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Jürgen Osterhammel – Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Das britische Empire muss aber in seiner Stabilität noch aus anderen Faktoren erklärt werden. Osterhammel listet folgende auf: die Steuerungsfähigkeit des britischen Finanzsystems, da die City of London das Finanzzentrum der Welt war; das nach den Erfahrungen der 1770er Jahre deutlich sensiblere Interventionssystem bei Unruhen und der Anschein von Souveränität etwa bei Ägypten; die Elitensolidarität der aristokratischen Oberschicht; das Nicht-Ausüben von rassistischen Völkermorden; die Fähigkeit zur weltweiten Machtdurchsetzung, vor allem dank der Navy. Die Pax Britannica sei allerdings kein weltweites Interventionsregime gewesen (dazu fehlten Großbritannien die militärischen Mittel), sondern habe sich vor allem durch ihre Natur als public good für alle Staaten ausgezeichnet, die auf diese Art am liberalen Handelsregime teilnehmen konnte, das quasi unentgeltlich bereitgestellt wurde – und auf diese Art Großbritannien weltweit Einfluss sicherte.
Nachdem Osterhammel so mehrere Imperien untersucht hat, wendet er sich der Frage zu, wie es sich in ihnen eigentlich lebte. Am Beginn jedes Imperiums stünde notwendig eine Gewalterfahrung, bei der das Reich das bisherig souveräne Gebiet unter Kontrolle bringt. Gleichwohl waren diese Gebiete vorher üblicherweise auch nicht friedlich. Für die Eliten bedeute der Souveränitätsverlust selbst bei Elitenkontinuität einen Verlust an Legitimität, der sich in einem höheren Aufstandspotenzial niederschlage. Das Gebiet gehöre nun zu einem größeren Kommunikationsraum, was oft die Ausbreitung neuer imperialer Sprachen (etwa Französisch) begünstige. Die Übernahme einer solchen Sprache sei nicht notwendig Gewaltakt; das Englische heute oder das Französische im 18. Jahrhundert wurden ja auch von wenigstens den Eliten aus freien Stücken übernommen.
Der Trennung von bisherigen (meist benachbarten) Wirtschaftsräumen stünde eine Inkorporation in das Wirtschaftsgefüge des Imperiums gegenüber – mit Gewinnern und Verlierern. Die Ausbreitung neuer Rechtssysteme war notwendigerweise fundamental transformierend und glich einer Revolution. Die Verwaltungspraktiken des Imperiums schufen zudem oft neue „Rassen“ oder Volksgruppen, die vorher nicht oder wesentlich fluider existiert hatten. Diese Kategorisierungen hätten die Grundlage für die nationalistischen Revolten später gelegt. Mit Ausnahme der Dominions krankten alle Kolonien an einem Mangel politischer Partizipation, politische Betätigung sei „nur als Widerstand möglich“ gewesen.
Osterhammel wendet sich entschieden gegen die Idee, dass die Imperien am Ende des 19. Jahrhunderts im Niedergang gewesen seien. Nationalbewegungen, vor allem erfolgreiche, seien kaum vorhanden gewesen. Sie waren ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Stattdessen bemerkt er die Paradoxie von Nationalismus im eigentlichen Imperium, der in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Imperiumsidee steht. Eine letzte Erkenntnis ist die Verwundbarkeit von Imperien gegenüber Reformen: diese stellten einen Moment großer Gefahr dar, weswegen Imperien sehr vorsichtig bei der Modernisierung ihrer Verwaltung u. Ä. sein müssen.
In Kapitel 9, „Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen – Zwischen zwei Weltkriegen“, beschreibt Osterhammel zunächst die europäischen Ordnungssysteme. Zwischen 1815 und 1853 sieht er eine Staatengemeinschaft, mit klaren Regeln, die Kriege verhindert habe. Darauf folgte eine Phase von Konflikten, besonders die Einigungskriege Deutschlands und Italiens, die dieses System klar brachen. Dem folgte eine neue, fast gleichlange Friedensphase, die aber keine Staatengemeinschaft mehr hatte, sondern einander misstrauisch gegenüberstehende, wenngleich defensiv ausgerichtete Allianzsysteme, die aber gleichzeitig garantierten, dass künftige Kriege nicht mehr zwischen Einzelstaaten, sondern eben Bündnissystemen ausgefochten werden würden. Osterhammel macht als Trends aus, dass der Charakter von Rüstung sich von Masse zu Qualität (etwa in der Flottenrüstung) änderte, was gleichzeitig Unwägbarkeiten bezüglich der Natur künftiger Kriege mit sich brachte. Die imperiale Peripherie betrachtet er neutral: Konflikte dort konnten auf die europäischen Staaten zurückfallen; deren Konflikte konnten aber auch an der Peripherie ein Ventil finden.
Osterhammel spricht bezüglich Europa und dem Rest der Welt von einem „Globalen Dualismus“. Das europäische Staatensystem von 1815ff. mit seiner frühen Entwicklungsstufe des Völkerrechts (vor allem des ius ad bellum und ius in bello, also Regelung wer warum Krieg führen darf und wie das geschieht) galt nur innerhalb Kerneuropas. Das Osmanische Reich etwa war ausgenommen (weswegen dort auch weiter kriegerische Konflikte stattfanden); der Rest der Welt sowieso. Das sorgte dafür, dass die Mächte zwar Konflikte außerhalb Europas austrugen, diese aber meist nicht Europa selbst betroffen. Besonders bei der Verteilung der Kolonien, etwa im scramble for Africa, war das bedeutsam.
Um die politische Welt im 19. Jahrhundert zu kategorisieren, nutzt Osterhammel den Begriff der „Ordnungsräume“. Ein solcher war Amerika. Während Kanada und die USA mit einer der ersten Abrüstungsinitiativen der Neuzeit in ein stabiles Nachbarschaftsverhältnis übergingen, stellte sich die Frage, wer Mittel- und Südamerika beherrschen würde. Der Partikularismus der Region, verhinderte das Auftreten eines regionalen Hegemons; unter den wenigen Kriegen in Südamerika stechen besonders Konflikte hervor, die dieses Ergebnis hatten. Die Briten hatten kurz die Gelegenheit, eine beherrschende Rolle zu spielen, begnügten sich aber mit Gleichberechtigung mit den USA. Diese verwandelte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in eine untergeordnete Stellung, als die USA zunehmend aggressiv ihre Vorherrschaft ausübten und zu einer hegemonialen Macht wurden, deren imperialer Fußabdruck alles andere als „gütig“ war.
In Asien war der erste Faktor die Modernisierung Japans. Das Archipel hatte den Vorteil, bereits politisch geeint und kulturelle arrondiert zu sein, als die Amerikaner und Europäer es „öffneten“, und durch Geheimdienstarbeit genug über europäische Diplomatie zu wissen, um Schlimmeres zu verhindern. Es modernisierte sich denn erfolgreich und errang eigene Kolonien. China indessen war ein eigenes Imperium mit Peripherie, das jahrhundertelang keine echten Gegner gekannt hatte. Im 19. Jahrhundert stieß es gewaltsam mit dem Empire und dem Zarenreich zusammen und verlor große Gebiete. Seine Niederlagen sorgten für einen massiven Ansehensverlust. Gleichwohl gelang es China, seine Souveränität zu bewahren und sich in einer untergeordneten Stellung ins Mächtesystem einzugliedern. In Indien indes fassten die Briten die über 500 Einzelstaaten de facto unter einer Regierung zusammen, indem sie den Maharadscha und andere Fürsten auf zeremonielle Rollen reduzierten.
In Südostasien indessen sieht Osterhammel eine Pentarchie. Die Kolonien von Britisch-Malaya wurden zu einem einzigen Verwaltungsgebiet zusammengelegt, das auch nach der Unabhängigkeit seine Struktur behielt und heute aus zwei Staaten besteht, Malaya und Singapur. Die französische Kolonie Indochina indessen zerfiel direkt mit der Unabhängigkeit wieder in ihre drei historisch gewachsenen Teilgebiete von Vietnam, Laos und Kambodscha. Die Kolonialherrschaft hatte klar unterschiedliche Auswirkungen auf die entsprechenden Regionen.
Die Bedeutung von Kriegen für die Politik des 19. Jahrhunderts kann indessen nicht überschätzt werden. Eine wichtige Frage der Zeit war die Anerkennung als Großmacht. Diese hing im 19. Jahrhundert direkt von militärischen Fähigkeiten ab: wer diese besaß, wurde anerkannt, wer nicht, nicht. So stürzten etwa China und das Osmanische Reich effektiv aus dem Großmachtstatus heraus, während die USA erst mit dem Krieg von 1898 und Japan mit dem von 1905 als solche anerkannt wurden. Umgekehrt sorgten militärische Niederlagen für schwere Ansehensverluste, ob für Russland 1856 und 1905, Frankreich 1871 und selbst Großbritannien mit den Buren 1902. Einzig Deutschland, Italien und Japan gewannen durch Kriege massiv an Status hinzu. Besonders Deutschland ist in diesem Kontext wegen seiner modernen Armee, die den Krieg professionalisierte, wichtig.
In diesen Kontext gehören die Steigerungen der Waffentechnik und vor allem der Logistik, die das Gesicht des Krieges maßgeblich veränderten. Osterhammel betont, dass zwar nur wenige Länder die Fähigkeit hatten, modernes Kriegsgerät zu produzieren, der internationale Waffenmarkt aber bedeutete, dass praktisch jedes Land an die jeweils neuesten Waffen (wie Minié-Gewehre) herankommen konnte. Das führte etwa dazu, dass das sich gut vorbereitende Äthiopien der italienischen Armee eine vernichtende Niederlage bereiten konnte. Zwar blieb ein solch durchschlagender Erfolg die Ausnahme; in Kolonialkriegen zogen die indigenen Völker gegen die Europäer sonst zuverlässig den Kürzeren. Für die Soldaten allerdings war der Dienst in den Kolonien alles, aber nicht angenehm. Für die betroffene Bevölkerung waren diese Kriege wegen ihres außersystemischen Charakters (sie beeinflussten die balance of power praktisch nicht und unterlagen nicht den Regeln europäischen Rechtsverständnisses) aber wesentlich schlimmer. Die rassistische Komponente der Konflikte verschärfte die Gewaltexzesse, war aber keine notwendige Bedingung; auch die Balkankriege zeichneten sich durch massive Gewalt aus. Die Waffe der Schwachen war damals wie heute der Guerillakrieg, der die Leiden der Bevölkerung noch verstärkte. Die Guerilla mochten sich in ihrer Propaganda als Verteidiger der Zivilbevölkerung ausgeben; in der Praxis beuteten sie sie oft noch schlimmer aus als die Imperialmacht.
Ein weiteres Merkmal der Krieg der Epoche war die Massenmobilisierung. Diese führte noch nicht zum Totalen Krieg (als einzigen solchen charakterisiert Osterhammel den amerikanischen Bürgerkrieg), und die Toten- und Verwundetenzahlen lagen weit unter der Schlächterei des Ersten Weltkriegs. Doch die Zahl der betroffenen Soldaten nahm im 19. Jahrhundert gegenüber vorherigen Jahrhunderten massiv zu und erforderte eine entsprechende Professionalisierung.
Zuletzt wendet sich Osterhammel den Neuerungen im Seekrieg zu. Segelschiffe wurden von Eisenschiffen abgelöst, ein langsamer, aber bedeutsamer Vorgang, der eine ähnliche Professionalisierungslogik wie die Landkriegsführung bedingte: Offiziere wie Mannschaften wurden mehr zu technischen Profis. Außerhalb Europas unternahmen nur zwei Mächte moderne Flottenrüstung: China nur beinahe erfolgreich (es fehlte ein strategisches Konzept, nicht die Technik!), Japan sehr erfolgreich. Osterhammel betont die Rolle der japanischen Flottenrüstung bei seinem Aufstieg zur Großmacht, die technologisch wie wirtschaftlich bedeutsam war.
Den Krieg solcherart abgehandelt wendet er sich der Diplomatie zu. Vor dem 19. Jahrhundert war sie global gesehen in zahlreiche Traditionen und Eigenheiten zersplittert; eine Gleichrangigkeit souveräner Staaten war eine völlig anachronistische Idee. Seit 1793 aber forcierten europäische Diplomaten die Übernahme ihrer Regeln und Gepflogenheiten – Achtung der Botschafter, Einrichten von Botschaften, Zugang zum jeweiligen Herrscher – weltweit, was den Status vieler Nationen, die mit diesen Regeln nichts anfangen konnten, empfindlich schmälerte. Beleidigungen oder Attacken auf Botschafter wurden zum Kriegsgrund, und Finanzbeziehungen – vor allem Bankrotte – zum Anlass von Internventionen.
Diplomatie blieb allerdings das Betätigungsfeld des Adels. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Öffentlichkeit mehr und mehr involviert, was zu jingoistischen Ausfällen führte (am krassesten 1898 in den USA). Die Oktroyierung europäischen Völkerrechts sah aber vor allem die Degradierung zahlreicher politischer Einheiten, die kaum als Staaten qualifizierbar waren, und sorgte an den Kulturgrenzen für zahllose Missverständnisse, wo die Jurisprudenz der Europäer teils sogar mangels einer Schriftkultur völlig unverständlich war.
Weiter geht es in Teil 6.
… sondern habe sich vor allem durch ihre Natur als public good für alle Staaten ausgezeichnet, die auf diese Art am liberalen Handelsregime teilnehmen konnte, das quasi unentgeltlich bereitgestellt wurde …
Bei aller Liebe für diese durchaus einleuchtende Theorie – sie vergisst, dass niemand auf der Erde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen maritimen Rüstungswettlauf mit dem damals reichsten Staat der Erde hätte mit Aussicht auf Erfolg anzetteln können. Und zu Land wäre das britische Empire ausschliesslich in Indien verwundbar gewesen, für das 19. Jahrhundert bei den Räumen, über die wir da sprechen, allerdings eher theoretisch als praktisch.
Auch diese historisch einmalige, für einen Zeitraum von 50, 60 Jahren nicht ernsthaft zu gefährdende, Dominanzposition führt natürlich zu einer Art von „Akzeptanz“. Wenn man halt keine Wahl hat …
Gruss,
Thorsten Haupts
Das Argument ist ja, dass die Briten ihre Flotte nicht für aggressive Dominanz nutzten. Niemand hätte sie, wie du schon sagst, hindern können, Gibraltar oder Suez zu schließen. Sie taten das aber nicht. Das ist schon bemerkenswert.
Es ist bemerkenswert, dass die Briten nichts taten, um ihrem eigennützigen Hauptinteresse – ungestörter Welthandel -zu schaden? Ahemm …
Die Sache ist: ungestörter Welthandel ist kein Nullsummenspiel. Alle außer den Briten betrachteten das noch merkantilistisch, als ein solches. Es ist bemerkenswert, dass sie die Weitsicht hatten zu erkennen, dass es in ihrem Interesse war, dass alle gewinnen (weil sie mehr gewinnen) und die Kosten dafür zu tragen.
Denk an unsere andere Debatte: die Mitigierung der Klimakrise wäre auch uneigennütziges Hauptinteresse, und trotzdem machen wir es nicht.
Das ihre Weitsicht bemerkenswert war, hat mit dem vorherigen Argument erst einmal wenig zu tun.
Darüber hinaus ist … und die Kosten dafür zu tragen … IMHO Unsinn, ihre Flotte hätten die Briten zur Sicherung Ihrer Insel und ihrer Kolonien ohnehin gebraucht. Es ging darum, dass sie diese Flotte meistens nicht aggressiv einsetzten. Nur halte ich das nicht für bemerkenswert, wenn das Hauptinteresse eines Staates aussenpolitisch in Freihandel zum eigenen Nutzen besteht. Grossbritannien war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrrhunderts ein saturiertes Imperium, es hatte sich in den Jahrhunderten vorher alles gekrallt, was es so gerade eben sichern konnte. Solche Imperien neigen immer zu Friedfertigkeit – warum soll man aggressiv werden, Risiken eingehen, wenn man eh an der Spitze der Nahrungskette angelangt ist?
… Mitigierung der Klimakrise wäre auch uneigennütziges Hauptinteresse …
Du meintest sicher „eigennütziges Hauptinteresse“, sonst machte das Argument keinen Sinn. Und für Deutschland ist das ohne weiteres bestreitbar.
Gruss,
Thorsten Haupts
Aha…?