Kevin M. Kruse/Julian Zelizer – Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Hörbuch)
Teil 1 hier.
Kapitel 8, „American Socialism„, beginnt mit dem Vortrag des Walisers Robert Owen vor dem Kongress vor über 200 Jahren, in dem dieser sozialistische Ideen unter großem Interesse und Anteilnahme vortrug. Für Michael Kazin ist das ein Beleg dafür, dass die Amerikaner*innen nicht so grundlegend antisozialistisch eingestellt sind, wie das oft behauptet werde. Zahlreiche Intellektuelle hätten in den folgenden Jahrzehnten sozialistische Ideen verbreitet, Organisationen wie Gewerkschaften dafür gekämpft und diverse Abgeordnete auf ihrer Basis Mandate errungen. Sozialistische Ideen hätten Druck auf die gemäßigte Linke und selbst Rechte ausgeübt, die sie übernommen hätte (etwa im New Deal) und die ob ihrer Popularität auch unter Rechten wie Reagan nicht zurückgefahren worden wären. Der mangelnde elektorale Erfolg sei maßgeblich auf diese Kooptierung sozialistischer Ideen zurückzuführen. Dass Sozialisten meist als Democrats gewählt wurden, zeige ihre moderate, reformorientierte Haltung.
In eine ähnliche Kerbe schlägt das von Naomi Oreskes und Erik M. Conway verfasste Kapitel 9, „The Magic of the Marketplace„. Den Glauben, dass der Markt es schon richten werde, wenn der Staat sich nur komplett heraushielte – wie er heute in der GOP rhetorisch oft, in der Praxis nie vertreten wird – wird von den beiden auf GOP-nahe Think-Tanks in den 1930er Jahren zurückgeführt. Im 19. Jahrhundert seien Staatseingriffe von Indian Removal bis Eisenbahnbau schließlich die Norm gewesen, weswegen eine mythische Vergangenheit unter dem Zauber des Markts erst konstruiert werden musste. Von dort ziehen die Autor*innen eine Linie zu Hayek und Mises über Friedman, die alle dank tatkräftiger Finanzierung der Business-Lobby öffentliche Wirkung entfalten konnten. Sie postulierten eine Unteilbarkeit ökonomischer und anderer Freiheiten. Oreskes und Conway weisen diese Idee zurück und verweisen auf die offensichtliche Vereinbarkeit von Sozialstaat und staatlicher Investitionstätigkeit mit Freiheit.
Ein verwandtes Thema greift Eric Rauchways Kapitel 10, „The New Deal„, auf. Ausgehend von einer Behauptung des Republican Chuck Grassley, der New Deal sei ein Fehlschlag gewesen, der Arbeitslosigkeit erhöht und Wirtschaftswachstum gedämpft habe, weisen sie nach, dass beides nicht korrekt ist. Die Periode des New Deal war die des größten Wirtschaftswachstums der US-Geschichte (wenngleich man natürlich die schlechte Ausgangslage durch die Weltwirtschaftskrise einberechnen muss); die Arbeitslosigkeit sank allein bis 1936 um fast die Hälfte. Rauchway zeichnet vor allem nach, warum sich der von Grassley reproduzierte Mythos so lange halten konnte. Der Grund dafür liege in der von Gegnern des New Deals im Statistikamt begonnenen Praxis, die durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der WPA beschäftigten Arbeiter*innen als arbeitslos zu zählen. Die Argumentation war, dass es sich dabei um dieselbe Zwangsarbeit handle wie in den Nazi-Konzentrationslagern (!) oder dem Reichsarbeitsdienst, was vollkommener Unsinn ist: die WPA war freiwillig, enthielt Streikrecht und die Arbeitenden sahen sich selbst auch als solche, mit Lohn und allen Rechten und Pflichten. Rauchway verweist außerdem darauf, dass Grassleys weiteres Argument, die Weltwirtschaftskrise sei erst durch den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg überwunden worden, eher dafür spricht, dass die Staatsintervention des New Deal zu gering ausfiel als zu groß, gab es doch keine Periode der US-Geschichte, in der der Staat größeren Anteil am Wirtschaftsleben nahm als 1941-1945.
In Kapitel 11, „Confederate Monuments„, greift Karen L. Cox die Lost-Cause-Mythologie auf, die mit dem Ende der Reconstruction um sich zu greifen begann und ihren sichtbaren Ausdruck in einer Flut von Monumenten zu Ehren der Konföderierten und ihrer Sache fand. Die Monumente entstanden überwiegend, aber nicht nur, im 20. Jahrhundert und waren explizit mit weißer Suprematie verknüpft. Bereits zu ihrer Entstehungszeit waren sie von Kritiker*innen dafür angegriffen worden. Das Land akzeptierte aber in seiner weißen Mehrheitsbevölkerung die Lost-Cause-Mythologie überwiegend; auch im Norden spielte das Thema Emanzipation keine Rolle mehr. Bis heute wird vor allem in den Südstaaten eine Version der Geschichte gelehrt, die mit der Realität wenig zu tun hat.
Die politische Seite dieser Thematik wird in Kapitel 12, „The Southern Strategy„, von Kevin M. Kruse beleuchtet. Die Democrats waren historisch die Partei der Segregation, während die Republicans für Emanzipation standen (und entsprechend die Loyalität der afroamerikanischen Wählendenschaft genossen). Nach der Reconstruction wendete sich auch die GOP von dieser Thematik ab, die keine politische Vertretung mehr besaß; schwarze Repräsentant*innen in den Parlamenten verschwanden praktisch völlig, ihre rechtliche Stellung verschlechterte sich drastisch. Dies änderte sich erst mit dem New Deal, der ihre wirtschaftliche Lage (nicht aber die politische) wesentlich verbesserte und zu einem dramatischen Loyalitätswechsel zu den Democrats führte. 1948 setzte Truman einen Fokus auf Bürgerrechte durch, der zu einem Aufstand der Südstaaten (mitsamt eigenem Präsidentschaftskandidaten) führte. In der folgenden Zeit begannen die Republicans, mehr und mehr um die Rassisten des Südens zu werben. Diese Entwicklung wurde mit der Bürgerrechtsgesetzgebung Kennedys und vor allem Johnsons deutlich verstärkt.
Die Rassisten bildeten zuerst eine eigene Partei (die „Dixiecrats“) mit eigenen Kandidaten, doch in den 1960er Jahren entschied sich der interne Machtkampf der Republicans zwischen den Konservativen und den Liberalen für erstere, die mit Barry Goldwater einen Kandidaten aufstellten, der zum ersten Mal den tiefen Süden gewann. Dieses realignment geschah auf zwei Ebenen: mit Goldwater in der Präsidentschaftskandidatur und auf lokaler Ebene in den dortigen Wahlkämpfen. Die Abgeordneten im Kongress stimmten zwar oft mit der scharf nach rechts rückenden GOP, blieben aber offiziell Democrats, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, so dass der Wandel dort langsamer vonstatten ging. Die liberale wirtschaftliche Haltung dieser Leute sorgte zudem dafür, den Wechsel nicht offiziell zu machen, da die Marktideologie (siehe Kapitel 9) teilweise abgelehnt wurde. Der Kongress blieb deswegen von den Democrats kontrolliert.
Goldwaters Kandidatur war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Auf der National Convention waren fast keine Schwarzen und gar keine Juden. Die Schwarzen wurden angepöbelt und teils körperlich attackiert; die Stimmung war pogromartig. Damit war ein neuer Ton gesetzt. Gleichwohl führte dieser zwar zum Sieg Goldwaters im Deep South, aber zum Verlust des Rests des Landes. Nixons nun explizit als southern strategy benanntes Vorgehen bestand in einem Zickzackkurs, um als der moderatere Kandidat zu erscheinen. Als die GOP bei den Midterms 1970 offen rassistisch agierte, erlebte sie einen milden Backlash. 1972 fuhr Nixon dann die Ernte des gemäßigteren Kurses ein und errang 49 der 50 Staaten. Die Verhandlungen für den Wechsel demokratischer Abgeordneter liefen, als Watergate unerwartet eine Gegenbewegung einläutete. Der Wandel des Kongresses in republikanische Hände dauerte zwei Jahrzehnte länger.
Ob Reagan eine southern strategy fuhr, ist durchaus kontrovers. Atwater verneinte dies stets vehement, was Kruse nicht als unüberzeugend ansieht. Reagan sprach hauptsächlich Wirtschaft und Verteidung, aber nutzte die dog whistle der states rights, um auch deutlich nach rechts zu blinken. Insgesamt blieb aber auch er auf der „moderaten“ Siegerstraße. Der Durchbruch des langen Realignments erfolgte mit dem Sieg in den Repräsentenhauswahlen 1994 durch Newt Gingrich, aber die Moderierung blieb auch durch die Präsidentschaft George W. Bushs immer ein ausgleichendes Element, ehe die Partei nach 2008 eine scharfe Rechtswendung hinlegte.
In Kapitel 13, „The Good Protest„, beschreibt Glenda Gilmore den verbreiteten Mythos bezüglich der Bürgerrechtsbewegung, dass diese einerseits quasi mit Rosa Parks aus der Taufe gehoben und andererseits weitgehende Zustimmung der weißen Mehrheitsbevölkerung erfahren hätten. Dies ignoriere einerseits die lange Geschichte afroamerikanischer Proteste – die ersten Sit-Ins fanden bereits in den 1930er Jahren statt – und sorge andererseits dafür, das Doppel-Narrativ afroamerikanischer Akzeptanz der Segregation vor den 1950er Jahren einerseits und das einer schnellen weißen Akzeptanz der Anliegen und eines raschen Bewusstseinswandels andererseits zu reproduzieren, die beide vollkommen unhistorisch sind.
MLK sei politisch kooptiert und ihm so die Zähne gezogen worden, eine Karikatur entstanden, die mit der realen Position wenig zu tun habe. Sogar Trump zitierte aus dem Kontext gerissenene King-Zitate; zuerst hatte damit Reagan 1985 begonnen. Gilmore weist nach, dass der reale King wesentlich radikaler war als das heute verwaschene Bild. Zudem habe damals mitnichten eine weiße Akzeptanz der Proteste bestanden; diese seien vielmehr radikal abgelehnt worden.
Dieser Gedanke wird in Kapitel 14, „White Backlash„, von Lawrence B. Glickman fortgesetzt. Unter dem Begriff wird die Idee gefasst, dass eine Radikalisierung der Weißen gegenüber ethnischen Minderheiten und ihre gewalttätige Reaktion eine Folge auf die Proteste sei. Diese Vorstellung wurde in den 1960er Jahren popularisiert, aber Glickman weist nach, dass die Begründung erstmals in den 1890er Jahren verwendet wurde. Das Muster ist dabei jedes Mal gleich: Forderungen oder Proteste ziehen eine gewalttätige Reaktion nach sich, etwa Terror des Ku-Klux-Klans, die damit relativiert wird, dass sie eine „Reaktion“ auf die vorangegangenen Proteste sei. Glickman postuliert einerseits, dass dies nicht zutreffe – die Gewalt war bereits vorher vorhanden – und so Ursache und Wirkung verkehre. Andererseits schaffe es eine passive Rolle für diejenigen, die sich radikalisieren lassen, eine Unausweichlichkeit, die die Täter*innen aus der Verantwortun nimmt.
Das Komplementärstück zum im Kapitel 10 besprochenen New Deal ist Gegenstand von Joshua Zeitz‘ Kapitel 15, „The Great Society“. Das große Reformwerk Lyndon B. Johnsons (siehe auch „LBJ’s Neglected Legacy„, hier rezensiert) wurde wie auch der New Deal von Republicans für gescheitert erklärt, prominent etwa von Ronald Reagan. Dieser scherzte, dass Johnson einen „Krieg gegen die Armut“ erklärt habe, den die Armut gewonnen habe. Wenig überraschend widerspricht Zeitz dem. Der War on Poverty habe zwar natürlich die Armut nicht beseitigt, aber deutlich reduziert (analog zum New Deal werde dies in den Statistiken unzureichend wiedergespiegelt, weil diese geldwerte Leistungen wie die von Johnson eingeführten Food Stamps nicht zählten und deswegen künstlich hoch seien).
Zudem habe das Reformwerk den heutigen amerikanischen Wohlfahrtsstaat überhaupt erst geschaffen, vor allem das dauerhaft beliebte Medicare und das Rentensystem, das bis heute ein Fundament der Gesellschaft darstelle. Die Annahmen, auf denen dieses System geruht habe – niedrige Inflation und Arbeitslosigkeit, hohes Wachstum – hätten sich gleichwohl in den 1970er Jahren aufgelöst. Die Liberalen hätten zudem auf ein Wachstums- statt ein Umverteilungsmodell gesetzt (und tun das bis heute).
Die andere Hälfte des Kapitels beschäftigt sich mit den Erfolgen der Great Society im Umgang mit rassistischer Diskriminierung. Der in Kapitel 14 besprochene white backlash findet hier sein bekanntestes Schlachtfeld, wo der Kampf gegen den Civil Rights Act motivierte (siehe dazu auch Kapitel 17), der nichtsdestotrotz zu einer weitgehenden Desegregation der staatlichen Institutionen des Südens führte. Die USA um 1970 und folgende seien eine fundamental andere Gesellschaft als die USA um 1960 und davor.
Weiter geht’s in Teil 3.
kapitel 8 Sie postulierten eine Unteilbarkeit ökonomischer und anderer Freiheiten. Oreskes und Conway weisen diese Idee zurück …
Dann haben diese Herren es nicht so mit dem Denken? Naürlich ist „Sozialismus“ (Volks- bzw. Staatseigentum an allen Produktionsmitteln plus Zentralverwaltungswirtschaft) mit vielen anderen Freiheiten unvereinbar, wie in ausnahmslos allen Praxisanwendungen bis heute praktisch demonstriert.
Gruss,
Thorsten Haupts
… was umgekehrt nicht so ist, das muss man immer wieder hinzufügen.
In jeder Marktwirtschaft gibt es die Rechtsform der Genossenschaft bzw. Kooperative, in der man sozialistische Ideen weitreichend ausleben kann, wenn man denn möchte. Marktwirtschaften haben überhaupt keine Angst vor dieser Einrichtung und müssen sie darum auch in keiner Weise verbieten.
Leider geht die Liebe mancher Leute zum Sozialismus dann doch nicht so weit, sie auch im Alltag wirksam werden zu lassen. Denn das würde bedeuten, selbst tätig zu werden und ins Risiko zu gehen. Abgesehen von einigen wenigen Bereichen haben Genossenschaften bei uns daher kaum Bedeutung. Das ist wirklich schade, denn z.B. in der Immobilien- und Energiewirtschaft könnten Genossenschaften ja wirklich nützlich sein und beim Lösen von Problemen helfen. Auch für Freunde des bedingungslosen Grundeinkommen wäre eine Genossenschaft die ideale Organisationsform.
Aber das Problem des Sozialismus ist nun mal, dass es keine Sozialisten gibt. 🙂
Sehe ich auch. Da ginge mehr.
Aber das Problem des Sozialismus ist nun mal, dass es keine Sozialisten gibt.
Es gibt jede Menge 🙁 . Aber sie alle möchten das verteilen, was von ANDEREN erwirtschaftet wird – und diesen vorschreiben, was sie zu erwirtschaften haben.
„Abgesehen von einigen wenigen Bereichen haben Genossenschaften bei uns daher kaum Bedeutung.“ und „Aber das Problem des Sozialismus ist nun mal, dass es keine Sozialisten gibt.“
Das zeigt in Kombination, dass Reiche unter sich die besten Sozialisten sind. Wichtige Genossenschaften arbeiten in hochkapitalistischen Bereichen: Raiffeisenbank, EDEKA, DATEV.
Aber so ganz unbedeutend sind auch Wohnungsbaugenossenschaften nicht, sie verwalten meines Wissens ein paar Millionen Wohnungen.
Übrigens: Die deutsche Genossenschaftsidee ist immaterielles Weltkulturerbe.
Das zeigt in Kombination, dass Reiche unter sich die besten Sozialisten sind.
Es zeigt vor allem, dass Unternehmer etwas TUN, statt immerzu etwas von anderen zu fordern.
ohne jede Polemik:
Das ist schon fast eine Tautologie.
Unternehmer unternehmen etwas.
Nein, das ist anders gemeint. Die Unteilbarkeitsthese, wie die beiden sie darstellen (könnte ein Strohmann sein, weiß ich nicht) ist, dass nur ABSOLUTE ökonomische Freiheit, also keine staatliche Intervention jenseits der Rahmensetzung, überhaupt Freiheit garantieren könne. Und das ist ein anderes Argument. Über Sozialismus brauchen wir nicht diskutieren.
Kay, die von Dir genannte Unteilbarkeitsthese ist natürlich Bullshit – es gibt ohne staatliche Regulierung auch keine Marktfreiheit bzw. sie würde am nächsten Tag zusammenbrechen. In jeder Anarchie herrscht am nächsten Tag das Recht des Stärkeren.
Mir ist allerdings auch völlig unbekannt, dass Hayek oder Friedman so einen Unsinn verzapft hätten?
Gruss,
Thorsten Haupts
Mir auch. Spoiler, ich mochte das Kapitel nicht.
Jetzt nach Teil 2 ergibt sich ein klareres Bild über das Buch. Deshalb ein paar Beobachtungen:
1) Außenpolitik findet nicht statt
2) Es gibt eine schwach chronologische Ordnung
3) In den Kapiteln 1 bis 9 werden sehr allgemeine Ideen und Begriffe verhandelt, danach ganz konkrete policies
4) Die politische Schlagseite ist deutlich progressiv und pro-demokratisch
Das hat einige Schwachstellen zur Folge:
a) Die gesamte Siedlungsexpansion über den Kontinent mit der „old west“ Legendenbildung ist außen vor.
b) Es werden zwar Konföderiertendenkmäler diskutiert, aber die übergeordnete „Lost cause“ Legende hat kein eigenes Kapitel.
c) Die superkurzlebigen (1948-1948) „Dixiecrats“ erwähnst du zweimal, während die rassistische Vergangenheit der Demokraten in einem halben Satz ausverhandelt ist.
1-4: Ja.
a-c: Ebenfalls korrekt, gut beobachtet. Gehe auf genau diese Faktoren auch ein.