Bücherliste September 2023

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Wagenrennen, Tech, Corpus Delicit, Fall Frankreichs, Schattenzeit

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

Bücher

Karl-Wilhelm Weeber – Circus Maximus: Wagenrennen im antiken Rom

Ich habe das Gefühl, dass eine Referenz an Ben Hur zur Einleitung eines Buchs über Wagenrennen im alten Rom mittlerweile ein Anachronismus ist, der nur durch die berühmten Armbanduhren in der Wagenrennen Szene des Hollywoodschinkens übertroffen wird – nicht nur wegen der künstlerischen Freiheiten, die sich der Film seinerzeit genommen hat, sondern auch, weil eine natürliche Reaktion darauf mittlerweile ein „ wer oder was ist Ben Hur?“ wäre. Und das nicht zu Unrecht. Das Erbe das Schicksal droht vermutlich auch Asterix. Aber ich schweife ab. Die Frage, inwiefern die Wagenrennen des Circus Maximus als eine Art Vorläufer moderner Sportveranstaltungen gesehen werden können, bleibt alleine deswegen relevant, weil die römische Gesellschaft in vielen Facetten verführerisch modern zu sein scheint – ein Anschein, der sich bei näherer Betrachtung allzu oft einer geradezu verwirrenden Fremdartigkeit Platz macht. Ob diese Facetten von Karl-Wilheln Weebers Buch eingefangen werden können, soll diese Rezension zeigen.

Im 1. Kapitel, „“Würdigung des weltbehrrschenen Volkes“ – Der Circus Maximus “, erfahren wir, dass die Spiele (ludis) vermutlich hinter den Stadtgründer Romulus zurückreichen. Ähnliches gilt für Wagenrennen: diese veranstalteten die Römer mindestens, seit sie die Sümpfe zwischen den sieben Hügeln trocken legten. Ihre Ursprünge liegen im Dunkel der Geschichte verborgen, was auf alle Arten der Spiele zutrifft, auch auf die berühmten Gladiatorenkämpfe. In jedem Fall widmeten die Römer den Wagenrennen mit dem Circus Maximus eines der beeindruckendsten Bauwerke aller Zeiten. Auf Tribünen aus Stein und Holz fasste es zu seinen Hochzeiten über 250.000 Zuschauer*innen. zahlreiche edle Marmorelemente und andere Dekorationen schrien Ruhm und Stärke Roms in die Welt hinaus.

Dabei hatten die Spiele anders als unsere heutigen Massenspektakel nicht nur eine eskapistische, säkulare Dimension, sondern auch eine religiöse, wie Kapitel 2, „“Klatsch mit begeisterter Hand Venus zu!“ – Die Götter“, aufzeigt. Ursprünglich einmal waren die Spiele eine Form des Gottesdienstes. Kein Wunder, dass die frühen Christen sich mit den Besuchen diese Spiele und ihrem Genuss so ungemein schwer taten. Auch das galt selbstverständlich gleichermaßen für die Gladiatorenspiele, jedoch war in den Worten Weebers keines der Spiele so eng mit Gottesdiensten verknüpft wie die Wagenrennen. Ausführliche Prozessionen zu Ehren der Götter gehörten zur Standarddramaturgie jedes Spieltags. Ihnen zu ehren wurde geopfert und teilweise auch gefahren.

Weeber geht im Folgenden davon aus, dass diese religiöse Komponente mit der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurde und den Zeitgenossen ihr lästige Pflicht als Herzensangelegenheit war, beinahe so, wie man heutzutage die Werbeeinblendungen in der Halbzeit erdulden würde. Ich halte dies für eine problematische Interpretationslinie, weil heutige säkulare Maßstäbe auf die Vergangenheit anzuwenden immer gefährlich ist und meine grundsätzlich die Religion vergangene Völker ernstnehmen sollte. das nicht ernstnehmen der eigenen Religion ist ein Privileg der Moderne und wird zwar ständig auf das römische Reich zurückprojiziert, aber genau das ist anachronistisch.

Dass die Römer die Herkunft vieler religiöser Symbole wie etwa der delphinförmigen Rundenanzeiger oder der ebenfalls in diesem Kontext genutzten Eier nicht mehr genau kannten und bestimmen konnten, steht hierzu in keinem Widerspruch. Die heutigen Christen können einen Großteil der Bibel auch nicht vernünftig deuten und kennen die Herkunft der allermeisten Rituale ebenfalls nicht. Gleichwohl sollte man dies als mangelnden Glaubens Eifer oder gar als ironische Distanz zur eigenen Religion begreifen.

In Kapitel 3, „“Hunderttausende, um des Scorpus Nase zu vergolden“ – Die Geldgeber„, wird es dann allerdings deutlich säkularer. Die Spiele kosteten Unsummen, umso mehr, je prächtiger sie im Lauf der Zeit wurden und desto mehr ist von ihnen gab. Die allgemeine Erwartung war, dass sie kostenlos waren. Gerne verlangte der Plebs auch noch Speis und Trank. Bezahlt wurden die Spiele durch Politiker. Für die Spender war dies eine meist willkommene Gelegenheit, sich volksnah zu geben und in der Dankbarkeit und Begeisterung der Masse zu baden – entscheidende Voraussetzung für die eigene politische Karriere. Das war allerdings keine freiwillige Wahlkampfmaßnahme: das Ausrichten von Spielen gehörte schlichtweg zu den Pflichten des gewählten Politikers, was natürlich zeitgleich zuverlässig garantierte, dass nur Superreiche sich für politische Ämter bewerben konnten.

Eine eigene Begeisterung für die Spiele wurde dabei erwartet: ein Amtsträger konnte noch so großartige Spiele feiern; wenn er nicht wie merklich 2006 begeisternd jubelnd in der luxuriösen Ausrichter Tribüne zu sehen war, galt dies schnell als Ausweis mangelnder Volksnähe. Man sollte dies trotz allem nicht mit der Volksnähe verwechseln, wie sie Currywurst mampfende Politiker*innen heute auf Marktplätzen zur Schau zu stellen versuchen: die römische Gesellschaft war eine Klassengesellschaft, und die Beschäftigung mit den Spielen eigentlich etwas, das als unfein galt. Diese Quadratur des Kreises gehörte zu den vielen Herausforderungen des römischen politischen Alltags.

Besonders zur Kaiserzeit konnten die Spiele auch als politische Arena für eine Art Simulation der Volksbeteiligung genutzt werden: neben den bereits erwähnten sakralen Elementen kamen dann politische hinzu, wenn das Volk in der Arena quasi plebiszitär die Nähe zum Kaiser und seine Politik suchte oder aber ihr Missfallen kundtat.

Ein kurioses Detail zum Schluss: die Spiele waren auch deswegen so teuer, weil sie monopolistisch ausgerichtet wurden. Es gab nur vier Rennställe, von denen wir später noch mehr hören werden, die den Markt quasi unter sich aufteilten und den Ausrichtenden die Bedingungen diktierten. Obwohl es immer wieder Versuche gab, diese Monopole zu brechen, hatte niemand ernsthaften Erfolg damit – ein weiterer schlagender Beweis, der ist auch Augustus zu sein keine absolute Macht konferierte.

Kapitel 4, „“Lasse, Dämon, die Pferde der anderen stürzen“ – Die Fans„, wendet sich dann dem Publikum zu. In einer weiteren deutlichen Parallele zu unseren heutigen Massensportveranstaltungen waren die Römer (und an dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass mit „Römer“ hier stets die Stadtbevölkerung gemeint ist) begeisterte Fans ihrer jeweiligen Partei. Die vier nach Farben benannt Rennställe der Grünen, Weißen, Blauen und Roten hatten ihre fanatischen Anhänger*innen („fanatisch“ kommt sowohl bei Weeber als auch in den Quellen häufig vor), die niemals den Stall wechseln würden. Es gibt sogar zahlreiche überlieferte Flirttipps, die einerseits das Gedränge des  Circus Maximus in einer absolut nicht mit #MeToo kompatiblen Weise ausnutzen und die Etikette für Anhänger*innen gegnerische Rennställe beschreiben.

Auch manche Kaiser waren überzeugte Anhänger eines bestimmten Rennstalls, den sie dann auch gerne mit großzügigen Belohnungen, Spenden und Hilfen bedachten. Überwiegend waren die Kaiser – wie auch ein Großteil der Bevölkerung – Fans der Grünen, die mit Abstand die meisten Siege einfuhren. Es ist mir unbegreiflich, wie Weeber dem Vergleich mit dem FC Bayern München widerstehen kann.

Aus heutiger Sicht eher fremdartig ist der Rückgriff auf höhere Mächte: zahlreiche Fluchtafeln sind überliefert, auf denen die Fans irgendwelche Dämonen darum bitten, gegnerische Pferde und Wagenlenker tödlich verunglücken zu lassen. Das heutige Konzept sportliche Fairness war den Römern ohnehin nicht geläufig, wie wir bei der Betrachtung der Wagenlenker auch noch sehen werden.

Das fünfte Kapitel, „„Rom ist in Trauer, wenn die Grünen verlieren“ – Die Renngesellschaften„, wendet sich dann dem geschäftlichen Teil der Rennen zu. Die Renngesellschaften waren kapitalistische Riesenbetriebe. sie beschäftigten Hunderte von Angestellten, die eine unglaubliche Masse von Pferden trainieren und unterhalten mussten, die die Stars hegten und pflegten, das Marketing betrieben und natürlich die Verhandlungen mit den Spielgebern durchführten. Viele Details sind leider nicht bekannt, aber das etwa so etwas wie VIP Lounges oder exklusive Zugang für zahlungskräftige Fans existiert haben müssen, ist vergleichsweise gut aus den Quellen ableitbar.

Kapitel 6, „„Du Star des lärmenden Zirkus, du Wonne Roms“ – Die Wagenlenker„, beschäftigt sich dann mit den Stars der Show. Trotz der gewaltigen Bedeutung der Spiele im Alltag der Römer waren die Wagenlenker genauso wie Gladiatoren und Schauspieler am absoluten Boden der sozialen Hierarchie zu finden. Wenig überraschend ist daher, dass viele von ihnen Sklaven waren oder aber Freigelassene. Dem unbenommen war, dass die großen Stars – ein winziger Prozentteil aller Wagenlenker – gewaltige Summen verdienen konnten. Das galt sogar für Sklaven, so dass die Wagenrennen ein Element der sozialen Aufwärtsmobilität besaßen. Diese sollte man gleichwohl nicht überschätzen, da es einerseits nur einige wenige Glückliche betraf, während der Großteil früh aufgrund von Unfällen aus dem gefährlichen Geschäft ausschied und andererseits der soziale niedrige Stand auch für Megastars nie abgeschüttelt werden konnte.

Solange der Erfolg anhielt, erhielten diese Megastars aber oft die licentia, also die Erlaubnis zum Brechen gesellschaftlicher Normen, wie wir sie heute unseren Stars auch gerne einräumen. Auffällig ist auch, wie die Renngesellschaften ihre jeweiligen Stars förderten, indem die wenigen prominenten Wagenlenker des Stalls solcherart fuhren, dass die Stars den Sieg einfahren konnten.

Die Rennen waren allerdings ungeheuer gefährlich. Die Wagen verfügten über keinerlei Sicherheitsmechanismen und fuhren halsbrecherische Manöver im Kampf um Sekundenvorteile. Kam es zu einem Unfall, wurden die Wagenlenker oft mitgeschleift. Wenn sie Glück hatten, wurden sie aus dem Wagen geschleudert. Setzt man das in Beziehung zu der Masse an Rennen, die diese Fahrer fahren mussten – es gibt eine eigene Königsklasse von Fahrern, die eine vierstellige Anzahl Siege (wohlgemerkt nicht Rennteilnahmen, sondern Siege!) eingefahren hatten – so wird das gewaltige Risiko deutlich. Wie bereits erwähnt war Sportlichkeit kein den Römern bekannter Wert: was auch immer beim Siegen half, ob Abdrängen oder andere Manöver, die heute zu einer sofortigen Disqualifizierung führen würden, war erlaubt.

Das siebte Kapitel, „„Den Hengst Incitatus soll er zum Consuln bestimmt haben“ – Die Pferde„, widmet sich der treibenden – oder besser: ziehenden – Kraft hinter den Spielen. Die Pferde waren teilweise bekannter als die Wagenlenker selbst. Mit geradezu religiöser Inbrunst diskutierten die Römer die Vorzüge verschiedener Pferde und bejubelten diese genauso wie ihre menschlichen Fahrer. Dabei gab es unterschiedliche Arten von Pferden, je nachdem, an welcher Stelle des Gespanns sie eingesetzt wurden. Intime Kenntnisse über die Details der Wagenpferde gehörten zum Standardrepertoire des Smalltalks in Rom. Die berühmte Geschichte über Caligula, der angeblich ein Pferd zum Konsul ernennen wollte, ist zwar höchstwahrscheinlich erfunden, zeigt aber gut diese Begeisterung.

Kapitel 8, „„Ein größeres Schauspiel als das Rennen selbst“ – Die Zuschauer„, beschäftigt sich dann mit der Erfahrung des Rennens aus Zuschauer*innensicht. Der Lärm des Geschehens muss ohrenbetäubend gewesen sein. Der Zirkus war zudem trotz aller monumentalen Größe furchtbar eng und unbequem. Zu allem Überfluss war er auch noch gefährlich: Zwar hatten die Römer bei der Konstruktion beeindruckende Vorsicht walten lassen, was Evakuierungsprozesse und ähnliches angeht, doch all das half wenig, wenn eine schlecht gebaute Holztribüne zusammenbrach oder gar ein Brand ausbrach.

Etwas abenteuerlich wird der Aspekt komme in dem Weeber die Allgegenwärtigkeit der Zirkusrennen beschreibt, indem er als Beispiel sind die Überlieferung hernimmt, nach der Nero von seinem Privatlehrer gemaßregelt worden war, weil er sich lieber mit seinem Sitznachbarn über die Pferde unterhielt als über den Lernstoff. Hier zeigt sich ein Problem, das Weebers komplettes Buch durchzieht: ein wesentlich zu großes Vertrauen in die Quellen, vor allem was Anekdoten anbelangt. Die Versuchung, eine Knoten zu erzählen, ist gerade in der populärgeschichtlichen Darstellung stets vorhanden. Umso mehr allerdings muss man versuchen ihr zu widerstehen, und dies gelingt Weeber leider überhaupt nicht.

Kapitel 9, „„Der Zugang zum Circus führt durchs Bordell“ – Dirnen, Astrologen und Co„, ist wenigstens ehrlich, was die schlechte Quellenlage betrifft. Genauso wie in Kapitel 8 haben wir zwar zahlreiche kritische Quellen über die moralischen Zustände der Umgebung des Zirkus, aber es ist deutlich unklarer, inwieweit diese verallgemeinerbar oder überhaupt glaubwürdig sind und nicht einfach nur dem römischen Lieblingsgenre des Beschwerens über die aktuellen Sitten und ihren Verfall gegenüber der Zeit der Vorväter entsprechen. Auch dieses Problem kennen wir natürlich aus unserer eigenen Medienlandschaft nur zu gut. Das ist im Umfeld der Spiele Prostitution und Sauferei gab können wir wohl als gegeben annehmen, da es sich mit unseren Kenntnissen der menschlichen Natur deckt.

Insgesamt fällt es mir schwer eine Kaufempfehlung für dieses Buch auszusprechen, auch wenn es sich leicht liest und nicht übermäßig lang ist. So interessant einzelne Aspekte wie die religiösen Ursprünge der Spiele auch sein mögen, so misstrauisch macht mich das wörtlich Nehmen der Quellen und die Verliebtheit in Anekdoten. Dies scheint bei dieser Buchserie allerdings so etwas wie ein Dauerthema zu sein.

Adrian Daub – What Tech Calls Thinking (Hörbuch)

Festzustellen, dass die großen Techkonzerne von Silicon Valley eine unglaublich große Rolle in unserem Alltag haben, ist wahrhaftig keine überragende Erkenntnis. obwohl Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Bill Gates und wie sie alle heißen allseits bekannte Figuren sind, ist weitgehend unergründet, wie sie denken und wer ihre großen Einflüsse sind. Adrian Daub von der Stanford-Universität in Kalifornien ist schon allein wegen der räumlichen Nähe zum Silicon Valley ein einleuchtender Kandidat dafür, das etwas näher zu untersuchen. In „What Tech Calls Thinking“ geht er diese Ideengeschichte des Silicon Valley nach, ohne dass man ihn – der Titel verrät es schon ein wenig – allzu großer Sympathie beschuldigen dürfte.

Das Problem des Untersuchungsgegenstandes macht Daub gleich zu Beginn im Vorwort deutlich. Die Betrachtung des Tech-Sektors wird meistens auf die großen, schillernden Figuren, wie ich sie auch eingangs aufgelistet habe, reduziert. Wie die große Masse der Beschäftigten im Silicon Valley denkt ist bislang komplett unerforscht. Die entsprechende soziologische Untersuchung, so Daub, muss erst noch geschrieben werden. Daub selbst allerdings überlässt diese Aufgabe anderen und bleibt bei den großen, bekannten Figuren. Eigentlich ein Text über geht, formuliert er noch zwei Thesen: das wäre einerseits die Bedeutung des College Dropouts als beherrschender Mythos und andererseits die Wurzeln des Tech-Denkens in der Counterculture der 1960er Jahre.

Den ersten Teil dieser Thesen beginnt er im Kapitel 1, „Dropouts“, zu erforschen. Er stellt fest, das viele der Gurus des Silicon Valley, etwa die Venturkapitalistin Elizabeth Holmes, in Ihrer Selbstdarstellung gerne den Collegedropout als elementaren Teil ihrer Unternehmendenkarriere darstellen, indem sie den persönlichen Einsatz für das jeweilige Unternehmen betonen. Daub Durchlöchert diesen Mythos aber sofort, indem er völlig zu Recht darauf hinweist, dass für diese Personen der Dropout keinerlei persönliches Risiko darstellte.

Stattdessen stellt er die These auf, dass die Techkapitalist*innen das College vielmehr als eine Art ersten Job sähen, indem man einige wertvolle Fertigkeiten erwerbe und dann, wenn man eine wahrgenommene Grenze erreicht hat, zu einem neuen Job wechselt – ganz so, wie ist die Lebensläufe dann später für die Unternehmen, in denen diese Leute arbeiten, widerspiegeln. Für Daub Ist diese Sichtweise auf das College allerdings ein grundsätzliches Problem, weil sie nicht die eigentliche Erfahrung des Studiums erlaube, das wesentlich ganzheitlicher angelegt sei. Stattdessen wird man einigen Ideen ausgesetzt und nimmt diese vielleicht auch auf, allerdings ohne die Tiefe, die ein echtes Studium mit sich bringen würde.

Das Missverständnis, dass der Dropout eine Kritik am universitären Umfeld wäre, räumt Daub direkt aus. Dies wird zwar oft zu rezipiert, würde von den Dropouts selbst aber nicht so gemeint sein. Vielmehr zeigten die Arbeitsumfelder, in die diese dann wechseln, eine tiefe Verbundenheit mit dem akademischen Umfeld: vom Google Campus zu Mark Zuckerbergs an eine WG erinnernde erste Kommandozentrale von Facebook würden die späteren Unternehmen bewusst oder unbewusst an Universitäten ausgerichtet. Auch würde das Prestige der Eliteuniversitäten und des Studiums generell stets benutzt. Der Dropout sei vielmehr eine Marketingmaßnahme: so etwa wird über Elizabeth Holmes‘ Zeit in Stanford wesentlich mehr gesprochen, weil sie das Studium dort abgebrochen hat, als wenn sie es regulär zu Ende gebracht hätte.

Zuletzt untersucht Daub das merkwürdige Verständnis der ersten Person Plural dieser Dropouts: Sie verwenden unglaublich gern diese Pluralform, meinten damit allerdings stets „Leute wie ich“. dies sei sehr gut ein Unternehmen wie Lyft, Uber und so weiter feststellbar, die alle eine vergleichsweise hohe Eintrittsschwelle besitzen und sowohl für wenig techaffine als auch begüterte Menschen unerreichbar seien.

Kapitel 2, „Content„, taucht tiefer in die Counterculture ein. Der Denker, den Daub uns jetzt vorstellt, ist Marshall McLuhan. Er war einer der ersten Medienwissenschaftler und formulierte die einflussreiche Idee von „das Medium ist die Botschaft“. Auch die Idee des „global village“ und der Begriff des „Surfens“ sind von ihm – wohlgemerkt in den 1960er Jahren! McLuhan kokettierte stets damit, falsch verstanden zu werden, und schrieb seine Texte voller Anspielungen, intertextuelle Bezüge und Fremdworte. Auf diese Art und Weise wurde er zu einer Projektionsfläche, auf die man alle möglichen Vorstellungen anwenden konnte und sich zugleich auf einen großen Denker berufen.

Dadurch wurde McLuhan zu einer Art enfant terrible seiner Zunft und verkörperte eine Anti-Establishment-Haltung, die auf die Counterkulture natürlich unglaublich attraktiv wirkte. Die zentrale Botschaft McLuhans, dass das Medium die Botschaft sei, war eine bewusste Abkehr von der Literaturwissenschaft, die üblicherweise ja den Inhalt große Bedeutung beizumessen pflegt. Stattdessen legte er das Gewicht auf das Medium: er erklärte, das dieses gewaltigen Einfluss auf die Art unseres Inhaltskonsums besitze. Es macht einen Unterschied, ob man eine Geschichte liest oder ihre Verfilmung ansieht.

Daraus leitete sich die Vorstellung ab, dass der Inhalt komplett unwichtig sei. Wer verstanden habe, wie das Medium funktioniert, war allen anderen Gesprächspartner*innen sofort überlegen. diese scheinbare intellektuelle Überlegenheit ist natürlich für junge Menschen generell attraktiv, für die Counterculture aber im Besonderen. Sie war ungeheuer misstrauisch gegenüber der neuen Technologie des Fernsehens und gegenüber der Werbung, weil diese direkt zum Establishment gehörten und von ihm kontrolliert wurden. McLuhan bot daraus einen Ausweg: mit dem einzigartigen Verständnis des Mediums konnte man es einerseits „verbessern“ und andererseits gegen seine Besitzenden wenden.

Auf diese Art wurde die Counterculture zu einem Spiegelbild der Konservativen: wo diese die Gegenwart schlecht fanden und eine goldene Vergangenheit beschworen, fand sie die Gegenwart schlecht und beschwor eine goldene Zukunft, in der alles besser werden würde. Das enthob die späteren Tech-Gurus auch gleichzeitig von jeder Verantwortung für ihre Erfindungen, weil es aus dieser Medientheorie eine systemische Notwendigkeit ableitete. Wenn allerdings etwas systemisch ist, bin ich selbst nicht verantwortlich.

Auf diese Art wurde auch jede Art von der Schaffung von Inhalten abgewertet. Die neuen Plattformen betrachten Content als reine Füllmasse und bezahlen diejenigen, die ihn bereitstellen, oftmals nicht einmal. Ein spannender Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass die Erschaffung von Content, früher eine männliche Domäne, dadurch zunehmend verweiblicht wurde. Die Counterculture war aber auch jeher eine männliche Domäne gewesen. Ein weiterer Aspekt dieser Entwicklung war, dass die neuen Plattformen sich als für den Content nicht verantwortlich gerierten. während eine Zeitung für das, was sie druckt, verantwortlich gemacht werden kann, gilt das für Veröffentlichungen auf Facebook, Twitter oder WordPress dezidiert nicht. Die Zerstörung alte Strukturen ist so auf zahlreichen Ebenen verantwortungsfrei.

Ein in Tech-Zirkeln allgegenwärtiger Begriff wird in Kapitel 3, „Genius„, untersucht. Ihn führt Daub auf Ayn Rand zurück. Rand hasste zwar die Counterculture, aber die Counterculture ihrerseits liebte sie, schon allein, weil Rand die Jugend und Disruption verherrlichte. In ihren Büchern glorifizierte sie außerdem Egoismus und Kapitalismus. Daub wirft ihr allerdings vor, in ihrer Analyse komplett jegliche zugrundeliegenden kollektiven Strukturen von der Familie über den Staat und die daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnisse zu ignorieren und misszuverstehen, weswegen ihre gesamte Theorie letztlich auch nie funktionieren könne. Das ist allerdings für die Übernahme zentraler Konzepte durch die Tech-Gurus auch irrelevant.

Die Idee des Genies, die sich in Romanen wie „The Fountainhead“ oder „Atlas Shrugged“ findet, wird auch im Silicon Valley gerne reproduziert. Daub zeigt dies anhand der Filme von Pixar, die häufig objektivistische Ideen enthalten. Am offensichtlichsten ist dies wohl bei „The Incredibles“ der Fall, er kapriziert sich aber vor allem auf „Ratatouille“. Obwohl der Dialog des Filmes behauptet, dass „jeder kochen kann“, zeigt die Handlung eindeutig, dass es dazu außerordentlicher Begabung bedarf. Die Idee ist als nicht so sehr, dass jeder ein Genie sein kann, sondern dass alle Milieus Genies hervorbringen können. Dieser Geniekult erhielt in der Counterculture eine tiefe Verankerung und wurde in die Tech-Welt transportiert.

Dort entstand eine neue Arbeitsästhetik: neue Arbeitsformen wie das Coding für Amazon wurden überhöht, während andere wie das Fahren für Uber nicht einmal mehr als Arbeit akzeptiert wurden, sondern stattdessen in den Bereich des Hobbys und Lebensstils abgedrängt wurden. Ein interessantes Detail sind auch hier wieder die Genderdynamiken: im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Coding eine wenig angesehene Frauenarbeit. Erst die neue Tech Industrie ja machte es zu einem attraktiven, gut bezahlten und sicherlich nicht zufällig männlich konnotierten Job.

In Kapitel 4, „Communication„, wendet sich Daub dem Phänomen des Trolls zu. Über den etwas merkwürdigen Umweg des New-Age-Gurus Huxley, der die Einnahme von Drogen zur Erweiterung des Bewusstseins und der Kommunikation predigte und damit einen zentralen Einfluss auf die Counterculture ausübte, gelangt eher zu der Vorstellung, dass Kommunikation eine Art transzendenter Vorgang sei, der seine ganz eigene inhärente Wertigkeit besitze. Diese Idee ist selbstevidenterweise für den Tech-Sektor eine beherrschende. Kommunikation schließlich ist das tägliche Brot praktisch aller sozialer Netzwerke.

Daub beschreibt, inwiefern diese Trennung von Kommunikation von ihrem Inhalt üblicherweise vonstattengeht und besonders auf Plattformen wie Twitter konstituierend ist. Seine Erzählung zeigt, wie die Behauptung von Kommunikation im Internet häufig als Substitut für echte Kommunikation benutzt wird. Die performative Reaktion, selbst bei Statements, bei denen keinerlei Reaktion erforderlich ist – oder gerade dann – ruft Widerstand hervor, an dem der Troll wächst. Auf diese Art generiert er Aufmerksamkeit, wo eigentlich überhaupt kein Potential für eine solche bestanden hatte.

Ein anderes Phänomen ist das des bewussten Missverständnisses, oder, genauer, der Konstruktion von scheinbaren Missverständnissen. Was Daub meint sind Äußerungen, deren Ziel das performative enttäuscht Sein ist. Sein Beispiel ist das berühmte geleakte Google-Memo von 2017, in dem ein Mitarbeiter die fehlende Diversität des Unternehmens auf biologische Ursachen zurückführte und somit klar rassistische und misogyne Narrative bediente. Er behauptete später in einer gewissen kognitiven Dissonanz, sowohl falsch verstanden worden zu sein – daher Daubs Behauptung – als auch, das mangelnder Unternehmenserfolg in diesem Missverständnis und dem Verweigern einer Debatte begründet liege.

Dies ist aus Daubs Sicht kompletter Unsinn. Nicht nur ist hier keinerlei Debatte intendiert, sondern alleine das sich verletzt fühlen aus der Ablehnung einer Reaktion seitens der Zielgruppe. Daub formuliert das ganze polemisierend zugespitzt, dass es um eine mitfühlende Erwähnung in einer Kolumne von David Brooks in der New York Times gehe. auch inhaltlich mache es wenig Sinn, da Google offensichtlich in höchstem Maße erfolgreich ist. Inwieweit also die Übernahme offen rassistischer Positionen den Unternehmenserfolg steigern sollte, bleibt völlig unklar; da eine ernsthafte Debatte über den Sachgegenstand allerdings auch nie intendiert war, sondern die Ablehnung und das „Gotcha“ der angeblich verweigerten Debatte danach, ist das auch irrelevant.

Das fünfte Kapitel, „Desire„, stellt uns den französischen Philosophen René Girard vor. Dieser gehört ebenfalls zum Dunstkreis der Stanford Universität, in der er seit 1981 lehrte. zuvor war er in Frankreich zu einer milden Prominenz gekommen. Was Daub sehr verwundert ist, dass Girard ein Einfluss auf Persönlichkeiten wie Peter Thiel war, der normalerweise wenig Geduld oder positive Gefühle für akademische Spitzenpersonen hegt. Und doch ist Girard der einzige Professor, über den Thiel nicht nur ausnehmend positiv spricht, sondern dessen Ideen er auch über seine Stiftung aktiv zu verbreiten versucht.

Girards große These ringt Daub nicht eben viel Begeisterung oder Bewunderung ab: er erklärte sämtliche Wünsche für mimetisch, also als Kopien bereits vorhandener Wünsche. Warum dies für Leute wie ihn, Zuckerberg und Co so einleuchtend und überzeugend war, braucht keine nähere Erklärung. Nur ist die Feststellung, dass wir uns in unseren Wünschen an anderen orientieren laut Daub derart offensichtlich, dass sie kaum besondere Erwähnung wert ist. Umgekehrt ist Girards Verabsolutierung dieser Idee nicht besonders nützlich: es kann gar nicht sein, dass alle Wünsche immer Derivate von anderen sind, da irgendjemand am Anfang der Kette stehen muss.

Aber darum geht es auch nicht wirklich. Für Daub liegt ohnehin ein Missverständnis zugrunde. Girard war kein Optimist. er betrachtete die Wünsche der Menschen und ihre mimetische Natur als Grund für beständige Konflikte untereinander. Thiel hingegen betrachtete es beinahe messianisch: für ihn bestand die wahre Qualität und das große Potential von Silicon Valley darin, diese Wünsche zu antizipieren und zu erfüllen. Die wahre Kunst jedoch sieht Daub in der Fähigkeit, solche Wünsche überhaupt erst zu erschaffen. In dem weitverbreiteten Werbenarrativ, eine Unzufriedenheit mit einem lächerlich kleinen Detail unseres Lebens zu schaffen – als Beispiel nimmt er die fundamental überflüssige Existenz eines Geräts zum Schneiden von geschälten Bananen – und dies ist dann mit großem Tramtram zu „lösen“.

Hier spricht er Silicon Valley religiöse Natur zu: es werde die Sprache religiöser Revivals gesprochen und ein schier messianischer Duktus erhalten. Das ist zwar nicht im Sinne Girards, aber der hat den Vorteil sich nicht mehr wehren zu können.

Kapitel 6, „Disruption„, wendet sich dem wohl bekanntesten und weitreichendsten Schlagwort des Silicon Valley zu. Seine Herkunft ist nicht besonders mysteriös: die Idee der schöpferischen Zerstörung von Joseph Schumpeter, die ironischerweise ausgerechnet auf Marx und Engels zurückgeht, postuliert eine Fähigkeit des Kapitalismus, durch ständige Disruption die Probleme, die Marx und Engels analysiert haben – die Kapitalakkumulation auf Seiten der Kapitalisten, die Monopolbildung und die Armut der Beschäftigten – immer wieder aufzuschieben. Was Schumpeter jedoch auch sagte, und was Daub dem Silicon Valley zu ignorieren vorwirft, ist, dass Schumpeter die schöpferische Zerstörung nicht als etwas rein Positives, Verheißendes ansieht. Für ihn legte sie vielmehr erneut den Keim für die Selbstzerstörung des Kapitalismus: so positiv die schöpferische Zerstörung für das Wirtschaftssystem ist, so unerträglich ist sie für die darin arbeitenden Menschen. Für Schumpeter kann daher kein Zweifel daran bestehen, dass der Sozialismus in Form staatlicher Intervention, Regulierung und Sozialsystemen komplementär wirken muss.

Diese Aspekte spielen allerdings für Silicon Valley keine Rolle. Hier wird stattdessen das Narrativ des Genies auf die schöpferische Zerstörung aufgepfropft, die wiederum aus der Erfüllung von Wünschen resultiere. Wie üblich spielt dabei wenig Rolle, wer eigentlich zerstört und wer zerstört wird. Das Musternarrativ stelle die Zerstörung von Blockbuster durch Netflix dar, und es ist auch ein hervorragendes Beispiel für diese Kräfte im Marktgeschehen.

Daub kritisiert allerdings, dass Tech die Eigenschaft hat, sich stets in der Rolle des Underdogs zu präsentieren. Was im Falle von Netflix noch Sinn machen mag, wird spätestens albern, wenn Google gegen ein Magazin mit 40 Mitarbeitenden steht. Auch fragt Daub skeptisch, inwieweit die prekär lebenden Taxifahrenden eine monopolistische, durch Uber schöpferische zerstörte Monopolstellung ausübten oder inwieweit kleine Innenstädtische Gewerbe ja gegen den Underdog Amazon standen. Das Narrativ passt hier objektiv nicht zu den Vorgängen.

Das Narrativ ist jedoch für die Abwehr der von Schumpeter prognostizierten Regulierung elementar notwendig: nur wenn etwas radikal neu und andersartig ist, lässt sich legitimieren, dass der Staat sich heraushalten solle. Ein beliebiges anderes Taxiunternehmen schließlich hat dieselben Standards einzuhalten wie die Konkurrenz, die es zerstört. In zahlreichen Fällen, wie etwa bei Elizabeth Holmes, braucht es sogar die offizielle staatliche Intervention zugunsten des Unternehmens, um es überhaupt wirtschaftlich überlebensfähig zu machen. Diese wahlweise als symbiotisch oder parasitär zu sehende Verbindung wird jedoch von Silicon Valley hartnäckig geleugnet. Sie ist auch zutiefst unfair: das Recht auf Disruption (auch und gerade durch staatliche Intervention und Regulierung beziehungsweise ihr bewusstes Fehlen) liegt ausschließlich bei Tech. Dass etwa die Opfer der Disruption ebenfalls ein Recht darauf hätten, sich zu organisieren und zurückzuschlagen und ihrerseits die Techstrukturen schöpferisch anzugehen, wird von Silicon Valley mit Verve abgelehnt.

Diese Asymmetrie in den Rechten findet sich auch in Kapitel 7, „Failure„. Die Vorstellung, das Scheitern elementar zu Silicon Valley gehört, ist ihm Mythos der Tech-Industrie fest eingegraben. Die Idee des fail better lässt sich problemlos komplementär zur schöpferischen Zerstörung des vorangegangenen Kapitels lesen. In dieser Vorstellung ist das schnelle Scheitern eine Besonderheit des Silicon Valley, die seine große Innovationskraft begründet. Dazu gehört selbstverständlich, dass ein solches Scheitern nicht negativ ausgelegt werden darf. Stattdessen wird es als eine Art Chance gesehen, etwas gelernt zu haben, was den Gescheiterten dann umso wertvoller für zusätzliche Unternehmungen mache.

Auf der einen Seite ist das vor allem ein Mythos: es gibt zahlreiche Geschichten von Scheitern, die in keinerlei Neuschöpfung enden und es schlichtweg nicht in die Geschichtsbücher schaffen. Im Endeffekt ist hier also ein survivor’s bias am Werk.

Für Daub wesentlich relevanter allerdings ist, dass dieses Scheitern eine unglaubliche privilegierte Angelegenheit ist. Selbst Mark Zuckerberg hat dies zugegeben, als er in einem öffentlichen Auftritt erklärte, das ohne ein Sicherheitskissen das Risiko des Scheiterns überhaupt nicht eingegangen werden könne. Die Ideologie des Scheiterns in Silicon Valley ist also eine der wohl situierten oberen Mittelschicht, die es sich überhaupt leisten kann, für einige Monate etwas auszuprobieren. Für die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten lohnt sich das Ganze dagegen nicht; sie stehen am Ende mit vielen unbezahlten Überstunden und wertlosen Unternehmensanteilen da.

Und das ist, wenn sie Glück haben und zu der elitären Schicht der Arbeitnehmer*innen gehören, die in Silicon Valley als wertvoll gelten. Auch hier weiß Daub wieder auf die Genderdynamiken hin: bei jedem gescheiterten Unternehmen gibt es Dienstleistungspersonal, dass daraus weder Chancen noch Lerneffekte ziehen kann und dem vor allem Unsicherheit und Verluste bleiben und das in der Struktur der Branche überwiegend weiblich ist. Dasselbe gilt natürlich für Migrationshintergrund und das Entstammen aus weniger privilegierten Klassen.

Daub kritisiert die Scheiternsideologie als glorifizierte Version von Popphilosophieplakaten in college dorm rooms, Was wiederum sehr gut zu den Thesen am Eingang des Buchs passt. Die Kehrseite dieses Scheiterns ist der Erfolg, der im Silicon Valley oft willkürlich und unvermittelt zuschlägt. Nur wenige haben ihn, aber die, für die er kommt, werden davon völlig überrascht und überfahren. So oder so ist es gerade der Willkürsaspekt, den Daub hervorhebt und mit dem er sein Buch beschließt.

Ich hatte meine Schwierigkeiten mit der Lektüre dieses Buches. Mein erstes Buch von Daub war Cancel Culture Transfer (hier rezensiert) gewesen, und dessen klare Struktur und ausführliche Quellenlage hat mir sehr gefallen. Demgegenüber ist dieses Werk eher ein sehr langes Essay, das zwar eine Struktur durch die sieben Oberbegriffe aufweist – die auch sinnvoll gewählt sind, weil sie das Phänomen des Selbstverständnisses von Silicon Valley gut beschreiben – aber innerhalb dieser Kapitel wild zwischen verschiedenen Denkern, Ideen und Abschweifungen hin und herspringt. deswegen bin ich mir auch ganz und gar nicht sicher, ob ich immer alles richtig verstanden und hier korrekt wiedergegeben habe. Es fiel mir schlichtweg schwer, zu folgen.

Das liegt natürlich auch am Gegenstand. Die Philosophie scheint es sich zur Regel gemacht zu haben, möglichst kompliziert und undurchdringbar zu sein. Für mich war es seit jeher schwierig, in Theorien zu denken, ob bei den Politikwissenschaften, die ich tatsächlich studiert habe, oder eben bei der Philosophie, die ich nur von peripheren Berührungen kenne. Dass Daub die philosophischen Theorien im Endeffekt nur in ihrem Missverständnis durch die Tech-Gurus bespricht, macht dies nicht einfacher.

Auf der anderen Seite ist das Buch allerdings eminent lesbar, weil Daubs ätzender Sarkasmus inhärent unterhaltsam ist. Er macht aus seiner Abneigung gegenüber Silicon Valley und seinen Protagonist*innen keinerlei Hehl, und diese Art des Kämpfens mit offenem Visier ist auf der einen Seite intellektuell wenigstens ehrlich und auf der anderen Seite, wie gesagt, äußerst unterhaltsam.

Ich weiß nicht, ob ich so weit wie er darin gehen würde, die Tech-Gurus zu verdammen, weil ihr offensichtlicher Erfolg und ihr destruktives Potential schwer wegzudiskutieren ist. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass Daub der Versuchung nachgibt, sie kleinzureden, um seine eigene Einstellung umso besser dagegenstellen zu können.

das soll nicht heißen, dass viel von seiner Kritik nicht berechtigt wäre. Von den Genderdynamiken über die Missachtung der unteren Schichten zur völlig verantwortungslosen Haltung beim Thema Disruption über die exzessive Nutzung staatlicher Regulierung beziehungsweise der Verhinderung derselben zum eigenen Gewinn hin zu der teilweise unerträglichen Stilisierung von Leuten wie Steve Jobs oder Elon Musk, die ein bisschen Statuen stürzen als Gegengewicht einfach brauchen, gibt es genügend relevante und lesenswerte Aspekte des Buchs. Dazu kommt seine geringe Länge, so dass es, wie man im Englischen sagt, doesn’t overstay its welcome. Ein letzter Hinweis am Rande betrifft das Hörbuch: der Leser lehnt sich voll in den ätzenden, sarkastischen Tonfall, was je nach eigener Veranlagung ein Argument für oder gegen das Hören des Hörbuchs ist. Ich würde Interessierten in jedem Fall raten, die Hörprobe auszuprobieren.

Juli Zeh – Corpus Delicti. Ein Prozess (Hörbuch) (Fragen zu Corpus Delicti) (Lektüreschlüssel)

Im Jahr 2009 veröffentlichte die Schriftstellerin Juli Zeh einen dystopischen Roman über eine Gesundheitsdiktatur. Das Genre der Dystopie ist keines, dass in der deutschsprachigen Literatur große Beliebtheit hätte. Man verbindet es vielmehr mit Namen wie Orwell oder Huxley. Der dicht geschriebene, zuerst als Theaterstück entstandene Roman eignet sich natürlich hervorragend als Schullektüre. Als solche ist er mittlerweile auch im Abitur Baden-Württemberg – wie in dem zahlreicher anderer Bundesländer – sehr zum Wohle des Geldbeutels Zehs zur Pflichtlektüre avanciert. In der Corona-Pandemie erhielten sowohl Juli Zeh als auch Corpus Delicti einen unerwarteten Aufschwung an öffentlichem Interesse. Der Roman lässt sich mittlerweile kaum mehr lesen, ohne dass nicht sofort Bezüge zur Pandemie aufkommen würden. Das liegt natürlich nicht nur an der Thematik des Romans, sondern auch an der Autorin.

Juli Zeh ist eine streitbare Persönlichkeit. Zudem ist sie im Gegensatz zu den meisten Autor*innen, deren Lektüre in der Schule gelesen wird, sehr lebendig und kann in Debatten um die Deutung ihrer Werke eingreifen, so sie dies wünscht. Im Gegensatz zu vielen anderen Autor*innen wünscht Juli Zeh dies dezidiert. So begnügt sie sich nicht damit, dass andere ihr Werk interpretieren, sondern hat sogar eine Art offiziellen Begleitband verfasst und äußert sich immer wieder in der Öffentlichkeit zu ihrem Werk.

Und damit nicht genug: Juli Zeh gehört wie Richard David Precht in die Kategorie der öffentlichen Intellektuellen, die gerne zu allen Themen der Gegenwart befragt und in Talkshows eingeladen werden, weil sie pointierte, oft polarisierende Thesen vertritt und mit einer Lust an der Provokation zum Besten gibt. Wie man das bewertet hängt vom eigenen Standpunkt gegenüber dem ab, was man einerseits als gute Debattenkultur betrachtet und andererseits die Prämisse des eigenen Wertesystems bildet. Ich möchte im Interesse der Transparenz gleich zu Beginn deutlich machen, dass ich kein Fan von Juli Zeh bin. Das muss nicht den Umgang mit ihren Werken beeinflussen. Ich finde die Person Goethe auch eher abstoßend, ohne dass dies meine Liebe zu Faust beeinflussen würde, und so sympathisch mir Büchner auch sein mag, so wenig kann ich Woyzeck abgewinnen.

Bevor ich mich ausführlicher mit dem Roman beschäftigen will, sei hier eine kurze Inhaltsangabe gegeben:

Der Roman spielt im 21. Jahrhundert in einer von der Regierung namens „Methode“ beherrschten Gesundheitsdiktatur. Die Bevölkerung wird streng überwacht und kontrolliert, um Krankheiten auszurotten. Die Protagonistin, Mia Holl, ist eine treue Anhängerin der Methode. Ihr Bruder, Moritz, wird wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilt, obwohl er seine Unschuld beteuert und Mia an der Integrität des Systems zweifeln lässt. Die Handlung zeigt einen Gerichtssaal, in dem verschiedene strafrechtliche Fälle verhandelt werden, darunter auch Mias Verstoß gegen Gesundheitsvorschriften. Der Journalist Heinrich Kramer zeigt besonderes Interesse an ihrem Fall. Mias Beziehung zu ihrem Bruder Moritz, der wegen DNA-Beweisen verurteilt wurde, wird beleuchtet, während sie unter dem Druck des Prozesses leidet: die beiden stritten sich über philosophische Fragen.

Mia setzt sich gegen Kramers Ansichten zur Methode zur Wehr und leidet unter dem Verlust ihres Bruders. Eine Vereinbarung mit der Richterin Sophie führt dazu, dass Mia sich den Gesundheitsmaßnahmen unterwirft. Kramer berichtet in einer Talkshow über eine Methodenfeind-Gruppierung namens R.A.K. und betont die Überlegenheit der Methode. Die Handlung vertieft sich in Mias innere Konflikte und ihre Erinnerungen an Moritz. Mia wird von Rosentreter, ihrem Pflichtverteidiger, unterstützt, dessen Strategie ist, Moritz‘ Fall wieder aufzurollen und seine Unschuld zu beweisen. Ein Gespräch zwischen Mia und Rosentreter offenbart seine persönlichen Beweggründe und seine Beziehungskonflikte. Der Roman erforscht Mias Trauer, ihre Zweifel an der Methode und ihre Auseinandersetzung mit Kramers Ansichten. Das Buch endet mit einer Unterbrechung, als jemand an Mias Tür klingelt.

Kramer betritt Mias Wohnung, was Rosentreter misstrauisch macht. Er teilt Mia mit, dass das Interview abgesagt ist. Ein Wortgefecht mit Rosentreter folgt, das letzterer klar verliert. Kramer durchsucht Mias Sachen, während sie widerwillig über ihren Bruder spricht. Kramer findet ein Foto von Moritz‘ Selbstmord und geht zufrieden. Mia reflektiert über Kramers Entschlossenheit im Gegensatz zu ihrer eigenen Unsicherheit. Ein Rückblick zeigt Moritz, wie er von Sibylles Tod erzählt und wütend Mias Wohnung verlässt, in dem Glauben, sie halte ihn für schuldig. In der Gegenwart konfrontieren Lizzie, die Pollsche und Driss Mia mit einem Brief, der ihre Wohnsituation gefährdet. Ein Kramer-Artikel beschuldigt Moritz posthum einer terroristischen Bedrohung. Mia debattiert mit ihrem Inneren über Handlungsmöglichkeiten. Die ideale Geliebte drängt Mia zur Aktion gegen die Methode. Mia überlegt ihre Position. In der Vergangenheit wird Moritz verhaftet. Im folgenden Kapitel wird Mia am Flussufer verhaftet, eine Parallele zu Moritz‘ Erfahrung.

Mias Prozess beginnt wegen angeblicher anti-methodischer Aktivitäten. Bell verliest Anklagen, Rosentreter und Journalisten sind anwesend. Mia argumentiert, dass sie nicht gegen die Methode ist. Rosentreter präsentiert Beweise, die Moritz‘ Unschuld nahelegen. Das ausbrechende Chaos beendet den Prozess. Driss, die Pollsche und Lizzie verfolgen den Skandal im Fernsehen. Mia steht einem Reporter Rede und Antwort. Als sie nach Hause kommt, bleibt sie trotz Driss‘ Entschuldigung reserviert. In der Wohnung von Mia feiern Rosentreter und die ideale Geliebte ihren Erfolg und planen weiterhin. Mia erkennt die Bedeutung der Gespräche mit der Geliebten und fühlt sich frei. Rosentreter wird aus der Wohnung geworfen. Mia spricht mit Kramer über die Methode und ihre Bedenken, während Kramer seine Position verteidigt. Mia bereitet sich auf das Interview vor und betont ihre Absicht, nicht falsch dargestellt zu werden. Ein von Kramer niedergeschriebener Monolog von Mia reflektiert ihre Ängste und Zweifel an der Methode und an sich selbst. Kramer plant, Mias Monolog zu nutzen.

Mia wird verhaftet, nachdem gefälschte Anschlagspläne in ihrer Wohnung gefunden wurden. Sie kämpft gegen die Festnahme, wird aber von den Bewohnern weitgehend ignoriert. Im Gefängnis trifft Mia auf Rosentreter, der Klage eingereicht hat. Mia erfährt von den Reaktionen auf ihr Werk, lehnt jedoch die Unterstützung der R.A.K. ab. Kramer verteidigt die Methode in einer Talkshow. Kramer besucht Mia im Gefängnis, versucht, ein Geständnis zu erzwingen, und droht mit Folter. Mia widersteht, wird jedoch gefoltert. Sie kämpft mit den Folgen der Tortur. Kramer erscheint erneut, Mia bedroht ihn mit einer Nadel und entfernt einen Chip. In einer weiteren Verhandlung wird Mia verurteilt, aber dann überraschend begnadigt, um eine Märtyrerin zu verhindern. Kramer plant, Mia durch Umerziehungsmaßnahmen zurück zur Methode zu bringen.

Soviel zum Inhalt.

Zeh hat auch ein Begleitbuch geschrieben: „Fragen an Corpus Delicti„. Dieses ist eine Reaktion auf die ungewöhnliche Situation, in der sie sich befindet: als noch lebende Gegenwartsautorin ist ihr Buch in mehreren Bundesländern Abiturlektüre und wird deswegen in außerordentlich hohem Maße rezipiert. Entsprechend viele Fragen gehen bei ihr ein. Anders als Peter Stamm, der mit seinem Roman „Agnes“ vor einigen Jahren in derselben Situation war (siehe hier), beantwortet sie solche Fragen.

Sie bekommt und beantwortet so viele davon, dass sie sie zu einem weiteren Buch zusammengefasst hat. Im Endeffekt liegt damit eine Art novellisiertes Q&A vor, in dem ein fiktiver Gesprächspartner ihr die Fragen stellt, die sie beantworten möchte, was sie dann noch ausführlich tut. Dabei arbeitet sie sich methodisch (hahaha) von der Genese des Romans zu seinen Leitmotiven und Figuren vor. Zeh erklärt dabei, dass ihr Schaffensprozess unterbewusst ablaufe und sie daher ihr eigenes Werk selbst interpretieren müsse, was sie letztlich nur zu einer weiteren interpretierenden Person mache, die nur deswegen über mehr Qualifikationen als die meisten anderen Leute verfüge, weil sie ständig danach gefragt werde.

Ihre auch oft in Interviews geäußerte Ablehnung von Deutschlehrkräften, die auf der realitätsfernen Vorstellungen beruht, diese würden im Unterricht Interpretationen vorgeben, scheint hier eine wichtige Rolle zu spielen: denn egal, wie oft Zeh beteuert, dass sie keine endgültige Version vorgeben möchte, wird ihre in Buchform gegebene Antwort schon allein wegen des Mediums als eine Art letztgültige Version aufgegriffen werden. Inhaltlich findet sich wenig grundlegend Neues, aber die Aufbereitung ist gründlich und einem Lektüreschlüssel deswegen tatsächlich vorzuziehen.

Weniger gut gefällt mir der Teil des Buchs, in dem Juli Zeh was ihre politischen Positionen darlegt. Ich bin hier etwas zwiegespalten: auf der einen Seite finde ich es gut, dass sie ihr Buch explizit als politisch bezeichnet (wenngleich ich es für eine gewagte Behauptung halte, dass es ihr einziges politisches Buch sei) und zu ihren Überzeugungen steht und diese auch offen vertritt, anstatt irgendeine Form von Äquidistanz oder Neutralität zu behaupten. Auf der anderen Seite kann ich mit vielen ihrer Positionen schlicht nichts anfangen.

Dies betrifft vor allem ihre Absolutsetzung des Individuums, nicht prinzipiell, sondern in der übersteigerten Form, in der sie dies gerne tut. Wie wir noch sehen werden, schlägt dies auch auf die Romanhandlungen durch. Gleichzeitig ist mir Ihr Verständnis von Widerstand zutiefst zuwider, was ich ebenfalls noch in der folgenden Rezension thematisieren werde.

Dazu kommt, dass sie sich selbst aus dem eigentlichen politischen Bereich herausnimmt. Auf die Frage, ob sie politisch engagiert sei, erwidert sie, dass sie das nicht denke, sondern dass sie nur in Talkshows und Essays (die ja in den reichweitenstärksten Medien abgedruckt werden) nachdenke. Diese heuchlerische Distanz von Politik dient der eigenen Überhöhung und drängt Politik selbst, was viel schlimmer ist, in einen irgendwie schmutzigen Bereich, den man eigentlich meiden sollte. Diese Vorstellung einer klaren Trennung der Lebensbereiche durchzieht ihr komplettes Denken: der Staat solle einige wenige Dinge klar regeln und sich anderweitig heraushalten. Das ist als politische Zielsetzung auch völlig in Ordnung, gerät bei Zeh allerdings zu einer Art Statement über die Natur der Dinge: so hat es zu sein, weil es die einzig richtige Form ist, in der Gesellschaft sich organisieren kann. Dieser Absolutheitsanspruch tritt bei ihr immer wieder auf.

Mehrmals thematisiert sie auch die Rolle von 9/11 und der Terrorgesetzgebung auf ihr Wirken. Es mag mit dem großen zeitlichen Abstand zusammenhängen, aber dieser Einfluss ist in Corpus Delicti nur sehr abgedämpft zu spüren und gerät gegenüber den gesellschaftlichen Themen – vor allem ihrem Kampf gegen Gesundheitspolitik, die sie vehement ablehnt – deutlich ins Hintertreffen. Wenn Zeh erklärt, dass Gesundheit als Thema ihrer Dystopie letztlich ein willkürlich gewählter Gegenstand sei, ist das Kokettieren. Das Thema ist ihr allzu nahe und bestimmt ihre öffentlichen Auftritte seither auch stark, und die Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihrer Hauptfigur Mia Holl sind auf diesem Gebiet zu augenscheinlich, um nicht direkt aufzufallen.

Natürlich gibt es auch offizielle Lektüreschlüssel. Ich habe den von Westermann, „EinFach Deutsch: Corpus Delicti…verstehen“ gelesen. Diesen Teil kann ich kurz machen. Knapp die Hälfte des Leitfadens besteht aus einer inhaltlichen Zusammenfassung, die keine Wünsche offen lässt (und, ja, die Lektüre des Buchs weitgehend erspart) und auch zum schnellen Nachblättern des Inhalts sehr gut geeignet ist (wofür sie eigentlich gedacht ist). Dem folgt ein Abschnitt über die Autorin und die Genese des Romans, bevor eine viel zu kurze Analyse der Personen und der Leitmotive folgt, eher ein extrem knapper Überblick über die Rezeption (mit sehr merkwürdigen Schwerpunktsetzungen) folgt, ehe der Band mit zwei Beispielklausuren und Musterlösungen abschließt, wie sie zumindest in Baden-Württemberg vollkommen irrelevant sind. In Kürze: ich kann in diesen Lektüreleitfaden nicht sonderlich empfehlen und würde daher dazu raten, das Glück mit einem anderen, etwa von Klett oder Reclam, zu versuchen. Ich habe allerdings ehrlich gesagt nicht den Nerv, noch einen zu lesen.

Und so viel zu den Begleitwerken. Nun zum eigentlichen Thema: was halte ich von Juli Zehs Werk?

Wie bereits eingangs erwähnt sind meine Gedanken zwiespältig. Einerseits ist die Thematik grundsätzlich eine, die ich feiere: Dystopien sind ein spannendes Genre, das zudem in der deutschen Literatur aus irgendeinem Grund nicht sonderlich beliebt zu sein scheint; es ist eher ein angelsächsisches Phänomen. Die Funktionsweise eines totalitären Systems zu erkunden ist auch immer ein relevanter Gegenstand, weil die Demokratie in beständiger Gefahr ist.

Gleichzeitig allerdings sollte man vorsichtig sein: der Totalitarismus ist weitgehend verschwunden. Die große Gefahr für Demokratien heute ist nicht er, sondern der Autokratismus. Totalitäre Systeme haben jede Anziehungskraft verloren. Die Warnung vor ihnen erscheint daher ein wenig aus der Zeit gefallen, weil nur schwer vorstellbar ist, wie die Gesellschaft sich ihnen unterwirft und sie überhaupt erst attraktiv finden soll. Das gilt für andere antidemokratische und antiliberale Gesellschaftsmodelle in viel geringerem Maße.

Ich glaube, dass einer meiner großen Kritikpunkte an der Rahmenhandlung von Corpus Delicti auch darauf zurückzuführen ist: die Welt ist nicht sonderlich glaubhaft. Nun hat Zeh es, wenn man ihren Aussagen in „Fragen zu Corpus Delicti“ glauben darf (und ich denke, das darf man) es auch nicht darauf angelegt, glaubhaft zu sein und ganz bewusst viele Festlegungen nicht getroffen. Sie wollte generelle Aussagen machen. Allein, das führt dazu, dass zahlreiche relevante Bereiche ausgespart oder in geradezu absurde Konstruktionen ausgelagert werden. So liest die gesamte Gesellschaft eine gedruckte Zeitung namens „Der gesunde Menschenverstand“, in dem ein einzelner Starjournalist den Ton angibt, der deswegen ein Star ist, weil er komplexe philosophische Grundlagentexte mit „überzeugender Argumentationsführung“ schreibt. Damit reüssiert er auch in der Talkshow „Was alle denken“ mit ihrem Moderator Würmer (beide Namen sehr subtil…). Das ist dermaßen entfernt von aller Realität, dass es mich beständig aus der Lektüre reißt. Auch die anderen Personen und ihre Motive bleiben nebulös. Ich kann nicht erkennen, wie das Leben in diesem Staat tatsächlich vor sich geht.

Das liegt sicher an der Genese des Romans. Ursprünglich hatte Zeh ihn als Theaterstück geschrieben, und die Reduktion auf wenige Orte (am besten drinnen) und wenige Personen und keinerlei Schnickschnack kam dieser spröden Setzung natürlich entgegen. Aber für einen Roman ist das nicht ganz unproblematisch. Dasselbe gilt für die Dialoge, die ihre Herkunft von der Bühne kaum verleugnen können: die Personen deklamieren eher Monologe aneinander hin, als dass sie miteinander sprechen.

Zeh gibt dies auch unumwunden zu: die Figuren sind eher Container für Ideen und philosophische Positionen, als dass sie Charaktere wären. Besonders nervig find ich dies bei den Figuren von Moritz und der Idealen Geliebten. Moritz spricht beständig in schwülstigen Erklärungen, in denen sich Satzkonstruktionen aufeinanderstapeln. Seine Dialoge sind im Endeffekt Essays. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich beim Lesen die Augen verdreht habe. Diese Art von Exposition mit dem Zaunpfahl empfinde ich als entmündigend (angesichts der Autorin und dem Gegenstand des Romans ironisch, ich weiß). Die Figur der Idealen Geliebten hat dasselbe Problem, wenngleich glücklicherweise nicht ganz so sehr im Dialog selbst, sondern eher in ihrer Struktur: sie ist erkennbar ein Gedankenkonstrukt, nicht nur aus einer Watsonischen Perspektive, sondern auch aus einer Doylistischen. Es ist eine unglaubliche Künstlichkeit, die den ganzen Roman durchzieht und die selbstverständlich ein bewusstes Stilmittel Zehs ist. Das ist eine Geschmacksfrage; ich kann damit nichts anfangen und bevorzuge es, wenn Themen und Leitmotive implizit thematisiert werden und nicht explizit. Vermutlich ist dies auch ein Grund dafür, dass ich privat so wenig Romane lese.

Soviel zur Struktur des Romans. Ich könnte diese vermutlich viel leichter verzeihen, wenn mich der Inhalt nicht auch so häufig abstoßen würde. In einem gewissen Rahmen ist dies natürlich eine positive Sache, weil emotionale und intellektuelle Reaktionen auf Literatur ja genau das sind, was Literatur erreichen soll und kann, was ihre eigentliche Stärke ist. Angenehm ist es deswegen allerdings noch lange nicht.

Ein Thema, das selbst Leute, denen das Buch besser gefällt als mir als Problem aufgebracht haben, ist das große Potential für Fehlinterpretationen: Zeh argumentiert explizit nicht generell wissenschafts- oder staatsfeindlich, kann aber sehr leicht in diese Richtung gelesen werden. Es erfordert schon eine sehr präzise Lektüre, Zeh hier nicht misszuverstehen, und selbst dann sind ihre späteren Anmerkungen in Interviews, Podcasts und natürlich ihrem Nachgeschobenen Erklärbuch einerseits sehr hilfreich, andererseits aber auch eine Interpretation vorgebend, was die gesamte Problematik mit dieser Art von Äußerungen einmal mehr aufzeigt. Ihr eigener politischer Aktivismus, vor allem während der Corona-Pandemie, hilft da auch nicht eben, das Bild zu klären.

Ein weiterer Punkt, der mir Bauchschmerzen bereitet, ist die Figur von Heinrich Kramer. Literarisch gesehen ist er die Verkörperung und Personifikation des Systems, ist wenn nicht der Erfinder der METHODE so doch zumindest ein zentraler Einfluss. Seine Fähigkeit, überall ein- und auszugehen und alles stets zu wissen und zu beeinflussen ist von Zeh explizit so angelegt. Gleichzeitig allerdings hat sie ihn bewusst als einen Journalisten inszeniert. Nimmt man ihr eigenes bestenfalls ambivalentes Verhältnis zum Journalismus hinzu, entsteht hier ein weiterer problematischer Interpretationskomplex, bei dem das Standbein der Demokratie, die Freie Presse, als elementares Standbein eines totalitären Systems erscheint. Diese Argumentation hat besonders während der Corona-Pandemie neuen Auftrieb bekommen und ist mehr als problematisch.

Zeh macht es sich auch generell wesentlich zu einfach, wo ist und die Gegenseite geht. Die METHODE ist eine solche Übersteigerung jegliche Idee von Körperoptimierung und Gesundheitspolitik, dass sie letztlich ein Strohmann, ein argumentativer Pappkamerad wird, den dann mit großem Getöse einzureißen extrem leicht ist. Zeh verwirft jegliche Vorstellung von Gesundheit als politischer und gesellschaftlicher Zielvorstellung (nicht meine Interpretation, sie sagt das im Begleitbuch explizit), was man natürlich machen kann, was allerdings in sich eine ziemlich radikale Forderung ist. Das darum herum konstruierte totalitäre System lässt dies dann als eher moderat erscheinen. Der Totalitarismus allerdings ist eine Übersteigerung Zehs. Sie sagte in ihrem Begleitbuch explizit, dass das Problem aller Gesundheitspolitik die Entmündigung der Menschen sei, denen es eigentlich zu gut gehe, die quasi in einem ständigen Wellnesshotel lebten. Diese politische Einstellung der Autorin findet sich letztlich 1:1 in der gesamten Anlage des Romans wieder. Für Zeh ist bereits das Rauchverbot in Gaststätten ein Schritt in den Totalitarismus. Kaum überraschend also, dass einer der ersten Schritte Mia Holls zur gedanklichen Freiheit im Roman das Rauchen eine Zigarette ist und dass dies für das Regime einen besonderen Anlass der Provokation darstellt.

Es ist die Absolutheit der Positionen Zehs und Mia Holls, die mich so abstößt. Auf der einen Seite erhebt die METHODE einen Anspruch der Absolutheit, der Letztgültigkeit, der auf geradezu absurde Weise übersteigert ist: in der Person Kramers wird die Unfehlbarkeit und der Status als bestmögliche Variante explizit gemacht. Wenn allerdings ein System für sich Unfehlbarkeit reklamiert, weiß man eigentlich bereits, dass es intellektuell unehrlich, totalitär und grundsätzlich auf der bösen Seite steht. Mia setzt aber ihrerseits ihren eigenen Widerstand ebenfalls absolut: Ist der Radikalismus, der ihren eigenen Widerstand gegen die METHODE auszeichnet, der aber in der Inszenierung des Romans als positiv gewertet wird.

Die Erzählperspektive ist grundsätzlich auktorial; der Erzähler kommentiert immer wieder das Geschehen und ordnet es ein. Deswegen kann mit einer gewissen Sicherheit die Position Mias, so diese nicht in einen interpretierbaren Kontext gestellt wird (was.de facto nicht passiert) als letztgültiges Urteil gesehen werden. Auch hier besteht großes Potential für missverständliche Interpretationen das Werks.

Zuletzt stört mich auch der unpolitische Charakter des Widerstands. Dies ist ein generelles Problem in Deutschland: Widerstand wird grundsätzlich als ein individueller Widerstand die existenziellen Siege und der Verabsolutierung des Individuums gesehen (ich habe darüber an anderer Stelle geschrieben). Mias großes Pamphlet, in dem sie der METHODE unter großzügiger Verwendung der Anapher des Personalpronomens „Ich“ das Vertrauen entzieht, ist einzig und allein ihr persönlicher Text.

Die Demokratie ist für Zeh ein System, dessen einzige Legitimation darin liegt, die maximale Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. Es gibt, quasi in den Worten Thatchers, keine Gesellschaft. Mia entzieht zwar der METHODE mit großem rhetorischem Getöse das Vertrauen, es gibt aber nichts, dem sie dieses Vertrauen geben würde. Entsprechend hohl bleibt die Systemkrise der METHODE. Zwar gibt es Proteste, die Mia offensichtlich inspiriert hat, doch diese hängen allein von der Glaubwürdigkeit ihrer Person und dem Vertrauen in das System ab, dem es dann mit fadenscheinigen Methoden gelingt, ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören, was die Masse der Menschen sofort wieder auf Linie bringt.

Darin ist implizit ein sehr abwertendes Bild der Mehrheitsgesellschaft verwoben, die letztlich wie Schafe bestimmt werden will. Auch dies macht Zeh in ihrem Begleitbuch explizit. Es ist ein elitäres Bild einiger weniger, die wach genug sind, ihre eigene Entmündigung zu begreifen und sich gegen sie zu stellen, allerdings als Individuen und ohne jegliche Organisation oder Vorstellung, was danach Besseres kommen solle. Zeh würde dies vermutlich als aufklärerisch sehen, doch habe ich hier meine Zweifel. Die Aufklärer schließlich hatten als Ziel, die Menschen zur Mündigkeit zu erziehen – ein Anspruch, den Zeh mit Verve ablehnen würde.

Das alles macht die Lektüre von „Corpus Delicti“ für mich zu einer schwierigen Angelegenheit. Ich kann mich natürlich daran reiben und an manchen Stellen Widerspruch leisten, aber das gewählte Sujet erschwert das gleichzeitig: es ist ja gerade der Absolutismus, der dem hier im Weg steht. Für Mia Holl wie für Juli Zeh gibt es nur zwei Positionen, jeglicher Mittelweg, jeglicher Graubereich existiert nicht. Entweder ich unterwerfe mich mit Leib und Seele dem totalitären System der METHODE, oder ich breche mit seinen Zielen und Vorstellungen komplett und gehe in eine radikalindividualistische Richtung, die in letzter Konsequenz aber auch ein gesellschaftliches Extrem darstellt, bin gleich sie hier als positive Alternative dargestellt ist. Letztlich können wir alle froh sein, in einer pluralistischen Demokratie zu leben, in der wir manche Ideen verwerfen, andere in Ansätzen übernehmen und wieder andere weiterentwickeln können. Alles, was es dafür braucht, ist es, andere Ansätze als die eigenen grundsätzlich als legitim aufzufassen.

Michael S. Neiberg – When France fell. The Vichy Crisis and the Fate of the Anglo-American Alliance (Hörbuch)

Nur wenige Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sind so mythenumwittert wie der Fall Frankreichs 1940. Innerhalb von nur 6 Wochen wurde die französische Armee, die von vielen Beobachtern als die stärkste des Kontinents eingeschätzt wurde, vollständig besiegt. Das Land, dass während des Ersten Weltkrieges unter ungeheuren Opfern für vier Jahre erbittert Widerstand gegen die Deutschen geleistet und am Ende siegreich aus dem Konflikt hervorgegangen war, hielt sich kaum länger als das kleine, bedrängte Polen. Die deutsche Propaganda stilisierte den Feldzug zu einem erfolgreichen „Blitzkrieg“, was zwar mit der Realität wenig zu tun hatte, sich aber gut verkaufen ließ. Ironischerweise galt dasselbe für die Alliierten, die durch die Betonung des Blitzkriegmythos ihre eigenen Fehler vergessen machen und eine bequeme Erklärung für das Debakel geben konnten.

Neiberg beschäftigt sich allerdings nicht mit der militärischen Dimension der französischen Niederlage, sondern ihrer politischen. Auch hier gab es zahllose Mythen und absurde Fehleinschätzungen, die jedoch heute weitgehend vergessen sind. Der Autor fasst den Fall Frankreichs in den Kontext angelsächsischer Außenpolitik, indem er vor allem den USA einen merkwürdigen, schlechten Umgang mit der Vichy-Regierung vorwirft. Die Briten, die von Beginn an auf das Pferd Charles de Gaulle setzten, kommen da vergleichsweise besser weg. Ich will im Folgenden Neibergs Argumentation nachzeichnen und überprüfen, inwieweit seine Bewertungen tragfähig sind.

In der Einführung, „A Fight for Love and Glory”, skizziert er die grundsätzliche These seines Buchs: der Fall Frankreichs hab für die amerikanische Außenpolitik einen größeren Schock bedeutet und stärkere Veränderungen hervorgerufen, als dies bei Pearl Harbor der Fall gewesen sei. Diese erstaunliche These leitet sich aus dem amerikanischen Isolationismus ab: nach dem Ersten Weltkrieg hatten die USA sich zurückgezogen und ihre Armee wieder demobilisiert, so dass sie 1940 militärisch ungefähr vergleichbar mit dem Niveau Portugals waren. Sie waren der Überzeugung, wieder starke Armee noch Flotte zu bedürfen, weil die internationale Ordnung ihnen diese Aufgabe abnahm.

Diese internationale Ordnung war das System multipolarer Verträge und Abkommen im Rahmen des Völkerbundes komme dass die Gefahr eines neuerlichen Angriffskrieges seitens Deutschlands einhegte. Der Garant dieser Einhegung war Frankreich, das natürlicherweise das größte Interesse daran haben musste und beständig eine starke Armee unterhielt. Diese Armee war quasi der Sicherheitsanker der USA. Auch wenn Neiberg es nicht sagt, drängt sich für mich doch der Vergleich mit der Situation in der Nato heute auf. Die USA waren in den 1920er und 1930er Jahren effektiv Trittbrettfahrer der französischen Militärausgaben, was die Franzosen zwar durchaus sahen und mit Forderungen nach amerikanischem Engagement zu begegnen versuchten, worauf sich die Amerikaner aber nicht einließen, weil sie kostenlos bekamen, wofür die Franzosen Beiträge wollten. Überspitzt ausgedrückt genossen die Amerikaner in dieser Zeit die Friedensdividende.

Man ging davon aus, dass die französische Armee, so sie nicht ohnehin der Deutschen überlegen war, in jedem Falle so lange aushalten würde, bis die britische und amerikanische Armee mobilisiert war. Die allgemeine Annahme war also, Zeit zu haben, jene wichtigste Ressource, deren Fehlen stets den Untergang bedeutet. Entsprechend brach in Washington im Sommer 1940 blanke Panik aus, als Ausmaß und Geschwindigkeit der französischen Niederlage deutlich wurden. Personen wie der spätere Spitzendiplomat Byrne wandelten ihre Position radikal um 180 Grad von einer isolationistischen Vorstellung, man könne sich heraushalten und eine Art Friedensvertrag zwischen den Alliierten und Deutschland vermitteln, zu dem Durchpeitschen nie dagewesener Militärausgaben im Kongress.

Der eigentliche Fall wird dann in Kapitel 1, “We’ll always have Paris: The Nazis march in”, thematisiert. Bekanntlich hatte sich Frankreich hinter der Maginotlinie verschanzt. Diese hatte einen gigantischen Teil der französischen Verteidigungsausgaben verschlungen; tatsächlich hatte die Dritte Republik mehr für diese Linie ausgegeben als Großbritannien für seine Flotte! Das gängige Narrativ ist, dass diese defensive Anlage die Mentalität der Franzosen entscheidend beeinträchtigt habe und grundsätzlich militärisch sinnlos gewesen sei. Zwar wird diese Position von Neiberg nur im Konjunktiv wiedergegeben – als etwas, das sich damals schnell als angenehmes Narrativ herausstellte – aber er verpasste es an dieser Stelle, die Geschichte geradezurücken.

Die Geschichte des deutschen Vorstoßes ist sattsam bekannt und soll hier nicht wiederholt werden; relevant ist die Reaktion der französischen Eliten: einige zogen sich in eine Art Wiederholung von 1870 nach Bordeaux zurück oder schifften sich nach Algerien aus, um den Kampf von dort fortzusetzen. Hier endeten die Parallelen allerdings: die Regierung informierte die Bevölkerung nicht über den aktuellen Stand, so das allerlei Gerüchte keine Panik produzierten, die dazu führte, das acht Millionen Flüchtlinge die Straßen verstopften und eine humanitäre Katastrophe anbahnten. Gleichzeitig waren die Spitzen des Militärs nicht bereit, den Kampf fortzusetzen und traten entschieden für Waffenstillstandsverhandlungen ein.

Zu diesem kam es dann hauptsächlich, weil der alte Marschall Pétain mit all seinem Prestige aus dem Ersten Weltkrieg die Macht im Land übernahm und den Vertrag verhandelte. Neiberg Beschreibt hier dieses Prestige als eines des Meisters der Verteidigung und des Vermeidens unnötiger Verluste, was für diesen Moment wie maßgeschneidert war. Weniger für den Moment maßgeschneidert allerdings waren die politischen Fähigkeiten Pétains. Genauso wie viele andere Funktionäre der späteren Vichy -Regierung, allen voran Lavalle, war er der Überzeugung, dass die Niederlage letztlich nur auf innere Faktoren zurückzuführen war. Diese Faktoren waren einerseits die Kommunisten und Sozialisten, die in den Worten Lavalles eine fünfte Kolonne der Deutschen gewesen seien (eine völlig absurde Verschwörungstheorie) und andererseits der als korrupt wahrgenommene Parlamentarismus mit seiner säkularen Trennung von Staat und Kirche. Die Rechtsradikalen hofften darauf, aus der Asche der Niederlage ein neues, stärkeres Frankreich entstehen zu lassen, das eine Art Juniorpartner Deutschlands in der neuen Weltordnung darstellen könnte.

Den Sieg der Wehrmacht betrachten sie als beschlossene Sache. Die größte Debatte der Kollaborateure war, ob Großbritannien drei oder fünf Wochen würde durchhalten können. ihre Vorstellungen waren völlig fantastisch und hat nichts mit dem real existierenden Deutschen Reich zu tun, das ihnen am Verhandlungstisch gegenüber saß. Die Ironie der Angelegenheit ist für mich, dass der große Fehler Vichys war, anzunehmen, dass die Nazis ein rationaler Akteur wären: wäre dies der Fall gewesen, so wären die Annahmen Vichys vermutlich gar nicht verkehrt gewesen. Es bleibt für mich immer wieder beeindruckend, wie sehr sich die Nazis selbst damit ins Knie schossen, keinerlei Diplomatie zu betreiben und niemanden als Bündnispartner anzuerkennen. Man muss sich an diesem Punkt auch immer wieder klarmachen, dass wir die ganze Geschichte normalerweise vom Ende her denken. Im Sommer 1940 war aber keinesfalls absehbar, wie der Krieg enden würde.

So wurde Frankreich in die bekannten zwei Zonen aufgeteilt: den Bogen entlang der Atlantikküste, den die Deutschen kontrollierten, und den von Vichy kontrollierten Rest. Die Fiktion, das Vichy eine Souveränität bewahren könnte, ist für Neiberg unbegreiflich. Gleichzeitig ist beeindruckend, in welchem Ausmaß ihnen politische und ideologische Streitigkeiten durch die Niederlage hindurch weiter existierten. Ein nicht unerheblicher Teil der französischen Entscheidungsträger betrachtete die Aussicht eines britischen Sieges als ähnlich schlecht wie die eines Deutschen und hegte tief verwurzelte anti-britische Ressentiments. Gleichzeitig bestand eine obsessive Furcht vor den Kommunisten und Sozialisten und der Dritten Republik im Allgemeinen, die man zu bekämpfen hoffte. Als die Niederlage der französischen Armee nicht mehr zu leugnen war, wandte sich diese nach innen, um imaginäre kommunistische Aufstände zu bekämpfen. dringend benötigte Munition wurde zurückgehalten, um diese Aufgabe nachkommen zu können. Szenarien einer Neuauflage des Aufstands der Kommune 1871 geisterten durch die Vorstellungen der Entscheidungsträger. beides fand sich auch in den USA: auch dort gab es starke anti-britische Ressentiments und irrationale Furcht vor den Sozialisten, die eine anfängliche Sympathie für Vichy stark begünstigten: wie so häufig bevorzugten die Amerikaner eine rechte Diktatur vor einer linken Demokratie.

In Kapitel 2, “A Hill of Beans in this Crazy World: America’s new insecurity”, geht Neiberg mehr auf die Auswirkungen des Falls Frankreichs auf die amerikanische Sicherheitspolitik ein. Seine These, dass dieses Ereignis entscheidend gewesen sei, verfolgt er anhand des republikanischen Parteitags 1940: die isolationistischen Kandidaten, allen voran der Favorit Robert Taft, verloren überraschend gegen Wendel Wilkey, der eine wesentlich größere Bereitschaft erkennen ließ, ein Aufrüstungsprogramm und eine aktivere Europapolitik durchzusetzen. Der Sieg Wilkeys bedeutete einen neuen Konsens in der amerikanischen Innenpolitik: zum ersten Mal erhielt Roosevelt Standing Ovations von beiden Parteien im Kongress für eine außenpolitische Grundsatzrede. Die drastische Steigerung der Verteidigungsausgaben war beschlossene Sache und wurde in gigantischem Umfang durchgesetzt. Dieser Umfang war beeindruckend: bei einem Gesamthaushalt von neun Milliarden wurde ein Ausgabenprogramm von 12 Milliarden aufgelegt, das das Militär von einer Friedenstruppe mit rund 250.000 Mann in eine von vier Millionen verwandeln sollte. Dazu gehörte auch die Einführung der Wehrpflicht in Friedenszeiten, eine für die USA präzedenzlose Maßnahme. Die Aufrüstung lief also bereits anderthalb Jahre, als die Japaner Pearl Harbor angriffen.

Die amerikanischen Befürchtungen kaprizieren sich auch stark auf die Rolle der französischen Kolonien, besonders Martinique. Sie befürchteten, dass von hier ein Angriff auf die westliche Hemisphäre gestartet werden könnte. Angesichts der Schwäche der amerikanischen Armee, die sich zur Abschreckung bislang auf die französische verlassen habe, wäre ein solcher Angriff verheerend. Neiberg sagt leider nichts dazu, wie realistisch diese Befürchtungen tatsächlich waren (nur dass sie in Washington sehr real waren), aber ich kann mir nicht vorstellen, das selbst im Best-Case-Szenario für die Deutschen mit einer Übernahme der französischen Flotte und eventuell einem aktiven Bündnis mit Vichy geht ein Angriff über den Atlantik möglich gewesen wäre.

In diesem Kontext ordnet er dann auch den sogenannten „Basen für Zerstörer“-Deal ein, bei dem die USA Großbritannien 50 alte und militärisch weitgehend nutzlose Zerstörer überließen und dafür Basennutzungsrechte erhielten. Für die USA war dieser Deal sehr bedeutsam, weil er ihnen eine Absicherung gegen mögliche Nutzungen einer Atlantikflotte der Achsenmächte deutlich vor den amerikanischen Küsten ermöglichte. Für die Briten war er wichtig, weil er die USA mit Großbritannien verband und einen Präzedenzfall für weitere Waffenlieferungen schaffte, wie sie ja dann mit dem Lend-Lease-Abkommen auch zeitnah folgen sollten. Gleichzeitig verbesserte sich das Bild Großbritanniens in den USA: sie galten nicht mehr als der bald besiegte auf hoffnungslosen Posten kämpfende Verlierer, sondern als der tapfere Held im Kampf gegen das Böse, wofür besonders die Berichterstattung von Edward Murrow verantwortlich war.

Die französische Flotte war ein Hauptaugenmerk sowohl von Briten als auch Amerikanern. Die Deutschen besaßen offensichtlich keine Hochseetaugliche Flotte, die die USA bedrohen konnte. Die Franzosen allerdings besaßen die drittgrößte weltweit. Fiele sie in deutsche Hände, würde dies das Machtgleichgewicht massiv verändern. Zwar machten die Deutschen keine Anstalten und versicherte Vichy, die Flotte nicht herauszugeben, doch das beruhigte niemanden. Die Briten entschlossen sich daher, nachdem der französische Flottenkommandant in Mers-al-Kabir ein Ultimatum zur Neutralisierung der Flotte ausgeschlagen hatte (aus Gründen eines idiotischen, anachronistischen Ehrenkodex‘), die französische Flotte in einer Art Überraschungsangriff zu zerstören.

Dieser Angriff vergiftete die britisch-französischen Beziehungen massiv und war ein Propaganda Geschenk für die Deutschen. Strategisch erreichte er allerdings das Ziel, die französische Flotte zu neutralisieren mit und so jede Gefahr eines deutschen Zugriffs auszuschließen. Die USA bedrohten gleichzeitig Vichy diplomatisch damit, ihren Kolonien zur Unabhängigkeit zu verhelfen, wenn diese militärisch nicht strikt neutralisiert blieben.

Der letzte diplomatische Aspekt jener Tage betraf die Person Charles de Gaulle. Die Briten erkannten ihn als legitime Regierung Frankreichs im Exil an, während die USA Vichy anerkannten. De Gaulle es war ein schwieriger Charakter, den die Briten hauptsächlich deswegen ertrugen, weil er ihnen so nützlich war. Gerade mit den Amerikanern allerdings stieß er beständig zusammen. Einen ersten Beweis seiner Fähigkeiten und seines Wertes erbrachte er, als der Tschad als erste französische Kolonie offen die Seiten wechselte und sich zum „freien Frankreich“ bekannte.

Kapitel 3, “No Good at Being Noble: The Vichy Quandry”, vertieft den Blick auf das diplomatische Chaos jener Tage. Die Regierung in Vichy war improvisiert und hatte keinerlei Verbindungen mehr, was es dem Ausland ungeheuer schwer machte, die Lage korrekt einzuschätzen.

Die Regierung um Lavalle und Pétain selbst erwartete eine baldige Niederlage Großbritanniens und eine allgemeine Friedenskonferenz, auf der sie ihre Souveränität zurückerhalten und ihre Rolle im neuen Europa definieren würde. Die Erwartung war, Elsass-Lothringen wieder zu verlieren, ansonsten aber Großmacht auf Augenhöhe bleiben zu können – eine geradezu lächerliche Verschätzung der realen Lage und der Natur des Nazi-Regimes. Die Bereitschaft der Franzosen, als Kollaborateure auf einer gleichwertigen Basis mit der neuen deutschen Vorherrschaft zu kooperieren, ist allerdings bemerkenswert und zeigt einmal mehr die idiotische deutsche Diplomatie beziehungsweise das komplette Fehlen einer deutschen Diplomatie.

Es war gerade diese Kollaboration, die die USA so sehr fürchteten. Roosevelt kommunizierte den Franzosen in eindringlicher Offenheit auf der Weltbühne, dass eine solche Kollaboration von den USA als extrem unfreundlicher Akt betrachtet und entsprechend beantwortet werden würde. Dass die Nerven in der Anglosphäre so blank lagen, lag auch an einem weiteren Horrorszenario: eine Kooperation zwischen Vichy und Franco. Eine solche würde die britische und damit direkt verbunden auch die amerikanische Sicherheit entscheidend bedrohen und damit das Tor für eine Dominanz der Achsenmächte in Nordafrika öffnen. Die kanarischen Inseln könnte dann als ein weiteres Sprungbrett in die Karibik und die westliche Hemisphäre generell dienen. Es ist beeindruckend, wie geostrategisch sowohl die Briten als auch die Amerikaner im Vergleich zu den Deutschen dachten, die nicht einmal auf eine solche Idee kamen. Es zeigt einmal mehr, wie hirnverbrannt der gesamte Krieg von deutscher Seite aus war. Zu dieser Thematik siehe auch Dan Diner – Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942 (hier rezensiert).

Auf französischer Seite war die zentrale Figur in den nun folgenden diplomatischen Schachzügen General Weygand. Seine gesamte Biografie war äußerst mysteriös – er hatte unklare, aber sicher prominente Eltern, baute im Ersten Weltkrieg seine Kontakte zu den USA aus, war militärisch brillant, erzkonservativ und deswegen als potenzieller Putschist gefürchtet -, aber er hatte eine Armee von 100.000 Mann in Algerien aufgebaut, die angesichts der geringen Truppenstärken dort 1940 das Zünglein an der Waage spielen konnte (und natürlich wieder Fantasien von Angriffen über den Atlantik befeuerte).

Die USA sendeten eine ähnlich schillernde Figur, William Donovan, auf eine weiterhin publizierte Reise durch das mediterrane Europa, die sowohl Vichy als auch Berlin geradezu in Panik dazu brachte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit diese beiden Männer sich nicht treffen konnten. Donovan reiste zuerst auf den Balkan, wo er versuchte, eine antideutsche Front herzustellen. Beeindruckend ist, mit welcher Offenheit er die amerikanischen Überlegungen darlegte: er versprach den Balkanstaaten, dass die USA alles tun würden, um Großbritannien im Krieg zu halten, und dass dies wiederum ihre eigene Sicherheit gegenüber den Achsenmächten garantiere. Obwohl die USA Ostentativ noch neutral waren, bestand in der amerikanischen Politik für niemanden mehr ein Zweifel daran, dass das Land auf absehbare Zeit nach einer Aufrüstungsperiode immer aktiver in den Krieg eingreifen würde. das beständige Mysterium der deutschen Kriegserklärung an die USA (siehe hierzu auch Brendan Simms/Charlie Laderman – Hitler’s American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War (Hörbuch) (hier rezensiert)) findet hierin wohl ein weiteres Puzzlestück.

Der letzte Aspekt der diplomatischen Verwicklungen jener Tage war die britische Blockade. Genauso wie im Ersten Weltkrieg war ein zentraler Aspekt britische Strategie, die Versorgungslinien in das Deutsch besetzte Europa durch eine maritime Blockade abzubrechen. Nach Mai 1940 betraf diese Blockade auch Frankreich. Die britische Befürchtung war, nicht zu Unrecht, dass die Deutschen jegliche französischen Ressourcen für ihre eigenen Zwecke beanspruchen würden. Da genau dies geschah, stand Frankreich bereits Ende des Jahres kurz vor einer Hungersnot.

Wie in allen anderen Fällen verfolgten die Amerikaner eine andere außenpolitische Linie gegenüber Vichy. Sie hofften, durch ein Offenhalten der diplomatischen Kanäle und punktuelle Zusammenarbeit ein Zusammengehen von Vichy mit Deutschland verhindern zu können. Entsprechend organisierten sie humanitäre Hilfen, die vor allem über Nordafrika liefen (um Weygand zu becircen) und die die Briten zwar heftigst ablehnten, aber mit Blick auf ihre eigene Abhängigkeit von den USA zähneknirschend zuließen.

In Kapitel 4, “We Mustn’t Underestimate American Blundering: Britain’s Imperial Insecurity”, standen die USA dann vor den Trümmern ihrer Frankreichpolitik. Die ständigen unübersichtlichen Machtkämpfe in der Vichy-Regierung führten zum Aufstieg Darlains, der noch mehr als Lavalle und Pétain auf einen deutschen Sieg und auf deutsche Kooperation baute. Als im Irak der Druck auf die Briten durch den Putsch 1941 stieg, war Frankreich einmal mehr entscheidend: da wegen des Sykes-Picot-Abkommens Syrien unter französischer Kontrolle war und die verbündeten Italiener sich gerade anschickten, Ägypten zu attackieren, schien ein Zangenangriff (besonders unter Zuhilfenahme der gefürchteten französischen Flotte) denkbar und würde das britische Reich im Nahen Osten völlig zerstören, die Verbindungslinie über Suez in den Indischen Ozean kappen und so nicht nur Desaster für Großbritannien, sondern auch für die Sicherheitssituation der Vereinigten Staaten bedeuten. Es zeigte sich, das sowohl die Amerikaner ihre Beziehungen zu Vichy als auch Vichy seine Beziehungen zu den USA komplett falsch eingeschätzt hatte.

Trotzdem war die amerikanische Diplomatie unter Cordell Hull und Botschafter Leahy nicht bereit, ihr Scheitern einzugestehen. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion wirkt er als ein weiterer Sargnagel. Darlain war nun der Überzeugung, dass einerseits an einem deutschen Sieg und andererseits an einer ideologischen, antikommunistischen Front kein Weg mehr vorbeiführe und dass die USA das hier sicher genauso sehen mussten. Die antibritischen Ressentiments verbunden mit einem tief verwurzelten Antikommunismus beförderten die Kollaboration Vichys, das auch begann, scharfe antijüdische Gesetze einzuführen. Die Reaktion der amerikanischen Diplomatie darauf: Leahy versuchte, Ausnahmen für amerikanische Juden in Nordafrika zu erreichen.

Das Scheitern der amerikanischen Politik bezüglich Vichy wurde offenkundig, als mit Pearl Harbor und der folgenden deutschen Kriegserklärung die USA direkte Kriegspartei wurden. Für Darlain und Lavalle war die Konsequenz, sich noch näher an Deutschland zu orientieren und Angebote für eine Art von Bündnis zumindest in Nordafrika zu machen, die von Göring in typischer Nazi-Arroganz mit einem Gebrüll über „die Franzosen müssen lernen, werden Krieg gewonnen hat“ beantwortet wurden und die Qualität der deutschen Diplomatie einmal mehr vor Augen führten.

Gleichwohl hatten die USA ein Problem: die deutschen Erfolge in Nordafrika 1941 waren sehr besorgniserregend und die Sowjetunion schien auch nicht gerade lange durchhalten zu können. Als Vichy in Marokko neue Flughäfen baute, deren Landebahnen viel zu lang für die zur Verfügung stehenden Flugzeuge waren, die aber deutschen viermotorigen Bombern den Flug nach Martinique erlauben könnten, klingelten wieder alle Alarmglocken (mit unserem Wissensstand ist es natürlich amüsant, da wir wissen, dass die deutsche Rüstungsindustrie notorisch unfähig war, diesen wichtigen Flugzeugtyp zu produzieren). Für die USA galt es nun, die Politik gegenüber Vichy grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen.

In Kapitel 5, “They’re Asleep in New York: The Allies look for Answers”, sehen wir dann wieder einmal, wie innenpolitische Erwägungen der Außenpolitik im Weg stehen können. Als Charles de Gaulle einige strategisch völlig irrelevante Inseln vor der Küste Quebecs für das freie Frankreich übernahm, was in der alliierten Welt für Begeisterungsstürme sorgte, plädierte er voller Einsatz dafür, eine Rückgabe der Inseln an Vichy zu erzwingen. Das war nicht nur angesichts der erst eine Woche zurückliegenden Attacken auf Pearl Harbor ein merkwürdiger Fokus seiner Aufmerksamkeit, sondern auch fundamental gegenläufig zur öffentlichen Meinung in den USA, die sich bereits seit Monaten gegen Vichy gewandt hatte. Die Politik jetzt aber zu ändern würde das öffentliche Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Politik bedeuten, wozu Hull nicht bereit war.

Die Amerikaner sahen sich einem weiteren Problem ausgesetzt: sie konnten de Gaulle auf den Tod nicht ausstehen, hatten massives politisches Kapital und Zeit in die Etablierung von Beziehungen zu Vichy gesteckt und mussten sich mit den Briten koordinieren. Da sie die Freien Franzosen de Gaulles nicht als Option betrachteten, brauchte es eine Alternative. Die Hoffnung war, diese in Giraux zu finden, einem antideutschen General mit hollywoodreifer Persönlichkeit.

Die Amerikaner etablierten ein extrem leistungsfähiges Spionagenetzwerk in Nordafrika, das neben der Schätzung französischer militärischer Fähigkeiten in der Region die politische Lage sondieren und Verbindungen zu Giraux herstellen sollte. Gleichzeitig erhielt man den Versuch aufrecht, einen Kanal zu Weygand zu schaffen. Letzteres scheiterte vollständig: Weygand bekannte sich öffentlich zu Pétain und entwich allen amerikanischen Kontaktversuchen. Giraux auf der anderen Seite war eine schlüpfrige Persönlichkeit, auf die sich zu verlassen ein enormes Risiko darstellte.

Dazu kam, dass die politischen Verhältnisse in Vichy sich ebenfalls änderten: die Deutschen erzwangen einen stärkeren Einfluss der Faschisten, die ihrerseits die Kollaboration deutlich verstärkten. Dabei ging es vorrangig um die Beschaffung von Arbeitskräften für die deutsche Rüstungsindustrie, wofür man sich im Gegenzug eine Freilassung von Gefangenen erhoffte – und natürlich Akzeptanz durch die Deutschen und einen vorteilhaften Stand bei späteren Friedensverhandlungen, an deren Zustandekommen man zu diesem Zeitpunkt noch glaubte, schon allein, weil die Alliierten ihr Ziel der bedingungslosen Kapitulation noch nicht formuliert hatten. Diesen Aspekt fand ich besonders spannend, weil von Revisionisten häufig vorgebracht wird, dass die Formulierung dieses Ziels ein Fehler gewesen sei, der den Krieg verlängert habe. Die amerikanischen Erfahrungen mit Vichy legen eher das Gegenteil nahe.

Die Kollaborationspolitik zerstörte nicht nur den letzten Goodwill, den Vichy in Amerika noch besaß, sondern auch im eigenen Land. Diplomatisches und militärisches Personal im Ausland, das die persönlichen Möglichkeiten dazu hatte, wechselte in neuem Ausmaß die Seiten, während die freiwillige Kooperation sowohl mit der Regierung als auch mit den deutschen Besatzern neue Tiefstände erreichte. Wenn es noch einen letzten Beweis für das Scheitern der amerikanischen Politik gegenüber Vichy gebraucht hätte – die Entmachtung Pétains und Weygands und die direkte Übernahme der Kontrolle durch die französischen Faschisten und ihre Kollaborationspolitik erreichten es.

Ein Grund neben dem offensichtlichen deutschen Druck, einen Krieg mit den USA nicht zu fürchten, lag auch darin, dass Vichy-Politiker davon ausgingen, dass die amerikanische Aufrüstung vor 1950 nicht abgeschlossen sein würde und die Anzahl der benötigten Schiffe so groß, dass ein Übersetzen über den Atlantik letztlich unrealistisch war. Dass sie die deutlich die geschönten Zahlen aus Berlin über die Versenkungsziffern der U-Boote glaubten, war da nicht hilfreich. Man muss allerdings zu Ihrer Verteidigung sagen, dass die US-Armee im Ersten Weltkrieg komplett von französischem Material abhängig gewesen war: alles, was die Amerikaner damals nach über einem Jahr Vorbereitung zur Verfügung stellen konnten, waren schlecht ausgebildete Truppen, die all ihr Material von der französischen Armee erhielten und bei der Überfahrt über den Atlantik auf alliierten Schiffsraum zurückgreifen konnten. Das erklärte einmal mehr, warum den französischen militärischen Fähigkeiten vor 1940 so viel Glaubhaftigkeit gegeben worden war.

Wie Kapitel 6, “A Beautiful Friendship? The Invasion of French North Africa”, zeigt, löste dies allerdings nicht die amerikanischen Probleme mit der Alternative zu de Gaulle. eine Invasion Südfrankreichs, wie sie den Amerikanern vorschwebte, erteilten die Briten angesichts des offensichtlich naiven Optimismus der Amerikaner und ihrer mangelnden Erfahrung eine klare Absage. Damit blieb nur eine Invasion Nordafrikas als erstes Trainingsfeld und zum Ausschalten der Bedrohung Vichys. Eine solche Landung quer über den Atlantik war schon unter logistischen Gesichtspunkten extrem problematisch; würden allerdings hunderttausend professionelle französische Soldaten ihr Widerstand leisten, stünde ihr Erfolg schwer infrage. Zudem fiel es selbst den Deutschen nicht schwer, die Stoßrichtung der Alliierten zu erraten. Die Gefahr, dass sie professionelle und gut ausgerüstete Truppen nach Nordwestafrika schicken würden, wo diese eine amerikanische Invasion direkt besiegen konnten, war nur die neueste Auflage der alliierten Ängste vor dem Potential der französischen strategischen Position.

Die Charaktere der französischen Befehlshaber vor Ort waren extrem mysteriös und schwer zu lesen und dazu noch widersprüchlich. Die amerikanischen Agenten hatten zwar ein gutes Bild der militärischen Kapazitäten vor Ort, ob die Armee diese allerdings gegen die Amerikaner einsetzen würde, war völlig unklar. Roosevelt und seine Regierung gingen davon aus, dass der „Geist von Lafayette“ ausreichen würde, um eine tief verwurzelte Freundschaft zu den USA in den Franzosen zu wecken und sie keinen Widerstand leisten zu lassen, was die Briten für mehr als dubios hielten. Sie allerdings konnten auf keinerlei Freundschaft hoffen: die französischen Offiziere in Nordafrika waren zwar überwiegend antideutsch eingestellt, hasten aber die Briten mit mindestens genauso viel Eifer. Die Alliierten mussten deswegen einen wahren Eiertanz aufführen, der die britische Beteiligung an dem Unternehmen so gering wie möglich hielt, damit die Franzosen nicht aus purem Revanchismus das Feuer eröffneten.

Dazu kam, dass die Operation natürlich extrem zeitsensitiv war. Man konnte es sich kaum leisten, auf die französischen Idiosynkrasien Rücksicht zu nehmen. Dazu gehörte unter anderem die Vorstellung Girauxs, er könne als Oberbefehlshaber der Operation fungieren und die Amerikaner und Briten auf seine eigenen Planungen (die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal begonnen hatten) verpflichten. Schließlich blieb keine andere Alternative mehr, als sich auf die Summe der geleisteten Vorarbeiten zu verlassen und die Invasion zu starten. Die Lage war allerdings so unsicher, dass die Invasionstruppen zwei verschiedene Codes ausgeliefert bekamen, die sowohl die Möglichkeit einer französischen Neutralität als auch einer französischen Feindschaft beinhalten.

Die Invasion selbst war dann auch eine reichlich chaotische Veranstaltung. In manchen Bereichen des Invasionsgebiets ging alles wie erhofft vonstatten, während es in anderen zu blutigen Kämpfen mit den französischen Truppen kam. Oft genug leistet nichtfranzösischen Kommandeure vor allem deswegen Widerstand, weil sie keine andere Möglichkeit sahen, die „nationale Ehre“ zu retten. Es fasziniert mich immer wieder, wie abgrundtief bescheuert es aus heutiger Sicht immer erscheint, wenn Hunderte von Soldaten ihr Leben wegen solch antiquierter Ideale lassen müssen.

Im Verlauf dieser Invasion und dem Seitenwechsel der nordfranzösischen Truppen erledigte sich auch endgültig das Problem der französischen Flotte. Angewiesen, sich den Alliierten zu ergeben, entschloss sich ihr Kommandeur stattdessen, sie zu versenken. Sein Antworttelegramm auf den Befehl der Übergabe „Merde“ setze einen passenden Schlussstrich unter die ganze Farce.

Durch einen Zufall war Darlan, neben Lavalle und Pétain einer der drei obersten Kollaborateure Vichys und einer der verhasstesten Franzosen des Planeten (Stand 1942) gerade in Nordafrika anwesend. Er hatte keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, einen Waffenstillstand mit den Amerikanern zu verhandeln. Er versuchte dies so lange hinauszuzögern, bis die Deutschen von sich aus die Demarkationslinie überschreiten und das bisher unbesetzte Frankreich unter ihre Kontrolle bringen würden, so dass sie offiziell den Waffenstillstand brachen.

Die Amerikaner nutzten ihn dann, um die Verwaltung Französisch-Nordafrikas zu übernehmen, was sowohl bei den Briten als auch in der amerikanischen Öffentlichkeit große Ablehnung hervorrief. Die Zusammenarbeit mit Vichy er lebte hier ein letztes Hurra. Es zeigte sich schnell, mit wem sich die Amerikaner ins Bett gelegt hat: Darlan erhielt die antijüdische Gesetzgebung aufrecht und versuchte, sowohl gegen Giraux als auch de Gaulle zu intrigieren und eine faschistische französische Regierung an der Macht zu halten. Das ging wohl von der politischen Führung in Washington aus; Eisenhower stieß in seiner Verzweiflung wohl einmal den Seufzer aus, dass was er am dringendsten brauchte ein Attentäter war.

In Kapitel 7, “Round Up the Usual Suspects: Assassination in Algiers”, wurde genau dieser Wunsch erfüllt. Weil des allgemeinen politischen Chaos‘ noch nicht genug zu sein schien, unternahm eine Gruppe royalistischer Verschwörer (die versuchten, die 1848 (!) abgesetzten Bourbonen zurückzubringen) Ein Attentat auf Darlan, dem dieser auch zum Opfer fiel. Aus Perspektive der Briten könnte jetzt endgültig de Gaulle übernehmen; die Amerikaner allerdings hassten ihn wie die Pest. Sie setzten weiterhin auf Giraux, dessen mangelnde politische Fähigkeiten allerdings zunehmend offensichtlich wurden. Das Lavieren der Alliierten zwischen verschiedenen französischen Optionen und die innerfranzösischen Streitigkeiten, die teilweise operettenhafte Züge annahmen, sorgen für eine extrem instabile Situation. Die alliierte Befürchtung, dass nach einer Befreiung Frankreichs sofort ein Bürgerkrieg folgen würde, war angesichts der nordafrikanischen Erfahrungen nicht aus der Luft gegriffen.

Zunehmendem Maße allerdings desavouierte sich Giraux selbst, während de Gaulle als einzig vernünftige Alternative übrig blieb und trotz seiner Persönlichkeit, die ihm immer wieder im Weg stand und ihn den Amerikanern unerträglich machte, seine unzweifelhaften politischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nach dem politischen Fiasko Einer versuchten französischen Befreiung Korsikas war Giraux nicht mehr zu halten. Die Amerikaner hielten allerdings weiterhin an ihrer Ablehnung de Gaulles fest und dachten sogar darüber nach, direkt mit Pétain zusammenzuarbeiten. Von dieser Idiotie hielten sie glücklicherweise die Deutschen ab, die so offensichtliche faschistische Marionetten installierten, dass die Fiktion, dass Pétain irgendeine Machtstellung in Vichy haben könnte endgültig zerplatzte.

Im Umfeld der Invasion der Normandie akzeptierten die Amerikaner schließlich zähneknirschend de Gaulle, der den Alliierten beständig Probleme machte, dabei aber unzweifelhaft seine eigene Machtstellung in Frankreich geschickt ausbaute. Dies sollte den Alliierten später das Gespenst eines französischen Bürgerkriegs ersparen.

Die Vichy-Regierung wurde nach Sigmaringen evakuiert und dort unter Gestapo-Überwachung gestellt. Falls es noch eines weiteren schlagkräftigen Beweises bedurft hätte, wie fehlgeleitet die amerikanische Vorstellung gewesen war, mit einer unabhängigen französischen Vichy-Regierung kooperieren zu können, war spätestens jetzt nicht mehr zu leugnen.

Das Fazit, “As Time goes by”, nutzt Neiberg, um einerseits noch einmal deutlich zu machen, was für ein Fehler die amerikanische Politik war, andererseits aber auch darauf hinzuweisen, dass er zu Beginn seiner Forschungen die Verteidigungslinie, die Hull und andere Verantwortliche nach dem Krieg aufbauten – dass man aus einem Set unattraktiver Optionen die wenigsten schlimmste gewählt hätte – selbst geglaubt hatte und davon ausging, diese nur genauer zu beschreiben.

Die Amerikaner und Briten konnten das Kapitel Vichy schnell beschließen. Das verantwortliche Personal ging in Rente oder trat neue Posten an und man wandte sich anderen, neuen Problemen zu. In Frankreich selbst war die Lage komplizierter. De Gaulle verkündete einen offiziellen Schlussstrich, indem Lavalle und Pétain quasi zur Alleinschuldigen erklärt und ansonsten der Mythos der Resistance propagiert wurde. Die Erinnerung an Vichy plagt Frankreich bis heute und zwingt es immer wieder zu schmerzhaften Episoden der Aufarbeitung.

Zum Ende unternimmt Neiberg noch eine faszinierende Übung in kontrafaktischer Geschichte: wenn das Attentat auf Darlan nicht erfolgreich gewesen wäre, wäre durchaus vorstellbar, dass dieser mit amerikanischer Rückendeckung an der Macht geblieben wäre. Weder de Gaulle noch Giraux Hätten dann eine Chance gehabt und Frankreich wäre wohl ein autoritär regierter Staat geblieben, wie dies in Spanien und Portugal ebenfalls der Fall gewesen war. Manchmal entscheidet sich das Schicksal eines Landes wirklich an Kleinigkeiten.

Ich habe mich sehr zurückgehalten und in der gesamten Rezension die Metapher von der „Zeitenwende“ nicht benutzt. Das amerikanische Erwachen, das mit dem Fall Frankreichs zusammenhing, ist allerdings durchaus mit dem Deutschen 2022 zu vergleichen. In beiden Fällen kann man auch feststellen, dass die rapide geänderte Sicherheitslage keine Immunität gegenüber Illusionen und dem Festhalten an alten Verhaltensmustern gab. Die Amerikaner wurden oft genug zu ihrem eigenen Glück gezwungen und hatten im Verlauf der Nordafrika-Kampagne einige Male schlicht Glück.

Parallelen zu Krieg in der Ukraine gibt es auch bei der amerikanischen Furcht vor dem Überschreiten „roter Linien“. Man wollte keinesfalls Reaktionen provozieren und verhielt sich deswegen extrem freundlich gegenüber einem eigentlich feindlichen Regime, dass diese Freundlichkeit oder rücksichtslos ausnutzte und keinerlei Anstalten machte, darüber sein Verhalten oder seine generelle Sichtweise zu ändern.

Was sich allerdings anhand der Darstellung auch gut aufzeigen lässt, ist, dass – um eine amerikanische Phrase zu gebrauchen – hindsight 20/20 ist: hinterher ist man natürlich immer schlauer. Wie deplatziert viele der amerikanischen Befürchtungen über mögliche deutsche Attacken auf die westliche Hemisphäre waren, ist mit dem heutigen Kenntnisstand der deutschen Rüstung und Technologie natürlich leicht ins Lächerliche zu ziehen. Einige Befürchtungen allerdings waren durchaus realistisch.

Mir fällt dabei vor allem die Gefahr eines französischen Bürgerkriegs auf, die wegen der harten Fraktionskämpfe und der erbitterten Ablehnung der Republik einerseits und der radikalen Linken andererseits seitens großer Teile des französischen Militärs und politischen Establishment herrschte. Ein anderer Faktor ist die französische Flotte: zwar unternahmen die Deutschen keinen ernsthaften Versuch, sie sich unter den Nagel zu reißen, weil ihnen an einem neutralen und ruhigen Vichy angesichts der Überfallpläne auf die Sowjetunion mehr gelegen war als in einem verbündeten, sich im Krieg befindlichen. Mit einer etwas rationaler agierenden deutschen Regierung allerdings hätte das vermutlich völlig anders ausgesehen.

Insgesamt habe ich die Lektüre des Buchs sehr genossen und habe sehr viel dazugelernt. Besonders relevant empfinde ich die geostrategische Übersicht, die Neiberg in alle Teile einbaut sowie natürlich die intime Kenntnis der außenpolitischen Überlegungen. Mein Kenntnisstand über Vichy hielt sich bisher ehrlich gesagt auch in engen Grenzen. Der in gewählte Fokus auf den amerikanisch-französischen Beziehungen hilft der Lesbarkeit des Buches, hat aber den Nachteil, das beispielsweise die deutschen Handlungen etwas nebulös bleiben. Bringen die Lesenden diese Vorkenntnisse nicht mit, werden sie sie sich eigenständig irgendwo besorgen müssen. Das ist kein Nachteil, man sollte es nur wissen.

Ich fand die Lektüre auch insoweit aufschlussreich, als dass sie einen wichtigen Gegenpunkt zu der unglaublich ausgelutschten Pointe des Dauergags über Kapitulationen französischer Militärs (man denke nur an die beliebte Reihe „French Military History“) darstellt. Die französische Armee war über mehrere Jahrhunderte die stärkste Europas und vermutlich weltweit. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Niederlagen von 1871 und 1940 das Bild unangemessen verzerren. 1940 war ohnehin ihr ein glücklicher Zufall (aus deutscher Sicht), als dass ist eine tiefgreifende Schwäche offenlegen würde. Die ständigen Behauptungen über eine moralische Schwäche, fünfte Kolonnen oder subversiven linken Einfluss, mit dem die Niederlage lange übertüncht werden sollte, haben da eine ungeschickten Legendenbildung Vorschub geleistet.

Oliver Hilmes – Schattenzeit: Deutschland 1943: Alltag und Abgründe (Hörbuch)

Am 7. September 1943 wurden in der Strafvollzugsanstalt Plötzensee fast 250 Justizmorde verübt. In einem wahren Massaker auch wurden zahlreiche Gefangene, gegen selbst das kaum ernstzunehmende Recht des Nazi-Staates, im Schichtverfahren gehängt. Eines der vielen Opfer war der Pianist Karlrobert Kreiten. Oliver Hilmes nimmt sein Schicksal zum Anlass, eine Art Alltagsgeschichte des Jahres 1943 zu unternehmen und zu versuchen, die titelgebende Schattenzeit durch persönliche Schicksale und Quellenauszüge greifbar zu machen. Obwohl man annehmen sollte, dass die erdrückende Realität des Dritten Reiches hinreichend bekannt ist, bleibt selbst für viel belesene Menschen die tatsächliche Lebenswirklichkeit jener Zeit immer wieder eine Überraschung.

Hilmes beginnt seine Erzählung direkt im Januar 1943. Die Schlacht um Stalingrad liegt in ihren letzten Zügen und wird von der deutschen Propaganda bereits als ein heldenhaftes Martyrium mit starker Anlehnung an die Nibelungensage ausgestaltet. Während die frierenden und hungernden Soldaten in Stalingrad zu Tausenden verrecken, feiert Göring in einer rauschenden Party seinen Geburtstag. Der bis ins Mark korrupte Naziführer lässt eine gigantische Reihe von luxuriösen Lebensmitteln auftafeln und versammelt die Prominenz Nazideutschlands in seiner dekadenten Villa. In den Straßen Dresdens indes versucht Victor Klemperer, durch die Zeit zu kommen und seine Arbeit an seine Untersuchungen zur Sprache des Dritten Reiches fortzusetzen.

Der 27 jährige Pianist Karlrobert Kreiten lebt Zu dieser Zeit bei einer entfernten Freundin seiner Mutter als Untermieter. Er ist ein typisches Wunderkind der Musik: von jungen Jahren an trainierte er hart an seinen Fähigkeiten, gab Konzerte und wurde von diversen Stellen gefördert. Für die Musikszene ist er einer der deutschen Künstler mit Weltruhm. Hätte der Krieg nicht internationale Verbindungen abgebrochen, wäre es gut möglich, dass er diesen Weltruhm auf dem Feld der Pianisten auch einfahren könnte. So bleibt es bei Konzerten im vom Krieg verheerten Deutschland , denen ein gewisser dekadente Ruch anhaftet, wo so große Teile der Bevölkerung weder die Zeit und Muse noch das Geld haben, um Konzerte zu genießen und die meisten seiner Altersgenossen an der Front stehen und sterben.

Karlrobert Kreiten lebt auf eine gewisse Art ein behütetes Leben in einer Blase. Er ist nicht doof und ist sich grundsätzlich im Klaren darüber, dass er in einer Diktatur lebt, die einen nicht zu gewinnenden Weltkrieg führt. Gleichzeitig aber ist er das, was in jener Zeit so häufig als positives Charaktermerkmal verstanden wurde: unpolitisch. Er ist ein Paradebeispiel für jene Art von Menschen, die sich als Reaktion auf ein totalitäres Regime ins Private zurückziehen und möglichst wenig Berührungspunkte mit der Politik zu haben versuchen. Dies funktioniert für ihn auch gut. Er entstammt einer typischen Bildungsbürgerliche Familie und ist daher materiell einigermaßen gut abgesichert, auch im Krieg. Seine musikalischen Schwerpunkte decken sich nicht mit denen der Nazis, so dass es hier keine Berührungspunkte im Guten wie im Schlechten gibt.

Seine Vermieterin hier ist eine einfältige, aber überzeugter Nationalsozialistin, die vor allem in der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und der dafür notwendigen Konformität aufgeht. In jedem Zimmer ihrer Wohnung hängt ein Bild von Adolf Hitler. In Unterhaltungen baut sie mit praktisch unvermeidlicher Notwendigkeit Propagandaphrasen ein. An einem etwas gestressten Morgen über dem Frühstück platzt Karlrobert Kreiten die Hutschnur und er erklärt den Krieg für verloren und eine Revolution für in der Luft liegend. Dann geht er weiter seinem Taggeschäft nach. Die geschockte Vermieterin indes bespricht sich mit ihren Freundinnen aus der NS-Frauenschaft. Diese überreden sie zu einer Anzeige bei der Gestapo.

Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Die Gestapo verhaftet und befragt Kreiten, der sich mit lahmen Entschuldigungen von einem Missverständnis aus der Affäre zu ziehen versucht und die erfahrenen Beamten damit wenig beeindrucken kann. Zudem ist er sich des Ernstes seiner Lage zu keiner Sekunde bewusst. Er geht davon aus, nach den Befragungen problemlos wieder nach Hause gehen zu können und ist deswegen sogar erfreut, als er aus der Gestapo Zentrale in ein normales Gefängnis verlegt wird, weil er sich im kommenden Prozess einen Freispruch erwartet. Diese Annahme wäre immer naiv gewesen, jedoch hat Kreiten dazu auch noch zeitliches Pech. Der Totale Krieg, den Goebbels im Frühjahr ausgerufen hat und durch zahlreiche Dekrete verschärft, unterwirft die Justiz einer wesentlich strengeren Kontrolle als vorher und zwingt Staatsanwälte und Richter zu deutlich schärferen Urteilen. Die Annahme, dass sein bürgerlicher Hintergrund und sein künstlerischer Ruhm ihm helfen würden, verwandelt sich angesichts des immer deutlicheren Feldzugs der Nazis gegen eben diese bürgerliche Welt und Kultur tatsächlich in einen Nachteil.

Im Gefängnis erlebt Karlrobert Kreiten ein böses Erwachen: erlebt die Enthumanisierung durch das Dritte Reich mit überfüllten Gefängniszellen, unzureichender Ernährung und schlechter Behandlung. Gleichwohl bleibt er dank der Herkunft seiner Klasse ein Gefangener mit Sonderrechten. Er erhält immer noch die besten Zellen und bleibt von Folter verschont. Dadurch ist er ein merkwürdiger Wanderer zwischen den Welten: zwar geriet er in die Terrormaschinerie der Nazis, bleibt aber dank seiner Klasse immer noch deutlich besser gestellt, als dies etwa für Sozialdemokraten oder Kommunisten gelten würde, von den genozidal verfolgten Gruppen ganz zu schweigen.

Für diese gibt es im Jahre 1943 immer weniger Entkommensmöglichkeiten. Wer es nicht bisher irgendwie aus dem Land geschafft hat, wird in diesem Jahr verhaftet und abtransportiert. Allen Beteiligten ist klar, dass es dabei auf eine Reise ohne Wiederkehr geht, was die leider immer noch verbreitete Vorstellung, die Deutschen hätten in der überwiegenden Mehrheit vom Holocaust nichts gewusst, einmal mehr ad absurdum führt. Hilmes verfolgt neben dem Schicksal Victor Klemperers auch das eines jüdischen Flüchtlings, der von einer wohlmeinenden und couragierten Frau in der Gartenlaube versteckt wird und erzählt immer wieder das Schicksal jüdischer Familien nach, die verhaftet und in die Vernichtungslager transportiert werden.

Im Gegensatz zu vielen anderen politischen Gefangenen hat Karlrobert Kreiten dank seiner wohlhabenden Familie nicht nur einen nutzlosen Pflichtverteidiger, sondern zwei erfahrene Strafverteidiger zu seiner Unterstützung. Diesen ist von Beginn an die Tragweite der Vorwürfe bewusst, wenngleich sie gewisse Hoffnungen haben, wenigstens die Todesstrafe abwenden zu können. Karlrobert Kreiten Indes geht immer noch davon aus, nach einem Prozess entlassen zu werden, weil seine Untersuchungshaft schon jegliche Strafe abgelten dürfte. Die Naivität im Umgang mit dem System ist bemerkenswert und für mich ein interessantes Beispiel dafür, dass das Bürgertum den Rechtsextremismus zwar nicht goutiert, aber auch nicht als elementare Bedrohung für sich betrachtet – eine Dynamik, die man auch am heutigen Umgang damit sehen kann.

Zu genau einer solchen elementaren Bedrohung allerdings wird das Regime für Karlrobert Kreiten. Die zahlreichen Verschärfungen, die im Rahmen des Totalen Krieges in die Nazibürokratie einfließen, verschließen nach und nach jegliche Möglichkeit für den weitreichenden Bekanntenkreis der Familie, ihre Verbindungen spielen zu lassen, um den jungen Pianisten zu retten. Am Fatalsten wirkt sich sicherlich die Übertragung seines Falles vor den Volksgerichtshof aus. Vor Roland Freisler gibt es fast kein Entkommen, und jegliche Reste des Rechtsstaates verlieren vor diesem Gremium ihre Wirksamkeit. Karlrobert Kreiten bekommt seine Anwälte nicht mehr zu Gesicht, die nicht einmal über den Prozess informiert werden. Das Urteil steht von vornherein fest. Als die Familie es erfährt, Unternehmen die Anwälte einen letzten Rettungsversuch: ein Todesurteil darf erst vollstreckt werden, wenn die Möglichkeit einer Begnadigung durch Adolf Hitler persönlich abgelehnt wurde. Doch wiederum machen sie ihre Rechnung nicht mit der sich drastisch verschärfenden Umgebung des Jahres 1943.

Karlrobert Kreiten wird nach Plötzensee verlegt, noch bevor die Anwälte überhaupt Gelegenheit haben, einen Antrag auf Begnadigung einzubringen. Durch eine Laune des Schicksals zerstört ein Bombenangriff auf Berlin – ein Vorkommnis, das im Lauf des Jahres 1943 von einer Kuriosität zum Alltag wird und die Bevölkerung einem unglaublichen Terror unterwirft, der die Legitimität des Regimes rapide untergräbt – die Guillotine in Plötzensee. Diverse Zellen werden beschädigt, so dass die Gefangenen gemeinsam untergebracht werden müssen. Um diesen Zustand schnellstmöglich zu beheben werden alle zum Tode Verurteilten in der Nacht in einer riesigen Aktion im Schichtverfahren an Fleischerhaken gehenkt. Dies läuft selbst dem jeden rechtsstaatlichen Maßstäben spottenden Recht des Nazistaates zuwider, entspricht aber den Absichten der Führung und ist logischer Ausdruck des Totalen Krieges. Unter den rund 250 Opfern dieses massiven Justizmordes findet sich auch Karlrobert Kreite.

Der Rest des Buches widmet sich hauptsächlich dem weiteren Geschehen. Sowohl Victor Klemperer als auch der untergetauchte Flüchtling überleben als einige der wenigen deutschen Juden den Krieg. Roland Freisler stirbt in einer Art Akt der karmischen Gerechtigkeit bei einem alliierten Bombenangriff. Die gesammelte Naziführung begeht wie Goebbels zum Teil Selbstmord oder wird wie Göring zum Teil verhaftet und in Nürnberg vor Gericht gestellt. Gerechtigkeit allerdings bleibt im Nachkriegsdeutschland Mangelware: Karlrobert Kreitens Mutter versucht, die Denunziantinnen ihres Sohnes vor Gericht zu bringen. Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft jedoch sind von Anfang an eher auf Seiten der Täterinnen als Aufdehnen des Opfers. Zudem sprechen sich die Beschuldigten untereinander ab, während Mutter Kreiten sich in Widersprüche verstrickt – keine zentralen, aber doch genug, um die ganzen Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Wie in Millionen anderer Fälle gehen die Denunzianten straflos aus.

Für mich blieb das Buch insgesamt eine faszinierende Lektüre. Hilmes‘ Ansatz, anhand biografischer Details ein spezifisches Jahr zu beleuchten und fassbar zu machen, funktioniert sehr gut. Die Auswahl seines Untersuchungsgegenstandes in Karlrobert Kreiten führt natürlich zu einigen Verzerrungen, die ich teilweise bereits im Laufe der Rezension betont habe. Diese müssen sich die Lesenden selbst erschließen. Sehr gut gelungen ist auch die Einbindung anderer Quellen in das Narrativ. Die Erzählungen sind immer wieder von Auszügen unterbrochen, die von Artikeln aus den Frauenmagazinen (wie stellt man aus abgetragenen Kleidern taugliche und modische Winterkleidung her) über Gesetzestexte hinzu Anweisungen an die Propagandamaschinerie (nach Stalingrad ist es erwünscht, die USA und GB als „Hilfsvölker der Sowjetunion“ zu bezeichnen) Über biographische Notizen anderer Personen reichen. Auf diese Art entsteht in Ansätzen ein Mosaik.

Ein Nachteil dieses Ansatzes ist, dass dieses Mosaik eben nur in Ansätzen besteht. Der Fokus bleibt klar auf der Familie Kreiten und damit auf einem sehr spezifischen Fall in einem sehr spezifischen Milieu. Ist man sich dessen gewahr, ist das kein großes Problem.

Gleichwohl ist es für mich auffällig, dass so viele deutsche Erzählungen über das Dritte Reich aus einem bürgerlichen Gesichtspunkt erzählt werden. Dies ist besonders auch bei Widerstandserzählungen offensichtlich. Es wäre an der Zeit, die Erfahrungen der Arbeiterschaft oder die überzeugter Demokraten (oder gar, Gott behüte, Kommunisten) stärker in den Vordergrund zu stellen. Zudem wäre es auch an der Zeit, bei der Quellenauswahl die ausgetretenen Pfade zu verlassen. So wichtig Victor Klemperer auch sein mag, allmählich wird sein Heranziehen in jedem Werk über diese Zeit ein wenig nervig. Das allerdings sind Luxusprobleme, die sicher auch meine ausführlichen Beschäftigung mit der Periode zuschulden kommen. Insgesamt ist die Lektüre absolut faszinierend und zieht die Lesenden in ihren Bann; die überschaubare Länge sorgt zudem dafür, dass das Buch die Geduld nicht überstrapaz

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