Das große Kanzlerranking, Teil 6: Helmut Schmidt


Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersuchtIn Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. Voretztes Mal war Schröder an der Reihe. Letztes Mal ging es mit Angela Merkel weiter. Heute schauen wir auf Helmut Schmidt.

Fotograf Hans Schafgans, 1977, CC BY-SA 2.0

Platz 6: Helmut Schmidt (1974-1982)

Helmut Schmidt ist einer jener Kanzler, denen es nie an der Überzeugung mangelte, für den Job geboren worden zu sein. Er übernahm den Job in einer turbulenten Situation: das innere Reformwerk der Brandt-Ära war noch nicht abgeschlossen, die Ostpolitik erwartete ihre ersten Bewährungsproben, die Wirtschaft der westlichen Welt rutschte in eine Dauerkrise (Stagflation), der Terrorismus nahm in beunruhigendem Ausmaß zu und sowohl EU als auch NATO wurden von inneren Zerwürfnissen zerrissen (Eurosklerose, Doppelbeschluss).

Das allgemeine Gefühl einer „Krise des Westens“, von dem radikale Splittergruppen profitierten, hatte die ganze westliche Welt erfüllt. Schmidt war wie gemacht für diese Zeiten: Ein Krisenmanager, der bisherige Erfolge absicherte und das Staatsschiff durch unruhige Gewässer führte (der Hamburger hätte sicher nichts gegen ein paar nautische Metaphern), ohne sich groß um das Murren der eigenen Besatzung zu kümmern. Schmidt ist der letzte unserer Kanzler, der genuin eigene Akzente setzte.

Innenpolitik

Die Regierung Schmidt setzte den Schlussstein unter die seit 1945 betriebenen Reformen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Diese Forderungen stammten nicht nur aus der Arbeiterschaft; es waren gerade die Montanbetriebe, die sie elementar mit erhoben hatten – wohl einer der Gründe, warum das Reformwerk am Ende möglich wurde. 1976 erhielten die Arbeitnehmer Plätze im Aufsichtsrat, eine Reform, deren Gewinn für die Arbeitnehmer zunehmend kritisch bewertet wird – entstammen die „Arbeitnehmervertreter“ doch häufig aus sehr hohen Positionen und sind den Interessen der Arbeitgeber viel näher als denen der breiten Belegschaft. Korruptionsskandale taten ihr Übriges, den Ruf des Modells zu schädigen. Gleichzeitig hat es sich als krisenfest erwiesen und hilft dabei, die Arbeitskämpfe auf einem niedrigen Niveau und die Legitimation von Entscheidungen hochzuhalten.

Ein aus heutiger Sicht wesentlich relevanterer und eindeutig positiv bewerteter Baustein ist die BGB-Reform von 1976. Hauptsächlich in der Brandt-Regierung ausgearbeitet, wurde das Gesetz schließlich unter Schmidt verabschiedet. Unumstritten sind heute die rechtlichen Gleichstellungen der Frau, die den Muff der Adenauer-Zeit endgültig beseitigten. So durften Frauen etwa ab 1976 eine Beschäftigung ohne Erlaubnis des Ehemanns aufnehmen, dieser konnte diese Stellungen nicht mehr kündigen, Frauen konnte eigene Konten führen und hatten ein Grundrecht auf eigenen Besitz, wo dieser vorher immer unter dem Vorbehalt des Ehemanns gestanden hatte.

Auch das Ehe- und Scheidungsrecht wurden modernisiert, indem man das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte und damit Millionen Frauen den Ausweg aus unglücklichen Ehen ermöglichte, ohne sie dem Ruin preiszugeben. Gleichzeitig blieb es in seiner Umsetzung sehr problematisch und wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder reformiert. Besonders problematisch war die Frage des Unterhalts: Grundsätzlich bezahlte der vermögendere Ehepartner (fast immer der Mann) dem weniger vermögenden Ehepartner (fast immer der Frau) genug, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, was zu dem berühmten Bonmot Gaby Hauptmanns führte, dass „die Frau, die nach der dritten Scheidung noch keinen Porsche fährt, etwas falsch gemacht“ habe.

Der Grund dafür lag sicherlich darin, dass das Gesetz ein Opfer des eigenen Erfolgs wurde: Frauen wurden selbstständiger, verfolgten eigene Karrieren und waren so nicht mehr so stark auf die Unterhaltszahlungen angewiesen, die das Gesetz ihnen zusprach; gleichzeitig war die Praxis, die Kinder nun automatisch der Frau zuzusprechen (statt wie früher dem Mann) eine Verstetigung dieses Problems, weil die Gerichte davon ausgingen, dass die Frauen vom Unterhalt und nicht von der eigenen Arbeit lebten. Dieses System sorgte für eine große Zahl alleinerziehender Mütter; dass diese Bevölkerungsgruppe bis heute mit Abstand das größte Armutsrisiko trägt, zeigt nicht nur, dass Gaby Hauptmann falsch lag, sondern dass das Scheidungsrecht auch dringend reformbedürftig war. Glücklicherweise ist dieses Problem weitgehend gelöst.

Eine innenpolitische Krise gänzlich anderer Art erwuchs der Schmidt-Regierung im linksextremistischen Terror. Was in der Brandt-Ära noch zahlreiche sektiererische, sich immer weiter radikalisierende Splittergruppen waren, verlor in der Schmidt-Ära rapide an Bedeutung – doch ein kleiner Kern bildete die größte einzelne Terrorzelle der Geschichte der BRD. Im Rückblick muss man sagen, dass die Bedeutung der RAF wohl überschätzt wurde.

Zu keinem Zeitpunkt bestand die Gefahr, dass die illusorischen Träume der Terroristen von einem Aufstand gegen das System oder dem Ausbruch des proletarischen Freiheitskampfs real werden könnten. Das war aber nicht der Punkt. Während die Polizei mit nie dagewesenen Befugnissen (große Rasterfahndung, GSG9) die Terroristen nach und aushob und kriminell unschädlich machte, sorgte die begleitende, teilweise ins Hysterische gleitende Debatte dafür, dass Linksextremismus für Generationen verbrannt wurde. Die K-Gruppen waren bis 1980 praktisch völlig verschwunden, die SPD-Linke hatte sich den klassenkämpferischen Ideen völlig abgewandt. Die Idee von Gewalt als politischem Mittel war auf der Linken völlig diskreditiert. Darin, nicht im (unvermeidlichen) polizeilichen Erfolg gegen die Terrroristen liegt der bleibende Effekt der RAF-Zeit.

Schmidt musste sich jedoch den Großteil seiner Regierungszeit als Krisenmanager betätigen, nicht nur im Deutschen Herbst. Eine wirtschaftliche Dauerkrise – die Stagflation – plagte seine gesamte Regierungszeit. Ihre Ursachen konnten von den Experten nicht ausgemacht werden; der Rückgriff auf keynesianische Rezepte brachte zwar Linderung, aber auch heute unvorstellbare Inflationsraten. Schmidt erklärte, 5% Inflation seien ihm lieber als 5% Arbeitslosigkeit. Es war Kohl, der durch die Umkehrung dieses Mottos die Stagflation beendete – und gleichzeitig eine Sockelarbeitslosigkeit in Kauf nahm, die sich bis 1998 nicht beseitigen ließ; der berühmte „Reformstau“ hatte seinen Anfang bereits in der Ära Schmidt.

Dessen Aufgabe wurde durch die zweite Ölkrise 1979 nicht eben erleichtert. Wie bereits seinem Amtsvorgänger Brandt schadeten die Bilder von leeren Autobahnen uns rasant steigenden Benzinpreisen dem Ansehen des Kanzlers; die internationalen Verwerfunden durch die Ölkrise sollten allerdings erst unter Kohl spürbar werden (vor allem in der rapiden Auflösung der DDR-Finanzen).

Außenpolitik

Auch außenpolitisch stand Schmidt für eine gewisse Kontinuität der Brandt-Politik. So fand die Ostpolitik in der KSZE-Schlussakte von 1975 ihren Abschluss. Die Etablierung der KSZE wird von Historikern mittlerweile als ein Meilenstein auf dem Weg des Ostblocks in seinen Untergang gesehen; ein starker Kontrast zu der zeitgenössischen Wahrnehmung, in der die westlichen Staatsmänner stark gescholten wurden, weil die KSZE-Schlussakte den Osten zu bevorteilen schien. Schmidt sollte hier deutlich richtiger liegen als Kohl, der ihn harsch kritisierte.

Doch Schmidt konnte auch einige eigene Aspekte setzen. Zum konservativen französischen Präsidenten d’Estaign verband ihn ein Vertrauensverhältnis, wie es seit den Tagen Adenauers zwischen dem Quai d’Orsay und der Wilhelmstraße nicht mehr bestanden hatte. Die Einigung zwischen Deutschland und Frankreich wurde zum Motor, der die Dauerkrise der EWG durchbrechen sollte. Unter anderem richtete man die so genannte Währungsschlange ein, die einen Ersatz für die amerikanische Aufkündigung des Systems von Bretton Woods darstellen sollte. Das System war letztlich eine Ersatzlösung für eine echte gemeinsame Währung, wie sie die Regierung Kohl schaffen sollte, und funktionierte nur eingeschränkt gut – es stellte allerdings einen Meilenstein auf dem Weg zur wirtschaftlichen Einheit Europas dar.

Das am engsten mit der Schmidt-Regierung verknüpfte Thema aber ist sicherlich der NATO-Doppelbeschluss. Nichts symbolisiert so deutlich die zunehmende Entfremdung Schmidts von seiner eigenen Partei. Hintergrund war die Aufstellung neuer sowjetischer Mittelstreckenraketen, für die kein NATO-Pendant bestand. Rüstungsexperten seitens der NATO – zu denen sich auch Schmidt zählen durfte – forderten von der Sowjetunion, diese Raketen rückzubauen. Das Mittel dazu war eine clevere Vertragskonstruktion, der Doppelbeschluss: Würde die UdSSR bis zum Stichtag die Raketen nicht abbauen, würde die NATO automatisch nachrüsten.

Dieses Vertragswerk wurde von der entstehenden Friedensbewegung, die zu einem elementaren Faktor bei der Etablierung der Grünen als eigenständiger Partei im Jahr 1980 wurde, und von der SPD-Parteibasis vehement abgelehnt und strapazierte das Verhältnis zwischen Kanzler und Partei bis zum Zerreißpunkt. Aus diesen Zeiten stammt das Bonmot, Schmidt sei der beliebteste Kanzler, den die CDU je hatte; seine Beliebtheitswerte waren in der Bevölkerungsgesamtheit deutlich höher als in der eigenen Partei, eine spannende Parallele zu der Spätphase von Merkels Kanzlerschaft. Die Geschichte gab Schmidt in dieser Angelegenheit mittlerweile Recht. Das Urteil über Merkel steht noch aus, und wird das auch noch für mindestens zwei bis drei Jahrzehnte tun.

Nicht gegangene Wege

In einer weiteren Parallele zu Merkels Kanzlerschaft steht die Schmidt-Kanzlerschaft auch für einige nicht genommene Wege und verpasste Gelegenheiten.

Der größte Punkt aus parteistrategischer Sicht ist sicherlich der Konflikt, den Schmidt durch seine Kanzlerschaft hindurch sowohl mit der Friedens- als auch der Umweltbewegung ausfocht. Seine unnachgiebige Haltung führte zur Etablierung der Grünen – sowie Merkels unnachgiebige Haltung die Entstehung der AfD förderte. Vielleicht hätte die Etablierung der Partei verhindert werden können, wenn Schmidt nicht die umweltpolitischen Anfänge Brandts in falsch verstandenem Wirtschaftspragmatismus beiseite geworfen hätte, oder wenn er den Doppelbeschluss nicht verfochten hätte.

Eine andere zentrale Weichenstellung war das völlige Ignorieren der Ausländethematik. Obwohl die Regierung Schmidt mit Heinz Kühn den ersten Ausländerbeauftragten einsetzte, wurde dessen Abschlussbericht von 1979 völlig ignoriert. Liest man Kühns Bericht heute, so ist frappant, wie aktuell er immer noch ist. Die Probleme der Integration und die Folgen von Nichthandeln der Regierung wurden praktisch in den gleichen Begriffen auch 2010 noch diskutiert. Erst unter Rot-Grün wurden überhaupt erste Schritte unternommen, die unter Merkel teilweise modifiziert, großteils aber fallengelassen wurden. Schmidt steht die zweifelhafte Ehre zu, das Problem als erster aktiv ignoriert zu haben, obwohl die Fakten eindeutig auf dem Tisch lagen. Was hätte erreicht werden können, wenn er sich damit beschäftigt hätte!

Ein Lieblingsthema aller Schmidt-Fans bleibt zudem die Arbeitsteilung zwischen Schmidt und Brandt. Nach seinem Rücktritt 1974 behielt Brandt nicht nur sein Bundestagsmandat, sondern auch den Vorsitz über die SPD, den er bis in 1987 ausüben sollte. Ob es Schmidt besser gelungen wäre, die SPD hinter seiner Politik zu einen, wenn er das Amt innegehabt hätte? Es ist möglich, aber die Erfahrung Merkels und Schröders lässt mich eher skeptisch zurück. Wahrscheinlicher, dass Schmidt aus dasselbe Mittel zurückgegriffen und beide Ämter getrennt hätte, als der Basisstreit zunehmend Kapazitäten in Anspruch nahm. Brandt wenigstens lose in die Kabinettsdisziplin einzubinden stabilisierte die SPD vermutlich mehr als wenn er von außen kritisiert hätte, zumindest wenn die Erfahrungen mit Oskar Lafontaine nach 1999 irgendwelche Bedeutung haben.

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  • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 10:06

    An dieser Stelle herzlichen Dank für eine hervorragende und interessante Serie. Einerseits trifft die Rangfolge von Nuancen abgesehen die weitgehend geteilte Einschätzung von Historikern, andererseits fehlt damit der Schuss Originalität. Man kann nicht alles haben.

    Die Darstellung ist so nüchtern wie die von Brandt und Merkel empathisch war. Allen SPD-Kanzlern gemein war, dass sie sich durch die innerparteilichen Konflikte weit schneller verschlissen als die Unionsvertreter. Nicht zufällig stellt die CDU gleich 3 Kanzler, die es auf 14 Jahre und mehr brachten, während Schmidt mit gerade 8 Jahren der am längsten regierende SPD-Politiker bleibt.

    Schmidt war so, wie anspruchsvolle Menschen sich einen Kanzler vorstellen: weltläufig, intellektuell brillant, mutig. Als einziger seiner Art hatte er während seiner Amtszeit tatsächlich unmittelbare Entscheidungen über Leben und Tod zu fällen, auch das bleibt und lässt sich kaum in Geschichtsbüchern niederschreiben. Es erklärt jedoch die große Verehrung, die Helmut Schmidt trotz der begrenzten wirtschaftlichen Erfolge seiner Regierung bis zu seinem Tod zuteil wurde.

    Falsch liegst Du in der Einschätzung des RAF-Terrors. Im Herbst 1977 lebte das Land, obwohl die terroristischen Attentate sich gegen Repräsentanten der Gesellschaft richteten in einer Angstsklerose. Mit der Entführung der Landshut, heute Symbol, wie der Terror gebrochen wurde, war der Terror beim gemeinen Volk angekommen. Tagelang verfolgte die Republik gebannt und geschockt den Irrflug der entführten Lufthansa-Maschine. Und bis heute sind die Taten der dritten RAF-Generation unaufgeklärt, die Morde an Alfred Herrhausen und Carsten Rohwedder konnten keinen Tätern zugeordnet werden noch standen je Angeklagte dafür vor Gericht. Und bis heute ist natürlich der tätliche Angriff auf Repräsentanten der Gesellschaft Teil des Linksextremismus.

    Das Beste, was sich über die deutsche Form der Mitbestimmung sagen lässt, ist: sie schadet meist nicht. Aber war das das Ziel? Arbeitnehmervertreter in den Leitungsorganen von Unternehmen bleiben ein Fremdkörper. Oder sie passen sich bis zur Unkenntlichkeit an. Der Betriebsrat vor Ort kommt meist nicht über die Rolle des Seelendoktors mit Globuli-Plättchen nicht hinaus. Vielleicht unterschätze ich ja den psychologischen Aspekt, aber Reformen dürfen durchaus an der Erreichung ihrer ursprünglichen Absichten gemessen werden.

    Die Unterhaltsfrage ist weiterhin nicht wirklich gelöst, kann sie wahrscheinlich auch nie. Ist es wirklich gerecht, dass eine Frau, die in ehelicher Abstimmung ihre eigene Karriere aufgegeben hat und für Kinder und Haushalt verantwortlich war, nach 25 Ehejahren irgendwann ohne Unterhaltsanspruch dasteht? Vielleicht liegt es auch daran, dass zu viele Paare geschieden werden, die niemals hätten heiraten dürfen.

    Ein Passus blieb übrigens bei der BGB-Reform unverändert. § 1300 BGB sicherte Frauen, die im Versprechen auf die Ehe ihre Jungfräulichkeit hingegeben hatten, ein sogenanntes Kranzgeld zu. Ein bisschen Chauvinismus durfte es nach 1976 noch sein. 🙂

    • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 10:29

      Die Fähigkeit der Linken, sich selbst zu zerlegen und zu spalten, ist legendär. Kein Zweifel. Ihre größte Achillesferse, schon immer gewesen.

      Ich zweifle gar nicht die große Bedeutung der RAF zum damaligen Zeitpunkt an, was die Mentalität, Sorgen und Nöte der Leute angeht. Sie hatte nur vergleichsweise wenig bleibenden Effekt. Wir werden einem ähnlichen Phänomen im nächsten Teil mit den 68ern begegnen. Die RAF war viel Hype. Was die Leute fühlen und fürchten ist real, aber wenn man es beispielsweise mit 9/11 vergleicht, bleiben die Auswirkungen des Deutschen Herbsts (zum Glück!) sehr überschaubar. In jeder Betrachtung Schmidts Kanzlerschaft müssen sie vorkommen, weil sie für Zeitgenossen bedeutsam waren, aber wenn ich die Frage stelle, wie sehr sie Deutschland geprägt haben, blieb am Ende doch deutlich weniger, als sich alle Beteiligten dachten.

      Aufsichtsräte kann ich nicht beurteilen, aber Betriebsräte sind immanent wichtig und erfüllen wertvolle Funktionen. Dass du die als ihr natürlicher Gegner weder siehst noch anerkennst, ist nachvollziehbar. Du meckerst ja auch oft genug über meine mangelnde Anerkennung der Leistungen von Abteilungsleitern und Investoren 🙂 Ich glaube, du hast zu Betriebsräten einfach keinen Bezug, die sind deiner Lebensrealität genauso fremd wie mir der Arbeitsalltag eines McKinsey-Mitarbeiters.

      Wait what? Das muss ich ja gleich mal recherchieren 😀

      EDIT:

      Die letzte dokumentierte Verurteilung zu einer Kranzgeld-Zahlung nach § 1300 BGB (hier: 1000 DM) erfolgte 1980 am Amtsgericht Korbach.[5] 1993 wies das Amtsgericht Münster eine entsprechende Klage in Höhe von 1.000 DM mit der Begründung ab,[6] § 1300 BGB verstoße wegen der gewandelten Moralvorstellungen gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG) und sei deshalb nicht mehr anzuwenden.

      Eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen.[7] Große praktische Bedeutung hatte die Vorschrift zum damaligen Zeitpunkt ohnehin nicht mehr. Sie war vorkonstitutionelles Recht mit der Folge, dass die Gerichte sie ohne weiteres als verfassungswidrig einstufen und ignorieren konnten; eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht war nicht erforderlich.

      Daher: Verfassungswidrig. Puh!

      • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 10:48

        Ich denke, Helmut Schmidt wurde vor allem wegen seiner Haltung und seinen Charaktereigenschaften geschätzt. Er war so, wie die Deutschen sich einen Anführer vorstellten, edel. Es war sicher weniger seine Politik, die war und blieb immer umstritten. Ich weiß nicht, ob ein anderer Politiker zu der Zeit das Amt hätte besser ausfüllen können, es blieb einfach nicht die Zeit für große Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen. Die Schmidt-Mützen waren ebenso legendär als Zeichen der Verehrung. Und wann gab es das, dass beim Tod eines Kanzlers Polizisten dem Sarg salutierten?
        https://www.youtube.com/watch?v=C2JsVgjxaTE

        Ich habe nicht das Problem mit dem Institut des Betriebsrates. Ich habe zwar alle denkbaren Formen in meinem Berufsleben erfahren, aber wenig nützliche. Entweder sie passen sich der Geschäftsleitung an, weil sie die Notwendigkeiten sehen oder charakterlich nicht gegen den Strich gebürstet sind. Dann haben sie meist wenig Sinn für die Beschäftigten. Oder sie stehen in klarer Opposition zum Management, dann werden sie oft mit betriebsverfassungsrechtlichen Regeln ausgehebelt. Auch so lassen sich keine Erfolge erzielen. Ich habe umfangreiche Re-Strukturierungen in Abstimmung mit dem Betriebsrat wie in klarer Opposition zu den Arbeitnehmervertretern durchgeführt. Es machte keinen Unterschied. Schlimmer: oft erhoffen sich Mitarbeiter von Betriebsräten, was diese nicht leisten können und wo ein Anwalt einfach besser ist.

        In meinem Studium hatten wir noch einen Fall zum Kranzgeldparagrafen besprochen, natürlich war so etwas amüsant, sonst hätte ich es hier nicht angeführt. In dem wurde einer Klägerin zwar Schadensersatz zugesprochen, dieser betrug aber nur 10 DM. Begründung des Richters: in diesen Zeiten wäre der Schaden nicht höher. 🙂

        • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 11:00

          NACH seiner Kanzlerschaft ja. WÄHREND seiner Kanzlerschaft sieht das Bild glaube ich anders aus.

          lol

          • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 11:16

            Nein, schon während seiner Kanzlerschaft. Ich habe niemanden kennengelernt, der in irgendeiner Form respektlos von Schmidt sprach, wie es später Helmut Kohl widerfuhr. Und die Verehrung – ich habe ein Symbol genannt – wurde damals schon gelebt und gezeigt. Das ist in mancher Darstellung heute nicht korrekt. Vielleicht ist das Bild von Schmidt später noch gewachsen, sicher sogar. Aber verehrt wurde er, wie ich das später bei keinem Kanzler erlebt habe.

            Viele FDP-Politiker wie -Mitglieder sprangen ja nicht ab, weil sie der Zusammenarbeit mit der SPD hinterhertrauerten, sondern weil auch in ihren Reihen Schmidt höchstes Ansehen genoss.

            • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 12:47

              Ich fürchte, dass deine eigenen Vorlieben dir da das Bild etwas eintrüben. Ich zweifle nicht an Schmidts Statur, aber aus dem Rückblick sieht man da gerne etwas nostalgisch, vor allem wenn ein ungeliebter Kanzler hinterherkommt. Und deine Erklärung für den FDP-Aderlass macht wenig Sinn; Schmidts Karriere war 1982 ja am Ende. Da muss schon auch ein Hinterhertrauern für das sozialliberale Projekt dahinterstecken. Die Freiburger Thesen kamen ja nicht aus dem Nichts! Die FDP-Abgänge 1969-1971 waren ja auch nicht wegen der Person Kiesingers, sondern weil sie den neuen Kurs nicht mittragen wollten. Das war 1982/83 nicht anders.

              • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 13:27

                Zum einen weiß ich ja noch sehr gut, wie ich damals gefühlt habe. Ich war 15 Jahre alt. Kning hat das ja auch noch weit besser als ich dargestellt, woher die enorme Verehrung für Schmidt resultierte.

                Die FDP-Prominenz, welche die Seiten wechselte, war in der SPD immer im wirtschaftsrechten Bereich zu finden. Die hätten auch in der FDP bleiben können, wollten aber nicht mit einer in vielem strukturkonservativen CDU (von der CSU ganz zu schweigen!) arbeiten. Die SPD hatte die sympathischeren Figuren und in Spitzenfunktionen auch sehr kompetente Leute. In Hamburg regierte man so mit von Dohnanyi – hallo? Der Mann war eine Reinkarnation von Schmidt.

                Genscher hätte nicht so den Kurswechsel vollziehen können, hätte er nicht die Mehrheit seiner Partei hinter sich gewusst. Der Seitenwechsel war kein Elitenprojekt. Ein Kurswechsel war angezeigt und der ließ sich mit einer immer mehr nach links abdriftenden SPD nicht realisieren.

                • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 13:46

                  Ich behaupte ja auch nicht, dass der Seitenwechsel ein Elitenprojekt war. Mein Thema ist ja gerade, dass die Partei sich gewandelt hat.

                  • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 14:49

                    Ohne Frage. Aber ich denke, die Zeit ist über den Platz einer sozialliberalen Partei hinweggegangen.

                    • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 17:52

                      Jein, ich denke eher, die Grünen bedienen gerade genug dieses Segments dass für eine eigene Partei kein Platz mehr ist.

              • Kirkd 6. Mai 2020, 13:54

                In den bürgerlichen Kreisen, in denen ich in den 80ern aufwuchs, war die Achtung vor Helmut Schmidt parteiübegreifend gewaltig.

                „Ich denke, Helmut Schmidt wurde vor allem wegen seiner Haltung und seinen Charaktereigenschaften geschätzt. Er war so, wie die Deutschen sich einen Anführer vorstellten, edel.“

                Stefan trifft das schon sehr gut. Die Mehrheit der Bürger will von anständigen Leuten in ansehnlicher Weise regiert werden, die konkrete Politik ist dann zweitranging.

              • Erwin Gabriel 7. Mai 2020, 21:03

                @ Stefan Sasse 6. Mai 2020, 12:47

                Ich zweifle nicht an Schmidts Statur, aber aus dem Rückblick sieht man da gerne etwas nostalgisch, vor allem wenn ein ungeliebter Kanzler hinterherkommt.

                Ich muss Stefan Pietsch dahingehend zustimmen, dass man Helmut Schmidt auch dann respektierte, wenn man ihn nicht mochte. Im Vergleich dazu wurde Helmut Kohl von Gegnern regelrecht lächerlich gemacht und verachtet.

                Die von Dir beschriebene nachträgliche Idealisierung traf eher auf Willy Brandt zu, der zwar von jungen und progressiven Menschen regelrecht geliebt wurde, aber zu Zeiten seiner Kanzlerschaft eher als führungsschwach, launisch und wehleidig galt.

                Natürlich wuchs Helmut Schmidt im Nachhinein, da man (wie von Dir beschrieben) seine weltweiten Verbindungen und seinen Intellekt mit Kohl verglich, und sich der Altkanzler weitgehend der Tagespolitik enthielt.

                • Stefan Sasse 7. Mai 2020, 22:49

                  Not a hill I’ll die on 🙂

                  Ich gönn’s ihm ja grundsätzlich.

        • Kirkd 6. Mai 2020, 13:51

          Der Richter fand das wahrscheinlich lustig, aber hilfreich sind solche Gründe nicht.

          Der Kranzgeldparagraph, der übrigens von Herta „Adolf Nazi“ Gmelin kassiert wurde, war deshalb so ungewöhnlich, weil er Frauen ursprünglich gegen eine real existierende Benachteiligung, dem mit dem Platzen einer Hochzeit verbundenen Ansehensverlust (unterschwellig und unausgeprochen „die hat mit dem ja schon geschnaxelt!“), zu kompensieren, weshalb die hier offenbar angenommene Verfassungswidrigkeit (wegen Diskriminierung von Frauen) auf der Metaebene (die Regelung unterstellt Frauen, sie wären „gebraucht“ schlechter verheiratbar) nicht zwingend ist.

          Wie Stefan sagt, die Vorschrift hatte keine Bedeutung mehr, ausser dass sie Richtern, Zivilrechtsprofessoren und Studenten Gelegenheit gab, zotige Kommentare zu machen.

          • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 14:53

            Wir reden von den Achtzigern. Das muss man einordnen. Schließlich lachen, lästern und schimpfen wir über vieles, was uns heute unverständlich erscheint, schauen Sie sich nur die Erregungen zum Scheidungsrecht 1977 an. Schon in den Achtzigern galt es als altbacken, dass ein Frau für den Verlust ihrer Jungfernschaft Schadensersatz verlangen konnte.

            Der Irrsinn ist ja, dass es auch damals noch welche versucht haben, nicht, dass es § 1300 BGB überhaupt gab.

            • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 17:53

              Naja, das BGB ist von 1900. In 120 Jahren kann sich ne Menge Altlast ansammeln ^^

      • R.A. 6. Mai 2020, 10:51

        Ich habe persönliche Erfahrung sowohl als Arbeitnehmer im Aufsichtsrat wie im Betriebsrat.

        Die „Mitbestimmung“ im Aufsichtsrat ist nutzlos bis schädlich und erfüllt keine einzige gute Funktion. Das sollte schnellstmöglich und ersatzlos abgeschafft werden. Alleine schon damit endlich mal eine effektive Kontrolle der Vorstände möglich wird.

        Betriebsräte als Personen können sehr gute Arbeit machen, als Institution gibt es da eine große Bandbreite von sehr nützlich bis sehr schädlich.
        Ich halte es für einen wesentlichen Konstruktionsfehler, daß sie die Interessen einer Seite vertreten, aber von der anderen Seite finanziert werden müssen. Das ist nicht nur krass ungerecht, sondern fördert auch die Neigung zur Selbstbedienung – und in Folge wird der Job attraktiv für Leute, die weniger für ihre Kollegen engagiert sind als für ihren eigenen persönlichen Vorteil.

        • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 11:01

          Wie sollten die sonst finanziert sein?

          • R.A. 6. Mai 2020, 12:31

            Wie alle anderen Interessenvertretungen auch finanziert sind: Durch die Leute, deren Interessen vertreten werden.

            Wenn eine Belegschaft eine solche Vertretung haben will, dann kann und sollte sie die auch selber finanzieren. Wäre nur ein Bruchteil z. B. des Gewerkschaftsbeitrags, also problemlos machbar.
            Das führt dann dazu daß die Betriebsräte auch etwas liefern müssen, was die Kosten rechtfertigt. Solange die BR-Mitglieder auf Kosten des Arbeitgebers blau machen stört das die Belegschaft bisher nicht.

            • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 12:50

              Ich glaube wir wissen beide dass BRs dann praktisch nicht existieren würden. Und wenn, dann hättest du wahnsinnig konfrontative, streitlustige Organe, die ständig „liefern“, indem sie splashige Aktionen machen. Das kannst du kaum wollen.

              • R.A. 6. Mai 2020, 20:06

                Wenn Du glaubst, daß die Belegschaften nicht bereit wären ein paar Cent für ihre Interessen auszugeben, dann scheinst Du ein ziemlich schlechtes Bild von den Betroffenen (und von der Arbeitsqualität des durchschnittlichen BR) zu haben.

                Ich bin da deutlich optimistischer. Und ich glaube daß da in erster Linie seriöse Arbeit honoriert würde, nicht Klamauk.

                • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 21:00

                  Der durchschnittliche politische Diskurs in diesem Land stimmt mich pessimistisch.

        • CitizenK 6. Mai 2020, 13:21

          Viel zu einseitig.

          Ohne Unternehmensmitbestimmung kein Arbeitsdirektor. Bevor Peter Hartz mit den – in der Umsetzung dann veränderten – Empfehlungen bekannt wurde, hat er als Arbeitsdirektor einen guten Job gemacht.

          „1993 holt ihn der damalige VW-Chef Ferdinand Piëch als Personalvorstand zum Wolfsburger Autobauer, der sich in einer schweren Krise befindet. Volkswagen produziert zu teuer, es droht die Entlassung von bis zu 30 000 Beschäftigten. Hartz erfindet die Vier-Tage-Woche, eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich – aber kein VW-Mitarbeiter landet auf der Straße. Mit dem Tarifmodell „5000 x 5000“ schafft er Langzeitarbeitslosen eine Perspektive.“

          https://www.wiwo.de/politik/deutschland/peter-hartz-der-beruehmteste-arbeitsdirektor-der-republik-wird-75/13988046.html

          Auch das Verdikt über den Betriebsrat ist nicht von Sachkenntnis geprägt: Sozialpläne bei Betriebsschließungen, Umsetzung von Sicherheitsvorschriften, Pausenzeiten- und -räume, Gesundheitsschutz usw. Stichworte Schlecker, LIDL.

          Französische Wirtschaftsvertreter wünschen sich das – statt der wilden Streiks als „Interessenvertretung“. Jedenfalls wurde bei uns noch kein Manager über den Zaun gejagt.

  • Kirkd 6. Mai 2020, 10:50

    Ich stimme Deiner Analyse weitgehend zu, insbesondere der Kritik, dass Schmidt die neuen linken Strömungen in den 70ern nicht verstand und nicht integrieren wollte. Das ist sicher der bleibende Schaden seiner Amtszeit. Umgekehrt ist er sicherlich ein Vorbild für die Frage, wie man kritische politische Entscheidungen (zB über Leben und Tod) trifft und erklärt, dass sie von allen respektiert werden und Bürger das Gefühl haben, dass die Politik ihr bestes gegeben hat.

    Ich würde Schmidt weiter oben einordnen, vor Adenauer und Merkel. Grundsolide mit Licht und Schatten. Aber historisch gesehen nicht mehr als eine Episode.

  • R.A. 6. Mai 2020, 10:53

    Im Prinzip ist Schmidt ja am Ende von seiner eigenen Partei gestürzt worden. Es gehört zu den erstaunlichsten und erfolgreichsten politischen Täuschungsmanövern dieser Republik, daß es ihm gelang die Schuld daran komplett der FDP zu geben. Was ja bis heute das gängige Narrativ ist.

    Damit hat er seiner Partei eine Zerreißprobe erspart und sie konnte über lange Jahre gute Wahlergebnisse einfahren.

    • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 11:01

      Meines Wissens nach hat die FDP die Koalition gebrochen, nicht die SPD. Weiß ich da was falsch?

      • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 11:22

        Die FDP machte das Festhalten am NATO-Doppelbeschluss zur Sollbruchstelle. Aber zweifellos war die FDP überzeugt, dass die bisherige Wirtschafts- und Finanzpolitik das Land immer mehr in eine Abwärtsspirale führte. Eine Einschätzung, die durch die Umbrüche in anderen Ländern – in UK regierte seit einigen Jahren Maggie Thatcher, in den USA hatte Ronald Reagan das Steuer übernommen – zusätzlich Nahrung erhielt, schließlich litten alle westlichen Staaten unter den gleichen Symptomen.

      • Dennis 6. Mai 2020, 11:55

        Zitat Stefan Sasse:
        „Meines Wissens nach hat die FDP die Koalition gebrochen, nicht die SPD. Weiß ich da was falsch?“

        Die Papierform ist meist was anderes als die politische Form^

        Ich glaub, dass POLITISCH R.A. schon recht hat. Man muss bedanken, dass Schmidt zuvor (im Februar, also ca. 8 Monate davor) die Vertrauensfrage gestellt hat und zwar eine echte und das wesentlich im Hinblick auf die eigene Fraktion in Anbetracht der „Raketendebatte“, aber nicht nur.

        Vertrauensfrage, also die echte, STELLEN heißt: Das Vertrauen ist wech. Das positive Ergebnis bedeutet gar nichts. Da die Abstimmung – anders als bei der Kanzlerwahl – nicht geheim ist, ist der formale Erfolg des Fahnenappells gewährleistet.

        Das berühmt-berüchtigte Lambsdorff-Papier hat Schmidt in Auftrag gegeben und Lambsdorff hat geliefert. Watt da alles so drinne stehen wird, konnte sich Schmidt schon vorher ausrechnen. Mit diesem Scheidungspapier konnte er dann rumwedeln und das war auch die Absicht.

        Das Vorgehen Schmidt rund um die eigentliche Scheidung war zweifelsohne sehr geschickt. Unter Schmidt wurde im Scheidungsrecht zwar das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt, aber bei dieser speziellen Scheidung hat er das Schulprinzip noch mal aufleben lassen und die schmutzige Wäsche erfolgreich aber unehrlich bei der FDP abgeladen.

        • CitizenK 6. Mai 2020, 12:35

          Karl-Herrmann Flach hätte da was anderes reingeschrieben. In der FDP hatten die Wirtschaftsliberalen gegenüber den Freiburgern die Oberhand gewonnen und wollten die Scheidung von der SPD.

          Warum das nicht zugeben? Um Genschmans Image zu retten?

          • R.A. 6. Mai 2020, 20:08

            „In der FDP hatten die Wirtschaftsliberalen gegenüber den Freiburgern die Oberhand gewonnen “
            Nicht zum Zeitpunkt der Wende.
            Im Prinzip hatte der sozial-liberale Flügel selbst nach der Wende noch die Mehrheit – die verlor er erst in den Monaten zwischen Kohl-Wahl und Bundestags-Neuwahl, und zwar durch Austritte.
            Die innerparteiliche Mehrheit für einen Wechsel gab es erst als auch dem größten Teil des sozial-liberalen Flügels klar geworden ist, daß Schmidt und auch die Koalition mit der FDP innerhalb der SPD keine Mehrheit mehr hatte.

            • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 21:02

              Ich werd mal schauen, dass ich zu dem Thema nachlese. Kann das gerade nicht verifizieren oder falsifizieren.

              • CitizenK 7. Mai 2020, 09:33

                Meiner Erinnerung nach war Schmidt von Genscher sehr enttäuscht, weil er dessen Taktieren als Verrat empfunden hat. Wenn also Schmidt der Weiße Ritter war (als der er hier fast unisono gesehen wird), dann kann man nicht sagen, dass er das Lambsdorff-Papier quasi bestellt habe, wie
                @ Dennis
                das darstellt.

                • Stefan Pietsch 7. Mai 2020, 10:41

                  Die Darstellung von @Dennis scheint zutreffend zu sein.

                  Kanzler Helmut Schmidt, selbst eher skeptisch gegenüber den wirtschaftspolitischen Konzepten seiner Partei eingestellt, wollte aber die innerparteilichen Differenzen überdecken und forderte seinen Wirtschaftsminister auf, seine Kritik an der SPD in einem Papier zusammenzufassen. Da Otto Graf Lambsdorff in seinem Ministerium schon seit längerem ein Konzept für eine tiefgreifende Wende in der Wirtschaftspolitik erarbeiten ließ, konnte er schon nach wenigen Tagen „liefern“; das „Lambsdorff-Papier“ war geboren.
                  https://www.freiheit.org/ruckblick-lambsdorff-papier-trendwende-der-Wirtschaftspolitik

                  Schmidt wollte möglicherweise seine Partei zu einer Änderung des bisherigen, keynesianisch geprägten und auf Steuererhöhung setzenden Kurses zwingen, in dem er Lambsdorff beauftragte, das später als „Scheide-Papier“ bezeichnete Konzept zu verfassen. Oder er sah das Ende seiner Koalition kommen und damit war nur noch die Schuldfrage zu regeln.

                  An der zweiten Variante habe ich jedoch Zweifel: In seiner Autobiographie „Außer Dienst“ macht Schmidt deutlich, dass ihn das Ende der Koalition doch überrascht habe. Eher war er von seiner Partei enttäuscht, die ihm nicht mehr folgen wollte.

                  Und anscheinend war es durchaus so, dass die FDP bereits 1977 einen deutlichen Kurswechsel in ihren wirtschaftspolitischen Ansichten vollzog. Doch damit war die Sollbruchstelle zu den Sozialdemokraten bereits gelegt. Der Bruch zog sich dann jedoch noch fünf Jahre hin.

                  • CitizenK 7. Mai 2020, 12:01

                    „Reisende soll man nicht aufhalten“ deute ich als Bedauern und Enttäuschung.

                    • Stefan Pietsch 7. Mai 2020, 12:17

                      Nein. Es ist der Höhepunkt und das Ende einer langen Entfremdung. Und anders, als von manchem SPD-Anhänger und Freunden eines wie auch immer gearteten Linksliberalismus wandelten sich die Überzeugungen in der FDP über einen weit längeren Zeitraum, während die Sozialdemokratie stehenblieb. Die Liberalen blieben ob der Bereitschaft zur Veränderung in Verantwortung, die Sozialdemokratie wurde entfernt.

                      Bei Scheidungen heißt es meist, man habe sich auseinandergelebt. Als Grund wird häufig angegeben, dass der Partner sich nicht mehr mit entwickelt habe, was zur Entfremdung führte. Mit der Zeit verfolgte man immer weniger gemeinsame Ziele.

                      Das Scheitern der sozialliberalen Koalition ist das Gegenstück dazu auf der politischen Ebene. Lange vor dem offiziellen Ende hatten sich die ehemaligen Partner nichts mehr zu sagen.

                      Historisch ist für mich dabei die eine Frage interessant, welches politische Ziel Helmut Schmidt mit seinem Auftrag an den Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff verfolgte. Der SPD-Kanzler hat sich meines Wissens nach darüber immer ausgeschwiegen.

                    • Stefan Sasse 7. Mai 2020, 17:25

                      Was ist denn eigentlich Lambsdorffs Version?

                    • Stefan Pietsch 7. Mai 2020, 17:51

                      Keine Ahnung. Aber die ist auch weniger wichtig.

                      Lambsdorff dachte klar neoliberal im Sinne der früheren Ordnungspolitik. Das hatte sich ja seit Ende der Sechzigerjahre als Leitfaden der deutschen Wirtschaftspolitik geändert. Wie zuvor schon geschrieben musste Schmidt klar sein, was rauskommt, wenn er seinen Wirtschaftsminister Vorschläge unterbreiten lässt.

                      Folglich interessiert das Motiv, das Schmidt dazu getrieben hat. Nach herrschender Meinung wollte Schmidt nicht 1982 abgelöst werden und schon gar nicht vom verachteten Kohl. Warum hat er aber die gärenden Konflikte eskalieren lassen? Das ist die Frage an den Historiker. In Schmidts Autobiographie habe ich dazu nichts gefunden, aber ich schaue heute Abend nochmal nach.

                  • Stefan Sasse 7. Mai 2020, 17:24

                    Es macht auch irgendwie wenig Sinn. 1980 haben sie noch mit vollen Bandagen gemeinsam Wahlkampf gemacht, und 1981 ist quasi schon das geplante Aus?

                    • Stefan Pietsch 7. Mai 2020, 17:46

                      Du darfst nicht vergessen, wer 1980 Kanzlerkandidat der Union war: Franz-Josef Strauß. Da hättest Du auch gleich Tom und Jerry als Koalitionspärchen vorschlagen können.

                      Die SPD wurde auf den Parteitagen zunehmend vom linken Flügel geprägt. Im Frühjahr 1982 legte die SPD auf ihrem Treffen eine eigene Version der Scheidungspapiere auf den Tisch.

        • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 12:49

          Naja, Schmidt ist wahrlich nicht der einzige Kanzler, der je die Vertrauensfrage gestellt hat. Dazu ist das Ding ja da. Und seine Partei hat ihn ja dann unterstützt, wie Schröder auch. Eher hat Schmidt hier die Partei verlassen als sie ihn.

  • Kning4711 6. Mai 2020, 12:55

    Vielen Dank für die ausführliche Darstellung. Sicherlich muss man sagen, dass Helmut Schmidt als Kanzler am besten auf sein Amt vorbereitet war: Studierter Volkswirt, Erfahrungen als Hamburger Innensenator, später Verteidigungs- und Finanzminister – dazu noch breit gebildet – für mich ist Helmut Schmidt soetwas wie der Philosophen-König unter den Kanzlern.

    In meiner persönlichen Wertung hätte ich Ihn vor Merkel gesehen. Insbesondere die außenpolitischen Initiativen rund um den NATO Doppelbeschluss haben in meinen Augen erst die Grundlagen geschaffen, die eine spätere Wiedervereinigung möglich gemacht haben:
    Zunächst hat Schmidt als erster die sicherheitspolitischen Folgen der Stationierung der sowjetischen SS-20 Raketen für die deutsche Sicherheitslage erkannt. Als gleichberechtigter Partner gelang es ihm (als Vertreter der einzigen Nicht-Atommacht) mit den USA, Großbritannien und Frankreich eine gemeinsame Linie zu erarbeiten, die in dem Doppelbeschluss mündete. Gleichsam hat er an dem Beschluss festgehalten, wohl wissend, dass es Ihn die Macht kosten musste. Damit hat er immens auch für Vertrauen der Westalliierten gesorgt, ein Vertauen, dass Helmut Kohl später einlösen konnte.
    Der Doppelbeschluss führte der Sowjetunion klar vor Augen, dass der Westen Drohungen nicht klein bei geben würde und mündete in der seit 1985 unter Gorbatschow verfolgten sukzessiven Umkehr von dieser Politik (die sicherlich auch durch den Afghanistankrieg begünstigt wurde).

    So ist die Entstehung der Grünen sicherlich auch ein Teil eines ungewollten Vermächtnisses der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt. Die Alternative hätte aber sicherlich bedeutet, dass Europa heute deutlich anders ausschauen dürfte.

    Gleichsam sind auch die politischen Signale des „deutschen Herbstes“ von 1977 nicht zu unterschätzen. Der Krisenmanager Schmitt, gestützt von formidablen Justiz- und Innenministern, gelang die Abwehr der terroristischen Bedrohung und Bewahrung der Staatsräson bei gleichzeitiger Bewahrung (und auch Stärkung des Rechtsstaats. Eine Unions-geführte Regierung hätte eventuell autoritärer reagiert und den Rechtsstaat nachhaltig geschwächt.

    Insofern hatte Schmidt trotzt deutlich kürzer Amtszeit Krisen zu bewältigen, in denen die Methode Merkel ins Leere gelaufen wären. Statt abwarten und abwägen, übernahm hier ein Regierungschef im besten Sinne Führung. Ich denke, dass ist auch das Geheimnis der bis heute über alle politischen Lager bestehenden hohen Verehrung des Kanzlers Schmidt. Er erreichte während der Regierungszeit nicht die Herzen der Menschen, aber immerhin ihre Köpfe und das reichte ihm als Pragmatiker.

    • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 13:36

      Ich halte die Plätze 2-4 und 5-6 für ziemlich austauschbar. Daher kein grundsätzliches Problem.

      Ich stimme dir grundsätzlich zu, wenngleich ich zu bedenken geben möchte, dass Merkel in Krisensituationen durchaus zu entschlossenen Handlungen fähig ist – auch wenn wir die vielleicht nicht mögen.

  • Erwin Gabriel 6. Mai 2020, 13:53

    @ Stefan Sasse 6. Mai 2020, 13:36

    … wenngleich ich zu bedenken geben möchte, dass Merkel in Krisensituationen durchaus zu entschlossenen Handlungen fähig ist – auch wenn wir die vielleicht nicht mögen.

    Sie lag jedesmal falsch

  • Stefan Pietsch 6. Mai 2020, 15:00

    Eins ist doch bemerkenswert: über alle Kanzler weiß jeder Kritik bis Ablehnung einzubringen, ob dies Adenauer, Brandt, Kohl, Schröder oder Merkel waren. Doch Helmut Schmidt genießt selbst in den Kommentaren, gerade von Zeitgenossen, ein so hohes Ansehen, dass es mit Ehrfurcht gut umschrieben ist. Schmidt war für die, die ihn erlebt haben, das Ideal eines Staatsmannes.

    Und er war der einzige aus der Reihe, der nach Brandt die Rolle des Elder Stateman mit Gewicht auszufüllen wusste. Kohl als auch Schröder scheiterten an dieser ehrenvollen Aufgabe.

    • Stefan Sasse 6. Mai 2020, 17:54

      Absolut richtig. Ich denke übrigens, Merkel wird es nicht mal versuchen. Ich glaube, die zieht einfach in ihre Wohnung zurück, liest irgendwelche Sachbücher und kauft sonntag morgens Brötchen.

  • Dennis 6. Mai 2020, 20:17

    Zitat Stefan Sasse:
    „Schmidt musste sich jedoch den Großteil seiner Regierungszeit als Krisenmanager betätigen“

    Ja, der entscheidende zentrale Punkt. Im Grunde fällt der Beginn seiner Kanzlerzeit mit dem fundamentalen Paradigmenwechsel Mitte 70er zusammen, der die exzeptionelle Wirtschaftswunderzeit, als man aus dem Vollen zu schöpfen pflegte und vermeintlich permanente Wohlstandsverbesserungen als Selbstverständlichkeit ansah, beendete. Öl (die Ölrechnung war damals bedeutender als heute) musste auf einmal richtig bezahlt werden, wohingegen man das traditionell eher fast geschenkt bekam. Ferner hat nach und nach die Deindustrialisierung eingesetzt. Die Schulden führten zügig zur Verbraucherpreisinflation, u.a. weil die globalistischen Billiglöhner noch wenig (das ging dann allmählich los) ausgeprägt waren und Löhnedrücken noch nicht so flott lief. Die Schuhe kamen noch aus Pirmasens, ca. 150.000 Leute haben noch Hemden, Hosen und Ähnliches in Deutschland (West) zusammengenäht, was – sozusagen ab Schmidt – alles bachab ging;

    der Wirtschafts-Schlamassel war für Schmidt zwar nicht grade nützlich, wurde aber auch nicht zum Verhängnis. Es schien: Er kann Krise. Mit was anderem musste er sich ja auch nicht beschäftigen^.

    Zitat:
    „ein starker Kontrast zu der zeitgenössischen Wahrnehmung, in der die westlichen Staatsmänner stark gescholten wurden, weil die KSZE-Schlussakte den Osten zu bevorteilen schien. Schmidt sollte hier deutlich richtiger liegen als Kohl, der ihn harsch kritisierte.“

    Das musste der Kohl ja, sozusagen kraft Amtes. Gerede aus der Opposition heraus sollte man nur sehr begrenzt ernst nehmen.

    Zitat:
    „Zum konservativen französischen Präsidenten d’Estaign verband ihn ein Vertrauensverhältnis, wie es seit den Tagen Adenauers zwischen dem Quai d’Orsay und der Wilhelmstraße nicht mehr bestanden hatte.“

    Der Adenauer saß im Palais Schumburg, Bonn. Er wäre vermutlich eher in die Wüste gegangen als in die Wilhelmstr. bzw. das war seiner Ansicht nach Wüste. Oder soll es Stresemann heißen ?

    Aber egal, Schmidt und Giscard: Klar, von großer Wichtigkeit. So watt jibt es nich mehr, heutzutage.

    Und Doppelbeschluss: Natürlich auch sehr wichtig. Wesentlich ist auch, dass Schmidt praktisch der Autor war und man die witzige Situation hatte, dass u.a. Carter von Schmidt überzeugt werden musste, was auch geschah. Vermutlich das erste Mal in der Nachkriegszeit, dass ein deutscher Bundeskanzler in Bezug auf die Amis den Taktstock in die Hand nahm.

    Zitat bezüglich Grünens:
    „Vielleicht hätte die Etablierung der Partei verhindert werden können“

    Glaub ich nitt so, denn Grünens gibt’s ja mittlerweile überall in Europa. Den traditionellen linken Parteien ist es nirgends gelungen, das grüne Ding als Abteilung eigenen Laden zu halten. Klar, die deutschen waren Vorreiter in Sachen Grün und Schmidt hat daran einen gewissen ANTEIL, des weiteren aber auch die teutsche Tradition mit Wandervogel, Romantik und so. Lange Geschichte.

    Zitat:
    „Ein Lieblingsthema aller Schmidt-Fans bleibt zudem die Arbeitsteilung zwischen Schmidt und Brandt“

    Oh ja, Arbeitsteilung ist nett gesagt; und bei den Brandt-Fans ist das Thema auch nicht unbeliebt, andersrum gesehen halt.

    War „kompliziert“. Hinzu kommt noch Wehner, der ganz gut mit Schmidt konnte, also zwei gegen einen. Der Unterhaltungswert bei Kohl/Strauß später war allerdings größer, denn das SPD-Trio war dann doch nach außen einigermaßen diszipliniert.

    Ja, Schmidt war bedeutsam und kommt bei mir also deutlich (sehr deutlich) vor Merkel, aber auf mich hört ja keiner.

    Übertreiben sollte man allerdings auch nicht, was „Ehrfurcht, Verehrung“ und so betrifft. Das wurde wesentlich in seiner Rentnerzeit geprägt. Ferner muss man sehen, dass die Außenpolitik nur bei uns Politikjunkies wichtig genommen wird, in Schmidts aktiver Zeit zählten natürlich – wie üblich – hauptsächlich die Portemonnaie-Themen und da konnte er krisenbedingt nu mal keine Feuerwerke zünden.

    Sein Wahlergebnis von 1976 spricht jedenfalls gegen überschwängliche Verehrung:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_1980

    Kohl hat die Wahl mit 48,6 % (das war nicht sehr weit weg von 1957) hauchdünn verloren mit fetten Mehrheiten in den Südländern, aus heutiger Sicht skurrile Prozentzahlen. Ein knappes Prozentpünktchen hat Kohl für die Mandatsmehrheit gefehlt. 1980 lief’s für Schmidt etwas besser, wegen Strauß, aber bei noch ausgeprägterem Nord-Süd-Gefälle.

  • Lemmy Caution 6. Mai 2020, 21:30

    In der Zeit änderte sich insbesondere auch der Zeitgeist in den Wirtschaftswissenschaften vom Keynesianismus zu Angebotsorientierter Wirtschaftspolitik. Thatcher und Reagan kamen ins Amt. Graf Lambsdorff war ab 1977 Wirtschaftsminister. Ich denke, Schmidt ging diesen Weg ein Stück mit. In Frankreich gabs mit der heute kaum noch bekannten Volksfront Regierung von Sozialisten und Kommunisten 1982-84 einen Versuch eines Kurses gegen den Zeitgeist. Das ging aber sehr schief und Mitterand steuerte 1984 auf den austeritätspolitischen Standard um.
    Die Grünen galten vielen Leuten als Phänomen der realitätsfernen Jugend der konsolidierten Wohlstandsgesellschaft. Man hatte noch nicht entdeckt, dass sich Umwelttechnologie gut exportieren lässt. Würde ich heute mit einer Zeitmaschine zu den Geburtstagsfeiern meiner Eltern in den frühen 80ern zurückkehren und versuchen den versammelten meist hart arbeitenden Angestellten und Selbstständigen zu erklären, dass in den 2010ern das Reich Lothar Späths von einem grünen Ministerpräsident regiert würde. Das wäre völlig jenseits derer Vorstellungswelt. Auch unter Gewerkschaftlern gabs starke Widerstände gegen diese „seltsamen“ Umweltideen. Ehrhard Eppler hatte ja sicher auch seine Gründe, von SPD auf evangelische Kirche umzusatteln.

  • CitizenK 7. Mai 2020, 22:21

    Ein „Macher“ wie Schmidt erteilt den Auftrag, Vorschläge für seine eigene Entmachtung zu unterbreiten? Ziemlich weltfremd.

    Aus dem Gedächtnis: Er setzte wohl auf einen Kompromiss, mit der auch seine SPD auf einen wirtschaftsnäheren Kurs hätte zwingen können. Das Papier war dann so, dass die SPD es nicht schlucken konnte. Das wussten und wollten Genscher und Lambsdorff.

    • Stefan Sasse 7. Mai 2020, 22:50

      Klingt realistischer für mich, aber letztlich bleibt das alles Hypothese, fürchte ich.

    • Dennis 8. Mai 2020, 17:06

      Zitat Citizen K
      „Ein „Macher“ wie Schmidt erteilt den Auftrag, Vorschläge für seine eigene Entmachtung zu unterbreiten? Ziemlich weltfremd.“

      Da gibt es schon seriöse Quellen. In Karlaufs Biografie „Die späten Jahre“…..

      https://www.zeit.de/angebote/buchtipp/karlauf/index

      ….heißt es:

      „Am 30. August erinnerte Schmidt den Minister * erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe, seine Vorschläge, wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln lasse doch einmal zur Papier zu bringen. Das von Lambsdorff 10 Tage später vorgelegte Konzept gilt seither als das Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition“

      weiterhin:

      „in der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung für einen taktischen Fehler. Genscher und Mischnick hatten ihn vergeblich zurückzuhalten versucht. Am 26. September standen Landtagswahlen in Hessen an und Genscher wollte mit allen Mitteln verhindern, dass es vor diesem Datum zum Bruch kam.“

      * = Lambsdorff

      • Stefan Sasse 8. Mai 2020, 17:07

        Aber das belegt ja nicht, dass Schmidt mit dem Koalitionsbruch rechnete. Sonst müsste er nicht an die Kabinettsidziplin erinnern.

        • Stefan Pietsch 8. Mai 2020, 17:20

          Ich habe bei Schmidt nachgelesen: In seinem Buch „Außer Dienst“ schweigt er sich darüber aus, überhaupt Lambsdorff den Auftrag gegeben zu haben. Im Gegenteil, er fühlte sich brüskiert, so seine Darstellung im Jahr 2008.

          Zwar erwähnt er in Nebensätzen, dass die SPD sich seinerzeit sehr stark nach links bewegt habe, was er als Versäumnis Willy Brandts sieht, der sich der Entwicklung nicht entgegen gestemmt habe. Die Schuld für das für ihn so nicht beabsichtigte Scheitern der Koalition sah er aber nach wie vor bei den Liberalen, während seine Partei bis zum Schluss loyal gewesen sei.

          Er habe Genscher als Gentleman vorab informiert, dass der die Koalition beenden werde, um bei anstehenden Neuwahlen auf Sieg und eine Spaltung der FDP zu setzen. Dem sei der Außenminister jedoch zuvorgekommen, in dem er nach dem Treffen die Minister öffentlichkeitswirksam abgezogen und sich der Union, mit der lange vorher bereits Gespräche liefen, angedient habe.

          Trotz des schwierigen Verhältnisses zu Brandt auch nach dem Ende der sozialliberalen Koalition bezeichnete er die große Ikone der Sozialdemokratie als Freund. Auch das Amt des Bundeskanzlers habe er weder gewollt noch angestrebt, er fand die Gründe für den Rücktritt fadenscheinig. So in der Art hat es ein deutscher Spielfilm später dargestellt. „Helmut, du musst es machen.“ Schmidt selbst rechnete mit einer Übergangszeit und seiner Ablösung zu den Wahlen 1976.

          • Stefan Sasse 8. Mai 2020, 19:28

            Ich weiß, dass er und Brandt sich in den 1980er Jahren mit Briefwechseln ausgesöhnt haben. Die gibt’s glaube ich auch in Buchform. Danke für die Recherche!

            • Stefan Pietsch 8. Mai 2020, 20:57

              Das habe ich für mich getan. 😉 Es gibt wohl keinen Politiker, der mich so interessiert wie Helmut Schmidt. Der Hamburger schrieb nach dem Ende seiner Kanzlerschaft einen Brief an Brandt, in dem er die Zeit aufarbeiten wollte. Doch Brandt hätte noch beleidigt reagiert.

              Anders als Du es mal dargestellt hast, hatte Schmidt schon große Ehrfurcht vor dem Amt. Er fürchtete, der Größe nicht gewachsen zu sein. Angela Merkel hatte diesen Respekt auch und ihre Fraktion regelrecht zusammengestaucht, als diese über den abgewählten Kanzler spotteten. So zumindest ist eine Anekdote überliefert.

              Ich weiß nicht, ob das auch auf Kohl und Schröder zutrifft. Der Niedersachse jedenfalls gewann in wichtigen Phasen seiner Kanzlerschaft eine Ernsthaftigkeit, die er zuvor nie gezeigt hatte.

              • Stefan Sasse 9. Mai 2020, 10:34

                Ich will nicht behaupten, Schmidt hätte keine Ehrfurcht vor dem Amt gehabt. Nur dass er recht wenig Zweifel hatte, es ausüben zu können. Womit er ja Recht hatte!

                • Stefan Pietsch 9. Mai 2020, 11:29

                  Das kam später.

                  Schmidt legt in seinem Buch dar, dass er nur ein Amt wirklich angestrebt habe und das ging noch total schief. Anders als Kohl, Schröder und auch Merkel hat er nie gedrängelt, deswegen halte ich seine Ausführungen auch für glaubwürdig. 2008 hatte er keinen Grund mehr, darüber zu heucheln.

                  Fraglos war Schmidt gerne Kanzler, nur hatte er nicht damit rechnen können, es so lange zu bleiben. Da schätzte er seine Landsleute schon richtig ein. Deutschland ist kein sozialliberales, sondern ein konservatives Land. Das zeigen die Wahlergebnisse der damaligen Zeit und die Dominanz der Union in den Ländern. Dass sich Rot-Gelb überhaupt 13 Jahre halten konnte, kam einem politischen Wunder gleich. Das Konstruktive Misstrauensvotum 1972 scheiterte nur wegen gekaufter Überläufer, 1976 fehlten wenige Stimmen zur absoluten Mehrheit der Union und 1980 beging man mit der Nominierung von Strauß gegen einen enorm populären Amtsinhaber eine Torheit sondergleichen. Das war sehr viel Glück.

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