Ein Jahr „wertebasierte Außenpolitik“ – was bleibt?

Mit dem Antritt der Ampelkoalition und Außenministerin Anna-Lena Baerbock führte die deutsche Außenpolitik zumindest einen rhetorischen Richtungswechsel durch. Ab sofort sollte sie „wertebasiert“ sein; Baerbock selbst spricht meist von „feministischer“ Außenpolitik, was viele Überschneidungen, aber keine Übereinstimmung bedeutet. Angesichts der Zeitenwende seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und nach einem Jahr Ampel-Koalition ist es Zeit, eine Bestandsaufnahme dieser Ansprüche vorzunehmen. Ich will dabei zuerst eine Annäherung versuchen, was wertebasierte Außenpolitik überhaupt sein soll, dann ihre Potenziale und schließlich die Realität untersuchen.

Die Definition dessen, was mit einer „wertebasierten Außenpolitik“ eigentlich konkret gemeint ist, fällt nicht eben leicht. Wie so häufig bei solchen Konzepten ist es wesentlich leichter, abzugrenzen, was sie alles NICHT ist. Die wertebasierte Außenpolitik lehnt eine rein an wirtschaftlichen Interessen oder an realistischen (im Sinne der Theorie des Realismus, die Außenpolitik als von Sicherheitsinteressen autonomer Staaten geprägt sieht, nicht im umgangssprachlichen Sinne) Politiken ausgerichtete Außenpolitik ab.

Die Kritik, die hier geäußert wird, ist die, dass ein „wertblindes“ Konzentrieren auf wirtschaftliche Interessen dazu führt, dass autokratische bis verbrecherische Regime gestützt werden. Dies erschwere einerseits den Systemwandel vor Ort und bringe andererseits die Bevölkerung gegen Deutschland auf. Zudem mache man sich von der Wirtschaftspolitik solcher Staaten, deren Wertesysteme nicht kompatibel sind, abhängig. Ein Beispiel für solche Phänomene wären etwa die Nordstream-Projekte, mit denen man sich von Russland abhängig machte.

Auf der anderen Seite wird das realistische Herangehen an Sicherheitsinteressen kritisiert, das oftmals blind für Kollateralschäden mache. Ähnlich wie bei der Kritik an den wirtschaftlichen Motiven sehen Vertreter*innen der wertbasierten Außenpolitik hier die Gefahr vor allem in den ungewollten Nebeneffekten für Deutschland. Ein Beispiel hierfür wären die aktuellen (2022) Proteste im Iran: sind sie erfolgreich, so wäre ein potenzielles neues Regime (im politikwissenschaftlichen Sinn) nicht freundlich gegenüber Deutschland eingestellt, weil es die Bundesrepublik als Unterstützerin der Mullahs wahrnehmen würde.

Die letzte negative Abgrenzung ist die gegenüber der ebenso wertebasierten neokonservativen Außenpolitik von George W. Bush und Konsorten, die sich anschickten, durch militärische Interventionen oder klandestine Operationen westliche Werte und Interessen zu befördern. Wertebasierte Außenpolitik lehnt Gewalt als Mittel ab (was zu vielen Problemen führt, siehe unten). Eine Art „liberaler Interventionismus“ verträgt sich nicht mit diesen Vorstellungen.

Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass wertebasierte Außenpolitik nicht bedeutet, gegen die Interessen des Landes zu handeln. Sie unternimmt vielmehr eine Neudefinition dessen, was die Interessen der Nation sind. In den Worten Annalena Baerbocks aus einem Interview mit der Zeit:

Frage: Wie sinnvoll ist dann die Unterscheidung von wertebasierter und interessengeleiteter Außenpolitik?

Baerbock: Werte und Interessen sind kein Gegensatz; diese Unterscheidung führt in eine Sackgasse. Als sozial-ökologische Marktwirtschaft werden wir unsere Wirtschaftsinteressen nur erfolgreich vertreten, wenn wir zugleich die Werte eines fairen Marktzugangs und eines fairen Umgangs mit Arbeitnehmerinnen verteidigen. Wenn wir anderen Akteuren erlauben, sich nicht an Regeln und Standards zu halten, hat die deutsche Wirtschaft einen schweren Wettbewerbsnachteil. Wir haben bereits auf dem europäischen Binnenmarkt erlebt, dass unsere Unternehmen benachteiligt werden, wenn andere sich nicht an europäische Regeln halten, etwa bei staatlichen Subventionen. Darum drängt heute auch der Bundesverband der Deutschen Industrie, der bisher nicht immer mit Amnesty International einer Meinung war, darauf, dass wir eine China-Politik überdenken müssen, die alles scheinbaren kurzfristigen Handelsvorteilen unterordnet.

Das Leitmotiv, dass wir „uns nicht abhängig machen dürfen„, zieht sich als Leitmotiv durch alle Reden Baerbocks. Das ist nicht verwunderlich. Die Reduzierung von Abhängigkeiten passt gut in in das Programm einer Partei, das eine deutliche Dezentralisierung der Energieversorgung anstrebt (Erneuerbare sind per Definition dezentral, während fossile und nukleare Energieträger notwendig zentralisiert sind) und die Degrowth-Strategien gegenüber aufgeschlossen ist. Aber das macht die Idee einer wertbasierten Außenpolitik nicht automatisch links oder grün oder welches Label man auch immer darauf kleben will (wohl aber Baerbocks spezifische Ansätze, was ansgesichts ihrer Parteizugehörigkeit natürlich zu erwarten ist).

Nun beschreibt Baerbock ihren außenpolitischen Ansatz auch als „feministisch“. Damit triggert sie verlässlich Menschen wie Friedrich Merz, die der wertbasierten Außenpolitik ohnehin sehr skeptisch gegenüberstehen, wie wir in Bundestagsdebatten bereits gesehen haben. Die grundlegende Idee hier basiert auf zwei Säulen. Säule Nummer eins ist, dass eine Außenpolitik, die den Status und die Rechte von Frauen in den Blick nimmt, quasi automatisch eine größere Überlappung mit unserem demokratisch-liberalen Wertesystem bekommt. Wer bisher unterdrückte Gruppen integriert und befähigt, tue das quasi automatisch. Säule Nummer zwei basiert auf der Gender-Theorie und postuliert, dass die Außenpolitik bisher männlich konnotiert ist. Dadurch würden gewaltsame Problemlösungen und konfrontative Ansätze dominieren. Weiblich konnotierte Perspektiven einzubringen würde helfen, dies auszugleichen.

Die feministische Außenpolitik ist dabei nicht grundsätzlich ein linkes Projekt. Karin Prien (!) etwa hat sich sehr positiv dazu geäußert und rief ihre Parteifreund*innen dazu auf, die Überlappungen mit konservativen Programmatiken zu sehen und sich nicht aus ideologischem Reflex zu verschließen. Gleiches gilt, wie oben erwähnt, für wertebasierte Außenpolitik generell.

Die Potenziale dieser Art der Außenpolitik sind klar erkennbar. Im Idealfall entsteht eine glaubwürdige Außenpolitik (der Westen ist seit Jahrzehnten verwundbar gegenüber dem Herausstellen des Auseinanderklaffens von Anspruch und Wirklichkeit), die das Land von Staaten, deren Werte wir ablehnen und die potenziell Gegner werden könnten, unabhängig macht und sorgen für einen positiven Wandel in der Welt. Grundlegend würde das funktionieren, indem der Handel und die Zusammenarbeit mit liberalen Staaten gestärkt und in gleichem Maße mit illiberalen Staaten verringert würden.

Ihre Anwendungsgebiete drängen sich geradezu auf. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die scheinbar realistische („europäische Sicherheit ist nur mit Russland möglich“) und an deutschen Wirtschaftsinteressen (billiges Gas) ausgerichtete Politik tatsächlich war. Wenn die Theorie feministischer Außenpolitik postuliert, dass ein zentrales Problem der „traditionellen“ Außenpolitik ihre patriarchalische Struktur ist, so findet man dafür in der Ukraine wahrlich genug Beispiele, wie etwa Vergewaltigung als Waffe eingesetzt wird. Das hat eine jahrhundertelange Tradition: die Moral der (als männlich kodierten) Kämpfenden soll zerstört werden, indem ihre Machtlosigkeit im Schutz der als (weiblich kodierten) Zivilbevölkerung vorgeführt wird. So formuliert etwa die FAZ:

Heute erzählen Frauen wieder, wie Soldaten sie vergewaltigen. Die Soldaten kommen aus Russland, die Frauen aus Kiew, Irpin und Cherson. Feminismus ist kein Luxus, sondern die einzige Antwort auf diese Gewalt. Frauenrechte sind immer und überall ein Gradmesser für Zivilisation. Je weiter die Gleichberechtigung, desto stabiler das Land. Und je rebellischer die Frauen, desto panischer der Diktator. „Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden“, so drohte Putin der Ukraine. Erst phantasierte er von Vergewaltigung, dann überfiel er das Land. Hierzulande reagieren darauf einige paradox: nicht mit Hass auf Putins zerstörerischen Männlichkeitswahn, sondern auf die eigene, angeblich verweichlichte Gesellschaft. Die „feministische Außenpolitik“ gilt ihnen zusammen mit Unisextoiletten als Gipfel westlicher Dekadenz. Ohnmächtig sehen sie dem Krieg in der Ukraine zu, während sie mit Tweets auf Minderheiten und Frauen schießen. […] Tatsächlich war Annalena Baerbock eine der wenigen, die Putin zu jedem Zeitpunkt klar gesehen hat. Der russische Präsident werde sich eben nicht an die Regeln halten, rief sie als Kanzlerkandidatin in einem der vielen Fernseh-Trielle, während Scholz ihre Empörung zu belächeln schien. Im Brustton kühler Überlegenheit verkündete er: „Getanzt wird mit denjenigen, die im Saal sind.“ […] Vielleicht ist auch das feministische Außenpolitik: Fehleinschätzungen erkennen, sie zugeben und daraus lernen. In jedem Fall aber ist es eine Politik, die Frauen sieht.

Eine feministische, wertbasierte Außenpolitik bezieht solche Dimensionen ein und betrachtet sie nicht als unvermeidlichen Nebeneffekt von Gewalt. Inwiefern das dann tatsächlich in der Ausgestaltung konkreter Politik hilfreich ist, bleibt abzuwarten. Die Bundesregierung jedenfalls legte in ihrer Haltung gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine eine besondere Sensibilität und Vorbereitung auf traumatische Erfahrungen mit eben solchen Gewaltmustern an, die den Schwächsten, die davon betroffen sind, in besonderen Maße helfen soll. Im aktuellen Aufstand im Iran, der vereinfachend gerne als „feministisch“ bezeichnet wird (ich wäre sehr vorsichtig bei der Anwendung solcher Konzepte auf so komplexe Sachverhalte in anderen Weltgegenden) wäre eine feministische Außenpolitik eine, die der Protestbewegung hilreich zur Seite steht. Allein, die Realität ist, wie immer, sehr kompliziert und erschwert oder verunmöglicht die Anwendung dieser Konzepte.

Und damit sind wir bei der Realität der wertebasierten Außenpolitik. Was bleibt, ein Jahr nach ihrem offiziellen Beginn?

Die erste Zeit wurde vor allem mit der Debatte darüber verbracht, ob sie eine gute Idee ist. Wie bei so vielen anderen gleich gelagerten Debatten fielen die Kritiker*innen dabei vor allem mit (teils bewusster) Unkenntnis über die Idee an sich auf. Ich habe meine damalige Analyse von Friedrich Merz‘ Attacken bereits weiter oben verlinkt, und die Diskussion über ein zu „wokes“ Militär (weiblich kodiert), das angeblich zu schwach sei um gegen „echtes“ (männlich kodiertes) Militär zu bestehen – beispielhaft sei hier dieser ekliger Tweet von Ted Cruz verlinkt – haben sich durch den Kriegsverlauf ohnehin bereits erübrigt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die ukrainischen Streitkräfte, die sich im Großen und Ganzen an die liberalen Werte halten (und die damit einhergehenden Institutionen von Genfer Konvention über Hager Landkriegsordnung) und sehr divers und „woke“ aufgestellt sind, den russischen überlegen sind.

Aber die eigentliche Bilanz der deutschen Außenpolitik ist bisher sehr zwiespältig. So ging Wirtschaftsminister Robert Habeck auf eine große, durch PR unterfütterte weltweite Einkaufstour für Erdgas, die ihn überwiegend in die Häfen von Autokraten und generell unappettitlichen Regimes brachte, bei denen er freundlich lächeln musste, um das neue strategische Prärogativ der Unabhängigkeit von russischen Gaslieferungen umsetzen zu können. Nicht, dass die Gegner*innen der wertbasierten Außenpolitik hier Besseres anzubieten hätten; von Varwick bis Wagenknecht ist ihr Vorschlag, es weiter von Putin zu beziehen und die Augen einfach komplett zu verschließen. Dieser „Realismus“ aber hat abgewirtschaftet.

Lässt sich das angesichts der harten Notwendigkeiten von Gasimporten dank einer völlig verfehlten Schröder-Merkel’schen Energiepolitik noch einigermaßen entschuldigen – irgendwoher muss das Gas kommen, wenn wir nicht frieren wollen, und lieber Bahrain als Russland -, so ist das dröhende Schweigen, das des Öfteren aus Baerbocks Ministerium zu vernehmen ist, schwerer entschuldbar. So etwa versucht man, unter allen Umständen nicht zu bemerken, was in Saudi-Arabien vor sich geht. Wo niemand etwas sieht, muss auch niemand wertebasiert handeln. Die lahme Begründung, dass Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien zur Finanzierung des Sozialstaats notwendig seien, ist eigentlich kaum mehr als eine moralische Bankrotterklärung.

Oder man denke an den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Das im Stich Lassen der afghanischen Ortskräfte, hier im Blog bereits beschrieben und diskutiert, ist ein moralisches Versagen der Bundesregierung, das uns zukünftig noch teuer zu stehen kommen wird. Hier liegt die Hauptschuld sicher nicht bei Baerbock, die zu diesem Zeitpunkt noch frisch im Amt war, aber ihre Initiativen waren auch bei weitem nicht so zupackend und effektiv, wie man sich das hätte erhoffen können.

Oder man nehme den Iran. In der ZEIT erschien eine beißende Kritik Navid Kermanis an der deutsche Zurückhaltung bezüglich der Proteste. Angesichts der Begeisterung, die diese in der deutschen medialen Öffentlichkeit auslösen und die stark an die grüne Revolution erinnern (und hoffentlich nicht so enden), ist die wachsweiche Haltung der Bundesrepublik verständlicherweise frustrierend. In beiden Fällen gilt dieser relevante Verweis darauf, wie viel moralisches Kapital Deutschland gerade mit seiner Haltung verbrennt. Dieses Kapital wird in anderen Situationen bitterlich fehlen.

Allein, die Schwierigkeit, einerseits realistisch zu sein und eine reine Symbolpolitik zu betreiben, andererseits aber „feministische Außenpolitik“ zu machen, ist offenkundig, und die Kritik weiß oft selbst nicht wirklich, was die Alternative sein könnte. Ein Beispiel hierfür ist dieser Artikel, wo die Autorinnen Joanna Rettig und Julia Jannaschk ihre Argumentation in Knoten treiben, wenn sie einerseits feststellen, dass Deutschland nichts machen kann, aber andererseits fordern, dass es unbedingt etwas machen muss. Dieser Widerspruch von „Warum tut ihr nichts, wo nichts möglich ist“ bestimmt große Teile der Debatte, und fairerweise muss man sagen, dass die „wertbasierte Außenpolitik“ hier auch mit schuldig ist, weil sie Erwartungen geweckt hat, die sie dann unmöglich erfüllen kann.

Gleichzeitig sollte man sich aber nicht der Illusion hingeben, dass das Gegenteil eine komplett wertfreie und in zweierlei Sinne realistische Außenpolitik sei (in zweierleie Sinne, weil einmal der Theorie verbunden, das andere Mal in weiser Selbstbeschränkung des Machbaren auftretend). Wohin dieser „Realismus“ führen kann zeigt etwa Markus Söder, während auf der anderen Seite Baerbock mutiger und offener gegen die Türkei spricht als Merkel und ihre Außenminister in allen 16 Jahren zusammen. Meine letzte These ist, denke ich, diese: Außenpolitik ist grundsätzlich wertegeleitet, und sie ist grundsätzlich paradox. Die Komplexitäten von Politik sind im Umgang von Staaten noch viel prononcierter als in der Innenpolitik und lassen „perfekte“ Ergebnisse noch weniger zu.

Ich will dafür ein Beispiel aufzeigen. In seinem Artikel „Let’s go back to mercantilism and trade blocs!“ beschreibt der Ökonom Branko Milanovic einen aktuellen Trend westlicher Wirtschaftspolitik:

Faroohar’s point is not new, but is told with unusual clarity and it comes at the right time. It is that the West should abandon globalization. Instead of it, the West should revert to trade blocs, in this case created between the nations sharing certain political values and geopolitical interests. […] The problem is how to explain this volte-face to the rest of the world. The Western narrative has, since 1945, been built precisely on the opposite view: open trade helps all the countries and leads to peaceful coexistence. While one need not subscribe to the Montesquieu-Bloch-Doyle view of trade as an engine of peace, the economic arguments in favor of open trade were always strong. China and India and Indonesia and Vietnam and Bangladesh made them even stronger. Now, the West that was the principal ideological champion of free trade has soured on it because it no longer works in its favor. But whether it does or does not, is, from a global perspective, immaterial: the idea of open trade was not based on particular benefits to one side—as mercantilism was—but to the mutual benefits for most. The gains were not, ever, thought to involve absolutely everybody,  but the idea was that the losing parties would be compensated domestically, or at least that their particular losses will not be allowed to derail the entire process. (Branko Milanovic, Global Inequality)

Ignoriert man den Kontext von „free trade„, klingen die Argumente 1:1 wie die der wertebasierten Außenpolitik: hier wurde ein Anspruch formuliert, dort wurde er nicht eingehalten, weil man Nachteile für sich selbst vermeiden wollte. Ich denke, das dem ein Missverständnis zugrunde liegt. Auch der Freihandel war eine wertebasierte Außenpolitik. Der Wert war der völliger Bewegungsfreiheit für Waren und Kapital. Diesen Wert hat die westliche Außenpolitik Jahrzehnte propagiert und nach besten Kräften gefördert, nie mehr als nach 1990. Jetzt, wo er sich langsam gegen ihn wendet, gibt sie ihn auf. Das ist nachvollziehbar.

Aber gerade deswegen halte ich es für grundsätzlich den richtigen Ansatz, zu identifizieren, was in unser aller Interesse ist, und zu versuchen, so weit wie möglich danach zu handeln. Das wird nie reibungsfrei möglich sein und sich nie mit völliger Reinheit umsetzen lassen. Es ist allerdings auch nicht schlechter als die Alternative, und hat das Potenzial, bessere Ergebnisse zu erreichen.

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  • R.A. 26. Oktober 2022, 10:38

    Wie üblich bei grüner Politik: Viel Rhetorik und wenig Substanz.

    Jede Außenpolitik ist immer eine Mischung aus „wertebasiert“ und „interessengeleitet“. Und egal was Baerbock da schwurbelt, zwischen diesen beiden Zielen gibt es immer einen Gegensatz – es ist die Kunst guter Außenpolitik eine Linie zu finden die möglichst viel von beiden Zielen ermöglicht und die Auswirkungen des Gegensatzes minimiert.

    Als z. B. die Briten „wertebasiert“ den Sklavenhandel bekämpften, haben sie dies durchaus „interessengeleitet“ so gestaltet, daß die wirtschaftlichen Folgen möglichst bei anderen Nationen landeten.
    Während wenn z. B. der Iran „wertebasiert“ den Islamismus fördert, dann nimmt er dafür heftige Nachteile beim „interessengeleitet“ in Kauf. Generell ist „wertebasiert“ nicht zu unterscheiden von ideologisch oder religiös – nur die Werte sind halt andere.

    Die deutsche Außenpolitik war schon immer sehr viel „wertebasierter“ als die anderer Staaten. Mit der neuen Regierung hat sich de facto nur ganz wenig geändert, die Neuorientierung beschränkt sich wesentlich auf Sonntagsreden.
    Und das gilt erst recht für „feministisch“. Frauenrechte sind natürlich Teil der von Deutschland vertretenen Werte (jeweils nach Maßstab der Zeit), da hat sich überhaupt nichtsgeändert.
    Im Gegenteil: Baerbocks komplettes Versagen bei der aktuellen Iran-Krise läßt jedes weitere Reden über „feministische“ Außenpolitik als peinliche Heuchelei dastehen.

    Der wesentliche Unterschied besteht ohnehin nicht zwischen „wertebasiert“ und „interessengeleitet“, sondern zwischen guter (d.h. erfolgreicher) und schlechter Außenpolitik.
    Und da ist die aktuelle deutsche Außenpolitik so schlecht wie fast immer.
    In der Ukrainekrise hat Baerbock zwar sehr energisch Positionen vertreten (die ich persönlich auch alle richtig finde), hat aber in sträflichem Dilettantismus völlig versäumt vorher für eine einheitliche Linie in der Bundesregierung zu sorgen und faktisch erreicht hat sie in ihrer bisherigen Amtszeit nirgendwo etwas.

    • Thorsten Haupts 26. Oktober 2022, 11:31

      Merci für den Kommentar – der fasst gut zusammen, was ich darüber denke.

      Je stärker man das „wertebasiert“ offen und öffentlich betont, umso stärker schlagen die aussen- und sicherheitspolitisch völlig unvermeidbaren Verstösse gegen diese „Wertebasierung“ öffentlich auf einen zurück, umso mehr Angriffspunkte bietet man. Weswegen ich das ganze auch kommunikationstechnisch für idiotisch halte.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 26. Oktober 2022, 12:48

      Aber genau das ist ja der Punkt: dass die wertegeleitete Politik selbstverständlich Interessenpolitik ist. Genau das argumentiere ich auch im Artikel?

      • R.A. 26. Oktober 2022, 13:30

        „dass die wertegeleitete Politik selbstverständlich Interessenpolitik ist.“
        Sie kann es sein – bei geschickter Vorgehensweise. Aber nur wenn man sich des Widerspruchs bewußt ist und die Werteleitung nicht verabsolutiert.
        Was zu befürchten ist, wenn auf eine ohnehin schon sehr wertegeleitete Politik noch mehr Werte draufpacken will.

        „Genau das argumentiere ich auch im Artikel?“
        Mit Verlaub – Du bringst nur das grüne Märchen, daß die Interessen bei genug Werten quasi automatisch mit abfallen. Und bringst dann einige Beispiele, die aber keine Argumente sind.

        Sich in Abhängigkeit zu begeben ist immer schlecht. Das hat nichts mit Werten zu tun. Wenn unsere Nachbarstaaten sich bemühen möglichst wenig von Deutschland abhängig zu sein hat das fast nichts mit Werten zu tun – die haben einfach Angst vor deutscher Egozentrik und Dummheit.

        Und natürlich sollte man im Zweifelsfall bei Machtkämpfen in einem Land die Seite unterstützen, die einem wertemäßig näher steht. Ist auch uralte Politik (nicht nur bei den NeoCons). Aber das wird man halt immer nur nachgeordnet so weit tun, daß die Interessen und die Zusammenarbeit mit diesem Land gewahrt bleiben.

        Beispiel Saudi-Arabien: Das ist intern ein ziemlich fürchterliches Land nach unseren Wertvorstellungen.
        Aber es verändert sich zum Besseren (im Gegensatz zu anderen Ländern der Region), die Regierung versucht das Fürchterliche nicht nach außen zu exportieren und in anderen Bereichen ist die Zusammenarbeit mit diesem wichtigen Land für uns und die Region sehr konstruktiv.
        Da wäre es naiv und dumm den großen Moralhammer rauszuholen und die Zusammenarbeit zu reduzieren.

        Fazit: Werte können helfen, Interessen durchzusetzen.
        Aber die Fixierung auf Werte als erste Priorität schadet meist den Interessen – und ist in der Regel auch kontraproduktiv für die Werte selber.

        • Thorsten Haupts 27. Oktober 2022, 18:52

          … Beispiel Saudi-Arabien: Das ist intern ein ziemlich fürchterliches Land nach unseren Wertvorstellungen.
          Aber es verändert sich zum Besseren …

          Welche Indizien dafür haben Sie ausgerechnet zu einer Zeit, in der das Land von einem echten Mafia-Gangster geführt wird?

  • Stefan Pietsch 26. Oktober 2022, 12:48

    Der Artikel beginnt mit einer falschen Annahme. Tatsächlich spricht der Koalitionsvertrag und damit auch die Grundlage der Außenpolitik der Ampel keineswegs von „feministischer Außenpolitik“.

    „Gemeinsam mit unseren Partnern wollen wir im Sinne einer Feminist Foreign Policy Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit stärken und gesellschaftliche Diversität fördern“.

    Das ist etwas deutlich anderes, wie abseits der Grünen sehr wohl betont wurde.

    In Bezug auf Afghanistan wäre es übrigens am klügsten gewesen, jeder Frau eine Waffe in die Hand zu drücken, da die Männer nicht willens waren, sich gegen die Taliban zu verteidigen. Auch das kann dann eine feministische Außenpolitik sein.

    Auffällig ist einfach immer wieder, wie sehr Stefan die Grüne Baerbock schont. So kommt die wichtigste Personalentscheidung der Außenministerin in der Wertung ihrer Politik nicht vor. Gleich zu Beginn installierte Baerbock die Klimaaktivistin und Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan als wichtigste Diplomatin. Dafür wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, Morgan die deutsche Staatsbürgerschaft angedeien zu lassen.

    Morgans Aufgabe sollte darin bestehen, im Auftrag der Außenministerin stärker klimaschutzpolitische Themen zu verhandeln und die Politik dahingehend voranzutreiben. Davon ist nichts geblieben, Thema und Person finden in der Öffentlichkeit und auf dem diplomatischen Parkett nicht statt.

    Nochmal zu Afghanistan: Der überhastete Abzug der Bundeswehr war zwingende Folge der Politikänderung in den USA. Das galt für alle NATO-Staaten. Dies als besonderes deutsches Versagen anzuprangern, ist wieder eine dieser Unredlichkeiten, die bei Grünen-Themen zum Tragen kommen.

    Zum Thema Gas: die extreme Abhängigkeit von Russland war von grüner Seite ausdrücklich gewünscht. Deutschland hätte keinen Bedarf daran, würde man nicht Kernkraft, saubere Steinkohle und heimisches Gas so vehement ablehnen. Und keine Partei ist mit dieser multiplen Ablehnung so verbunden wie die Grünen.

    Wie ihr Parteikollege Habeck gefällt sich Baerbock in der Darstellung von Politik. Der Wirtschaftsminister verstand es meisterhaft, sich als derjenige zu inszenieren, der ideologische Grenzen überschritt. Doch der Ertrag für das Land – immerhin hat er darauf seinen Amtseid abgelegt – war praktisch Null. Kein Gas aus Katar, kein Gas aus Norwegen und kein Gas aus Kanada. Stattdessen füllte die Bundesregierung (sprich: das Bundeswirtschaftsministerium) die Gasspeicher zu Höchstpreisen an den Spotmärkten. 8 Milliarden Euro verschleuderte der Grüne dafür, was für 5-6 Milliarden zu haben gewesen wäre. Zeit vergeudet, politische Blockaden gepflegt statt abgebaut. So sieht grüne Politik aus.

    Baerbocks Amt leidet darunter, praktisch keine Exekutivfunktionen zu besitzen. Die gescheiterte Kanzlerkandidatin steht gar nicht in der Verlegenheit, Wirksamkeit und Nützlichkeit ihrer Politik unter Beweis stellen zu müssen. Sie hält Reden und präsentiert – und für die genügsamen Deutschen ist das weit mehr als genug.

    • Stefan Sasse 26. Oktober 2022, 12:54

      Afghanistan und Frauen: ja, vermutlich. Kein Widerspruch.

      Typisch für einen Kommentar von dir ist die irrationale Fokussierung auf Baerbock, die nur aus deiner starken persönlichen Ablehnung resultiert. Ich habe, wie dir sicher aufgefallen ist, im Artikel generell wenig Personen behandelt, sondern bin eher auf Dynamiken und Leitlinien. Auch andere Personalien werden nicht diskutiert.

      Ich prangere nicht den Rückzug aus Afghanistan an. Es ist unredlich von dir, das zu unterstellen. Ich prangere an, dass man die Ortskräfte verraten hat.

      Gas: Korrekt. Darauf habe ich jetzt schon öfter verwiesen.

    • Erwin Gabriel 28. Oktober 2022, 12:57

      @ Stefan Pietsch 26. Oktober 2022, 12:48

      In Bezug auf Afghanistan wäre es übrigens am klügsten gewesen, jeder Frau eine Waffe in die Hand zu drücken, da die Männer nicht willens waren, sich gegen die Taliban zu verteidigen. Auch das kann dann eine feministische Außenpolitik sein.

      Ja. Volle Zustimmung.

      Gleich zu Beginn installierte Baerbock die Klimaaktivistin und Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan als wichtigste Diplomatin. Dafür wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, Morgan die deutsche Staatsbürgerschaft angedeien zu lassen.

      Ja. Definitiv ein aus meiner Sicht schlechtes Vorgehen.

      Nochmal zu Afghanistan: Der überhastete Abzug der Bundeswehr war zwingende Folge der Politikänderung in den USA. Das galt für alle NATO-Staaten. Dies als besonderes deutsches Versagen anzuprangern, ist wieder eine dieser Unredlichkeiten, die bei Grünen-Themen zum Tragen kommen.

      Es gab genug Warnungen und Meldungen aus Kabul nach Berlin, die im Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium schlicht weggedrückt wurden. Wie 2015 bei der Flüchtlingskrise ignorierte die Regierung Merkel so lange alle Hinweise, diskutierte man mit Blick auf die deutschen Medien so lange ergebnislos hin und her, bis es zu spät war. Die Vorverlegung des US-Abzugs mag etwas überraschend gekommen sein, aber da ging es nicht um Monate, sondern Tage. Berlin wollte nicht – das war der ausschlaggebende Grund.

      Zum Thema Gas: … Deutschland hätte keinen Bedarf daran, würde man nicht Kernkraft, saubere Steinkohle und heimisches Gas so vehement ablehnen. Und keine Partei ist mit dieser multiplen Ablehnung so verbunden wie die Grünen.

      Ja – aber die Entscheidungen fällten Schröder und Merkel.

      Doch der Ertrag für das Land – immerhin hat [Habeck] darauf seinen Amtseid abgelegt – war praktisch Null. Kein Gas aus Katar, kein Gas aus Norwegen und kein Gas aus Kanada. Stattdessen füllte die Bundesregierung (sprich: das Bundeswirtschaftsministerium) die Gasspeicher zu Höchstpreisen an den Spotmärkten. 8 Milliarden Euro verschleuderte der Grüne dafür, was für 5-6 Milliarden zu haben gewesen wäre. Zeit vergeudet, politische Blockaden gepflegt statt abgebaut. So sieht grüne Politik aus.

      Wenn Kanada, Katar und Norwegen an Deutschland kein Gas verkaufen, trägt Habeck persönliche Schuld? Und für nur 2 Milliarden Euro mehr hat er die Speicher trotzdem vollgekriegt und so verhindert, dass hier im Winter vielelicht Leute erfrieren? Halte ich für eine gute (und angesichts der vielen anderswo verschleuderten Milliarden) auch für eine günstige Leistung. Auf einen FDP-Minister, der das hingekriegt hätte, wärst Du zurecht stolz gewesen 🙂 .

      Baerbocks Amt leidet darunter, praktisch keine Exekutivfunktionen zu besitzen. Die gescheiterte Kanzlerkandidatin steht gar nicht in der Verlegenheit, Wirksamkeit und Nützlichkeit ihrer Politik unter Beweis stellen zu müssen. Sie hält Reden und präsentiert – und für die genügsamen Deutschen ist das weit mehr als genug.

      Zustimmung! Aber das gilt (seit Amtsantritt Merkel) für jeden Außenminister, nicht wahr?

      Viele Grüße
      Eines Genügsamen Deutschen

  • Stefan Pietsch 26. Oktober 2022, 13:20

    Manchmal kann feministische Außenpolitik so einfach sein… Ansonsten definiert sich, wie Du ja geschrieben hast, der feministische Ansatz als gewaltfrei.

    Baerbock wird im Artikel 12 Mal genannt, in den bisherigen Kommentaren dagegen nur 4 Mal. Also, da lässt sich sehr wohl eine Fokussierung auf die Grüne Deinerseits ableiten.

    Morgan galt als Symbol. So wurde sie präsentiert, so wurde sie behandelt. Ich finde nicht, dass sich das ignorieren lässt.

    Was bei Gas? Ich habe einige Punkte genannt.

    • Erwin Gabriel 28. Oktober 2022, 13:04

      @ Stefan Pietsch 26. Oktober 2022, 13:20

      <i<Ansonsten definiert sich, wie Du ja geschrieben hast, der feministische Ansatz als gewaltfrei.

      Nun, Golda Meir, Indira Ghandi oder Margaret Thatcher waren halt keine Feministinnen 🙂

      Aber ja, da stimme ich zu, dass hier die grüne Partei-Ideologie in die Außenpolitik hineinspielt. Aber selbst wenn Vorgänger wie Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas die Latte nicht gerade hoch aufgelegt hatten, kommt Baerbock doch L O C K E R drüber.

  • Ralf 26. Oktober 2022, 15:13

    Ich widerspreche Deiner Definition von ‚wertegeleiteter Außenpolitik‘. ‚Wertegeleitet‘ ist nicht dasselbe wie ‚feministisch‘, wenngleich Frauen in vielen Ländern (z.B. Afghanistan, Saudi Arabien, Iran) die Hauptprofiteure einer solchen Politik wären. ‚Wertegeleitet‘ ist stattdessen die Kurzform von ‚geleitet von Werten der westlich-liberalen Demokratie‘. Der Terminus geht als weit über Frauenrechte hinaus und schließt das Recht auf Meinungsfreiheit, freie Religionsausübung, das Recht vor Verfolgung (Herkunft, Hautfarbe, Sexualität etc.) und so weiter mit ein. In Indien, China, Russland, Ungarn, Polen, Myanmar, Nordkorea etc. sind es nicht primär Frauenrechte, die in Gefahr sind.

    Es ist auch falsch, dass George W. Bushs Außenpolitik ‚wertegeleitet‘ war und ebenfalls stimmt nicht, dass sich Annalena Baerbocks ‚wertegeleitete‘ Politik von der Bushs in erster Linie durch Gewaltverzicht unterscheidet. Im Gegenteil. Bushs Außenpolitik war einzig und allein getrieben von Gier und Finanzinteressen. Der Überfall auf den Irak erfolgte auf der Grundlage nachweislich konstruierter Lügen und diente dem einzigen Ziel das Öl des Landes zu rauben. Also ein klassischer Kolonialkrieg. Die ‚Werte‘ waren leere Propaganda und wie Colin Powell später zugab, war auch allen Beteiligten die Leere dieser ‚Werte‘ bekannt. Annalena Baerbock hingegen ist nun wirklich keine Pazifistin. Kaum jemand fordert so laut nach neuen Waffenlieferungen für die Ukraine wie sie und unterstützt damit aktiv eine militärische Lösung. Vollkommen zurecht übrigens aus meiner Sicht.

    Zur Bewertung von ‚wertegeleiteter Außenpolitik‘: Es ist unsinnig Schwarz-Weiß-Lösungen zu fordern. ‚Werte‘ sind super, aber sie sind nicht der einzige bedeutende Faktor und sollen es auch nicht sein. Kein Politiker kann es sich leisten, basierend auf einem absolutistischen Idealismus, den Wohlstand und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft zu opfern. Daraus folgt, dass ein gewisser Kontakt und begrenzte Geschäfte mit ekligen Diktatoren und Regimen leider manchmal erforderlich sind. Worauf es ankommt, ist deshalb nicht eine ‚wertegeleitete Aussenpolitik‘ sondern eine ‚wertegeleitetere Aussenpolitik‘. Mit anderen Worten, dass ‚Werte‘ zum ersten Mal überhaupt Teil der Gleichung werden und nicht jede politische Entscheidung sofort radikal Geschäftsinteressen untergeordnet wird. Letzteres macht Frau Baerbock, glaub ich, sehr gut und auch sehr authentisch.

    • Stefan Sasse 26. Oktober 2022, 20:48

      Ich setze das doch gar nicht gleich? Ich sage doch im Artikel, dass Baerbock das tut.

      Bushs Außenpolitik war hochgradig wertegeleitet. Dass du und ich diese Werte nicht teilen, ändert daran wenig.

      Ich halte auch nichts von der Gleichsetzung von wertegeleitet/feministisch und pazifistisch. Das hat keinerlei kausale Verbindung.

      Zustimmung zum letzten Absatz, so verstehe ich das aber auch. Und wenn man auf die Regierungspraxis schaut Baerbock auch.

      • Ralf 26. Oktober 2022, 21:35

        Was ‘wertegeleitete’ Außenpolitik im Grundsätzlichen und Bushs Außenpolitik im Besonderen angeht, sollten wir nicht den Fehler machen jede Propaganda-Ausrede, die zum Rechtfertigen von Verbrechen eingesetzt wird, zum ‘Wert’ zu verklären. Ansonsten müsste man auch dem Imperialismus der Briten und Franzosen den Status ‘wertegeleitet’ verleihen, denn die haben Afrika ja auch erobert, um den Wilden das Christentum und die Zivilisation zu bringen. Ganz ähnlich argumentierten auch die ‘wertegeleiteten’ Sklavenhalter in den amerikanischen Südstaaten.

        Einen ‘Wert’ erkennt man gewöhnlich daran, dass man persönlich bereit ist dafür Opfer zu bringen. Die Demonstranten im Iran, in Russland, in Hongkong, die für ihre Freiheit ihr Leben riskieren. Die wenigen aufrechten Republikaner, die sich in den USA Trump und seiner Machtergreifung entgegengestellt haben und dafür mit ihrer Karriere bezahlt haben. Aktivisten und Ehrenamtliche, die ihre Freizeit aufwenden, um für ein Ziel zu kämpfen. Ein Fußballer, der entgegen seiner wirtschaftlichen Interessen die WM in Katar boykottiert und damit seinen Lebenstraum vom Tournier zur Ruhe legt. Da findet man ‘Werte’.

        Bei Bush findet man nichts dergleichen. Wirtschaftlich stehen die Neocons für nichts als einen profanen, von der Ölindustrie angetriebenen Raubzug. Und politisch ging es nie um etwas anderes als die strategische Position der USA als einzige Supermacht und damit den “American Exceptionalism” zu zementieren. Dominanz, Machtgier und der Wille zum Diebstahl sind aber keine ‘Werte’. Und Bush und seine Clique waren auch nicht bereit irgendwelche Opfer für ihre Ideen zu bringen. Stattdessen haben sie andere geopfert -> unter anderem ihre eigenen Soldaten.

        • Stefan Sasse 26. Oktober 2022, 22:01

          Nein, diese Argumente kamen beim Empire erst ganz spät, in der Hochphase des Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts. Auch die Sklavenhalter*innen kamen da erst drauf, als sie herausgefordert wurden von – wertebasierter Politik.

          • Ralf 26. Oktober 2022, 22:05

            Das Argument Christus und Zivilisation zu bringen, hatten bereits die spanischen Konquistadoren – lange vor dem britischen Empire. Und schon die Römer eroberten mit dem Argument die Barbaren zu zivilisieren.

            • Lemmy Caution 27. Oktober 2022, 07:46

              Gehe da auf jeden Fall mit.
              Imperien entstehen aus einer Mischung aus der Verbreitung von Werten, Sicherheitspolitik gegen unmittelbare Nachbarn und ökonomischen Interessen. In der spanischen Eroberung Amerikas wirkten die ökonomischen Interessen erstmal als Motivation der unmittelbaren Akteure (z.B. Hernán Cortés), um sie in eine übergeordnete Politik der Krone (Verbreitung des Christentums und Machtzuwachs) einzubinden.
              Aus englischer Perspektive wurde in der Chesapeake Bay u.a. auch dem universalistischem Anspruch des papistisch katholischen Spaniens getrotzt.
              Die Kronen übergaben unmittelbare Risiken und ökonomischer Nutzen in den Anfängen gerne Privaten
              – Capitulaciones -> Verträge der Spanischen Krone mit Konquistadoren
              – Kaperei -> https://de.wikipedia.org/wiki/Kaperei
              – Ostindische Kompanien in England und den Niederlanden

              In der Konsolidisierung drängten dann die Staaten die privatwirtschaftlichen Akteure zurück.

  • R.A. 26. Oktober 2022, 17:11

    Ich will mal einen allgemeineren Ansatz wählen: Wie stark die Werte die Außenpolitik von Staaten bestimmen, hängt von der allgemeinen Situation ab.

    Zur Zeit der Religionskriege war die Politik der Staaten in Europa extrem „wertebasiert“. Auch da spielten die Interessen natürlich noch eine Rolle, aber manche Länder haben ihre eigenen Interessen schwer beschädigt um ihre „Werte“ durchdrücken zu können (z. B. die Vertreibung der Hugenotten in Frankreich).

    Als die Religionsfragen im wesentlichen durch einen Konsens mit auf Kompromiß basierenden Spielregeln geklärt waren, gab es fast überhaupt keine „Wertebasierung“ mehr. Die Staaten haben im Zeitalter der Kabinettskriege fast nur noch ihre Interessen verfolgt – weil es im Prinzip keine wesentlichen Unterschiede mehr zwischen den Werten gab.

    Dann die Revolutionskriege – die waren wieder sehr „wertebasiert“. Während im (überwiegend friedlichen) 19. Jahrhundert wieder grundsätzlich alle wesentlichen Staaten eine ähnliche Wertebasis vertraten und es außenpolitisch im wesentlichen um Interessen und Interessenausgleich ging.

    Ganz extremer Peak wieder im kalten Krieg, wo die Werte „demokratisch“ vs. „kommunistisch“ ganz wesentlich die Außenpolitik dominierten. Und hier auch ganz typisch die Rolle von Drittstaaten, die den beiden Wertesystemen nicht entsprachen. Da wurde trotz „Wertebasierung“ trotzdem die Zusammenarbeit gesucht (z. B. NATO-Mitgliedschaft Portugals) – Hauptsache das Land ging nicht zur Gegenseite über.

    Mit dem „Ende der Geschichte“ war die „Wertebasierung“ dann wieder Geschichte. Alle wesentlichen Staaten vertraten (zumindestens offiziell) eine ähnliche Wertebasis und man versuchte eine Außenpolitik basierend auf Interessenausgleich.

    Es waren die Neocons, die vor allem wegen des aufkommenden (wertebasierten) Islamismus wieder wegkommen wollten von der reinen Interessenpolitik. Und die Grünen kopieren das nun, aber weil die Neocons natürlich pöse sind können sie sich nicht auf diese berufen sondern müssen so tun, als hätten sie „Wertebasierung“ ganz frisch erfunden. Was man der Journaille im außenpolitisch traditionell ungebildeten Deutschland auch gut verkaufen kann.

    • Stefan Sasse 26. Oktober 2022, 20:49

      Ja, da geh ich mit.

    • Erwin Gabriel 28. Oktober 2022, 13:07

      @ R.A. 26. Oktober 2022, 17:11

      Gute Erläuterung, stimme zu.

  • Lemmy Caution 26. Oktober 2022, 21:00

    Wir sehen ja gerade, dass das Internationale System ziemlich anarchisch ist. Die Russen machen gerade Außenpolitik auf der Basis von einer imperialistischen Weltsicht. Da bin ich ganz bei Timothy Snyder.
    Macht durchaus Sinn, dass wir uns für globale Interessen wie Schutz gegen den Klimawandel einsetzen und uns dafür unsere Verbündeten suchen. Wegen mir auch für Frauenrechte. Die sind im Durchschnitt ab 30 vernünftiger als Männer.
    Nur sind dem halt realistische Grenzen gesetzt. Aktive Einmischung erzeugt immer Anti-Körper. Im Falle eines ernsthaften Konflikts mit China werde ich mit meinen sämtlichen Ersparnissen sofort Gold kaufen. Unsere Wirtschaft ist mit denen einfach zu eng verwoben.
    Eine gewisse Hinwendung unserer wirtschaftlichen Abhängigkeiten nach Europa und Nord-Afrika fände ich angebracht, aber das geht halt nicht so schnell. Weiter auf das chinesische Pferd zu setzen, halte ich für keine gute Idee.
    Die Politik des Westens war z.T. immer auch von unseren Werten bestimmt. Die Entstehung der Cono Sur Militärdiktaturen in den 60ern und 70ern wurde zwar von den USA teilweise gefördert, aber es gab immer auch Gegenstimmen in Regierungsverantwortung und dann auch erfolgreiche Politiken zur Eindämmung der übelsten Auswüchse. Der rassistische Teil des mindsets trat nach dem WK II langsam zumindest etwas in den Hintergrund.
    Erfolge hatte dann eine wertebasierte Außenpolitik dann in den 80ern: Zusammenbruch des Ostblocks, Ende der Apartheid in Südafrika und Re-Demokratisierung des Cono Surs. Mit Südafrika beschäftige ich mich nicht so, aber der Zustand der Demokratien in Argentinien, Brasilien und Chile nehme ich zunehmend als nicht so dolle wahr.
    Bei der Übergang von der Phase der US-amerikanischen Dominanz zu einer Welt mit mehreren Machtpolen dürfen wir auch nicht vergessen, dass die USA uns besser behandelt hat als Länder in anderen Regionen. Diskutiere zwar viel gegen übertriebenen anti-amerikanismus an, aber lest Bevins, The Jakarta Method.

  • Dennis 27. Oktober 2022, 12:09

    Zitat Stefan Sasse:
    „Die Definition dessen, was mit einer „wertebasierten Außenpolitik“ eigentlich konkret gemeint ist, fällt nicht eben leicht.“

    Okay, aber so schwer isses eigentlich auch wieder nicht^, Werte laufen eigentlich immer darauf hinaus:

    Das, woran ich glaube, sollen doch bitteschön auch die anderen da draußen glauben. Leider ist dabei Konsens schwer bis unmöglich. Am Ende des Tages steht – im Erfolgsfall – irgendwas mit wie agree to disagree.

    Wobei Glauben – anders als früher mal – hierzulande weitgehend profanisiert ist. Die Europa-Götter sind rein weltlich, wobei ein wesentlichen Problem schon aufliegt: Die Welt da draußen ist von der Profanisierung keineswegs so begeistert, wie „wir“ das gerne hätten. Die Entsorgung klassischer Religion aus politischen Zusammenhängen, das Programm „Trennung von Staat und Kirche“, promoviert durch die „Aufklärung“, gehört zum europäischen Glaubensbestand, wenngleich natürlich auch hier keineswegs gänzlich unumstritten. Das mögen die da draußen doch bitteschön auch alle so sehen und die Weisheit „Religion ist Privatsache“ gefälligst unterschreiben – und schon sind wie bei der unangenehmen Tatsache der Wertekonkurrenz.

    Zitat:
    „Die Kritik, die hier geäußert wird, ist die, dass ein „wertblindes“ Konzentrieren auf wirtschaftliche Interessen dazu führt, dass autokratische bis verbrecherische Regime gestützt werden. Dies erschwere einerseits den Systemwandel vor Ort und bringe andererseits die Bevölkerung gegen Deutschland auf.“

    Ähm…wer bestimmt eigentlich, welcher Systemwechsel hin zu welchem System der „richtige“ ist? Klar, wir sind das Modell für die Welt. Die Welt das draußen kann gar nichts anderes wollen als z.B. Feminismus. Leichtet doch sofort ein.

    Die schlechte Nachricht also : Der häßliche Bruder der „Werte“ ist der Imperialismus, der bei „guten“ Werten natürlich nicht so heißen darf.

    Putin erwartet auch Systemwechsel; nur halt eher à la Dugin. Nun ja – könnte man einwenden – es ist doch über jeden Zweifel erhaben, welche Werte die hier richtigen sind und welche die falschen. Leider stimmt das nicht; das ist keineswegs über jeden Zweifel erhaben, auch wenn das jeder Werteträger von seinem je eigenen Ding glaubt.

    Zitat-Zitat (Baerbock) :
     „Wenn wir anderen Akteuren erlauben, sich nicht an Regeln und Standards zu halten, hat die deutsche Wirtschaft einen schweren Wettbewerbsnachteil. “

    Man lasse sich den Begriff „erlauben“ auf der Zunge zergehen. Wer hat hier was zu erlauben und warum? Verschärft wird das Problem auch noch in Fällen, bei denen der Kellner glaubt, er sei der Koch.

    Zitat Baerbock:
    „Wir haben bereits auf dem europäischen Binnenmarkt erlebt, dass unsere Unternehmen benachteiligt werden, wenn andere sich nicht an europäische Regeln halten,  etwa bei staatlichen Subventionen.“

    Momentan bekommen deutsche Unternehmen im Binnenmarkt mit Doppelwummmms einen Wettbewerbsvorteil zugeschanzt. Natürlich alles nicht abgesprochen mit den „Partnern“. Ich nehme aber an, dass das irgendwie nicht giltet. Das heißt dann offiziell auch nicht Subvention, weil wir die Guten sind und alles besser wissen. Das nur als Beispiel, aber so läufts eigentlich immer.

    Der Unterschied zwischen a)Werten und b) Interessen ist eigentlich der, IMHO: b) bezeichnet die schnöde Bereicherungsabsicht, a) das kulturell-glaubensmäßige Drumrum. Was Kern und was Drumrum ist, könnte man allerdings auch andersrum formulieren. Gängig ist hierzulande aber eher die Auffassung, die Bereicherung ist das Eigentliche, die Werte lediglich Trallala und „weich“. Geklärt ist das aber mitnichten. Theoretisch kann man im Übrigen a) und b) auseinander halten, im richtigen Leben ist aber beides ineinander verzahnt und kommt nicht getrennt vor.

    Zitat Stefan Sasse:
    „Das Leitmotiv, dass wir „uns nicht abhängig machen dürfen„, zieht sich als Leitmotiv durch alle Reden Baerbocks. Das ist nicht verwunderlich.“

    Okay, sehe ich etwas kritisch. Von irgendjemanden hängt man immer ab. Zum Beispiel davon, dass unsere schönen Autos in der großen weiten Welt auch gekauft werden. Oder aktuell die Ukraine zum Beispiel. Ohne die USA wäre die Ukraine bereits erledigt.

    Zitat Stefan Sasse:
    „dass die ukrainischen Streitkräfte, die sich im Großen und Ganzen an die liberalen Werte halten (und die damit einhergehenden Institutionen von Genfer Konvention über Hager Landkriegsordnung) und sehr divers und „woke“ aufgestellt sind, den russischen überlegen sind.“

    Dürfte wohl eher ’ne Projektion sein. Die Ukraine sind die Guten (momentan), also müssen die auch irgendwie woke sein. Und was Überlegenheit angeht: Die Endabrechnung steht noch aus. Absolut richtig ist natürlich, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen die Opfer sind. Deswegen müssen die aber nicht gleich woke sein und u.a. alles Queere lieben^. Solche Projektionen führen nur zu Enttäuschungen.

    Zitat:
    „Gleichzeitig sollte man sich aber nicht der Illusion hingeben, dass das Gegenteil eine komplett wertfreie und in zweierlei Sinne realistische Außenpolitik sei .“

    Richtig. Das geht such gar nicht. Die Werte tragen wir mit uns rum und sind genauso wenig ablegbar wie er Körper und dessen materielle „Interessen“. Wenn man dabei Werte hierarchisch sortiert und dabei die Friedenssicherung ganz oben anlegt, ist das schon mal ein guter Anfang, IMHO. Hierarchisch sortieren ist nicht immer schön, zumal Friedenssicherung immer was mit Verzicht zu tun hat. Ein weites Feld jedenfalls.

    • Stefan Sasse 27. Oktober 2022, 13:05

      Ich bin da gar nicht so sicher. Wertebasiert heißt ja erstmal, ICH handle auf dieser Basis, und ich handle bevorzugt mit denen, die diese Werte teilen. Konversion ist da nicht inhärent drin .

      Niemand hat je gesagt „ich vertrete schlechte Werte“. Daher meint das natürlich immer einen Sieg der eigenen, das ist ja völlig klar.

      Ich hätte auch viel lieber eine europäische Abstimmung gesehen. Aber der Doppelwumms ist als Krisenreaktion trotzdem was anderes als das, was Baerbock anspricht. Sie meint ja eher so was wie chinesischen Staatskonzerne.

      Ich verlasse mich bezüglich der Ukraine auf das Urteil der Expert*innen, und da haben das schon mehrere festgestellt.

    • Stefan Sasse 27. Oktober 2022, 19:18
    • Lemmy Caution 27. Oktober 2022, 20:41

      Das Internationale System ist zwar anarchisch, aber gewisse gemeinsame Grundsätze erleichtern das Zusammenleben. Eigentlich haben alle UNO Mitglieder die Menschenrechtscharta unterschrieben.
      https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf
      1.) „Religion ist Privatsache“
      In der verlinkten Charta ist eine Menge von Religionsfreiheit die Rede. Auf welcher Basis erklärst Du die Vermischung von Religion und politischer Macht zu einem „europäischen Phänomen“. Die politische Macht der katholischen Kirche schwindet seit Jahren. Aufgrund einer besseren Schulbildung und der Landflucht existiert heute das Bildungsmonopol der Pfarrer in ländlichen Gegenden nicht mehr. Außerdem gibts Konkurrenz von den Evangelikalen.
      Im Iran sind die Moscheen übrigens überhaupt nicht voll. Viele Iraner sind einfach nicht sonderlich gläubig.
      Feminismus wird im iranischen Aufstand von Frauen UND Männern unterstützt. Es ist kein „europäisches“ Phänomen. Wenn Du aufhörst ignorant weiterleben zu wollen, wirst Du feststellen, dass starke, selbstbestimmte Frauen in Gegenden eine wichtige Rolle spielen, wo Du das überhaupt nicht erwartest.

      • Dennis 28. Oktober 2022, 11:42

        Zitat Lemmy Caution:
        „Auf welcher Basis erklärst Du die Vermischung von Religion und politischer Macht zu einem „europäischen Phänomen“. “

        Ich hatte das ja so formuliert:
        „Die Entsorgung klassischer Religion aus politischen Zusammenhängen, das Programm „Trennung von Staat und Kirche“, promoviert durch die „Aufklärung“, gehört zum europäischen Glaubensbestand.“

        Die Entsorgung also; die Vermischung also als ein ehemaliges sozusagen prä-aufklärerisches Phänomen, wenngleich der Übergang zu rein weltlichen politischen Agenden schwierig war und nicht unbedingt allenthalben auf einhellige Begeisterung stieß und stößt. Lange und komplizierte Geschichte. Bin meinerseits übrigens selbst eher naturalistisch unterwegs und sehe außerweltliche Götter (egal wie die heißen) kritisch.

        Zitat Lammy Caution:
        „Im Iran sind die Moscheen übrigens überhaupt nicht voll. Viele Iraner sind einfach nicht sonderlich gläubig.“

        Zustimmung, Hab zufällig Beziehungen zu einigen Iranern hier und höre das auch. Das Problem bei solchen Sachen ist häufig: Die „einfachen Leute“ namentlich in ländlichen Umgebungen sind nicht unbedingt auf dem Radar, auch bei Journalisten nicht. Kennt man eigentlich schon seit dem Vendée-Aufstand (war nicht der einzige, nur der berühmteste) als Mutter dieses Phänomens^, bei gestrengen Linken auch Konterrevolution genannt. Aber – um beim Thema zu bleiben – auch vom letzten Schah. Dessen Politik war säkularistisch, pro Frauenrechte und all so was; „woke“ wäre vielleicht übertrieben^, aber er hatte insbesondere die „einfachen Leute“ auf dem Land massiv gegen sich. Das iranische Vendée der Mullahs war bekanntlich erfolgreich und westliche Intellektuelle, die ja auch gegen den Schah waren, wenngleich IMHO nicht mit sonderlich gut durchdachten Gründen, haben komisch geguckt und verstanden die Welt nicht mehr. Letzteres sehen wir heute angesichts der diversen Putins und Putinliebhaber auf der Welt auch wieder.

        Zitat:
        „Wenn Du aufhörst ignorant weiterleben zu wollen, wirst Du feststellen, dass starke, selbstbestimmte Frauen in Gegenden eine wichtige Rolle spielen, wo Du das überhaupt nicht erwartest.“

        Doch, doch, das sehe ich schon. Zum Beispiel die neue italienische Ministerpräsidentin. Frauen sind auch im ultra-rechten Kreisen als Führerinnen längst akzeptiert. Die etwaige Idee, Frauenpower sei links, empfehle ich zu entsorgen. Die peinliche Thatcher-Epigone Truss hatte übrigens zunächst in führenden Kabinettspositionen KEINEN Alten Weißen Mann (TM) – wurde aber darob von fortschrittlichen Kreisen dennoch nicht bejubelt.

        Zum Ultra-Kurzzeit-Finanzminister Kwarteng meinte eine Labour Abgeordnete: „Superficially, he is a black man“. Interessante Theorie, derzufolge es auch oberflächliche Frauen geben könnte, falls die ideologisch falsch abbiegen.

        • Lemmy Caution 28. Oktober 2022, 14:31

          D: auch vom letzten Schah. Dessen Politik war säkularistisch, pro Frauenrechte und all so was; „woke“ wäre vielleicht übertrieben^, aber er hatte insbesondere die „einfachen Leute“ auf dem Land massiv gegen sich.
          LC: Ich habe mit keinem Wort den Schah erwähnt. Gerade die in Deutschland nicht kleine Gruppe der gut ausgebildeten Perser neigen zur Verklärung des Schahs. Ich weiss das, weil mir solche Leute schon mal im Arbeitskontext begegnen. Das geht überhaupt nicht. Das Regime Resa Pahlewis war ein widerwärtiger Folterstaat, in denen eine schmale Oberschicht die westliche Lebensart immitierte und gleichzeitig auf jedwege soziale Verantwortung sch**ss. Mit meinem Verständnis von Feminismus hat das nun echt gar nichts zu tun. Nicht alle Iraner aus „gutem Hause“ sind so, aber manche.

          D: westliche Intellektuelle, die ja auch gegen den Schah waren, wenngleich IMHO nicht mit sonderlich gut durchdachten Gründen, haben komisch geguckt und verstanden die Welt nicht mehr.

          LC: Ende der 70er liess sich die starke Linke im Iran und die liberalen Anti-Schah Kräfte genauso oder stärker von Khomeni übertölpeln als westliche Intelektuelle.

          D: Frauen sind auch im ultra-rechten Kreisen
          LC: Manches was unter Feminismus Flagge segelt ist halt bescheuert. lechts wie rinks.

          • Thorsten Haupts 28. Oktober 2022, 17:30

            Interessante Theorie, derzufolge es auch oberflächliche Frauen geben könnte, falls die ideologisch falsch abbiegen.

            Wörtliches Zitat aus dem Frauenreferat des AStA der RWTH Aachen von 1988: „Bei uns können nur Frauen mitmachen. Und was Frauen sind, bestimmen wir!“ :-).

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Lemmy Caution 28. Oktober 2022, 18:46

              Wie hoch war der Frauenanteil?

              • Thorsten Haupts 28. Oktober 2022, 19:52

                Kommt echt drauf an, was man als Frau akzeptiert …

  • Thorsten Haupts 27. Oktober 2022, 14:09

    Die Entsorgung klassischer Religion aus politischen Zusammenhängen, das Programm „Trennung von Staat und Kirche“, promoviert durch die „Aufklärung“, gehört zum europäischen Glaubensbestand …

    Eher weniger. Was zum Glaubensbestand gehört, ist die Geltung von Menschenrechten – und da stört Religion nur da, wo sie explizit zur unbestreitbaren Unterdrückung bestimmter Gruppen (praktisch immer: Frauen und Homosexuelle) benutzt wird. Der beliebte Vorurf, wir in Europa könnten mit religiös Motivierten nichts anfangen, ist reine Vernebelung dessen, worum es wirklich geht – wir wollen uns mit Menschen zweiter und dritter Klasse nicht abfinden.

    Wenn man dabei Werte hierarchisch sortiert und dabei die Friedenssicherung ganz oben anlegt …

    … macht man ganz sicher etwas falsch. So richtig friedlich sind eigentlich ausschliesslich Totengräber.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  • Tim 27. Oktober 2022, 22:30

    Ich weiß bis heute nicht, was mit „feministischer Außenpolitik“ eigentlich gemeint ist, kann mir aber eine sinnvolle strategische Deutung zusammenreimen: Alle autokratischen Regimes dieser Welt hassen und unterdrücken Frauen, man schaue sich nur die neue Führungsriege des Bauern Xi Jinping oder die Ewiggestrigen in Russland an. Menschenrechte sind heute vor allem Frauenrechte. Wenn der Westen Frauenrechte hervorhebt, setzt er auf seinen strategischen Vorteil und die unüberwindbare Schwachstelle der Gegner. Ich weiß nicht, ob Baerbock das so meinte, aber es ist strategisch auf jeden Fall sinnvoll.

    Und noch ein Off-topic:

    „(Erneuerbare sind per Definition dezentral, während fossile und nukleare Energieträger notwendig zentralisiert sind)“

    Eine populäre, aber falsche Darstellung. Vor allem Deine Wertung „per Definition“ ist angesichts der fehlenden Speichertechniken grotesk. Das Gegenteil ist richtig: Unser bisheriges Energiesystems war ja regional (grundlastfähige Kohle-/Atom-/Gas-Kraftwerke, die eine Region versorgen), während unser künftiges Energiesystems notwendigerweise stark verknüpft, also organisatorisch zentral sein wird.

    Grundsätzlich hätte die Energiewende von Anfang an europäisch, also außerordentlich zentral organisiert werden müssen.

    • Stefan Sasse 29. Oktober 2022, 11:59

      Ich würde Xi nicht klassistisch beleidigen wollen.

      Hm, good point, danke!

  • cimourdain 28. Oktober 2022, 09:41

    Was bleibt? Drei Kriege: Der Proxy-Krieg in der Ukraine sowie die Vorbereitung anderer Kriegsschauplätze; der globale Wirtschaftskrieg und der Meinungs- und Propagandakrieg.
    Bei allen dreien ist ‚Werteorientierung‘ wie diese Regierung sie versteht Teil des Problems.
    Dass der reale Krieg von Werten rein gar nichts mehr übrig lässt, zeigt sich in der geäußerten Hoffnung(!), der Krieg möge recht lange dauern. Auch das billigende IN-Kauf-Nahmen eines Atomkriegs(!) nur damit der Bösewicht nicht gewinnt, ist nur noch moralische Verwahrlosung.
    Der Wirtschaftskrieg wiederum ist derzeit eine fast ausschließlich westliche Spezialität. Dazu gehören auch Embargos, die die Grundversorgung (z.B. Medikamente) betreffen und natürlich Wirtschaftskrisen, die diese Versorgung per Teuerung zerstören. Diese Kriegsführung tötet genauso wie die mit Panzern und Bomben.
    Aber auch die indirekten Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges auf den Rest der Welt sind so schädlich, dass dieser auf einen Frieden ‚Egal wie‘ drängt:
    https://www.codepink.org/un_general_assembly_calling_for_a_negotiated_peace_in_ukraine
    Und da ist die Gedankenvergiftung durch den Propagandakrieg. Beim Versuch einer Wahrheitsfindung (z.B. hier https://apsa2022-apsa.ipostersessions.com/default.aspx?s=71-FE-40-76-49-FB-9B-C1-D5-E3-80-17-79-5A-E6-E1 ) zeigt sich zwar, dass Russland finsterste Lügen produziert, dass aber das proukrainische Narrativ auch von vielen Unehrlichkeiten und Unredlichkeiten geprägt ist.

    Warum mache ich die ‚Werteorientierung‘ für diese „Unwerte“ mitverantwortlich?
    Kern ist es, dass diese Werte gesinnungsethisch verstanden werden. Man kann auch verantwortungsethisch Außenpolitik betreiben, wie etwa das Lieferkettengesetz zeigt. In diese Richtung geht diese Regierung nicht oder hast du von Svenja Schulze dazu etwas gehört?
    Das funktioniert aber nur durch Schwarz-Weiß-Malerei. Hier die Guten, dort der Dschungel, Grautöne werden heruntergespielt, wegignoriert, dunkle Flecken übersehen.
    Das gilt insbesondere für Verbrechen der eigenen Seite ( https://www.fr.de/politik/gruene-usa-drohnenangriffe-ramstein-afghanistan-91718786.html ) , die heruntergespielt und vertuscht werden was dem Vorwurf der Heuchelei durchaus Substanz verleiht.
    Diesem Weisswaschen der eigenen Seite steht die Dämonisierung des ‚Feindes‘ gegenüber. Diese macht auch vor Rassismus nicht halt, wie die Verleihung eines ‚Friedens’preises an einen Autor beweist, dessen Sprache in anderem ethnischen Kontext als Hasspredigt bezeichnet worden wäre.
    Diese verhängnisvollen Mechanismen macht Menschen anfällig für Manipulation und Verführung. Mach dir nichts vor, die Beispiele für Kriege, die mit Propagandalügen begonnen wurden, sind vielfältig und bekannt. Es gibt die Milliardenindustrie aus Netzwerken, Think-Tanks und PR-Agenturen, die genau wissen, welche Saiten sie anschlagen müssen, damit sie ‚werteorientiert‘ die Interessen ihrer Auftraggeber vertreten.

    Zuletzt noch ein paar Worte zur feministischen Werteorientierung (Ob Feminismus einen Wert oder eine Ideologie darstellt, möchte ich hier gar nicht diskutieren.)
    Das eine ist ein beobachtbares Empathiedefizit gegenüber Männern. Es ist doch bemerkenswert, wie viele außenpolitische Falken Frauen sind. Die direkte Gewalterfahrung des Getötet-Werden, des Verstümmelt-Werden betrifft nun einmal hauptsächlich Soldaten, die in der Regel auch bei den wokesten Truppen größtenteils Männer sind. [Im übrigen möchte ich die traumatisierende Wirkung eines Tötenmüssens auf Befehl auch als Gewalt ansehen, die einer Vergewaltigung gleichkommen kann].
    Aber auch Frauen ist mit diesem Verständnis von Außenpolitik ein Bärendienst erwiesen. Notlagen bei der Grundversorgung – ob Engpass oder Teuerung – betreffen Mütter (die zwei Personen versorgen müssen) am schwersten.
    Und ob nichtbinäre Personen wirklich durch ‚wertebasiert‘ begünstigte Unruhen ein Dienst erwiesen ist, möchte ich mal in Frage stellen. Bei Gewaltausbrüchen, die in einer solchen Situation ‚eingepreist‘ sind, sind Minderheiten oft schwer betroffene Personengruppen.
    Insgesamt auch hier verantwortungsethisch gesehen ein kompletter Rückschlag.

    Fazit : Die Zeile „Sie jammern nach guten alten Werten. Ihre guten alten Werte sind fast immer die verkehrten.“ (Reinhard Mey: „Sei wachsam“) lässt sich in gleichem Maße auf die neuen ‚woken‘ Werte anwenden.

    • Ralf 28. Oktober 2022, 10:54

      Auch das billigende IN-Kauf-Nahmen eines Atomkriegs(!) nur damit der Bösewicht nicht gewinnt, ist nur noch moralische Verwahrlosung.

      Diese Aussage is sachlich falsch. Es geht nicht darum, dass “der Bösewicht nicht gewinnen darf”, sondern dass sehr wahrscheinlich davon auszugehen ist, dass sich der Bösewicht durch einen Sieg ermutigt fühlen würde den begonnenen, verbrecherischen Weg fortzusetzen. Ein Einknicken des Westens würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ausweitung Putins Eroberungsfeldzüge auf Moldawien (bereits angekündigt) und Georgien zur Folge haben. Was danach passieren würde (würde Putin Ruhe geben oder die Schwäche des Westens als Einladung interpretieren, sich auch noch das Baltikum unter den Nagel zu reißen?), ist Anybody’s Guess. Der von Dir befürchtete Atomkrieg – insbesondere die totale Eskalation – ist in diesem Szenario deutlich wahrscheinlicher. Für mich steht außer Frage, dass der Westen in dieser Auseinandersetzung keinen Millimeter vor dem Tyrannen zurückweichen darf.

      • cimourdain 28. Oktober 2022, 21:10

        ok hier ist sehr viel Spekulation , der Kern ist aber genau:
        „Der Bösewicht darf nicht gewinnen (weil er sonst weiter Böses tun wird)“
        Bezeichnend ist aber, dass auf Putins Drohungen mit Gegendrohungen geantwortet wird (Bidens Armageddon).

        Und in diesem Zusammenhang empfehle ich eine kleine Selbstbeobachtung zur Sprache: Frage dich einmal, woher du die Formulierungen „Ein Einknicken des Westens“ und „keinen Millimeter vor dem Tyrannen zurückweichen hast“ und wie viele die wortgleichen Formulierungen verwenden.

        • Ralf 28. Oktober 2022, 21:54

          Also Du wirfst mir vor, dass ich unreflektiert nachplappere, was ich in den Nachrichten höre. Argumentativ ist das etwas dünn.

          Zur Sache: Dass auf Drohungen mit Gegendrohungen reagiert wird, ist das Prinzip der Abschreckung. Dabei bitte nicht aus den Augen verlieren, dass Putin mit Erstschlag droht, während Biden auf den Gegenschlag als mögliche Reaktion hinweist. Das ist inhaltlich nicht dasselbe. Deine Gleichsetzung ist folglich unangemessen und falsch.

          Und nein. Der Kern ist nicht “der Bösewicht darf nicht gewinnen, weil er sonst weiter Böses tut”, sondern “der Bösewicht darf nicht gewinnen, weil sonst die Gefahr unerträglich groß wird, dass er uns an den Rand der nuklearen Eskalation reißt”.

          “Bösewicht” ist im übrigen ein unpassend verniedlichender Begriff für einen fanatischen Massenmörder, der Zehntausende unschuldige Menschen umgebracht hat.

        • R. A. 29. Oktober 2022, 11:15

          „Zurückweichen“ etc. sind angemessene und neutrale Formulierungen, weil Putin der Angreifer ist. Weder die NATO noch irgendein Nachbarstaat bedroht oder gar erobert russisches Gebiet. Du konstruierst wieder eine Gleichartigkeit der beiden Seiten die zur Kreml-Propaganda paßt, aber nicht zur Realität.

    • R. A. 28. Oktober 2022, 11:34

      „Proxy-Krieg“: Dieses Kreml-Narrativ ist deutlich falsch. Trotz westlicher Hilfe ist die Ukraine ein sehr eigenständiger Akteur und kein Proxy, Rußland ist auch keiner.

      „Atomkrieg“: Siehe Antwort von Ralf. Atomkrieg droht erst wirklich, wenn der Westen auf Putins Bluff reinfallen würde.

      „Wirtschaftskrieg“: Den Wirtschaftskrieg hat in erster Linie Putin gestartet und seit Jahren vorbereitet. Die westlichen Sanktionen sind gegen Putins Unterstützer und die russische Rüstungsindustrie gerichtet und wirken dort sehr gut, verhindern damit also im großen Maß weitere Opfer.
      Medikamente gehörten bisher nie zu Sanktionen – ist m.W. Auch gegen Rußland so.

      „Meinungskrieg“: Es ist völlig absurd, die beiden Seiten da gleich darzustellen. Rußland führt seit Jahren einen massiven Propagandakrieg und lügt fast durchweg. Die Ukraine versucht sich natürlich gut dazustellen – aber bisher sind mir im wesentlichen keine Unwahrheiten aufgefallen.

      • Stefan Sasse 29. Oktober 2022, 12:00

        Ich halte Proxy für Ok. Der Begriff heißt ja nicht, dass die Ukraine eine Marionette ist. Vietnam war auch eigenständiger Akteur, ebenso Afghanistan. Der Krieg wird genutzt, um BY PROXY ebenfalls mitzumischen, ohne zu eskalieren. Halte ich schon für gegeben. Ansonsten voll bei dir.

    • Thorsten Haupts 28. Oktober 2022, 17:25

      Auch das billigende IN-Kauf-Nahmen eines Atomkriegs(!) nur damit der Bösewicht nicht gewinnt, ist nur noch moralische Verwahrlosung.

      Sie sollten solche Argumente bitte mal zu Ende durchdenken! Wenn irgendeine Atommacht auf der Erde tatsächlich so verrückt oder bösartig ist, bedenkenlos Nuklearwaffen in einem Angriffskrieg oder gar gegen Freunde des Angegriffenen einzusetzen, habe ich genau betrachtet nur noch die Wahl zwischen bedingungsloser (!) Unterwerfung oder Tod. Und die Ablehnung bedingungsloser Unterwerfung als „moralische Verwahrlosung“ zu bezeichnen, ist seinerseits moralisch ziemlich fragwürdig …

      … zeigt sich zwar, dass Russland finsterste Lügen produziert, dass aber das proukrainische Narrativ auch von vielen Unehrlichkeiten und Unredlichkeiten geprägt ist.

      Wollen Sie uns veralbern? Jede/r in der Politik produziert Unehrlichkeiten und Unredlichkeiten. Aber diese mit den täglichen, dreisten, Lügen des Führers eines Angriffs- und Vernichtungskrieges gleichzusetzen, ist abenteuerlich albern. Wenn Sie immer nur die reine und absolute Wahrheit akzeptieren, ziehen Sie sich bitte in eine Einsiedelei zurück – das ist nämlich Ihre einzige Chance.

      Diesem Weisswaschen der eigenen Seite steht die Dämonisierung des ‚Feindes‘ gegenüber.

      Klar kann man Feinde dämonisieren. Nur muss man das im russischen Falle gar nicht – das erledigen jeweils massenhafte Deportationen, Kindesentführungen, Vergewaltigungen, Folter und Mord von Zivilisten sogar ohne jedes Zutun eines Propagandisten ganz von alleine.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • pannaKraweel 29. Oktober 2022, 14:15

        Exakt das. Ist mir auch nach Monaten der sich wiederholenden Diskussionen nicht begreiflich, welche Relevanz „Aber die Ukraine ist auch nicht Jesus“ / „Aber die Ukraine betreibt Nationalismus“ / „Aber die Nato“ / „Aber der Kapitalismus“ / … jetzt haben sollen.

  • Erwin Gabriel 28. Oktober 2022, 12:36

    @ Stefan Sasse

    Sehr schwierigen Thema, komplex und für mich nicht leicht zu beurteilen, da ich dazu neige, das Thema nicht frei von Emotionen zu betrachten. Das mag mein Urteil schwächen.

    Anders als bei meinen konservativen Mitstreitern hier ist mir Annalena Baerbock von der Person eher sympathisch, und ich schätze ihre Arbeit nicht so negativ ein. Das mag sehr viel mit ihrem Versager-Vorgänger Heiko Maas zu tun haben, der (gemessen an den Folgen, die er angerichtet hat) meiner Meinung nach in den Knast und nicht in den Ruhestand gehört. Ja, ich weiß – als Politiker ist er außen vor.

    Grundsätzlich stehe ich einer „wertebasierten“ Außenpolitik positiv gegenüber, aber wie R.A und andere zu Recht schreiben, hatten wir die schon vorher (Heiko Maas mal außen vor; der hatte gar nichts). Neu ist meiner Wahrnehmung nach die stärkere Fokussierung in Richtung Frauen, Mädchen und divers. Hier streiten Kopf und Herz miteinander. Auf der einen Seite finde ich (Stichwort „Emotionen“) als Vater von vier Töchtern die Unterdrückung besonders von Frauen und Mädchen grundsätzlich nicht besonders spaßig, aber spätestens bei der Einbeziehung von „divers“ bewegen wir uns schon sehr weit in den jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Umfeldern, ohne sie wirklich zu verstehen (wir haben ja nicht mal raus, wie die Gesellschaften in Polen oder Ungarn ticken, und maßen uns Urteile über Russland, die Türkei, China und andere an). Dieses Belehrende ist halt wieder typisch deutsch, typisch links und typisch grün gleichzeitig.

    Dass Deutschland „Interessen“ hat und die auch über eine besondere wertebasierte Außenpolitik vertreten kann, sehe ich wie Du. Was ich nicht sehe, ist, dass man in Deutschland den Preis bezahlen mag, der damit einher kommt („nicht abhängig machen“ bedeutet „höhere Preise“). Ich schätze, dass man einige Jahre brauchen wird, um ein funktionierendes Modell zu etablieren, mit dem wir in der Welt bestehen können, ohne uns lächerlich zu machen.

    Zusammengefasst: Mich stört enorm, dass sich die Feinheiten ihres Außenpolitik-Stils nicht ausschließlich an den (vielleicht erst zukünftigen) Bedürfnissen Deutschlands orientieren, sondern durch einen guten Schuss links-grün-ideologischer Parteipolitik geprägt sind. Und wie schon oft erwähnt, ist diese deutsche Überheblichkeit, den Rest der Welt auf den richtigen Weg führen zu wollen, in meinen Augen nur noch albern – erst Recht im Blick auf den Entwicklungsstand vieler anderer Länder, die uns in vielerlei Hinsicht überlegen sind. Aber Annalena Baerbock ist aus meiner Sicht ein riesiger Fortschritt gegenüber Heiko Maas, und ich schätze die klaren Ansagen, die zwar nicht immer super-geschickt platziert werden, aber in der Regel Standpunkte und Meinungen wiedergeben, die ich in ähnlicher Form auch habe (Russland, Türkei etc.).

    • Stefan Sasse 29. Oktober 2022, 12:01

      Da kann ich voll mitgehen. Vor allem bei „Ich schätze, dass man einige Jahre brauchen wird, um ein funktionierendes Modell zu etablieren, mit dem wir in der Welt bestehen können, ohne uns lächerlich zu machen.“ Wir müssen die AP komplett umstellen, und wir werden sehen, was rauskommt. Es wird aber fast sicher besser als das vorher sein.

  • Atir Kerroum 28. Oktober 2022, 13:37

    Deutschland ist eine merkantilistische Volkwirtschaft, die auf Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten angewiesen ist, ohne sich diesen durch Erpressung oder militärische Mittel erzwingen zu können. Wer bei dieser Sachlage die Interessen Deutschlands neu definieren will, hat entweder die Sachlage nicht verstanden oder er/sie will die Sachlage ändern, sprich das deutsche Wirtschaftsmodell abwickeln.

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