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Jürgen Osterhammel – Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Kapitel 14, „Netzwerke„, führt eine Metapher ein, die uns heute sehr vertraut ist, die allerdings ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert besitzt. Im 17. und 18. Jahrhundert nutzte man als Metapher für Organisationsformen in der Gesellschaft immer noch den menschlichen Körper und sein Zirkulationssystem. Netze, wie wir sie kennen, etwa die entscheidenden Wasser-, Strom- und Gasnetze sind allerdings eine Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts, die in weiten Teilen Europas und Nordamerikas erst im Verlauf des 20. und in anderen Teilen der Welt bis heute noch nicht vollständig verbreitet sein würden. Dasselbe gilt für soziale Netze, die ebenfalls ein Phänomen des 20. Jahrhunderts darstellen.
Das 19. Jahrhundert ist stattdessen ein Zeitalter zunehmender Vernetzung der Menschen untereinander, die häufig unter dem Begriff Globalisierung gefasst wird. Verkehr und Kommunikation spielen daher eine Hauptrolle. Die erste hierfür relevante Innovationen stellt das Dampfschiff dar, das zuerst auf Binnengewässern und später auch auf den Ozeanen wesentlich zuverlässigere Planungen und Fahrpläne ermöglichte als die vorher vorherrschende Segelschifffahrt. Gleichzeitig erforderte es gerade im militärischen Bereich ein ausgedehntes logistisches Netz mit Basen, das nur den wenigsten Nationen offenstand. Deswegen gelang es auch ausschließlich einigen wenigen Europäern, Amerikanern und der einzigen Ausnahme Japan, transozeanische Marinen zu entwickeln.
bei der Binnenschifffahrt sah dies anders aus: hier schafften wesentlich mehr Länder den Ausbau der für das 19. Jahrhundert so charakteristischen Kanäle und auch die Einführung von Dampfschiffen auf Flüssen und Seen. oft gelang es ihnen sogar beeindruckend gut, die westliche Konkurrenz aus diesen Bereichen fernzuhalten, wie man etwa am Beispiel Chinas sehen kann.
Während die Schiffe globale Vernetzung beförderten, waren die Eisenbahnen ein nationales Integrationsinstrument. In den meisten Ländern traten sie nur in Form von Stichbahnen auf, die strategisch wichtige Orte in einer direkten Linie miteinander verbanden. Von einem tatsächlichen Eisenbahnnetz kann man daher nur in relativ Linux Ländern sprechen. Gleichwohl wurde der Eisenbahn von praktisch sämtlichen Staaten, auch denen, die eher an der Peripherie der Entwicklung lagen wie das Osmanische Reich, als zentrale Mittel staatlicher Entwicklung und Integration gesehen.
Der Telegraph zuletzt verband die Welt auf eine völlig neuartige Weise. Gleichwohl tat er dies nicht in der demokratisierenden Art, in der es in den 1920er Jahren das Telefon tun würde: der Telegraph war vergleichsweise teuer und auf die ökonomische, diplomatische und militärische Elite beschränkt. Er schuf allerdings gänzlich neue Hierarchien: wer Zugang zu einem Telegraf besaß, was gegenüber denjenigen, auf die das nicht zutraf, dank des Zeitvorteils in einer überlegenen Position. Dies wurde beispielhaft in der Faschoda-Krise deutlich, als der britische Kommandeur mit seiner Regierung per Telegraf kommunizieren konnte und der französische nicht.
Osterhammel wendet sich nun dem Handel zu. Anders als man vielleicht erwarten könnte, behielten viele Akteure aus dem 17. und 18. Jahrhundert auch an der Peripherie ihre Position. Die Produzenten und Händler vor allem in Asien bewahrten sich eine Machtstellung gegenüber dem Westen und waren auch in der globalisierten Wirtschaft in einem Ausmaß relevant, das gegenüber der Entwicklung im 20. Jahrhundert überrascht. Ein Grundproblem des Westens war der Absatz der eigenen Produkte, der außerhalb seiner eigenen Hemisphäre mangels Nachfrage schwierig war. Gleichzeitig wollte man die Rohstoffe dieser Länder importieren. Der Opiumkrieg war nur die berühmteste Verwerfung, die sich aus dieser Dynamik ergab (siehe dazu Stephen Platt – Imperial Twilight. The Opium War and the end of China’s last Golden Age (hier rezensiert)).
Er macht drei zentrale Entwicklungen des Handels im 19. Jahrhunderts aus, die eine zentrale Rolle spielen: erstens die Innovationen in der Schifffahrt, die Transporte von Massengütern deutlich rentabler machten, teilweise jahrhundertelang bestehende Monopole aufbrachen und neue globale Märkte schufen. Zweitens der rein quantitative Aspekt einer gigantischen Zunahme des globalen Handelsvolumens und drittens die Änderung von Wertschöpfungsketten, die wesentlich komplexer wurden und viel mehr Spieler einführten, als dies bislang in der vergleichsweise einfachen Handelskette vom Produzenten zum Endabnehmer der Fall gewesen war.
Wesentlich bedeutsamer als die Verschiebungen im globalen Handelssystem war die Entwicklung einer globalen Finanzwirtschaft. Hier waren die Ungleichgewichte zwischen den verschiedenen Nationen wesentlich größer und spielte der Aspekt der Vernetzung eine deutlich entscheidende Rolle.
Der erste Aspekt hier besteht in der Systematisierung der Währungen. Sehr vielen Ländern gelang es nicht, eine einheitliche Währung herzustellen (etwa China), was ihre wirtschaftliche Entwicklung wesentlich mehr hemmte als die Handelsstrukturen. Große Teile Europas erhielten durch die sogenannte Lateinische Münzunion eine de facto einheitliche Währung, die den Handel wesentlich erleichterte. Ein entscheidender Anker hierfür war das Pfund Sterling, und das als eine Art anerkannte Leitwährung operierte. Die Gründe hierfür werden gleich noch erläutert.
Während des 19. Jahrhunderts tobt hier eine Debatte über die Rolle von Silber als Grundlage von Währungen, die erst zum Ende der Epoche eindeutig zugunsten des Goldes geklärt wurde. Vorher gab es zahlreiche Versuche, mit Silber ein zweites Standbein der Währungsdeckung zu etablieren. Es war vor allem die britische Entscheidung für Gold, die diese Frage entschied. Der Wettbewerbsvorteil des Pfund Sterling er zwang eine Ausrichtung aller anderen Währungen an diesem Standard, was dazu führte, dass er mit einer moralischen Komponente aufgeladen wurde: spätestens seit der Gründung des Deutschen Reiches und seiner Übernahme des Goldstandards galt er als Merkmal einer voll entwickelten, modernen Nation.
Entsprechend versuchten andere Nationen, um Respektabilität zu erlangen, ebenfalls dem System des Goldstandards anzugehören. Dies gelang außerhalb Europas und Nordamerikas nur Japan, das mit der mittlerweile bekannten langfristig orientierten Planung und vorsichtiger Wirtschaftspolitik große Goldreserven und ein nationales Bankensystem aufbaute. Dieses Bankensystem war entscheidend, da ist die Aufnahme größerer Mengen Staatsschulden erlaubte – vorher gab es schlichtweg keine Quelle, bei der man sich verschulden konnte – und nur Staaten im Goldstandard offenstand. Wenn also ein Staat die Dinge tun wollte, die ein moderner Staat des 19. Jahrhunderts zu leisten hatte, führte an Staatsverschuldung kein Weg vorbei – und für die brauchte es Zugang zu Banken und deren positive Bewertung der staatlichen Leistungsfähigkeit. Osterhammel macht allerdings deutlich, dass dies kein wirklich globales System war. Große Teile der Welt blieben an dieses neue Finanzsystem nicht angeschlossen und behielten etwa wie China bis weit ins 20. Jahrhundert andere Währungssysteme bei. Insgesamt aber war klar, dass ein modernes und auf der Höhe der Zeit stehendes Land, das als gleichwertig anerkannt werden wollte, dem Goldstandard anzugehören hatte. Daher kam die starke moralisch aufgeladene Komponente dieses Aspekts der Staatsfinanzen, die sich bis heute erhalten hat.
Damit verbunden war eine weitere Konsequenz: zum ersten Mal war einigen wenigen mächtigen Finanzmärkten möglich, große Mengen von Kapital zu exportieren und in Form von Investitionen in anderen Ländern unterzubringen. Für die meisten Länder bedeutete dies einen massiven Souveränitätsverlust. Gleichwohl muss man vorsichtig sein, die Interessen der Finanzwirtschaft als deckungsgleich mit denen ihrer jeweiligen Nationen zu sehen: die französischen Kapitalisten etwa investierten bereits massiv in Russland, als dieses noch ein treuer Verbündeter Deutschlands war, sehr zum Verdruss der französischen Regierung.
Spannenderweise war der Kapitalexport im 19. Jahrhundert trotz all dieser Einschränkungen globaler als im 20. und 21. Die westlichen Länder und einige wenige andere beherrschen die globale Finanzwirtschaft heute in einem viel stärkeren Ausmaß, als dies im imperialistischen 19. Jahrhundert der Fall war. Die Startvorteile dieser Nationen haben sich gewissermaßen wie Zinsen aufgebaut. Auch sind die Auswirkungen dieser „Kapitaldiplomatie“ im 19. Jahrhundert wesentlich weniger stark als gegen Ende des Jahrhunderts oder im 20.: so war etwa ein kompletter Staatsbankrott mit einseitiger Aufkündigung der Schulden im 19. Jahrhundert unvorstellbar, wurde allerdings im 20. wesentlich häufiger.
Kapitel 15, „Hierarchien„, geht dann zu den harten Machtverhältnissen über. Osterhammel erinnert zu Beginn des Kapitels noch einmal daran, dass alle vereinfachenden Darstellungen von Gesellschaften letztlich unhistorisch sind: so etwas wie „die Deutschen“ oder auch „die Schwaben“ gibt es nicht; solche Verallgemeinerungen sind üblicherweise nicht besonders tragfähig. Dementsprechend gibt es auch keine große Gesamterzählung für die soziologische Geschichte des 19 Jahrhunderts. Die Zeitgenossen dagegen waren deutlich weniger vorsichtig. Sie konstruierten natürliche Übergänge und Entwicklungsstadien, in deren zumindest aktuell höchstem sie sich selbstverständlich verorteten.
Eine große Erzählung des 19. Jahrhunderts war dabei der Übergang von der Feudal- zur Klassengesellschaft. Diese Erzählung hat das offensichtliche Problem, dass sie nur für sehr wenige Länder zutrifft, von den Zeitgenossen aber verallgemeinert wurde. So attestiert Osterhammel etwa Russland eine größere soziale Mobilität, weil die Stände trotz anderslautender Versuche der Zaren nie in dem Ausmaß kodifiziert waren, wie dies etwa in Frankreich der Fall gewesen war. In Asien, Amerika und Afrika traf die Erzählung ohnehin nicht zu.
Die erste dieser sozialen Klassen war der Adel. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert seines schleichenden Niedergangs. Er nationalisierte sich in Europa vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark, nachdem er lange Zeit sehr international angelegt gewesen war (was ihm auch seine vergleichsweise große Langlebigkeit beschert hatte). Dies ermöglichte einen konservativen Nationalismus. Anhand der Beispiele Frankreichs, Russlands und Englands zeigt Osterhammel verschiedene Entwicklungspfade des Adels auf. Der französische erholte sich niemals von der Revolution und konnte auch unter Napoleon III. kein echtes Hofleben mehr etablieren. Der russische blieb stark vom Zaren abhängig, während der britische sich gewissermaßen „verbürgerlichte“. In zahlreichen Ländern versuchten die Edelleute, Überlebensstrategien wie den Wechsel in die kapitalistische Wirtschaft zu finden, die zwar offiziell verpönt, inoffiziell aber reichlich genutzt wurde.
In Indien dagegen schufen sich die Briten eine eigene Adelsklasse aus den Resten derjenigen, die sie zerschlagen und politisch kastriert hatten. Sie diente vor allem als Legitimationsvehikel und wurde in einer Art neofeudalen Ritterlichkeit neu inszeniert. In Japan dagegen schaffte sich die Klasse der Samurai als Reaktion auf die gewaltsame Öffnung 1853 und den Sturz des Tenno selbst ab und fand neue Beschäftigung. Diese Selbstabschaffung war ein einmaliger Vorgang, den Osterhammel vor allem aus dem kompletten Schock der Öffnung erklärt. In China, wo der Adel vor allem aus der konfuzianischen Beamtenelite besteht und sich wesentlich schwerer reproduzieren konnte als anderswo, sei dies nicht der Fall gewesen, weswegen eher seine Stellung bis 1902 behalten konnte, als die Intervention der 8 Mächte einen ähnlichen Schock hervorrief wie in Japan, der die Dynastie und mit ihr den Adel dann ab 1911 auch in den Untergang riss: das Fehlen der Notwendigkeit konfuzianischer Beamter, deren Aufgaben von einer neuen städtischen Mittelschicht übernommen wurden, ließ diesen nur noch eine parasitäre Grundherrenexistenz, die in der kommunistischen Revolution leicht beseitigt wurde.
Weiter geht es in Teil 11.
In Japan dagegen schaffte sich die Klasse der Samurai als Reaktion auf die gewaltsame Öffnung 1853 und den Sturz des Tenno selbst ab und fand neue Beschäftigung.
Oh tatsächlich? Sehr viel weiss Osterhammel nicht über die Klasse der Samurai, wie es scheint?
https://en.wikipedia.org/wiki/Battle_of_Shiroyama
Grus,
Thorsten Haupts
Mehr als du, fürchte ich. Er weist daraufhin, dass der überwiegende Teil der Samurai unter den Tokugawa effektiv demilitarisiert wurde und vor allem als aufgeblähte Beamtenkaste Beschäftigung fand.
Die zitierte Behauptung war, die „Samurai schafften sich selbst ab“, nicht, dass sie von den neuen Herrschern gezwungen wurden, Beamte zu werden und ausgelöscht wurden, wo sie sich weigerten. Grosser Unterschied, n’est ce pas?