Wann beginnt unsere Gegenwart? Das klingt vielleicht nach einer absurden Frage, aber Epochenzuschreibungen wie „Moderne“ und „Postmoderne“ werfen sie immer wieder auf. Philipp Sarasin stellt in seinem Buch „1977“ die These auf, dass – Überraschung! – das Jahr 1977 eine Art Epochenbruch darstellt, in dem eigentlich die Zeit beginnt, die wir als Gegenwart begreifen, und vor der eine Zeit lag, die wir heute eindeutig als Vergangenheit klassifizieren würden. Er beschreitet damit ähnliche Pfade wie Frank Bösch in seiner „Zeitenwende 1979“ (hier besprochen) oder Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael mit „Nach dem Boom“ (hier besprochen), indem er die 1970er Jahre als Wasserscheide identifiziert – und damit in der Geschichtswissenschaft wahrlich nicht alleine steht. Er versucht dabei vor allem, ideengeschichtliche Trends zu erfassen und damit die These zu untermauern, dass die gewählte Wasserscheide eine Basis besitzt.
In Kapitel 1, „Einleitung, Im Zwischenraum der Zeit„, identifiziert Sarasin einen apokalyptischen Grundtrend in der Popkultur, ob in Liedtexten oder Filmstoff, der auf ein verbreitetes Gefühl vom Untergang des Bestehenden hindeute. Die globalen Erschütterungen der Epoche und ihre Rezeption als Krisenzeit trügen direkt dazu bei. Die Forschung hebe diesen Bruch mehr und mehr hervor, weswegen es durchaus angebracht sei, von einer Art Revolutionszeit zu sprechen. Sarasins Buchaufbau ist dabei eher ungewöhnlich: in fünf „Nekrologen“ stellt er je kurz die Biografie einer 1977 verstorbenen Person hervor, die einen Aspekts dieses Umbruchs besonders gut verkörpere.
Kapitel 2, „Im Herbst der Revolution„, beginnt mit dem Nekrolog des Philosophen Ernst Bloch. Bloch war ein linker DDR-Dissident, der in Tübingen lehrte (was die dort unter linken Studierenden verbreiteten T-Shirts erklärt, die statt dem offiziellen Namen „Eberhard-Karls-Universität“ die Aufschrift „Ernst-Bloch-Universität“ tragen, aber das nur als Trivia eines Alumni). Bloch hatte sich an der Aufstellung einer neuen Revolutionstheorie versucht, wurde jedoch von der Realität schwer enttäuscht. Seine Hoffnung auf Revolution gab er nie auf und suchte stets nach dem „Potenzial“ einer neuen revolutionären Bewegung, die ihn nicht wie die alten – vor allem die der Sozialisten und Kommunisten – enttäuschen würde. „Revolution“ sei bei Bloch dabei schillernder Begriff, sehr offen und ständig variabel. Wichtig sei ihm vor allem der Fokus auf Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft, eine Utopie der „Menschwerdung“, die Bloch wie viele seiner Zeitgenossen auf den Sozialismus projizierte. Antworten hatte er nicht und fand sie auch bis zum Ende seines Lebens nicht; Bloch blieb ein Suchender.
Für Sarasin endete endete dieser Traum bereits 1977. Die Ideen von revolutionärem Umsturz, wie sie in Deutschland für diese Zeit vor allem in der RAF manifest wurden, platzten im „Deutschen Herbst“ 1977 wie Seifenblasen. Die Terrorwelle habe zu einer Radikalisierung beider Seiten geführt: Auf der einen Seite sieht Sarasin das Verlassen journalistischer Standards für die Unschuldsvermutung (eine Art zweiter Red Scare) und die Forderungen nach extralegaler Strafverfolgung, auf der anderen Seite das Gerede von einer drohenden „Endlösung“ und angeblichem Faschismus der BRD, das auch keinerlei Basis in der Realität hatte. Die RAF-Terroristen mit ihrer „Stadtguerilla“ unternähmen im Bloch’schen Sinne den Versuch einer Schaffung von revolutionären Bewusstsein in der Bevölkerung, eine absurde Selbstüberhöhung, zu der auch der Versuch, als „antiimpieralistische“ Kämpfer von der Genfer Konvention anerkannt zu werden, hervorragend passt.
Die RAF war dabei in die scene eingebunden, wie sich die linksradikale Szene in den zeittypischen Anglizismen nannte. Sie war Teil jener Dauerdebatte, was „links“ eigentlich genau ist. Man darf sich die scene nicht als monolithischen Block vorstellen. Sarasin arbeitet vielmehr heraus, wie sie in zahllose Subgruppen (etwa die Spontis) aufgespalten war, die extrem individualistisch waren und sich vor allem in ihrer Abgrenzung zum Bürgertum definierten und eine Gemeinsamkeit fanden. Darin sieht er auch den größten Unterschied zu den kaderförmigen K-Gruppen, die ebenfalls linksradikal, aber nicht der scene zugehörig waren. Typisch sei auch die große Verbreitung von im Selbstdruck verbreiteten Magazinen gewesen; die Parallele zu den Sozialen Medien unserer Zeit drängt sich dabei klar auf.
Die scene betrieb eine starke Solidarisierung mit den RAF-Gefangenen, ein manifester Unwillen, sich mit Staat zu solidarisieren und gegen den Terror der RAF zu stellen. Dies habe weniger einen Grund in Sympathie für die RAF als in einer Ablehnung des Staats gehabt. Sarasin sieht die Haltung der scene zu Gewalt als bestenfalls ambivalent und weist auf die häufigen „aber“-Rechtfertigungen hin, die die ostentative Ablehnung von Gewalt als politisches Mittel meist begleiteten. Die spezifische Gewalt der RAF habe zwar viele abgestoßen, aber nicht Gewalt per se, wie man etwa an den etwa zeitgleich aufkommenden AKW-Demos gut sehen könne. Gerechtfertigt sei diese durch ubiquitäre Weimar- und Nazivergleiche geworden. Sarasin macht dabei sehr deutlich, wie konfus die Argumentationen der scene war und wie verworren ihre Verweigerung einer Distanzierung von Gewalt; die heute spiegelbildliche Problematik im Umgang mit dem Rechtsextremismus drängt sich geradezu auf. Joschka Fischer stellt dabei interessanterweise ein Exemplar früher Kritik an Gewalt von links dar, die ironischerweise allerdings feministisch geprägt war. Der Deutsche Herbst habe diesen wabernden Stand der scene mit Revolution und Gewalt weitgehend beendet; sie habe sich deutlich abgesetzt und versucht, sich als „Träumer*innen“ neu zu erfinden.
Typisch für diese Epoche sei auch die hervorgehobene Rolle der Intellektuellen gewesen. In ihrer Selbstwahrnehmung wären sie links. Die ganze Idee von bürgerlichen, also am Status quo orientierten, Intellektuellen sei als Paradoxon erschienen. Die Intellektuellen seien demselben „double bind“ wie die scene unterlegen, wenngleich auf höherem geistigen Niveau. Sie dienten oft als Stichwortgeber für Gewalt, die sie selbst in ambivalenten Tönen ablehnten. Daraus habe eine „doppelbödige Kritik“ resultiert, die letztlich einen moralischen Bankrott dargestellt habe. Die RAF etwa sei mehr wegen der Untauglichkeit ihrer Methode als wegen der Ablehnung der Ziele kritisiert worden. Gleichwohl habe es kaum Solidarisierung mit der RAF gegeben; die Intellektuell wären hier deutlicher stabiler als scene gewesen. Je länger der RAF-Terror anhielt, desto mehr hätten sich linke Intellektuelle an die BRD als Staat gebunden, ihn und sich selbst neu erfunden. Der Radikalenerlass sei da Öl auf das Feuer gewesen, schien er doch die These vom autoritär lauernden Staat zu bestätigen.
Innerhalb der Linken herrschte ein großer Streit um diese Themen. Michel Foucault etwa hatte hier eine hervorgehobene Stellung, agitierte ernsthaft gegen die Auslieferung des Baader-Anwalts Klaus Croissant und verhielt sich extrem ambivalent zur RAF. Sarasin hebt hervor, wie viele Querverbindungen der deutschen scene es nach Frankreich und den Niederlanden gab. Typisch für diese Szene sei das endlose Herumphilosophieren gewesen. Mich erinnert das an ein Hauptseminar zu den 1970er Jahren, in dem unser Professor diebische Freude hatte, unser Verzweifeln über die völlig unverständlichen Texte jener Zeit zu sehen, die im eigenen Jargon ersoffen.
Zuletzt findet Sarasin den Weg zurück zum politischen Linkssein. Die 1970er Jahre waren die Zeit des aufkommenden Eurokommunismus. Nach 1968 sei der real existierende Sozialismus zu abstoßend für die meisten Linken gewesen; gleichzeitig lehnten sie aber die bürgerlich-kapitalistischen Staaten des Westens weiterhin ab. Der so entstehende „westliche Weg“ zum Sozialismus knüpfe klar an die Sozialdemokratie an und sei auch mit der Demokratie grundsätzlich konform. Dadurch stellte er ein Bedrohungsszenario für beide Seiten dar: einerseits gefährdete er die sowjetische Vorherrschaft über die Linken, während die rechten Bürgerlichen ihn als linken Aufschwung gesehen hätten, wie vor allem in Italien sichtbar geworden sei. Die westlichen kommunistischen Parteien entglitten völlig der Kontrolle Moskaus. Gleichzeitig habe eine Krise des Marxismus stattgefunden; die Ökologie sei im Westen immer mehr Thema geworden und die Individualisierung habe massiv zugenommen, was mit der sowjetischen Schwerindustriewachtsumsmaxime unvereinbar war. Gerade die Individualisierung zeigt deutliche Parallelen zu heute auf; neu ist daran nichts.
Kapitel 3, „Menschenrechte, Minderheiten und die Politik der Differenz„, beginnt mit einem Nekrolog für Fanni Lou Hamer, einer afroamerikanischen Bürgerrechtsaktivistin aus Mississippi. Sie hatte ein Leben massiver Unterdrückung erlebt und war davon auch schwer körperlich gezeichnet. Sie erlebte die schlimmsten Auswüchse von Jim Crow und habe ein bewundernswertes Durchhaltevermögen bewiesen. Gleichzeitig betrachtete sich Hamer explizit als schwarze FRAU und nahm damit die in Kapitel 4 auftauchende Identitätspolitik bereits vorweg. Mit der Idee der Menschenrechte habe sie gleichwohl gar nichts anzufangen gewusst; für sie sei Gleichberechtigung damit nicht zu erzielen gewesen.
Ganz anders sah das bekanntlich Jimmy Carter, der wohl einflussreichsten politischen Figur bei der Verbreitung der Idee der Menschenrechte, die in den 1970er Jahren ihren Duchbruch erlebten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO hatte lange keine große Rolle gespielt, doch in den 1970er Jahren wurden sie aktive Politik USA (eine Anknüpfung an die Vier Freiheiten Roosevelts; aus dem Nichts kam auch das nicht) und verschärften so den Kalten Krieg, da die Durchsetzung von Menschenrechten zwangsläufig den Interessen der UdSSR zuwidergelaufen sei. Carter verkündete nun 1977 vor der UNO, dass die Souveränität der Einzelstaaten vor den Menschenrechten zurückstehen müsse, dass aber die USA eine spezielle Rolle in ihrer Durchsetzung hätten.
Das sei ein Epochenbruch gewesen, denn das Narrativ der Genese der Menschenrechte aus der Französischen Revolution sei nicht haltbar; die entsprechende Erklärung sei bereits 1793 tot gewesen und bis 1946 politisch wie ideengeschichtlich völlig irrelevant gewesen. Das Thema habe aber seit 1973 eine zunehmende Attraktivität erfahren, vor allem durch Anti-Apartheit-Gruppen oder Solschenizyns „Archipel Gulag“. In der KSZE und der Charta 77 fänden sich dann politische Ausdrucksformen. Gänzlich anders sei die damals aufkommende Amnesty International gewesen: sie sei durch eine unpolitische Konzentration auf Individuen gekennzeichnet und interessierte sich weniger für große Umwälzungen. Stattdessen stünden einzelne Anliegen im Vordergrund. Diese allerdings seien politischen Lagerkämpfen unterworfen, die generell die Aufmerksamkeit bestimmten. Biafra etwa war das Menschenrechtsthema der CDU, Südafrika das der Linken. Der Aufschwung der Menschenrechtsidee habe einen gänzlich neuen Status geschaffen, den des „Opfers“. Dieses ist explizit nicht mehr selbst Schuld an seinem Leid, sondern passives Opfer der Umstände. Dieser massive Wandel in der Wahrnehmung sei die absolute Grundbedingung für die Menschenrechte gewesen.
Gleichzeitig fand auch in der Philosophie ein Trend zur Individualisierung statt, der seine Entsprechung in der Kultur fand. Sarasin arbeitet die Entstehung des Punk in Abgrenzung zur Gesellschaft allgemein, aber im Speziellen zu den Hippies heraus. Versuche, diese neue, „anti-gesellschaftliche“ Musikrichtung einzuschränken, blieben ohne Chance. Es war wohl ein Zeichen der Zeit, dass er gleichzeitig schnell kommerziell wurde – und damit massentauglich. Für Sarasin stellt der Punk eine „inszenierte Verworfenheit seitens jener, die eigentlich zur Mehrheit gehören“ dar, ein „Nigger-werden der Weißen“.
Zugleich erlebte der Feminismus seinen Aufwind mit der Frankfurter Kulturausstellung 1977. Statt „Emanzipation“ etablierte er sich nun als Begriff. Zeitlich passt dazu die Erstauflage der EMMA im Januar 1977. Der Feminismus jener Zeit öffnete das Tor für eine neue Weiblichkeitsdiskussion und -definition, die sich auch in scharfer Abgrenzung zur Männlichkeit befand. Teil dieses Prozesses war die Politisierung des Privaten, die vor allem der Sichtbarkeitsmachung der Frauen diente. Am deutlichsten wird dies im Sprechen über und der Enttabuisierung der Gewalt gegen Frauen, die vom Feminismus der 1970er Jahre als strukturell identifiziert wurde, ein wichtiger gedanklicher Schritt, der die Debatte über dieses Thema – und zahlreiche weitere – noch heute prägt.
Kapitel 4, „Reise zu sich selbst„, beginnt mit der Biografie von Anais Nin. Nin hatte zahlreiche Affären während ihres lebenslangen Versuchs des Auslebens von Sexualität. Ganz modern vermarktete sie ihre eigene Geschichte durch die Veröffentlichung ihrer Tagebücher und intimen Gedanken.
Diese Art der Ich-Suche sieht Sarasin als einen neuen Trend der Zeit. Anders als die linken revolutionären Ideen der vorhergehenden Jahrzehnte hätten diese Art der revolutionären Idee keinen Anspruch, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. Darin sieht Sarasin eine explizite Absage an die klassischen linken Projekte. Zwar blieben viele dieser individualisierten Sinnsuchenden in ihrer Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus grundsätzlich dem linken Milieu verhaftet; mit der klassischen sozialistischen oder sozialdemokratischen Bewegung aber gäbe es relativ wenig Überschneidungspunkte.
Große Teile dieser Suche nach Selbsterkenntnis seien auch durch Drogen unterstützt worden, vor allem durch die Einnahme der Modedroge LSD. Es bleibe allerdings durchaus unklar, wie viel davon nur Pose sei, denn gerade einige der großen Theoretiker und Avantgardisten der Drogenszene waren gegenüber der Frage, ob sie überhaupt selbst die von ihnen beschriebenen Drogentrips erlebt hätten, eher ambivalent. Ich erkenne in dieser abstrakten Theoretisierung durchaus ein Gesamtmerkmal der damaligen Intellektuellen- und Kunstszene. Seinen Ursprung habe dieser Trend der „Reise zum Ich“ noch in der Hippie-Szene, von der sich die Zeitgenoss*innen gleichwohl absetzten.
Ein weiteres Merkmal der Zeit war die massive Zunahme von Esoterik, etwa in Frietjof Capra und seinem „Der kosmische Reigen“, aus dem sich die ganze Bewegung der New-Age-Spritualität entwickelte. Die obskuren Theorien, die in den Grundlagenwerken entwickelt und vielfach rezipiert wurden, machten alles ist auch sich selbst beziehbar, ließen alles irgendwie zusammenhängen (in publikumswirksamer Form auch Star Wars und die der Konzeption der Macht, wie Obi-Wan Kenobi sie darstellte, konsumierbar). Auch eher abstruse Bewegungen wie Däniken und seine UFO-Theorien entstanden in jener Zeit. Sarasin erkennt grundsätzlich eine Verbindung von Mystik und Wissenschaft, die versuchte, beides irgendwie unter einen Hut zu bringen.
All das wurde unter der „Reise zum Ich“ auch unter eine Art Optimierungsideologie gestellt. Nicht zufällig lag das Aufkommen des Yoga als Massenphänomen in jener Epoche, wurden „fitte“ Körper zu einem Schönheitsideal. Gerade der Yogatrend passt auch gut zu Sarasins Beschreibung des Aufstiegs von fernöstlichem Kitsch, der Idee einer östlichen „ars erotica„, die bedeutungsschwanger gegen die „scientia sexualis“ des Westens gestellt wurde (Michel Foucault, natürlich). Daraus resultierte die Popularität von Hare Krishna und anderen Sekten, vor allem aber des Bhagwan, dem „Meister“ einer indische „Meditationstechnik“, die vor allem auf dem Talent zur Selbstdarstellung ihres Meisters Rajneesh beruhte und eine unsubstanziierte Blüte erlebte. In den USA indessen boomte die Psychoanalyse auf dem Rücken des Glaubens an ein „ganzheitliches Wesen“. Sarasin konstatiert hier die Entstehung eines „Psychomarkts“, der selbst vormals als gesund geltende Menschen plötzlich der Psychoanalyse unterwarf. Mir scheint das auch eine Art Überreaktion auf die vorherige Tabuisierung der Psychoanalyse darzustellen.
Generell findet Sarasin in der Zeit einen Bezug auf das Ich, der mit einem Verlust von Autoritäten in Ideologie und Religion einhergeht. Jeder sei für sich selbst verantwortlich, gesellschaftliche und politische Strukturen verloren dadurch radikal an Bedeutung. Dieser Individualismus steht für mich auch in scharfem Kontrast zur politischen Gesäßgeografie, denn Individualismus und Freiheitsdenken, eine kritische Haltung gegenüber dem Staat, wie sie bereits bei der scene in Kapitel 2 zum Ausdruck kam, wird heutzutage eher mit dem liberalen Spektrum in Verbindung gebracht, genießt aber offensichtlich eine breitere Basis.
Ebenfalls auffällig ist der Beginn der Identitätspolitik, der sich eben nicht erst in den „Woken“ der 2010er und 2020er Jahre, sondern bereits in den 1970er Jahren findet. Gruppenidentitäten werden hier, durchaus etwas kontradiktorisch, als Grundlage für das Verständnis des Selbst gesehen. Sarasin untersucht dafür etwa das Beispiel des Black Feminism: Dahinter steht die Anerkennung der rassistischen Erfahrungen und Verletzungen als Grundlage der eigenen Identität. Die black feminists fassten die klassischen Civil Rights als „weiße“ Rechte, der eine eigene Antwort gegenübergestellt werden müsse. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa habe ein solches Auflösen von alten Gewissheiten, ein Aufbrechen von Singularitäten und die Schaffung von neuen Facetten stattgefunden.
Zwei weitere Phänomene, die Sarasin in diesem Zusammenhang diskutiert, sind der weit verbreitete Indianerkitsch (die Selbstidentifikation als „Stadtindianer“ oder der ungeheure Erfolg von „Bury my heart at Wounded Knee“) sowie das Aufkommen der „Neuen Rechten“ als einer Art Gegenbewegung, die von einem gewissen Elitismus, einem zumindest aus meiner Sicht eher europäischen Nationalismus, der das „jeder gehört da hin wo er herkam“ in für die Zeit verträglichere Formen fasste, geprägt war.
In Kapitel 5, „Kulturmaschinen„, beginnt mit einem Nekrolog zu Jacques Prévert. Nach einer nationalistischen Phase um den Ersten Weltkrieg herum war Prevért eine wichtige Figur im Surrealismus, bevor er sich der Bewegung entfremdete und teils auch aus finanzieller Not im Tonfilm landete, der Ende der 1920er Jahre gerade den künstlerisch als wertvoller erachteten Stummfilm ablöste. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte er sich als Dichter einen Namen; sein Einfluss reichte bis in die Werbeindustrie, vor allem für Zigaretten. Prevért selbst hatte die „kommerziellen“ Filterzigaretten lange abgelehnt, die ein Zeichen jener Zeit waren. Für Sarasin ist sein Erleben technologischer Umbrüche wie der Durchbruch des Films und Fernsehens deswegen so bedeutsam, weil an Prevért sichtbar ist, dass die Spanne zwischen der Erfindung des Films und des Durchbruchs der Computer „nur ein Menschenleben“ währte. Gerade aber der Computer ist eng mit der Idee der Revolution der 1970er Jahre verknüpft.
Von den Großrechnern der 1940er und 1950er Jahre, die noch nicht wirklich programmierbar waren, sondern vorgefertigte Operationen mit Lochkarten ausführten, war es ein riesiger und bedeutender Schritt zu den Mikrochips, die Anfang der 1970er Jahre auf den Markt kamen. Damit ging für Sarasin auch eine ideengeschichtliche Revolution einher: weg von den raumfüllenden Maschinen für spezielle Aufgaben hin zum Mainframe, der von Geeks und Nerds für alle möglichen Dinge genutzt wurde. Hierbei entsteht eine eigene Counterculture, die die massiven technischen Innovationen durch unintendierte Nutzung (man denke an die Programmierung der ersten Videospiele) aufgriff und in völlig unvorhergesehene, aber bahnbrechende Richtungen trieb. Sarasin verweigert sich dabei den üblichen Heldengeschichten um Gates und Co und verweist auf frühere Ursprünge von Systemen und Innovationen, die auch in Europa stattfanden.
Sarasin warnt auch davor, eine zu direkte Linie zwischen der bekannten Counterculture der Westküste mit ihrem in Kapitel 4 diskutierten Hang zu Drogen, Mystik und fernöstlichem Kitsch und den Computerbastlern zu ziehen. Zwar gab es natürlich einen Steve Jobs, aber er sieht in den meisten der frühen Pioniere eher klassische Kleinunternehmer, die mit den Ideen der Counterculture eher weniger am Hut hatten. Eine klare Anknüpfung dagegen stellt für ihn die Bewerbung der aufkommenden Heimcomputer, etwa des Apple-II dar, die als „Selbstermächtigungsmaschinen“ präsentiert wurden und damit hervorragend in die Stimmung der Zeit passten.
Dazu passt, dass die Werbung die neuen Maschinen auch explizit als kindertauglich vermarktete und es damals Versuche gab, Benutzendenoberflächen zu entwickeln, die eher über eine Art Spracheingabe mit künstlicher Intelligenz funktionierten (das erklärt mir auch einen guten Teil des entsprechenden Handlungsstrangs in Staffel 1 von „Halt and Catch Fire“). Natürlich war die Technik damals nicht weit genug, aber das konnte erst ein schmerzhafter Prozess klären. Die Idee, vor allem von Adam Kay formuliert, war die einer „Simulation“ von Wirklichkeit – sie aber bleibt auch heute noch ein Desiderat. Ungleich umsetzbarer und direkt wirkungsvoller war die Vernetzung von Computern, deren Erfolgsgeschichte kaum eine weitere Beschreibung braucht.
Auch andere elektronische Medien revolutionierten in den 1970er Jahren die Popkultur. So etwa wurde elektronische Musik in den neuen Discotheken zum absoluten Schlager (etwa in Saturday Night Fever). Sarasin beschreibt hier ein kompliziertes Wechselverhältnis von verschiedenen Musikrichtungen und technischen Entwicklungen, die sich wechselseitig befruchteten, aber auch in Abgrenzung zueinander standen – und die mir mangels Kenntnissen oder Faible allerdings wenig sagt. Gleichwohl interessant ist Sarasins Verknüpfung des aufkommenden Breakdance und HipHop mit all den gesellschaftlichen Wechselwirkungen und Bedeutungsebenen mit jenen technischen Innovationen, die hier als die titelgebenden Kulturmaschinen fungieren. Eine weitere solche Kulturmaschine stellte der Videorekorder dar. Zwar war die Technologie bereits seit 1956 bekannt, erfuhr aber erst in den 1970er Jahren eine Marktreife und Verbreitung. 1977 explodierte der Sony-VCR mit dem Slogan „Watch it wherever whenever“ auf den Markt und veränderte nicht nur die Konsummöglichkeiten nachhaltig, sondern erlaubte auch eine ganz neue Rezeption von Kunst und Kultur.
Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein. Die bereits eingangs erwähnte apokalyptische Stimmung hatte ihre reale Entsprechung in der „Krise der Stadt“, einem weit geteilten Topos. Sarasin beschreibt einerseits, wie ein massiver Blackout in Brooklyn zu apokalyptischen Szenen führte, andererseits aber auch, wie der Topos von Kriminalität und urban decay ein Grundrauschen der Zeit darstellte – nicht ohne Grund! Gerade New York war zu jener Zeit mit Aufständen, Kriminalität, Müllproblem und Überschuldung ein Moloch, in dessen nostalgischer Verklärung Trump in meinen Augen immer noch gefangen ist.
Eine intellektuellere Spiegelung erlebte diese Tendenz in der gleichzeitigen Krise der Architektur: dass die Städte hässlich waren, wurde eigentlich kaum in Frage gestellt und üblicherweise unter „Postmoderne“ subsumiert. Die Architekt*innen versuchten, neue Stile zu entwickeln, die irgendwie die Erfahrungen der eigenen Zeit spiegelten und zu ihnen passten. Ich fürchte, dass sie darin entweder zu erfolgreich waren oder gar nicht; so oder so will glaube ich niemand die architektonischen Ergüsse der 1970er zurück. Gleichzeitig hatten die Menschen, wie man am gewaltigen Erfolg der Pariser Kunstausstellung in „dem Ding“ sehen konnte, eine große Faszination mit den nicht zuzuordnenden und ungewöhnlichen Formen und Entwicklungen jener Zeit.
Kapitel 6, „Im Schatten der Natur„, beginnt mit einem Nekrolog für den im Mai 1977 verstorbenen Ludwig Erhard. Sarasin beschäftigt sich kurz mit der Frage, ob er im Dritten Reich eher als aktive Stütze des Regimes oder als Widerständler gesehen werden müsse. Letztere These kann klar verworfen werden, aber er sei sicherlich auch kein hervorgehobener Exponent gewesen. Seine Stärke habe in der Marktanalyse, weniger in der Wissenschaft gelegen; besonders sympathisch macht dies seine späteren Versuche, sein wissenschaftliches Scheitern mit einer nicht nachweisbaren NS-Opposition zu belegen, allerdings für mich auch nicht gerade.
Seine Entscheidung für die Preisfreigabe 1948 und das Nutzen des Labels „Soziale Marktwirtschaft“ sind eine ambivalente Erscheinung; Erhard selbst fand das „Soziale“ eigentlich eher im ungebremsten Wettbewerb nach amerikanischem Vorbild und mochte das System, das später mit seinem Namen verbunden war, nicht besonders. Als Wirtschaftsminister wurde er immer wieder von seinen Parteifreunden gebremst, gerade auch von Adenauer, der diesbezüglich wohl mehr politischen Verstand besaß als Erhard. Seine späteren Ideen von einer „formierten Gesellschaft“ passten überhaupt nicht in die Zeit und haben auch keinen dauerhaften Wiederhall gefunden. Sarasin schließt mit der Erkenntnis, dass Erhard ausgerechnet zu einer Zeit starb, als die von ihm so bewunderte Auslese des Markts einerseits durch die neoliberale Revolution ihre Bestätigung fand, andererseits aber als „natürliche Auslese“ auf einem ganz anderen Feld durch die Zoologen popularisiert wurde.
Sarasin rückt nun Hayek in den Fokus. Dieser war wegen seiner eher rechtsradikalen politischen Ansichten bis zur Verleihung des Nobelpreises 1974 eher persona non grata (die FAZ weigerte sich etwa, eine Kolumne von ihm auch nur als Leserbrief zu drucken), wurde danach aber schnell zum Shooting Star. Er versucht, die merkwürdige Verbindung von Konservatismus (Hayeks Glaube an ein „natürliches“ Rechtssystem) mit seinem Liberalismus zu verbinden (die Begeisterung für Märkte). Diese Kombination erkläre auch seine Begeisterung für autoritäre Regime wie Chiles. Der damals populären Idee, mittels der in Kapitel 5 beschriebenen Computerrevolution endlich die vollkommene Planwirtschaft zu erreichen, erteilte Hayek daher schon allein aus ideologischen Gründen eine klare Absage. Hayek habe einen starken Staat gewollt, weil die Durchsetzung der Marktwirtschaft große staatliche Kraft erfordere, aber gleichzeitig einen, der sich auf die Kernaufgaben und die Herstellung dieser Marktwirtschaft beschränke. In dieser Art wirtschaftlichem Radikal-Individualismus passt Hayek gut zu den in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Individualisierungsprozessen.
Der Ende der 1970er Jahre wieder entflammende Kalte Krieg zeigte sich deutlich auch in der Rhetorik Reagans und vor allem der 1977 zur Tory-Vorsitzenden gewählten Margret Thatcher. Sie war eine aufmerksame Leserin Hayeks und sah „zwischen Sowjetunion und Labour keine bedeutsamen, sondern nur graduelle Unterschiede“. Die Konservativen im angelsächsischen Raum (und weniger radikal in Deutschland) entwickelten in den 1970er Jahren auch unter massiver Unterstützung von Thinktanks eine halbwegs kohärente neue Ideologie, die bald ihren Siegeszug antreten sollte. Thatcher kombinierte Hayeks Ideen mit konservativen Vorstellungen einer „healthy society„, die stark moralisierend auf der Idee der Familie und der self-reliance basierte. Anders als Hayek (und ihr berühmtes Zitat) sah sie durchaus eine Gesellschaft und Verbindungen zwischen Menschen. Eine Kuriosität ist wohl Donald Trumps erster großer Deal 1977 zu sehen, den er im Kontext der Krise New Yorks abschloss und der am Beginn eines Paradigmenwechsels in der Kommunalpolitik stand, die durch Deregulierung die Spekulant*innen des Finanzmarkts in die Städte brachte, und mit ihnen „Spieler“ wie Trump. Auch die geldpolitische Wende zum Monetarismus gehört in diesen Kontext.
Der zweite große Erzählstrang dieses Artikels ist die Soziobiologie-Debatte. Das Jahr 1977 sah „eine der wohl heftigsten wissenschaftlichen Kontroversen“ seit Darwin über die Frage, ob Edward O. Wilsons Buch „Sociobiology. The New Synthesis“ zutreffend war. Das Werk postulierte eine Art Deterministik der Gene, die heftig als Nazi-benachbart angegriffen wurde. Er postulierte die Existenz eines „Egoismus-Gens“, was natürlich gut zum neoliberalen Zeitgeist passte und gerne in den entsprechenden Kreisen rezipiert wurde (und sich dabei schnell von den Originalaussagen des Autors emanzipierte). Der durch das Dritte Reich diskreditierte Sozialdarwinismus schien Urständ zu feiern. Entsprechend hängten sich auch diverse Rassist*innen an Wilson und versuchten, seine Ideen zu instrumentalisieren. Einen Höhepunkt fand die Debatte in Richard Dawkins, der die Determinismus-Idee auf die Spitze trieb.
Dieser neue Trend nutzte dabei eine Computer-Metaphorik, um die Funktionsweise der Biologie zu erklären, was ihn anschlussfähig an andere (bereits diskutierte) Trends machte. Gleichzeitig half er auch zur Überhöhung des neuen Fitness-Trends, in dem optimierte Körper von allen Illustrierten blickten und eine Anforderung an das Individuum stellten (nicht umsonst brachen auch in diesem Jahrzehnt die Bodybuilder aus ihrer Schmuddelecke in den Mainstream und wurde Arnold Schwarzenegger zum Star). Genauso wie Schwarzeneggers Selbstoptimierung gigantische Muskelberge schuf, so tat es dasselbe etwas breitentauglicher der jogging craze. Der Individualismus eines die eigene Position verbessernden Individuums fand hier seine Entsprechung.
Den Schluss, „Eine Geschichte der Gegenwart„, beginnt Sarasin mit einer Erzählung der ersten Geburt eines Retortenbabys 1978. Die Vorstellung, künftig durch Gentechnik die Optimierung des Menschen vorantreiben zu können, bereitete seinerzeit nicht nur Habermas Probleme – und ist bis heute hochgradig umstritten. Mit Luhmann stellt Sarasin fest, dass die Moderne weder „Abschlussgedanken“ noch „Autorität“ anerkenne und eigentlich eine „Emanzipation von der Vernunft“ darstelle. Wer Debatten um Sylvesterknallerverbot, Maskengebot und Tempolimit verfolgt, wird sich der Erkenntnis kaum verwehren können, meine ich. Die Probleme der Geschichtswissenschaft, die „Moderne“ als Epoche genau einzugrenzen, stellen einen weiteren Schwerpunkt von Sarasins Abschlussbeobachtungen dar. Er schließt mit dem Gedanken, dass die Postmoderne mit ihrer Konzentration auf Identität und Freiheit überhaupt erst das Infragestellen eines vorherigen Konsens‘ ermöglichte – dass wir dafür aber auch einen Preis bezahlen.
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Die Geschichte der Gegenwart ist ein schwieriges Feld. Historiker*innen sind hier immer in besonders großer Gefahr, weil einerseits die Quellenlage oft noch lückenhaft ist und andererseits alles noch in Bewegung, auch man selbst – die eigenen biases schlagen hier besonders stark durch. Auf der anderen Seite ist es aber unendlich faszinierend, sich mit ihr zu beschäftigen, weil sie so viele Hintergründe und Wissen über eben unser eigenes Leben bietet.
Ich muss ehrlich zugeben, dass mir die Ideen- und Kulturgeschichte in dem Detailgrad, den Sarasin hier bietet, gelegentlich zu viel war. Mir fehlen da glaube ich auch die eigenen Bezüge, weil das überhaupt nicht mein Spezialgebiet ist. Sein dichter Schreibstil macht das in solchen Momenten zudem auch nicht leichter. Das ist kein Kritikpunkt; ich möchte nur deutlich machen, dass das hier kein Buch ist, das man ohne solide Grundkenntnisse oder generell einfach nebenbei weglesen kann. Wer sich aber in die Lektüre verbeißt, dem steht eine ganze Bandbreite von beflügelnden Denkansätzen zur Verfügung.
Für mich, vielleicht auch wegen meiner eigenen Prämissen, stach der Rote Faden der Individualisierung besonders hervor. Sarasin selbst betont den gar nicht so selbst, aber ich finde es sehr auffällig, wie in den 1970er Jahren ein Wandel beginnt, mit dessen Auswirkungen wir heute massiv zu kämpfen haben. Besonders sein gegen Ende schon beinahe als Fazit zitierter Luhmann (ich glaube, ich überinterpretiere Sarasin da, aber für mich hat es sich sehr so angefühlt) schlägt für mich in dieses Kontor.
Ich kann daher für diejenigen, die an der Ideen- und Kulturgeschichte interessiert sind, das Werk nur empfehlen. Die Struktur mit den Nekrologen und der thematischen Überpunkte hat sich für mich voll bewährt und macht Sinn, und die Idee von 1977 als Bruchjahr wird auch nicht überbetont, sondern ist eher eine Art Gedankenstütze: in allen Kapiteln macht Sarasin klar, dass die Wurzeln jeweils weiter reichen als 1977 und dass die Äste (um in der Metapher zu bleiben) auch weit darüber hinaus, bis in unsere Gegenwart, reichen.