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 20:31

          Aber die Wut in Italien und Spanien richtet sich fast nur auf Deutschland. Warum? Wegen Schäubles Rhetorik?

          Nein. Weil Deutschland die Vormacht ist. Man unterstellt, dass Deutschland die Macht hätte, die kleinen Länder entsprechend zu beeinflussen. Die meisten Menschen übersehen aber, dass in der EU bei allen wichtigen Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Das macht Luxemburg so mächtig wie Frankreich.

          Die Komplexität der Sachlage wird zudem völlig unterschätzt. Auch die deutsche Politik benötigt nicht nur die Mehrheit in Parlament und auf Dauer in der Wählerschaft – so agieren Conte und Sanchez ja auch – sondern auch des Verfassungsgerichts. Dazu stehen die Verträge und damit ein einheitliches Verständnis, was die EU und der Euro sein sollen, einem großen Entgegenkommen immer entgegen.

          Die Corona-Krise treibt die europäischen Staaten weiter auseinander, weil die Vorstellungen von der Gemeinschaft so unterschiedlich sind. Beide Seiten haben durchaus ihre Berechtigung. Aber aus deutscher Sicht sage ich auch: die Verträge für die Gemeinschaft wurden unter anderen Voraussetzungen geschlossen als sie die Südländer auslegen.

          Kohl hat die innereuropäischen Spannungen immer mit dem deutschen Scheckbuch aufgelöst. Am Spektakulärsten war dies, als Thatcher einen Rabatt für Großbritannien einigermaßen ultimativ verlangte. Der Gipfel stand vor dem Scheitern, bis Kohl in die Bresche sprang. Diese Politik, europäische Konflikte notfalls auf dem Rücken des deutschen Steuerzahlers zu lösen, fand sein Ende mit dem Beginn der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Es dauerte lange, bis die Partnerländer diesen Politikwechsel tatsächlich verinnerlichten. In der Krise verlangen EU-Anhänger dennoch die Rückkehr zur Scheckheftdiplomatie.

          Ich finde den Kurswechsel richtig. Eine Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten setzt voraus, dass alle nach allgemeinen, transparenten Regeln Pflichten und Rechte ausüben. Ein Weißer Ritter sollte in der Konzeption nicht vorkommen.

    • CitizenK 3. Mai 2020, 19:56

      Europäer ja. Allerdings wurde Kohl damals in den Medien heftig vorgeworfen, Konflikte mit dem Scheckbuch zu lösen bzw. zuzukleistern.

      • Stefan Pietsch 3. Mai 2020, 20:33

        You say it.

      • Ariane 5. Mai 2020, 02:36

        Außenpolitisch hat die BRD doch immer die Probleme mit Geld gelöst. Und das war übrigens durchaus erfolgreich und außerhalb der Medien würde das heute noch breite Unterstützung erfahren. Macht beliebt und bedeutet weniger Ärger als Teilnahme an außenpolitischen Missionen^^

  • cimourdain 4. Mai 2020, 10:03

    Zwei Boshaftigkeiten am Rande:
    1. Ich fürchte, nach deinen Kriterien würden bei einem römischen oder britischen Ranking deine ausgemachten Lieblinge Julius Cäsar bzw. Winston Churchill ganz oben landen.
    2. Hier sieht man, wie sehr sich die Lehrer während der Co***a-Fe***n langweilen. Die einen programmieren Computerspiele
    https://halbtagsblog.de/2020/04/25/mathematik-abenteuer-zum-download/
    andere veranstalten eine Art Fantasy-Sports-League mit Bundeskanzlern, anstelle sich pflichtbewusst in ein leeres Klassenzimmer zu stellen und einen Tafelanschrieb (Kreideverbrauch als objektives Kriterium für Lehrleistung) zu produzieren.;-)

    • Stefan Sasse 4. Mai 2020, 11:44

      Ich mach beides 🙂

    • Ariane 5. Mai 2020, 02:47

      Hihi, ich bin auch ehrlich entsetzt, dass ich irgendwie als bezahlte Corona-Chaos-Ordnerin immer noch von einem Chaos ins nächste stolpere, während ihr hier Spaß habt (immerhin bessere Telefonzeiten als in meinem Job), so dass ich zumindest spät lesen und kommentieren kann. Verschwörung! Es soll nur verhindert werden, dass ich radikalfeministisch blogge^^

      Also wenn man sich weitere Rankings wünschen darf, hätte ich übrigens durchaus Lust auf eine Art Best-Of der internationalen Herrscher, also England, Frankreich, USA. Da ginge es vielleicht pro Land und vllt noch ein Ranking: wichtige restliche, internationale Menschen. Oder pro Thematik: Bürgerrechtsbewegung, Feminismus, Schwulenbewegung! Und schrägste und gemeinste Diktatoren auch noch. Danach bauen wir daraus ein Serienscript und verticken das an Guido Knopp 🙂

      Das sollte für den Rest der Corona-Ferien reichen und lässt sich super im Unterricht anwenden oder du lässt einfach die Abiturienten die Vorarbeit machen^^

      • Ariane 5. Mai 2020, 02:51

        Sry, falls unpassend: aber eventuell ein historischer Abriss über die ähm größten Seuchen oder Krankheitsproblematiken der Welt wäre vielleicht auch passend und wenn ich nicht hochintellektuell recherchieren muss, würde ich da Mitarbeit anbieten.
        Würde ja auch nebenbei zeigen, dass das in der Historie durchaus mehr als Problemchen verursacht hat und oft sogar entscheidende Faktoren waren (selbst sowas wie die Bluterkrankheit in den Dynastien).

        • cimourdain 5. Mai 2020, 09:27

          Weil dieses Thema so schön morbid ist, breche ich mit meinen Prinzipien und werfe eine Top-Ten-Stegreifliste von historischen Epidemien in den Raum (Drogenepidemien ausgenommen, die sind ein Thema für sich)
          1. Pest 1348 Asien und Europa
          2. Antoninische Pest 2. Jh Römisches Reich
          3. Spanische Grippe 1918
          4. Pocken Mexiko 16. Jh
          5. Pocken Nordamerika 19. Jh
          6. Attische Seuche 5. Jh v Chr
          7. Justinianische Pest 7. Jh
          8. Cholera Europa 19. Jh
          9. Fleckfieber 1813
          10. Pest London 1666
          Ergänzungen willkommen…

          • cimourdain 5. Mai 2020, 12:43

            Berichtigung: Justinian war natürlich im 6. Jh.

          • Ariane 6. Mai 2020, 03:35

            Boah da meldet sich der Kenner der Antike aber^^

            Platz 2 wären die Indianer und ihre fast versehentliche Ausrottung durch sämtliche ihnen unbekannten Krankheiten

            AIDS würde ich auch noch mit reinnehmen, weil es sozusagen die neueste Pandemieerfahrung weltweit war und der wissenschaftliche Fortschritt so eine große Rolle spielte

            Einiges andere ist schwierig, weil das so normale Krankheiten waren, die vor allem in Kriegen eine Rolle spielten, die hatten immer Ärger mit Ruhr, Siphilis, Cholera und zig Kinderkrankheiten, die dann alle ausbrachen.

            Tuberkulose müsste vielleicht auch noch mit rein, das war eher eine typische Krankheit armer Stadtbewohner (wie Ruhr und Cholera auch), die mehr durch die Lebensumstände kamen.

            • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 08:32

              Pandemien waren früher auch eine so alltägliche Erfahrung, die kamen alle paar Jahre. Allein das macht es schwierig eine Hitliste zu erstellen.

              • Ariane 6. Mai 2020, 13:37

                Ja, müsste man vielleicht eher sowas machen wie „Krankheitsprobleme, die den Lauf der Geschichte änderten“.

                Bei Kriegen hatten ja meistens alle dieselben Probleme, das hat nur was beeinflusst, wenn es extrem asymetrisch war (Amerikanischer Bürgerkrieg zb, Hat bei den Römern sicherlich auch eine Rolle gespielt, weil die so hochentwickelt waren)

                Dann könnte man auch sowas wie die Bluterkrankheit mit hineinnehmen und die englischen Rosenkriege waren ja durch irgendeine Geisteskrankheit in den Dynastien auch stark beeinflusst. Da hast du bestimmt noch einen Vergleich mit GoT irgendwo rumliegen.

                Obwohl Geisteskrankheiten in Dynastien schon fast wieder ein eigener Zweig wäre 🙂

            • cimourdain 6. Mai 2020, 19:46

              Die Indianer habe ich zweigeteilt nach den beiden großen Entvölkerungswellen (Pocken war nur die übelste der Krankheiten) die über Nordamerika gelaufen sind. Zusammengenommen sind wir uns bei Platz 2 ziemlich einig.

              AIDS ist auch deswegen spannend, weil wenigstens etwas positives dabei herausgekommen ist: Dank der weitgehenden gesellschaftlichen Zurückweisung des religiösen ‚Schwulenseuche‘-Narrativs hat AIDS sehr zur Anerkennung von Homosexuellen beigetragen.

              Was als ständig wirkende Seuche seit 5000 Jahren bis heute einen massiven Einfluss auf den Lauf der Geschichte genommen hat, wäre noch die Malaria. Sie hat Siedlungsgebiete bestimmt, Kultur (Gin&Tonic) und Lebensweisen geprägt (z.B. habe ich mal gelesen, dass die Mason-Dixon-Line sehr genau mit den Grenzen des Verbreitungsgebiets einer als Vektor geeigneten Mückenart übereinstimmt.) und ist bis heute einer der Topkiller weltweit.

              • Ariane 6. Mai 2020, 21:04

                Ja AIDS find ich auch deswegen spannend, weil es viele Parallelen zu heute hat, auf der einen Seite gab es eine Seuche, die wieder Urängste und Ausgrenzung zur Folge hatte und auf der anderen Seite war die Wissenschaft schon weit genug, um direkt einzugreifen und „Lösungen“ anzubieten.
                Und gerade weil es „uns“ getroffen hat und viele verehrte Künstler getroffen hat, war es im Rückblick gesehen vermutlich einer DER Fortschritte der Emanzipationsbewegung bzw auch der Nicht-Ausgrenzung von Kranken/Infizierten.

                Das macht wahnsinnig viel aus glaube ich, ich wünsche es natürlich keinem und meist wird ja keine Todesursache genannt, aber ich könnte mir vorstellen, dass es hier in der Debatte auch einen Turnaround geben würde, wenn einige hochverehrte Senioren an Covid versterben. Dann sind das nämlich „wir“ und nicht mehr irgendwelche unbekannten Risikogruppen.

                Das traurige an AIDS ist leider, dass das sehr westzentriert ablief (hat allerdings wohl auch mit unterschiedlichen Virentypen zu tun), während AIDS hier kein großes Problem mehr ist, ist es in Afrika und Teilen Asiens wahnsinnig verbreitet und die können sich die guten Medikamente meistens nicht leisten.

                Mit Malaria hast du recht, ich glaube Siphilis wurde auch von irgendwo nach Europa eingeschleppt. Obwohl ich Übertragungen von Tier auf Mensch eher ausklammern würde. Imperialismus und Kriege waren ja sozusagen die Globalisierung von heute und da hatten die Machthaber dann häufig Probleme.

                • cimourdain 7. Mai 2020, 00:11

                  Meines Wissens nach kam Syphilis mit den Schiffen von Kolumbus aus der Karibik.

                  • Ariane 7. Mai 2020, 08:32

                    Stimmt, das war so ein Amerika-Import. Wir könnten auch diskutieren, ob Kartoffeln und Mais die Siphilis-Seuche insgesamt ausgeglichen haben 🙂

                    • Stefan Sasse 7. Mai 2020, 09:22

                      Keine Diskussion, ohne Kartoffeln gäbe es die moderne Welt nicht.

  • Dennis 4. Mai 2020, 11:28

    Zitat:
    „Die FDP betrieb den Koalitionsbruch und wählte Kohl zum Kanzler; dieser baute 1983 seine Mehrheit nach vorgezogenen Bundestagswahlen (auch auf Kosten der FDP) aus.“

    Ja, so fing das an. Mit einer fingierten Vertrauensfrage nebst getürktem negativen Ausgang, um das Selbstauflösungsverbot des Bundestages zu umgehen, ging’s weiter. Was die FDP betrifft: Kohl war immer lieb zur FDP und der Auffassung, die F-Partei muss man als Zweitmarke unbedingt hegen und pflegen. Damit stand er im Gegensatz zu den meisten CDU-Granden (von der CSU ganz zu schweigen), war aber letztlich erfolgreich. Das spricht also „technisch“ schon mal für Kohl auf der Erfolgsseite.

    Zitat
    „Er trat mit dem Versprechen einer „geistig-moralischen Wende“ an“

    Es ist, wie man so schön sagt, „umstritten“, ob das wirklich ein ernsthaftes Versprechen war oder lediglich ein Gerede, damit der rechte Flügel einen Knochen hat, auf dem man rumnagen hat. Faktisch und tatsächlich trifft jedenfalls das Letztere zu. Ich rechne das jedenfalls Kohl vorteilhaft an.

    Zitat:
    „mit einem Schuss Angebotspolitik à la Thatcher und Reagan. “

    Ja, klar. So richtig dick aufgetragen wurde das aber erst bei RotGrün^.

    Zitat:
    „Ohne Ereignisse von außen, die sich Kohl mit unvorgesehener Geschicklichkeit zunutze machte, wäre seine Kanzlerschaft eher in derselben Riege wie Kiesingers und Erhards geblieben.“

    Na ja, da stellt sich natürlich die Methoden- und Kriterienfrage bei diesem Ranking. Ich vergeb halt für das Nichtvorhandensein spektakulärer Ereignisse die in die Kanzlerschaft sozusagen reingeplatzt sind, erstmal keinen Bonus und für erzwungene Langeweile, weil nix groß passiert ist, keinen Malus.

    Schmidt ist bei mir im Ranking vor Kohl. Danach kommt Schröder, dann Merkel, dann Erhard. Beim Austauschen der beiden Schlusslichter lass ich mit mir reden.

    Bei Kohl ist m.E. auch die heutzutage unspektakulär erscheinende und außerhalb populärer Betrachtungen stehende Europapolitik von ’89 wichtig. Er hat die Reihe Adenauer-De Gaulle, Schmidt-Giscard mit Kohl-Mitterand (unerachtet von kleinerem Geknirsche) logisch, sachlich und inhaltlich fortgesetzt. Diese Achse ist europapolitisch unabdingbar und seither eingeschlafen, bei Merkel so gut wie tot. Nach der Mitterand-Rede im Bundestag (Januar 1983, also ganz am Anfang) saßen dessen Genossen von der SPD ziemlich bedröppelt in der Landschaft. Kohl konnte hoch-zufrieden sein.

    Zitat:
    „Bedeutender war demgegenüber schon Kohls Steuerreform.“

    So was hat er dem Stoltenberg überlassen. Für Bimbes-Fragen hat er sich – in diesem Punkt ähnlich wie Brandt – nicht interessiert – es sein denn, es ging um die CDU-Finanzierung^. Das unappetitliche Letztere, das deinerseits auch angesprochen wird, gehört aber zu Kohl in seiner Eigenschaft als CDU-Vorsitzender. Da kommt also wieder die Methodenfrage beim Ranking rüber. Kann man das dem Kanzler Kohl anlasten?

    Aber okay, den Stoltenberg (oder irgendwelche anderen Minister oder Berater) beim Kohl (positiv oder negativ) abzuladen finde ich methodisch schon richtig (analog auch bei anderen Kanzlern).

    Zitat:
    „Eine Weichenstellung von kaum zu überschätzender Bedeutung war dagegen die Medienpolitik Helmut Kohls…………und beglücken uns seither mit qualitativ hochwertiger Ware rund um die Uhr.

    Diese Art Ware hat die CDU halt naiverweise nicht erwartet. Die haben gedacht, die „Privaten“ schütten politisch Wasser auf die CDU-Mühlen. Diese Rechnung ist natürlich nicht aufgegangen, denn die Trallala-Sender bedienen überhaupt keine politischen Mühlen, weil das Otto Normal-Privatfernseh-Gucker nicht interessiert.

    Das ist aber nur der eine Teil in diesem Themenkomplex. Was Du nicht erwähnst hier als Zitat aus Wikipedia:

    „1984 entwickelte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth das Konzept eines europäischen Kulturkanals. Parallel dazu entstand in Frankreich auf Initiative des Staatspräsidenten François Mitterrand der französische Kulturkanal La Sept, der 1986 gegründet wurde und 1989 seinen Sendebetrieb aufnahm.…..Unterstützt wurde das Projekt von Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl.“

    Arte. Guckst du doch auch, oder ? Dabei also bitte immer an Lothar Späth, weitere MPs von CDU und SPD, die das promoviert haben, und als Sahnehäubchen auch an Kohl denken^ . Dass ein „Kultursender“ kein CDU-Fanclub wird, war zu erwarten. Kohl hat das dennoch mit angekurbelt.

    Außenpolitik und insbesondere Europapolitik:

    Alles okay. Wesentlich dabei IMHO: Die hat nicht erst 1989 angefangen,

    Zitat
    „Wesentlich problematischer war, die Zustimmung von Großbritannien und Frankreich zu erhalten. Hierzu ging Kohl zwei Verpflichtungen ein. Beide waren ihm als überzeugtem Europäer nicht fern. Einerseits blieb das wiedervereinigte Deutschland Mitglied in der EG, während die EG zur EU werden sollte. Andererseits würde diese EU eine gemeinsame Währung einführen, eine Forderung vor allem der Franzosen.“

    Ganz kompliziertes Ding. In Ultrakurzform IMHO :

    GB und Thatcher waren unwichtig, weil europapolitisch eh desinteressiert. Und Thatcher (sie war eh schon auf dem absteigenden Ast und wurde Ende ’90 von den eigenen Leuten rausgeschmissen) wollte ja unbedingt nach der Musik tanzen, die aus Washington vorgegeben wurde, wobei die Melodie aus ihrer Sicht in diesem Fall nitt so schön war, denn Bush konnte gut mit Kohl/Genscher und hat die Wiedervereinigungsampel auf knallgrün gestellt, da blieb für Thatcher außer in ‚bissle Mosern nix mehr über.

    Mitterand war aus europapolitischer Sicht wichtig. Da gab es Irritationen (Einzelheiten führen hier zu weit), die letztlich ausgeräumt wurden.

    Falsch, ganz ganz falsch wäre (nur for the record, wird ja hier auch nicht behauptet), dass Kohl die DM der Wiedervereinigung geopfert hat. Man beachte den Beschluss des Europäischen Rates von Hannover 1988 (!) und den Delors-Bericht von ’89 im Auftrag des Rates VOR den Herbstereignissen, die im Sommer ’89 noch niemand auf dem Radarschirm hatte.

    Kohl war ein überzeugter Europäer von ganzen Herzen, dem in dieser Sache nichts abgekauft werden musste. Punkt. Ganz wesentliche Vorarbeiten in der Unionssache stammen im Übrigen von Helmut Schmidt und Giscard.

    Zitat:
    „…ist die Umwandlung der EG in die EU ein Paradigmenwechsel, der mit EU-Staatsbürgerschaft, dem Schengenabkommen und dem Vertrag von Maastricht nur unzureichend…. “

    Schengen passt logisch nicht in diese Aufzählung. Es stammt ursprünglich von 1985.

    Zitat (am Anfang):
    „Ohne Ereignisse von außen, die sich Kohl mit unvorgesehener Geschicklichkeit zunutze machte, wäre seine Kanzlerschaft eher in derselben Riege wie Kiesingers und Erhards geblieben. “

    Datt stimmet nach meinem Eindruck eben nitt, besagtes Schengen beispielsweise war davor.

    Zitat:
    „Allen EU-Entscheidungen aber ist gemein, dass sie von so vielen Akteuren kollaborativ getroffen wurden, dass es schwer ist, sie direkt Kohl zuzuschreiben.“

    Nu ja, es kommt schon darauf an, wer den Taktstock in die Hand nimmt bzw. dass das überhaupt jemand macht.

    Zitat:
    „Wenn sich die Verhandlungen bis zu Gorbatschows Sturz 1991 hingezogen hätten, “

    Okay, weiß man alles nicht, aber mit Jelzin konnte der doch auch ganz gut.

    Zitat
    „Ein weiteres Szenario, das sich im Umfeld der deutschen Einheit ergibt, wäre das Scheitern des Verhandlungsformats 2+4. Um ein Szenario wie Versailles zu vermeiden, wurden die Verhandlungen auf die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten begrenzt.“

    Ja, ganz wichtig, und 2 + 4 war genial. Da hat sich übrigens Genscher große diplomatische Verdienste erworben., aber wir wollen ja alle Minister dem Kanzler zurechnen^.

    Formfragen die auf dem ersten Blick wie kleinliche Fisimatenten erscheinen, waren in dieser Sache extrem wichtig. Es geschah ja nichts weniger, als den zentralen Eckstein der deutschlandpolitischen Nachkriegspolitik ALLER Parteien (gewisse Exoten weggelassen) , nämlich den anzustrebenden Friedensertrag, sang- und klanglos fallen zu lassen. Das präsumptive F-Ding war noch maßgeblich für Brandts Ostverträge, indem dort der Vorbehalt „Friedensvertrag“ eingebaut wurde – mit gedrechselten diplomatischen Formulierungskünsten, die die damalige östliche Seite geschluckt hat.

    Jetzt war die Ratio: Es wird NIE einen Friedensvertrag geben, mit 2 + 4 ist die Sache erledigt. Im Vergleich zum „traditionellen“ Vertragstypus, z.B. an angesprochene Versailles, ein deutlicher Unterschied. Dieses abschließende Ding hat endgültig bewiesen: Die Deutschen sind aus WW II politisch verdammt gut rausgekommen. Der eine oder andere könnte sagen: Unverdient und zu gut.

    Zitat:
    „sie vergaben und vergaßen den Blockflöten alles und nahmen ihre Hilfe im Wahlkampf an….. 
    Ein solches Szenario würde ein völlig anderes Parteiensystem im Osten Deutschlands bedeuten“

    Was das Letztere betrifft: Haben wir doch^. Auf dem Papier zwar nitt, aber faktisch sind die Ostparteien schon was anderes als die Westparteien. Was wäre die AfD ohne den Osten ? Und nur wegen dem Osten musste sich die FDP 2013 aus dem Bundestag verabschieden. Dass deren Wahlergebnisse „wegen Ost“ regelmäßig runtergezogen werden ist die Rache für die deren Blockflötenpolitik^. Genscher (z.B Prag-Genscher, im Übrigen aus Halle stammend) is ja mittlerweile vergessen.

    Ja, der Kohl. Komische Charaktereigenschaften und persönlich eher schräg, in gesellschaftlichen Fragen altbacken und nicht auf der Höhe der Zeit, Europa-mäßig und außenpolitisch aber gut bis sehr gut. Ein guter Platz ist schon okay, obwohl ich Schmidt noch davor schiebe.

    • Stefan Sasse 4. Mai 2020, 11:49

      Die verlorene Vertrauensfrage hat Brandt pioniert 🙂

      Ich gebe ja nicht dem Ereignis per se den Rang, sondern Kohls Managment und den daraus erwachsenden Folgen.

      Niemand schaut Arte 😛

      Schengen war doch 1995…?

      Jelzin war Präsident Russlands, nicht der SU. Ich bezweifle, dass das das 2+4-Verfahren möglich gehalten hätte.

      Ja, das war Genscher. Das ist halt das Problem mit dem Ranking grundsätzlich 🙂

    • Dennis 4. Mai 2020, 13:03

      EDIT:

      eigenes Zitat:
      „Ich vergeb halt für das Nichtvorhandensein spektakulärer Ereignisse die in die Kanzlerschaft sozusagen reingeplatzt sind, erstmal keinen Bonus“

      Es muss „Vorhandensein“ heißen. Asche auf mein Haupt

    • Ariane 5. Mai 2020, 03:05

      Jau 😀 Sag mal, was ist eigentlich dein hochintellektueller Fachhintergrund unter uns Universalexperten? Da kommt man ja schon ins Grübeln, ob da der langjährige Pressesprecher sämtlicher Regierungen seit 1950 schreibt 😮

      Und war Leo Kirch nicht auch irgendwie mit der Politik verwoben, das war ja ein ewiges Hin- und Her, aber ich meine, mich dunkel dran zu erinnern, dass da irgendwie immer so ein Korruptionsgeruch mit drinnen war.

  • Dennis 5. Mai 2020, 11:04

    Zitat Ariane:
    „ob da der langjährige Pressesprecher sämtlicher Regierungen seit 1950 schreibt “

    Wieso erst seit dann ? Selbstverständlich war ich auch da schon dabei:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigte_Presseabteilung_der_Reichsregierung

    Zitat:
    „Sag mal, was ist eigentlich dein hochintellektueller Fachhintergrund unter uns Universalexperten?“

    Hobby-Dampfplauderer

    Anders als Stefan Sasse, der ist historisch-politologisch und so „vom Fach“ und einfach besser. Heul.

    Man könnte sich natürlich auch mit down-to-earth Fragen beschäftigen, zum Beispiel: Was spricht eher für Schalke 04 im Vergleich zu Werder Bremen? oder sich gar um lebenspraktische Sachen kümmern statt hier rumzulabern, aber irgendwas mit Polit-Kram riecht halt nach Abitur.

    Zitat:
    „Und war Leo Kirch nicht auch irgendwie mit der Politik verwoben,“

    Ja klar. Gehört zum dunklen Kapitel „Kohl und Bimbes“. Lange Geschichte. Ob und wie das beim Ranking anzurechnen ist, ist Geschmacksache. Man könnte ja sagen: Zur Wirkmächtigkeit zählen auch Sauereien, dann schadet das nix. Oder man verbucht das unter läßliche Sünde.

    https://lh3.googleusercontent.com/proxy/PPQH_vRoPaqfK0qI68UkUm3WtqIzmm5FADX7o-roPg5BLyDjwpnA33tWjhejTuRkHfAcfGDgLnyLk718rbXM3G9tbOkfojlIqcu6EQ1-LGH0

    Ferner ging’s da um die CDU-Finanzierung und nicht um wesentliche Dinge der Kanzlerschaft. Kann man natürlich auch anders sehen, wie immer im Leben.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2020, 14:59

      Ich denke sowas wie Kohl und Leo Kirch gehört zu „warum er sich an der Macht halten konnte“, aber geprägt hat das das Land nicht.

    • Ariane 6. Mai 2020, 03:42

      Hobby-Dampfplauderer

      Anders als Stefan Sasse, der ist historisch-politologisch und so „vom Fach“ und einfach besser. Heul.

      Aber schon mit extrem vielen Detailkenntnissen, da musst du dich vor der Hobby-Karla-Kolumna in Acht nehmen, ich kann Menschen mit Spezialwissen ausquetschen wie ne Zitrone. Sensationell!
      Und wenn der Sassestefan wieder zuviel Wehner liest, schreibt er plötzlich so hochintellektuell, dass keiner mehr mitkommt 🙂

      Zu Bimbes:
      Ich bin da immer nicht so sicher, ob da nicht irgendwann nochmal einiges ans Licht kommt. Aber wenn man die zwei langen Amtszeiten von Kohl und Merkel vergleibt, muss man doch konstatieren, dass sie entweder (nicht alleine natürlich) extrem aufgeräumt hat oder die plötzlich alle sehr sehr verschwiegen sind. Vielleicht köntne sie einfach mal den CSU-Vorsitz noch übernehmen? Die könnten auch mal sowas gebrauchen. Gerade wenn die nochmal zig Jahre lang Verkehr und Landwirtschaft in der Hand halten.

  • Kirkd 5. Mai 2020, 16:02

    Kohl war 14 Jahre lang ein unambitionierter Machtpolitiker, der selbstgefällig durch die Welt reiste, während seine Minister Stückwerk leisteten.

    Aber zwei Jahre lang reichten, um ihn zum besten aller Kanzler zu machen. Birne erkannte das Zeitfenster, im Einvernehmen mit USA und der Soviet Union Deutschland wiederzuvereinigen, brachte Mitterand und Thatcher ins Boot, beendete mit einer Rede alle Restitutionsträume der damals noch zahlreichen Vertriebenen und einte das geteilte Deutschland.

    Ich werde die Tränen in den Augen meines Vaters, dessen Familie aus Thüringen stammte und der aus der Ostzone als Kind floh und meiner entfernten Thüringer Verwandten nie vergessen.

    Kohl war trotz allem anderen der Beste.

    • Stefan Sasse 5. Mai 2020, 17:14

      Ja, die Wiedervereinigung ist und bleibt sein Glanzstück, demgegenüber der ganze Rest verblasst.

  • Ariane 6. Mai 2020, 04:12

    Danke mal wieder und schön viel Langeweile für weitere Rankings sammeln 🙂

    Ich bleib mal etwas gröber, ist nicht so meine Lieblingszeit und ich finde, das ist noch zu neu und ideologisch total vermint.

    Im Rückblick hab ich oft überlegt, dass ein anderer Koalitionspartner wie die SPD besser gewesen wäre, weil man dann einen inneren Ausgleich gehabt hätte. Insgesamt hatte Deutschland vermutlich wirklich das Glück auf seiner Seite, so wie es lief war es meiner Meinung nach im Großen der Best Case. Und wenn ein Land verschwindet und ein Großreich implodiert, kann das meiner Meinung nach nie ohne Verwerfungen ablaufen. Und meiner Meinung nach entsteht dann schnell eine Dynamik, die lässt sich gar nicht mehr einfangen und das war mit der Wiedervereinigung der Fall. Das haben Revolutionen – auch friedliche – so an sich.

    Ich glaube, Kohl ist auch der erste Kanzler gewesen, der nicht mehr selbst in der Kriegszeit (als Erwachsener) gelebt hat? Und könntest du kurz umreißen, inwiefern Deutschland direkt in die Jugoslawiensituation eingegriffen hat. Bin immer davon ausgegangen, dass der Zusammenbruch direkt zur Folge hatte, dass die ethnischen Konflikte ausbrachen.

    Ich finde, außenpolitisch hat er viel richtig gemacht – gerade auch mit seiner Beziehung zu Frankreich. Aber man merkt schon die Tradition der Westbindung, da war er wirklich ganz hervorragend. Eigentlich fände ich eher die kontrafaktische Überlegung spannend, was gewesen wäre, wenn Kohl kurz nach der Wiederwahl aufgehört hätte und eine andere Regierung das Chaos geerbt hätte.

    Ich glaube nämlich, dass er durchaus für die Wiedervereinigung der beste Kanzler war, aber diese Versöhnung zwischen Ost und West und dieses Gespür, was da alles plötzlich den Bach runterging nicht so gut hinbekommen hat und wie die Menschen reagieren, fehlte. Das wurde mit schönen Worten übertüncht, egal ob Massenarbeitslosigkeit oder Rechtsextremismus. Dieses Zusammenwachsen von Ost und West (auch in ganz Europa) hat so gar nicht funktioniert, das war alles irgendwie nichts Halbes und nichts Ganzes.

    Dass die Arbeitsplätze nicht zu halten waren, sehe ich auch so. Man sollte auch nicht vergessen, dass durch die geringere Bevölkerungsdichte der Osten mittlerweile ein wahres Naturparadies mit Wölfen und Luchsen und so geworden ist. Aber man hätte es vermutlich mit weitaus weniger Schockwirkung und denselben Finanzmitteln durchziehen können, war aber leider nicht die Zeit dafür, das war meine ich damals richtiger Wildwestkapitalismus durch das Machtvakuum.

    Wenn man sich ansieht, wie es im deutschen Osten aussieht und wenn wir uns alle ehemaligen Sowjetrepubliken ansehen, wurde extrem viel versäumt und verdrängt und ich finde, das rächt sich jetzt. So etwas traumatisiert die Menschen und das kann sich extrem lange halten und bei jeder Kleinigkeit wieder hervorgekramt werden (man denke an Versailles und den 2. WK). Vom Balkan gar nicht erst anzufangen, da hat man eigentlich mittlerweile schon recht viel erreicht, wenn man überlegt, was da in den 90ern alles ablief.

    Kann mir durchaus vorstellen, dass jetzt die Zeitspanne ist, in der so ein bisschen die Klippe zu sehen ist. (die Pandemie erstmal außen vor gelassen). Der große Überschwang ist vorbei, die Geschichte war doch nicht zu Ende und langsam aber sicher steht der Generationswechsel an von den kalten Kriegern zur neuen Generation. Und die alten weißen Männer und Frauen wollen da nicht weg, die wollen weiterhin sagen, wo es lang geht. Oder global gesehen ihre alte Bedeutung wiedererlangen und sich nicht mehr machtlos fühlen, weil natürlich der Westen automatisch der Sieger war und die Freude darüber nicht immer klammheimlich, sondern doch recht klar war.

    Das wird jetzt alles zum Bumerang, die einen fühlen sich als unverdiente Verlierer, die immer weiter gedemütigt werden und endlich irgendeine Art von Machtstellung haben wollen, die anderen versinken in Nostalgie und schwelgen im Sieg und die Leute, die das eigentlich überhaupt nicht kümmert, lesen nur ein paar Schlagzeilen und wählen dann eine Seite und werden linksgrünversiffte Hypermoralisten, die an die Zukunft glauben oder Nostalgiker, die unbedingt an der alten Ordnung festhalten wollen.

    Naja. Die Pandemie hat das jetzt alles ein bisschen über den Haufen geworfen, das sortiert sich ja in Windeseile um. Und es ist übrigens nichts, was man durch ein bisschen „Zuhören und ernstnehmen“ lösen kann, ich hasse das. Darum gehts nicht, das ist ein Generationen-Macht-Kampf und die alte Generation will nicht, dass man der neuen zuhört und möchte weiter Welterklärer sein. Es geht nicht ums Zuhören, es geht um Versöhnung und Weltoffenheit, bzw Neugier.

    Wenn sich nur alle gegenseitig Vorwürfe machen und wir jetzt auch noch in Pandemie alle isoliert voneinander sind und jeder in seiner eigenen Parallelwelt feststeckt, funktionieren die Dinge nicht gut. Dann haben wir hier 83 Millionen Verschwörungsmystiker herumsitzen.

    • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 08:36

      Balkan: Deutschland war das erste Land, das die Spaltung Jugoslawiens diplomatisch anerkannt hat, ein Vorpreschen, das die Bündnispartner recht konsterniert zurückließ. Es hat diese Spaltung auch aktiv unterstützt. Es ist eine mittlerweile deutlich über ein Jahrhundert alte Leitlinie deutscher Außenpolitik, Kroatien zu unterstützen und Serbien zu schaden. Den Balkan spalten ist Hobby deutscher Außenpolitiker seit Bismarck. Die Intervention im Kosovo wurde auch aktiv von Deutschland mitbetrieben, die waren da eine treibende Kraft, ebenso wie die vorhergehenden Missionen wie SFOR.

      Kohl sprach von der „Gnade der späten Geburt“; er erlebte zwar die Kriegszeit, aber nicht als Soldat. Der erste Kanzler, der den Krieg nicht mehr erlebte, war Schröder (Jahrgang 1944), was man auch deutlich merkt.

      • Ariane 6. Mai 2020, 20:38

        Danke! Hattest du mal irgendeinen Lesetipp über die neuesten Balkankriege oder so? Hab zwar immer hier und da mal was dazu gelesen, aber nie so einen Gesamtüberblick, wann was warum passiert ist. Ich meine aber, der Kosovo hatte ne Weile die D-Mark als offizielle Währung.
        Ist das auch so ein Überbleibsel von früher, der Balkan war doch eher Österreich-Sache. Und macht sowieso nur Ärger. Obwohl ich da unbedingt mal hin will 🙂

        Stimmt. Ich meine auch, sein Vater war im Krieg gefallen, da war doch mal was mit einem Grab?

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