Rezension: Philipp Sarasin – 1977: Eine kurze Geschichte der Gegenwart (Teil 1)

Philipp Sarasin – 1977: Eine kurze Geschichte der Gegenwart

Wann beginnt unsere Gegenwart? Das klingt vielleicht nach einer absurden Frage, aber Epochenzuschreibungen wie „Moderne“ und „Postmoderne“ werfen sie immer wieder auf. Philipp Sarasin stellt in seinem Buch „1977“ die These auf, dass – Überraschung! – das Jahr 1977 eine Art Epochenbruch darstellt, in dem eigentlich die Zeit beginnt, die wir als Gegenwart begreifen, und vor der eine Zeit lag, die wir heute eindeutig als Vergangenheit klassifizieren würden. Er beschreitet damit ähnliche Pfade wie Frank Bösch in seiner „Zeitenwende 1979“ (hier besprochen) oder Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael mit „Nach dem Boom“ (hier besprochen), indem er die 1970er Jahre als Wasserscheide identifiziert – und damit in der Geschichtswissenschaft wahrlich nicht alleine steht. Er versucht dabei vor allem, ideengeschichtliche Trends zu erfassen und damit die These zu untermauern, dass die gewählte Wasserscheide eine Basis besitzt.

In Kapitel 1, „Einleitung, Im Zwischenraum der Zeit„, identifiziert Sarasin einen apokalyptischen Grundtrend in der Popkultur, ob in Liedtexten oder Filmstoff, der auf ein verbreitetes Gefühl vom Untergang des Bestehenden hindeute. Die globalen Erschütterungen der Epoche und ihre Rezeption als Krisenzeit trügen direkt dazu bei. Die Forschung hebe diesen Bruch mehr und mehr hervor, weswegen es durchaus angebracht sei, von einer Art Revolutionszeit zu sprechen. Sarasins Buchaufbau ist dabei eher ungewöhnlich: in fünf „Nekrologen“ stellt er je kurz die Biografie einer 1977 verstorbenen Person hervor, die einen Aspekts dieses Umbruchs besonders gut verkörpere.

Kapitel 2, „Im Herbst der Revolution„, beginnt mit dem Nekrolog des Philosophen Ernst Bloch. Bloch war ein linker DDR-Dissident, der in Tübingen lehrte (was die dort unter linken Studierenden verbreiteten T-Shirts erklärt, die statt dem offiziellen Namen „Eberhard-Karls-Universität“ die Aufschrift „Ernst-Bloch-Universität“ tragen, aber das nur als Trivia eines Alumni). Bloch hatte sich an der Aufstellung einer neuen Revolutionstheorie versucht, wurde jedoch von der Realität schwer enttäuscht. Seine Hoffnung auf Revolution gab er nie auf und suchte stets nach dem „Potenzial“ einer neuen revolutionären Bewegung, die ihn nicht wie die alten – vor allem die der Sozialisten und Kommunisten – enttäuschen würde. „Revolution“ sei bei Bloch dabei schillernder Begriff, sehr offen und ständig variabel. Wichtig sei ihm vor allem der Fokus auf Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft, eine Utopie der „Menschwerdung“, die Bloch wie viele seiner Zeitgenossen auf den Sozialismus projizierte. Antworten hatte er nicht und fand sie auch bis zum Ende seines Lebens nicht; Bloch blieb ein Suchender.

Für Sarasin endete endete dieser Traum bereits 1977. Die Ideen von revolutionärem Umsturz, wie sie in Deutschland für diese Zeit vor allem in der RAF manifest wurden, platzten im „Deutschen Herbst“ 1977 wie Seifenblasen. Die Terrorwelle habe zu einer Radikalisierung beider Seiten geführt: Auf der einen Seite sieht Sarasin das Verlassen journalistischer Standards für die Unschuldsvermutung (eine Art zweiter Red Scare) und die Forderungen nach extralegaler Strafverfolgung, auf der anderen Seite das Gerede von einer drohenden „Endlösung“ und angeblichem Faschismus der BRD, das auch keinerlei Basis in der Realität hatte. Die RAF-Terroristen mit ihrer „Stadtguerilla“ unternähmen im Bloch’schen Sinne den Versuch einer Schaffung von revolutionären Bewusstsein in der Bevölkerung, eine absurde Selbstüberhöhung, zu der auch der Versuch, als „antiimpieralistische“ Kämpfer von der Genfer Konvention anerkannt zu werden, hervorragend passt.

Die RAF war dabei in die scene eingebunden, wie sich die linksradikale Szene in den zeittypischen Anglizismen nannte. Sie war Teil jener Dauerdebatte, was „links“ eigentlich genau ist. Man darf sich die scene nicht als monolithischen Block vorstellen. Sarasin arbeitet vielmehr heraus, wie sie in zahllose Subgruppen (etwa die Spontis) aufgespalten war, die extrem individualistisch waren und sich vor allem in ihrer Abgrenzung zum Bürgertum definierten und eine Gemeinsamkeit fanden. Darin sieht er auch den größten Unterschied zu den kaderförmigen K-Gruppen, die ebenfalls linksradikal, aber nicht der scene zugehörig waren. Typisch sei auch die große Verbreitung von im Selbstdruck verbreiteten Magazinen gewesen; die Parallele zu den Sozialen Medien unserer Zeit drängt sich dabei klar auf.

Die scene betrieb eine starke Solidarisierung mit den RAF-Gefangenen, ein manifester Unwillen, sich mit Staat zu solidarisieren und gegen den Terror der RAF zu stellen. Dies habe weniger einen Grund in Sympathie für die RAF als in einer Ablehnung des Staats gehabt. Sarasin sieht die Haltung der scene zu Gewalt als bestenfalls ambivalent und weist auf die häufigen „aber“-Rechtfertigungen hin, die die ostentative Ablehnung von Gewalt als politisches Mittel meist begleiteten. Die spezifische Gewalt der RAF habe zwar viele abgestoßen, aber nicht Gewalt per se, wie man etwa an den etwa zeitgleich aufkommenden AKW-Demos gut sehen könne. Gerechtfertigt sei diese durch ubiquitäre Weimar- und Nazivergleiche geworden. Sarasin macht dabei sehr deutlich, wie konfus die Argumentationen der scene war und wie verworren ihre Verweigerung einer Distanzierung von Gewalt; die heute spiegelbildliche Problematik im Umgang mit dem Rechtsextremismus drängt sich geradezu auf. Joschka Fischer stellt dabei interessanterweise ein Exemplar früher Kritik an Gewalt von links dar, die ironischerweise allerdings feministisch geprägt war. Der Deutsche Herbst habe diesen wabernden Stand der scene mit Revolution und Gewalt weitgehend beendet; sie habe sich deutlich abgesetzt und versucht, sich als „Träumer*innen“ neu zu erfinden.

Typisch für diese Epoche sei auch die hervorgehobene Rolle der Intellektuellen gewesen. In ihrer Selbstwahrnehmung wären sie links. Die ganze Idee von bürgerlichen, also am Status quo orientierten, Intellektuellen sei als Paradoxon erschienen. Die Intellektuellen seien demselben „double bind“ wie die scene unterlegen, wenngleich auf höherem geistigen Niveau. Sie dienten oft als Stichwortgeber für Gewalt, die sie selbst in ambivalenten Tönen ablehnten. Daraus habe eine „doppelbödige Kritik“ resultiert, die letztlich einen moralischen Bankrott dargestellt habe. Die RAF etwa sei mehr wegen der Untauglichkeit ihrer Methode als wegen der Ablehnung der Ziele kritisiert worden. Gleichwohl habe es kaum Solidarisierung mit der RAF gegeben; die Intellektuell wären hier deutlicher stabiler als scene gewesen. Je länger der RAF-Terror anhielt, desto mehr hätten sich linke Intellektuelle an die BRD als Staat gebunden, ihn und sich selbst neu erfunden. Der Radikalenerlass sei da Öl auf das Feuer gewesen, schien er doch die These vom autoritär lauernden Staat zu bestätigen.

Innerhalb der Linken herrschte ein großer Streit um diese Themen. Michel Foucault etwa hatte hier eine hervorgehobene Stellung, agitierte ernsthaft gegen die Auslieferung des Baader-Anwalts Klaus Croissant und verhielt sich extrem ambivalent zur RAF. Sarasin hebt hervor, wie viele Querverbindungen der deutschen scene es nach Frankreich und den Niederlanden gab. Typisch für diese Szene sei das endlose Herumphilosophieren gewesen. Mich erinnert das an ein Hauptseminar zu den 1970er Jahren, in dem unser Professor diebische Freude hatte, unser Verzweifeln über die völlig unverständlichen Texte jener Zeit zu sehen, die im eigenen Jargon ersoffen.

Zuletzt findet Sarasin den Weg zurück zum politischen Linkssein. Die 1970er Jahre waren die Zeit des aufkommenden Eurokommunismus. Nach 1968 sei der real existierende Sozialismus zu abstoßend für die meisten Linken gewesen; gleichzeitig lehnten sie aber die bürgerlich-kapitalistischen Staaten des Westens weiterhin ab. Der so entstehende „westliche Weg“ zum Sozialismus knüpfe klar an die Sozialdemokratie an und sei auch mit der Demokratie grundsätzlich konform. Dadurch stellte er ein Bedrohungsszenario für beide Seiten dar: einerseits gefährdete er die sowjetische Vorherrschaft über die Linken, während die rechten Bürgerlichen ihn als linken Aufschwung gesehen hätten, wie vor allem in Italien sichtbar geworden sei. Die westlichen kommunistischen Parteien entglitten völlig der Kontrolle Moskaus. Gleichzeitig habe eine Krise des Marxismus stattgefunden; die Ökologie sei im Westen immer mehr Thema geworden und die Individualisierung habe massiv zugenommen, was mit der sowjetischen Schwerindustriewachtsumsmaxime unvereinbar war. Gerade die Individualisierung zeigt deutliche Parallelen zu heute auf; neu ist daran nichts.

Kapitel 3, „Menschenrechte, Minderheiten und die Politik der Differenz„, beginnt mit einem Nekrolog für Fanni Lou Hamer, einer afroamerikanischen Bürgerrechtsaktivistin aus Mississippi. Sie hatte ein Leben massiver Unterdrückung erlebt und war davon auch schwer körperlich gezeichnet. Sie erlebte die schlimmsten Auswüchse von Jim Crow und habe ein bewundernswertes Durchhaltevermögen bewiesen. Gleichzeitig betrachtete sich Hamer explizit als schwarze FRAU und nahm damit die in Kapitel 4 auftauchende Identitätspolitik bereits vorweg. Mit der Idee der Menschenrechte habe sie gleichwohl gar nichts anzufangen gewusst; für sie sei Gleichberechtigung damit nicht zu erzielen gewesen.

Ganz anders sah das bekanntlich Jimmy Carter, der wohl einflussreichsten politischen Figur bei der Verbreitung der Idee der Menschenrechte, die in den 1970er Jahren ihren Duchbruch erlebten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO hatte lange keine große Rolle gespielt, doch in den 1970er Jahren wurden sie aktive Politik USA (eine Anknüpfung an die Vier Freiheiten Roosevelts; aus dem Nichts kam auch das nicht) und verschärften so den Kalten Krieg, da die Durchsetzung von Menschenrechten zwangsläufig den Interessen der UdSSR zuwidergelaufen sei. Carter verkündete nun 1977 vor der UNO, dass die Souveränität der Einzelstaaten vor den Menschenrechten zurückstehen müsse, dass aber die USA eine spezielle Rolle in ihrer Durchsetzung hätten.

Das sei ein Epochenbruch gewesen, denn das Narrativ der Genese der Menschenrechte aus der Französischen Revolution sei nicht haltbar; die entsprechende Erklärung sei bereits 1793 tot gewesen und bis 1946 politisch wie ideengeschichtlich völlig irrelevant gewesen. Das Thema habe aber seit 1973 eine zunehmende Attraktivität erfahren, vor allem durch Anti-Apartheit-Gruppen oder Solschenizyns „Archipel Gulag“. In der KSZE und der Charta 77 fänden sich dann politische Ausdrucksformen. Gänzlich anders sei die damals aufkommende Amnesty International gewesen: sie sei durch eine unpolitische Konzentration auf Individuen gekennzeichnet und interessierte sich weniger für große Umwälzungen. Stattdessen stünden einzelne Anliegen im Vordergrund. Diese allerdings seien politischen Lagerkämpfen unterworfen, die generell die Aufmerksamkeit bestimmten. Biafra etwa war das Menschenrechtsthema der CDU, Südafrika das der Linken. Der Aufschwung der Menschenrechtsidee habe einen gänzlich neuen Status geschaffen, den des „Opfers“. Dieses ist explizit nicht mehr selbst Schuld an seinem Leid, sondern passives Opfer der Umstände. Dieser massive Wandel in der Wahrnehmung sei die absolute Grundbedingung für die Menschenrechte gewesen.

Gleichzeitig fand auch in der Philosophie ein Trend zur Individualisierung statt, der seine Entsprechung in der Kultur fand. Sarasin arbeitet die Entstehung des Punk in Abgrenzung zur Gesellschaft allgemein, aber im Speziellen zu den Hippies heraus. Versuche, diese neue, „anti-gesellschaftliche“ Musikrichtung einzuschränken, blieben ohne Chance. Es war wohl ein Zeichen der Zeit, dass er gleichzeitig schnell kommerziell wurde – und damit massentauglich. Für Sarasin stellt der Punk eine „inszenierte Verworfenheit seitens jener, die eigentlich zur Mehrheit gehören“ dar, ein „Nigger-werden der Weißen“.

Zugleich erlebte der Feminismus seinen Aufwind mit der Frankfurter Kulturausstellung 1977. Statt „Emanzipation“ etablierte er sich nun als Begriff. Zeitlich passt dazu die Erstauflage der EMMA im Januar 1977. Der Feminismus jener Zeit öffnete das Tor für eine neue Weiblichkeitsdiskussion und -definition, die sich auch in scharfer Abgrenzung zur Männlichkeit befand. Teil dieses Prozesses war die Politisierung des Privaten, die vor allem der Sichtbarkeitsmachung der Frauen diente. Am deutlichsten wird dies im Sprechen über und der Enttabuisierung der Gewalt gegen Frauen, die vom Feminismus der 1970er Jahre als strukturell identifiziert wurde, ein wichtiger gedanklicher Schritt, der die Debatte über dieses Thema – und zahlreiche weitere – noch heute prägt.

Weiter geht es in Teil 2.

{ 33 comments… add one }
  • CitizenK 21. Oktober 2024, 10:05

    Spricht die (gescheiterte) Kanzlerkandidatur von Strauss zur BTW 1980 für oder gegen diese These? Die Kontroverse war jedenfalls heftig, sollte man nicht übersehen.

    • cimourdain 21. Oktober 2024, 12:09

      Spricht für die „Zeitenwende“ These:
      Strauß war durch die gesamte BRD ein Vertreter der Starke-Männer-Politik [vielleicht würde Sarasin ein Kapitel über ihn mit dem Tod von Milo Barus einleiten]. Gegen Ernst Albrecht hat er sich mit einem altmodischen Powerplay durchgesetzt, indem er gedroht hatte, mit der CSU zu expandieren. [Ernst Albrecht hat sich danach „dynastisch“ gerächt, indem er seine Tochter zur Meisterin der politischen Intrige herangezüchtet hat].
      Aber danach war Strauß machtlos dagegen, dass auf einmal Millionen Schüler „Stoppt Strauß“ Buttons trugen, was eine Frühform modernen „viralen“ Politmarketings darstellt.
      Interessant ist aber, dass er nach seiner Niederlage nicht „weg vom Fenster“ war, wie es drölfzig SPD-Kanzlerkandidaten danach erging, sondern als „Anarch“ von Bayern bis zum Tod weiterhin die Landespolitik dominierte. [Und darüber hinaus, die Adresse der Staatskanzlei ist Franz-Josef-Strauß-Ring 1]

      • Thorsten Haupts 21. Oktober 2024, 16:19

        … indem er gedroht hatte, mit der CSU zu expandieren.

        Yup, mein Vater hätte zu den Gründungsmitgliedern der „Auslands“-CSU gehört.

    • Stefan Sasse 21. Oktober 2024, 13:16

      Welche These?

  • derwaechter 21. Oktober 2024, 11:27

    „Joschka Fischer stellt dabei interessanterweise ein Exemplar früher Kritik an Gewalt von links dar, die ironischerweise allerdings feministisch geprägt war.“

    Das sagt mir leider gar nichts. War das feministische Kritik an Fischer oder hat Fischer feministisch geprägt gegen Gewalt argumentiert?

    • Stefan Sasse 21. Oktober 2024, 13:16

      Er hat wohl mit feministischer Theorie (strukturell männlich etc.) dagegen argumentiert, Details hab ich nicht.

      • derwaechter 21. Oktober 2024, 14:40

        Danke. Muss ich mal ein bisschen recherchieren. Joschka Fischer war eine sehr prägende Figur in meiner politischen Jugend. 1998 war meine erste Bundestagswahl. Das war ja auch die Zeit als seine gewalttätige Vergangenheit grosses Thema wurde. Als früher Kritiker gegen Gewalt hatte ich in gar nicht auf dem Schirm.

        • Stefan Sasse 21. Oktober 2024, 17:31

          Ich auch nicht, und das war auch nur eine Nebenbemerkung.

  • cimourdain 21. Oktober 2024, 12:14

    Kapitel 1 : „apokalyptischer Grundtrend in der Popkultur“ An welchen Werken macht Sarasin das fest? Der wichtigste Film dieses Jahres hat den Untertitel „A New Hope“ und die Charts wurden von ABBA dominiert, denen ich jegliche düster-apokalyptische Qualität abspreche.

    • Thorsten Haupts 21. Oktober 2024, 13:06

      DIE Fage stellte sich mir auch, danke. Apokalyptisch war bestenfalls der Grundtrend in der damaligen politischen Essay-Literatur.

      • Lemmy Caution 21. Oktober 2024, 13:28

        Unsympathischer Punkt [mir macht das Bauchschmerzen. Falls jemand was dazu sagen will, bin sehr interessiert]:
        Die aktuell starke Betonung der Menschenrecht kam mit dieser Wucht erst spät in die Internationale Poltik, d.h. die 1970er Jahre.
        Aktuell scheinen diesbezügliche Forderungen Europas in vielen Teilen der Welt nicht mehr durchsetzbar. In wie weit sie durchsetzbar sind, hängt von spezifischen historischen Begebenheiten ab. In Chile und Argentinien bleiben sie ein Topic mit einem starken Gewicht, in El Salvador, Saudi Arabien, Venezuela, Kuba und China aber nicht wirklich. Nayib Bukeleles enge Kooperation mit China hat nicht nur ökonomische Gründe. Die Chinesen stellen einfach bestimmte Fragen nicht.
        Muss die europäische Politik hier vielleicht in den Anforderungen zurückstecken, um überhaupt handlungsfähig zu sein?

      • Lemmy Caution 21. Oktober 2024, 15:05

        1977 war das Jahr des Durchbruchs von Punk in London. Das war dann sehr schnell keine riesige, aber auch keine winzige aber vor allem sehr sichtbare Gruppe.
        Rainer Goetz Irre und Kontrolliert sind aus den 80ern, aber er schreibt über die zweite Hälfte der 70er.

        [der andere Kommentar habe ich falsch eingehängt, sorry]

      • derwaechter 21. Oktober 2024, 15:09

        Ich habe das Buch auch nicht gelesen.

        Und es gibt ja immer verschiedene Strömungen in der Popkultur.

        Als erfolg- und einflussreiche apokalyptische Filme aus der Zeit fallen mit spontan A Clockwork Orange oder Apocalypse Now ein.

        1977 war das Jahr in dem Punk so richtig los ging. Das war ja nicht gerade eine zukunftsbejahende Popkultur.

        1977 kam Sex Pistols God Save the Queen raus:
        Der Song endet mit diesen Zeieln und hiess auch in früheren Versionen „No Future“

        „No future for you, no future for you
        No future, no future for me
        No future, no future for you
        No future, no future for me
        No future, no future for you“

        In Deutschland erschien 1978 „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Ein sehr erfolgreiches Buch, welches nicht unbedingt unter aufmunternder Unterhaltung fällt.

        Anderes Thema ist der Aufstieg von Horrofilmen, den hier jemand als direktes Resultat der krisenhaften 1970ger sieht:

        „The art of a society reflects its condition and concerns, and horror films of the 1970s were no different, reflecting widespread societal feelings of anxiety and fear for the future. The uniquely dismal social conditions and outlook in the decade created a new rash of horror films and a new fervor for them among largely young audiences. Horror cinema was so popular, especially among youth, because it dealt with the issues in people’s lives, representing not only the problems plaguing the U.S. but their lasting effects on Americans. Horror films effectively put a face to the fears that young people in America were growing up surrounded by. They did so both by creating antagonists that arose from the ills plaguing society and viscerally representing the lasting trauma in their surviving victims, mirroring the trauma felt by the U.S. in the period.“

        https://storymaps.arcgis.com/stories/68defbc42de0437184087a4afd070ae3

        • Thorsten Haupts 21. Oktober 2024, 16:17

          Ich kenne mich im Filmgenre nicht so gut aus, wie bei Popmusik. Aber bei letzterer – auf jede/n, der Punk bevorzugte, kamen 10, die Schlager (Abba) oder Discomusik bevorzugten. Beide eher un-apokalyptisch.

          Bei Filmen – jeder der 4 James Bond Filme der siebziger schlug Clockwork Orange oder Apokalypse Now um Längen im Kino-Kartenverkauf weltweit. Jeder einzelne sogar beide zusammen.

          Ich kann gerade in den siebzigern absolut keinen wirklich apokalyptischen GRUND-Trend erkennen?

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • derwaechter 21. Oktober 2024, 18:25

            Ebenso wie auf einen grünen wählenden höheren Beamten in Hannover, drei anderswählende kommen 😉

            Aber klar, das mit der breiten Mehrheit stimmt schon. Ich weiss auch nicht, was der Autor eigentlich mit Grundtrend meint.

            Das gilt ja für die meisten kulturellen Trends, dass sie bei der breiten Mehrheit nicht, verspätet oder nur verwässert ankommen. Das macht sie zur Analyse oder Beschreibung gesellschaftlicher Veränderungen aber trotzdem wertvoll, da sie oft Ausdruck von oder Reaktion auf eben diese sind.

            • Thorsten Haupts 21. Oktober 2024, 20:19

              Das gilt ja für die meisten kulturellen Trends …

              Mag sein. Mir ging´s eher um die Frage, ob es überhaupt ein (wesentlicher, bestimmender) Trend war. Mir scheinen sowohl die genannten Filme als auch Punkrock eher Ausreisser des damaligen Mainstreams gewesen zu sein, wären sie bestimmender Trend gewesen, hätte der Mainstream sie irgendwann eingeholt und vereinnahmt (das ist das schöne – oder schreckliche – am Kapitalismus) .

        • cimourdain 21. Oktober 2024, 17:32

          Punk ist wichtig, guter Punkt. Ich würde auch die düstere Hard-Rock-Richtung (Uriah-Heep, Nazareth, Black Sabbath) und frühe Gothic Linie (The Cure, Siouxsie and the Banshees) ergänzen.

          Film liefert natürlich eine unglaubliche Breite, wenn wir die ganze Dekade betrachten. Clockwork Orange ist von 1973, Apocalypse Now von 1979. Da gibt es dann auch direkt dystopische (Soylent Green) oder postapokalyptische (Mad Max) Filme.

          Mir geht es aber nicht darum, was es alles gibt, sondern welche Werke Sarasin konkret betrachtet. Will er auf das entstehen von zukunftsablehnenden Subkulturen (Punk) hinaus oder auf einen unterschwelligen „Tanz auf dem Vulkan“ Mainstream. Es fühlt sich mir (generell bei dieser Buchbesprechung) sehr vage an.

          • Stefan Sasse 21. Oktober 2024, 20:04

            Ich kann ja nicht Seite für Seite wiedergeben 😉

            • cimourdain 22. Oktober 2024, 08:47

              Du bist aber nah dran – 1 Blogeintrag für 3 Kapitel.
              Ich habe aber, weil du sehr getreu in deinen Wiedergaben bist, das Gefühl (muss nicht stimmen), dass Sarasin eine Neigung aus Einzelfällen herbeigezauberten Allgemeinaussagen hat. Ein Beispiel ist die Joschka Fischer Aussage, über die wächter oben gestolpert ist. Fischer hat in den 70ern sicher nicht Gewalt grundlegend abgelehnt, sondern bestenfalls taktisch. Und feministisch war er wohl auch nicht. EIne Urgrüne (Fundi) hat ihn und Cohn-Bendit so beschrieben „Das war ’ne Mackertruppe […] größere Chauvis als die Schwarzen.“

              • Stefan Sasse 22. Oktober 2024, 13:28

                Das Buch hat ja nur 5 Stück auf fast 400 Seiten, plus Einstieg und Fazit.

                Und das schließt sich ja nicht aus: du kannst gegen Terror sein und trotzdem Steine werfen, und du kannst ein Chauvi sein und trotzdem feministische Theorie zitieren.

  • cimourdain 21. Oktober 2024, 13:08

    Kapitel 3: „Menschenrechte“ Sehr abstrakt, der konkrete Fortschritt, dass seit 1977 in Westeuropa kein Mensch mehr hingerichtet wurde, wäre vielleicht interessanter (zumindest als „Nekrolog“- Einleitung).

    • Stefan Sasse 21. Oktober 2024, 13:18

      Good point. Kann auch sein, dass das erwähnt wurde, weiß ich nicht mehr.

  • Thorsten Haupts 21. Oktober 2024, 20:27

    Mein wirklich grundsätzliches Problem mit solchen „Wasserscheiden“ ist, dass ich für die Zeit seit der Industrialisierung eine solche Wasserscheide gar nicht erkennen kann (anders als sagen wir für den Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung in Europa oder den von der Steinzeit in die Antike). Mag natürlich daran liegen, dass ich Zeitzeuge bin und die Scheide gar nicht erkennen kann. Erklärt aber, warum ich solche Bücher inzwischen bewusst links liegen lasse – die sind in der Gefahr (der sie meist erliegen), alle halbwegs passenden Fakten in ihr Erklärungsraster zu pressen und alle nicht passenden zu übergehen.

    • Tim 22. Oktober 2024, 10:15

      Sagen wir: Solche Bücher sind eher feuilletonistisch und wenig empirisch. 🙂

  • Dennis 21. Oktober 2024, 20:50

    Die Fokussierung auf 1977 folgt offenbar dem im Buchhandel als verkaufsfördernd eingeschätzten Jahreszahlenfetischismus.

    Das ist natürlich albern, aber ca. 50 Jahre danach kann man in den Jahren so ab ’73 (1. Ölkrise/US-Vietnamdesaster nähert sich dem Ende/Bretton Woods endgültig im Eimer/Wirtschaftswunder krank auf der Intensivstation) bis zur Krönung von Thatcher 1979 (das gemäßigt linke Nachkriegs-Polit-Paradigma kommt wech) schon Zeitenwendiges erkennen, wenn man möchte. Dazwischen noch Maos Tod (1976); die Folgen dieses Abgangs sind IMHO eigentlich das maximal Zeitenwendige jener Jahre, wie üblich erst später erkennbar.

    Andererseits: Je näher noch dran, desto mehr neigt man natürlich dazu, Klein-Klein aufzublasen und die „Epochen“ sind kurz und jeder Quatsch ist „historisch“. Ist in den immerhin ca. 50 Jahren angebliche Gegenwart eigentlich nichts dazwischen gekommen, was eine jetzt neue, noch neuere, oder neuste Gegenwart rechtfertigt? Da wird sich doch allerlei finden lassen. Aber wie dem auch sei, je weiter zurück, desto mehr Zeitenwenden fallen dann eh wieder weg und es wird aggregiert, weil man bei dem alten Kram nicht mehr so genau hingucken will oder kann. Für das so genannte Mittelalter sind immerhin begrifflich schlappe 1.000 Jahre in einem Paket zusammengefasst.

    Die angesprochene Fannie Lou Hamer (gestorben 1977) gehört politisch allerdings in die 60er; und der Bloch wird wohl auch nur wegen dem Sterbedatum 1977 erwähnt. Eher seltsam. Alles Wesentliche (jedenfalls für philosophisch interessierte Kreise, die nicht grad riesengroß sind) beim Bloch (ein ziemlich schräger Typ im Übrigen, den man am besten vergessen sollte) auch schon vor diesen Jahren, „Das Prinzip Hoffnung“ aus den 50ern. Der wurde von 68er-Kreisen angehimmelt, aber das passt auch um einige Jahre nicht. Foucault passt schon besser, obwohl auch schon in den 60ern bekannt geworden; im 5. Pariser Arrondissement und in der Suhrkamp-Kultur weltbekannt. Keine Ahnung, wie historisch bedeutsam das jetzt ist.

    • Stefan Sasse 22. Oktober 2024, 06:46

      Es geht ja auch nicht darum, dass die Leute im Jahr 1977 was Spektakuläres gemacht haben, sondern dass sie repräsentativ für Entwicklungen sind.

    • CitizenK 22. Oktober 2024, 07:21

      Der Buchhandel? Na, na. Auch Jubiläen und runde Geburtstage folgen einem „Zahlenfetischismus“.
      Warum fehlen Thatcher und Reagan (79/80) in deiner Gegenrede? Ich erinnere mich an eine Diskussion während des Strauss-Wahlkampfs, als einer sagte: Denkt an die US-Wahl, die ist viel wichtiger. War sie dann auch.

      • Dennis 22. Oktober 2024, 10:02

        Thatcher hab ich erwähnt und Reagan passt natürlich auch, richtig. Und „Gegenrede“ stimmt nicht ganz, denn dass in der 2. Hälfte 70er im Verhältnis zur Nachkriegszeit davor eine gewisse Zeitenwendigkeit zu sehen ist, das stimmt schon IMHO aus heutiger Sicht. Für die endgültige historische Einsortierung warten wir mal noch ein paar hundert Jahre^. So ein Ding wie die Reformation, die nach immerhin 500 Jahren das Prädikat „Zeitenwende“ nicht verloren hat, wird’s aber wahrscheinlich nicht. Mal sehen^.

        Das Buch hab ich ja nicht gelesen, aber dieses Interview geguckt:

        https://www.youtube.com/watch?v=A6euidM6DfU&t=345s

        Ganz interessant. Er hadert selbst mit dem merkwürdigen Jahreszahlding, aber egal. IMHO ist das angebliche „Ende der Revolution“ (festgezurrt am Tod Blochs) eher abseitig. Wirkmächtig war der „revolutionäre“ Quatsch um die Metapher „68“ (Studierstube) nebst RAF (mal hier ne Bombe, mal dort ein Mord) eh nicht. Dass die breite Masse mitziehen möge, hat nicht so recht geklappt^.

        Feminismus ab 70er; das hat was für sich. Den gab es allerdings ganz früher auch schon, allerdings ab den 30ern vom Maskulinismus verschüttet bis inklusive Nachkriegszeit bis in die 70er. Simone de Beauvoir war zwar schon ab Ende 40er feministisch unterwegs, wurde aber eigentlich erst in den 70ern „entdeckt“.

        Ansonsten IMHO reichlich Fokus auf Intellektuellengelaber und eher wenig Bread and Butter (It’s the economy, stupid^), obwohl es Letzteres in den 70ern reichlich gab, wie immer.

        Aber im letzten Kapitel kommt das offenbar dann doch noch, eher nebenbei ran, denn der Erhard, Ludwig ist auch in 1977 gestorben; wie praktisch. Das Wenige dazu im Interview („Neoliberalismus“) ist allerdings kompletter Schwachsinn.

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