Der Tod eines Genres und der Aufstieg eines neuen

Im Sommerloch 2022 – lang, lang ist’s her – beschäftigte eine wichtige Debatte die Bundesrepublik: war es ein Abgrund an Zensur, wenn ein Verlag aus unternehmerischen Gründen ein Malbuch für Kinder doch nicht herausbringen wollte? Mit verkniffenem Ernst inszenierten sich diverse Politiker*innen in Deutschland beim Lesen von Karl May. Das war insofern bemerkenswert, als dass der Stein des Anstoßes – ein Kinderfilm, der den Stoff zeitgemäß aufzubereiten versuchte – außer dem Titel praktisch keine Verbindung zu Karl May besaß. In regelmäßigen Abständen fegen solche Debatten durch die Bundesrepublik – und natürlich auch durch andere europäische Länder und die USA, wo das alles ja überhaupt erst seinen Ursprung hat.

Der Ground Zero für diese Art von Debatte war die Entscheidung des Verlags, das N-Wort aus Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ zu entfernen und den Vater der Titelfigur zu einem „Südseekönig“ zu machen. Von der Aufregung, die diese winzige Änderung provozierte, hätte man annehmen können, dass ein SEK die Redaktionsräume des „Spiegel“ gestürmt hätte. Aber ich habe bereits darüber geschrieben, und ich möchte heute auf eine andere Thematik eingehen. Ich habe nämlich eine Theorie dazu, warum die altehrwürdigen Stoffe vermehrt in die Kritik kommen und die Kinder immer weniger zu ihnen greifen beziehungsweise sie von ihren Eltern vorgelesen bekommen.

Um etwas deutlicher zu machen, was ich meine, sehen wir uns einfach einmal einige der jüngeren Adaptionen an. Märchen, die den Erfolg Disneys als Animationsschmiede überhaupt erst begründet haben – man denke etwa an die Verfilmung von „Schneewittchen“ von 1937 – werden nun in moderneren Varianten erneut verfilmt: Schauspieler*innen werden divers besetzt, Frauenbilder erhalten ein zeitgenössisches Facelifting, traditionelle Männerrollen werden üblicherweise zuerst persifliert und dann in einem Lernprozess der Protagonisten verworfen, klassistische Elemente werden gedämpft und so weiter und sofort. Der Grund für diese unternehmerischen Entscheidungen ist leicht zu verstehen; man muss nur einmal die Disneyklassiker ansehen. „Cringe“ beschreibt häufig nicht einmal ansatzweise die Gefühle, die dabei entstehen.

Aber Märchen haben grundsätzlich den Vorteil, Mitte des 20. Jahrhunderts bereits einmal einen kompletten Facelift bekommen zu haben. Was die Kulturkrieger*innen  von heute ja oft übersehen ist, dass Versionen von Grimms Märchen, die wir heute kennen, üblicherweise bereits deutliche Revisionen gegenüber dem Original aus dem 19. Jahrhundert erfahren haben und dass die Gebrüder Grimm ihrerseits damals alte Stoffe auf zeitgenössische Sensibilitäten hin upgedatet haben. Der Vorgang der Märchenadaptionen, um sie für eine neue Generation noch erträglich zu machen, ist also bereits mindestens 200 Jahre alt, vermutlich aber wesentlich älter.

Dasselbe Phänomen betrifft im Übrigen auch Karl May, was es besonders absurd machte, dass einige rechte Kulturkrieger sich mit den in grünen Leder gebundenen Ausgaben inszenierten: nicht nur hatte nämlich der neue Winnetou-Film praktisch nichts mit diesen Büchern gemein; die Winnetou-Erzählungen, an die nostalgisch zurückgedacht wurde, waren bereits ihrerseits auf zeitgenössische Sensibilitäten gut 70 Jahre nach Erscheinen des Stoffes hin vorgenommene Updates: was die meisten Leute im Kopf haben sind nämlich die Filme aus den 1960er Jahren, die, wie zahlreiche enttäuschte Fans sicherlich attestieren können, deutlich von den Büchern abweichen. Ich jedenfalls war als Kind ein glühender Winnetou-Fan und konnte die Erfahrung der Filme durch die Bücher nie wiederholen. Es ist glaube ich kein Zufall, dass nun, wo wir genau so weit von diesen Filmen weg sind wie die Filme von Karl May, eine erneute Modernisierung unternommen wurde.

„Der junge Häuptling Winnetou“, der Stein des Anstoßes, indessen floppte (er spielte bei einem Budget von rund 5 Millionen weltweit immerhin 1,3 Millionen ein). Das war seinerzeit auch meine Prophezeiung, gestützt allein auf dem Trailer, der bereits grauenhaft aussah. Er hatte ja auch praktisch nichts mit dem Originalstoff zu tun. Keine Überraschung, da Western ein ziemlich totes Genre ist – wie im Übrigen auch die klassische Abenteuergeschichte.

Ich habe meinem Sohn einige Klassiker nähergebracht, indem ich anhand von mir als Kind heißgeliebter Adaptionen aus den frühen 1990er Jahren vorlas: Robinson Crusoe, Die Schatzinsel, In 80 Tagen um die Welt, 20.000 Meilen unter dem Meer, Alice im Wunderland, Huckleberry Finn, Tom Sawyer und so weiter. Einige Male musste ich beim Lesen spontan Änderungen vornehmen, etwa, was die großzügige Verwendung des N-Worts anging. In anderen Fällen musste ich unterbrechen und mit ihm einige besonders problematische Sequenzen besprechen. Man denke nur etwa an den geradezu komischen Rassismus der Kannibalen in Robinson Crusoe oder den unverhohlenen Orientalismus von „In 80 Tagen um die Welt“.

Das ist alles keine Kleinigkeit, sondern in dem Stoff begründet. Während man bei Pippi Langstrumpf noch relativ problemlos das N-Wort eliminieren kann, weil die Geschichte ohnehin nicht in Realitäten, sondern einer Fantasiewelt Lindgrens basieren, ist dies bei den klassischen Abenteuergeschichten praktisch unmöglich. Wie ein reichlich gescheiterter Adaptionsversuch erst jüngst wieder demonstriert hat, gibt es letztlich keine Möglichkeit, „In 80 Tagen um die Welt“ für moderne Sensibilitäten aufzubereiten. Der Stoff ist ein Produkt seiner Zeit und lässt sich nur in den spezifischen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt machen. Wenn man diese allerdings für moderne Sensibilitäten anpassen möchte, ergibt die Handlung praktisch keinen Sinn mehr. Wie will man sich etwa ohne die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts irgendeinen Reim auf Phileas Fogg machen?

Dazu kommt der immer größere zeitliche Abstand. Es mag ein wenig albern klingen, dass meine Kindheit zu Beginn der 1990er Jahre in einem relevanten Maß näher an Jules Verne oder Mark Twain liegen würde als die meine Kinder heute. Es ist allerdings auf eine ziemlich profunde Art und Weise korrekt. Die letzten 20 Jahre haben einen Wandel in Mentalitäten und Normen gesehen, der sehr tiefgreifend ist. Die rechten Kulturkrieger*innen haben darin ja einen Punkt: die Normalität, nach der sie sich sehnen und die sie ständig beschwören, existiert tatsächlich nicht mehr. sie hat einen neueren, diverseren Normalität Platz gemacht, die von einer lautstarken Minderheit nicht akzeptiert wird.

Die Nachkriegszeit, definiert hier als die Epoche von 1945 bis 1989/1991, war schlichtweg eine andere als die ihr folgende, in der wir gerade leben und die noch keinen griffigen Namen aufweist. deswegen ist die wiederholte Lektüre meine eigenen Kinderbücher auch eine profund verstörende Erfahrung, auf eine Art, wie sie dies vermutlich für meine eigenen Eltern nicht war. Ich bin in diesem Punkt sehr zuversichtlich, da ich als Kind zahlreiche Kinderbücher aus den 1900er und 1960er Jahren gelesen habe und die Halbwertszeit von Medien generell noch wesentlich höher war.

Gerade dieser Faktor scheint mir in der ganzen Debatte noch einer zu sein, der kaum thematisiert wird. Das Fernsehprogramm bestand noch in den 1990er Jahren aus Wiederholungen von Sendungen, die teilweise Jahrzehnte alt waren – Winnetou ist hier nur das plakativste Beispiel. Heutzutage ist es beinahe unmöglich, Sendungen zu sehen, die älter als 10 Jahre sind, weil diese im Geschäftsmodell der Streaminganbieter nicht relevant sind und nicht vorkommen – sehr zum Verdruss von Cineast*innen aller Couleur.

Das hat jedoch nicht nur technische und wirtschaftliche Gründe. Diese haben das Phänomen zwar sicher beschleunigt, für ausschlaggebender halte ich allerdings trotz allem den Wandel von Werten und Normen. Dazu kommt noch ein weiterer in diesem Kontext üblicherweise nicht diskutierter Aspekt: der Tod des Genres. Jedes tote Genre wird stets von einem anderen abgelöst, weil der Bedarf an Unterhaltung nicht verschwindet. Wenn aber klassische Abenteuergeschichten tot sind, durch was wurden sie dann ersetzt? Haben die Leute schlichtweg keine Lust mehr auf Abenteuer? Das ist kaum vorstellbar.

Bevor ich den Vorhang lüftete und meine Antwort gebe, möchte ich eine These in den Raum stellen. Die klassischen Abenteuergeschichten, wie ich sie hier skizziert habe, wurden vor dem angesprochenen Wertewandel – den man gerne unter dem Schlagwort „woke“ fassen kann, so man das denn möchte – wurden zu ihrer Zeit als Fantasygeschichten rezipiert. Sie spielten an exotischen, weit entfernten Orten, die die Fantasie beflügelten und zu denen es keinen realen Bezug gab. Nicht ohne Grund schließlich schrieb Karl May seine Bücher, ohne je in Amerika gewesen oder auch nur einen einzigen Native American gesehen zu haben. Ein realistischer Anspruch war nie verknüpft. Die Geschichten boten einen eskapistischen Fluchtpunkt.

Nur gehört zu unserem Wertewandel auch die Grundlage, dass wir wesentlich vernetzter sind als noch vor 30 oder gar 50 Jahren. Die Globalisierung hat dafür gesorgt, dass wesentlich größere Bevölkerungsschichten fremde Länder sehen konnten und, vor allem, dass wir mit diesen viel stärker vernetzt sind als zuvor. Dank des Internets haben wir ein unendlich viel besseres Bild von großen Teilen der Welt und eine viel stärkere Pluralität an Sichtweisen als in der Nachkriegszeit. Dieses Wissen allerdings basiert auf der realen Welt, die Abenteuergeschichten auf einer fantastischen.

Entsprechend entsteht eine Art kognitiver Dissonanz, in der orientalistische Klischees nicht mehr exotisch, fremd und anziehend wirken, sondern falsch; in der die Abenteuer von Straßenkindern und das Jugendamt informieren lassen wollen anstatt Spannung zu erzeugen; in der züchtige, in Not geratene Edelfräulein die örtliche Frauenbeauftragte auf den Plan rufen und nicht die Fantasie zu beflügeln; in der das Wissen um den Genozid an den amerikanischen Ureinwohner*innen den „letzten Mohikaner“ jeglicher Romantik entkleiden.

Gleichzeitig haben wir eine zumindest scheinbar sauberere und attraktivere Alternative gefunden: Fantasy. Wer einmal einen Blick in die Kataloge der Streaminganbieter wirft und schaut, was dort für Kinder aktuell geboten wird komme wird neben der Masse lizenzierter Produkte vor allem erkennen, dass statt Märchen und Abenteuergeschichten in unserer eigenen Welt Fantasywelten die Hauptrolle einnehmen, auch dann, wenn dies gar nicht offiziell genannt ist: selbst moderne Adaptionen von Grimms Märchen spielen nicht mehr in einer romantisierten Vergangenheit, sondern in einer fantastischen Paralleldimension.

Deswegen ist der Wandel ihn Unterhaltungsmedien hin zu diversen und weg von den klassischen Geschichten und Variationen auch einer, der nicht einer sinistren, woken Weltverschwörung entspringt, sondern schlichtweg gewandeltem Publikumsinteresse und der simplen marktwirtschaftlichen Reaktion darauf.

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  • derwaechter 7. September 2023, 12:03

    Danke für den Text. Viele gute Denkanstöße.

    Zwei Randbemerkungen:
    Mich wundert bei Deinen Beschreibungen immer wieder, wie unterschiedlich wir die Werke erfahren haben, obwohl wir fast gleich alt sind.
    Während Du immer wieder betonst, dass wir diese Werke hauptsächlich aus den Verfilmungen kennen würden, habe ich sie hauptsächlich schriftlich kennengelernt. Ich habe tatsächlich die grün eingebundenen Karl Mays als Kind gelesen und kenne die Verfilmungen kaum. Märchen kenne ich auch eher durch vorlesen oder vereinfachte Bilderbuchversionen als durch Verfilmungen.
    Aber wahrscheinlich bin ich da die Ausnahme.

    Seit der Diskussion unter deinem Blogeintrag „Deliberation Daily: Koeppen, das N-Wort und das Abitur“, fällt mir die deutsche Benutzung von „N-Wort“ immer wieder auf.
    Es ist einfach nicht das gleiche wie im englischen.
    Paradoxerweise führt diese ungenaue Übernahme dazu, dass englische Medien die das eigentliche „n-word“ nicht schreiben würden, das bei Lindgren oder Preussler entfernte Wort sehr wohl ausschreiben. Während deutsche Publikationen, so wie Du, es eher nicht tun.
    Schön hier zu sehen: „In 1963, the secretary of the interior issued a mandate preventing the n-word from being used in geographic names, and replacing it with “Negro.”
    https://www.washingtonpost.com/nation/2018/10/31/california-state-parks-name-sparks-debate-is-word-negro-offensive/

    • Stefan Sasse 7. September 2023, 13:11

      Spannend.

      Worauf willst du raus?

      • derwaechter 7. September 2023, 14:25

        Das gleiche wie beim letzten mal auch schon, als ich in der Diskussion unter dem Koeppen Artikel auch schon ausführlicher beschrieben hatte.

        Der Begriff ist, so wie er im Deutschen verwandt wird unscharf, da nicht deutlich wird ob es um eine veraltete Bezeichnung oder eine üble Beleidigung geht.
        Das ist mir erst durch deinen Artikel zu Koeppen bewusst geworden, da ich wirklich nicht wusste um was es eigentlich ging. Ich hatte von dem Buch vorher nie gehört.

        Hier wird nicht nur ein Diskurs unkritisch aus den USA übernommen, der so nicht ganz passt (vg. BLM, Cancel Culture uvm.) sondern auch noch ein Begriff missverstanden übernommen.
        Das führt u.a. dazu, dass die deutsche Entsprechung des einen, weniger problematischen Wortes hier ähnlich tabuisierst und übergriffig empfunden wird, wie die des anderen, hoch problematischen, im Ursprungsland des Diskurs.

        • derwaechter 7. September 2023, 18:59

          Ich meine das z.B. am Fall Boris Palmer gesehen zu haben.
          Ich fand seine Verhalten daneben. Ich war aber auch überrascht, wie heftig die Leute reagiert haben. Ich meine der (weiße) Moderator der Podiumsdiskussion (der doch wohl wusste worum es geht), hätte sogar die Moderation abgebrochen, weil er es nicht ertragen könne dieses Wort zu höhren.

          In den USA ist das Nutzen (und sogar bereits das aussprechen/schreiben) des n-word ein sehr schlimme rassistische Entgleisung. Wenn ich jetzt davon ausgehe, dass die Leute hier dies verinnerlicht haben, auf Deutschland 1:1 überragen und das von Palmer zitiert N-Wort für gleichwertig halten, ergibt die enorme Aufregung durchaus Sinn.

          • Ariane 7. September 2023, 19:31

            (ich schreib die Wörter ausnahmsweise mal aus, weil man sonst durcheinander kommt)

            Naja, es stimmt schon, dass es im Englischen/Amerikanischen quasi zwei Wörter gibt. Negro, was damals (ich meine in den 60ern noch) eine normale Beschreibung war, hab ich ewig nicht gelesen, gehört, wird glaube ich gar nicht mehr genutzt. Und eben Nigger, was seit sehr langer Zeit (oder immer?) eine Beleidigung war und ist und das ist ja mit N-Wort gemeint. Die deutsche Übersetzung ist in beiden Fällen Neger und zu Lindgrens Zeiten war das nun mal das sachlich korrekte Wort. Insofern ist das Palmer-Beispiel eher unglücklich, weil die Verwendung heute immer ein kalkulierter Tabubruch ist, nicht „ups, in der Zeit vertan“.

            • derwaechter 7. September 2023, 20:16

              Die deutsche Übersetzung ist nicht in beiden Fällen Neger. Hatte ich damals auch schon geschrieben.
              Guck z.B. bei dict.leo.org nach.

              Bei Palmer war es bestimmt ein kalkulierter Tabubruch.
              Dennoch hat er das Wort ausgesprochen in einer Diskussion darüber. Er hat es nicht genuin benutzt.

              Eben genauso wie z.B. die von mir oben zitierte Zeitung Negro ausschreibt, das n-word aber nicht.
              Wenn du englische Presseartikel zu Pipi Langstrumpf oder dem kleinen Gespenst sucht siehst du das auch. Es Wird mit Negro übersetzt und auch geschrieben, während Stefan bei Texten zum gleichen Sachverhalt das entsprechende Wort nicht ausschreibt.
              Das ist schon eine interessante Verschiebung, finde ich.

              Ich wollte auch überhaupt nicht Palmer verteidigen. Es ist nur meine Theorie warum die Reaktionen so heftig ausfielen

              • Ariane 7. September 2023, 20:40

                Ah ok passt. Stimmt, Umschreibung als N-Wort ist direkt aus dem Amerikanischen entlehnt, und weiter übertragen als Z-Wort für Sinti und Roma.

                Die deutsche Entsprechung wäre hier eher Mohr. Das umschreibt ja niemand als „M-Wort“ obwohl wir ähnlich wie im Amerikanischen mit Negro die Diskussion haben, dass das heute nicht mehr als neutral wahrgenommen wird und vielleicht oder auch nicht aus Straßennamen u.ä. ersetzt werden sollte (in Möhrenstraße bitte^^)

                • Stefan Sasse 8. September 2023, 08:01

                  Ich verstehe einfach nicht, warum das problematisch ist. Es ist doch völlig klar, welches Wort wir mit N-Wort meinen, und das war schon vor der Einführung des Begriffs zu Recht tabuisiert!

                  • derwaechter 8. September 2023, 09:26

                    Es ist eben nicht klar.
                    Ich zitiere mal aus deinem Beitrag oben:
                    „Huckleberry Finn, Tom Sawyer und so weiter. Einige Male musste ich beim Lesen spontan Änderungen vornehmen, etwa, was die großzügige Verwendung des N-Worts anging.

                    (…)

                    Das ist alles keine Kleinigkeit, sondern in dem Stoff begründet. Während man bei Pippi Langstrumpf noch relativ problemlos das N-Wort eliminieren kann,“

                    Bei Huckleberry Finn und Pippi Langstrumpf geht es nicht um das selbe Wort!
                    Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass das aus deinem Text „völlig klar“ sei, oder?

                    Der Unterschied zwischen den beiden Wörtern ist groß. Das wusste schon Karl May. Hier Zitat aus Old Surehand.
                    Triggerwarnung: Ich lasse das mal unverändert hier stehen. Wenn ich alles durch N-Wort ersetzten würde, wäre es nämlich völlig unverständlich:

                    „Als früherem Cowboy stand dem alten Wabble ein Schwarzer fast ebenso tief wie ein Hund; es war ihm unmöglich, zu schweigen.
                    »Was ist’s mit Euch, Sir?« fragte er. »Ich glaube gar, dieser Bob bringt Euch aus dem Häuschen!«
                    »Nicht er, sondern der Umstand, daß er Gefangener der Comantschen ist und umgebracht werden soll.«
                    »Pshaw! Ein Schwarzer, ein Nigger!«
                    »Nigger? Neger wollt Ihr wohl sagen, Mr. Cutter!«
                    »Nigger sage ich. Habe das Wort all mein Lebtage nicht anders ausgesprochen.«
                    »Das thut mir leid! Es scheint, Ihr rechnet die Neger nicht mit zu den Menschen.«
                    »In der Naturgeschichte werden sie freilich mit unter den Menschensorten aufgezählt; wissenschaftlich sind sie also welche, aber, my god, was für welche!«
                    »Jedenfalls ebenso gute wie alle anders gefärbten!«
                    »Pshaw! Ein Nigger ist ein so niedriges Geschöpf, daß es sich eigentlich gar nicht lohnt, von ihm zu sprechen!«
                    »Das ist Eure Ansicht, wirklich Eure Ansicht?«
                    »Yes!«
                    »Dann thut Ihr mir leid, herzlich leid, denn mit dieser Behauptung beweist Ihr, daß Ihr noch weit unter dem Nigger steht!«
                    »All devils! Ist das Euer Ernst Sir?«
                    »Mein vollständiger Ernst!«
                    »Dann thut Ihr mir ebenso leid wie ich Euch! Ein farbiger Mensch ist nie ein richtiger Mensch, sonst hätte ihn Gott nicht farbig gezeichnet!«
                    »Mit ebenso großem Rechte könnte ein Neger sagen: Ein Weißer ist kein richtiger Mensch, sonst hätte ihn Gott nicht ohne Farbe geschaffen. Ich bin etwas weiter in der Welt herumgekommen als Ihr und habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viel gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens! Versteht Ihr mich, Mr. Cutter?«

                    In Gänze hier: https://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/reise/surehand/gr14/kptl_2.htm

                    • Stefan Sasse 8. September 2023, 15:21

                      es tut mir leid, ich sehe einfach die relevanz des unterschiedes nicht. „Nigger“ wurde im Deutschen nie verwendet. der diskurs oben ist ja nur eine übersetzung. für das gesprochene und geschriebene Deutsch ist „Neger“ das relevante Wort, während es in den USA „Nigger“ ist. Und nun?

                    • derwaechter 8. September 2023, 16:20

                      Ich verstehe nicht, was du nicht verstehst.
                      Ich werfe jetzt alle sprachliche Zurückhaltung über Bord und versuche es noch einmal

                      „für das gesprochene und geschriebene Deutsch ist „Neger“ das relevante Wort, während es in den USA „Nigger“ ist. Und nun?“
                      Nein, die Entsprechung für das Deutsche Neger ist Negro. Wenn z.B. amerikanische Medien über Pippi Langstrumpf (Schwedisch und Deutsch ist da gleich) oder Die Kleine Hexe berichteten, sprachen sie von Negro, nicht Nigger. Der Vater ist „King of Negroes“
                      Die NYT erklärte das ihren Lesern so: „the author Otfried Preussler used the word “neger,” which at the time of the book’s publication in 1957 was standard German usage, akin to “negro” in segregation-era America.“

                      Im Deutschen würde Nigger eher so etwas wie Bimbo entsprechen. Aber selbst das ist m.E. weniger hart.

                      „„Nigger“ wurde im Deutschen nie verwendet. der diskurs oben ist ja nur eine übersetzung“
                      Nigger steht im Duden.

                    • Stefan Sasse 8. September 2023, 18:45

                      ich verstehe das, aber ich halte es für irrelevante semantik, weil HEUTE „Neger“ dieselbe konnotation hat wie das amerikanische „nigger“. Was es 1957 mal bedeutete ist irrelevant dafür, das interessiert nur aus literaturhistorischer perspektive.

                    • derwaechter 8. September 2023, 20:27

                      Die meisten der von mir genannten und verlinkten Quellen sind aktuell.

                      „weil HEUTE „Neger“ dieselbe konnotation hat wie das amerikanische „nigger“.“

                      Würde ich selbst dann widersprechen, wenn es nur das eine deutsche Wort gäbe.
                      Den negativen Stellenwert, dieses Alleinstellungsmerkmal als schlimmstes aller Wörter gibt es im Deutschen m.E. nicht.

                    • Stefan Sasse 9. September 2023, 09:35

                      Aber das amerikanische Wort benutzt hier doch auch praktisch keiner?

                    • derwaechter 9. September 2023, 14:24

                      Stimmt. Gott sei Dank nicht.

                    • derwaechter 9. September 2023, 19:58

                      Mir fällt gerade auf, dass das missverständlich war. Ich meinte Gott sei Dank benutzt das in Deutschland kaum jemand.

                    • Stefan Sasse 9. September 2023, 21:06

                      Da kommen wir auf jeden Fall zusammen.

                • derwaechter 8. September 2023, 09:38

                  „Die deutsche Entsprechung wäre hier eher Mohr.“
                  Nein, Mohr ist veraltet. War es auch schon in den 80ger oder 90gern als das andere Wort noch gebräuchlicher war.

                • cimourdain 11. September 2023, 10:34

                  zum Thema ‚Möhrenstraße‘: Nur wenn du mir die Änderung mit dem Slogan „Orange is the new black“ verkaufst.

        • Stefan Sasse 8. September 2023, 07:58

          Eigentlich geht es immer um das Wort Neger. „Negro“ ist ja im Deutschen total ungeläufig.

          • derwaechter 8. September 2023, 09:32

            Das ist doch gar nicht der Punkt. Man sieht wie die Nutzung von N-Wort usw. in diesem Falle die Verständigung erschwert.

            Triggerwarnung:
            E: Negro – D:Neger:
            https://dict.leo.org/german-english/Negro
            https://en.langenscheidt.com/english-german/negro
            E: Nigger – D:Nigger:
            https://dict.leo.org/german-english/Nigger
            https://en.langenscheidt.com/english-german/nigger

            • Stefan Sasse 8. September 2023, 15:22

              semantisch gebe ich dir völlig recht, nur hat das für die gesprochene realität keinerlei bedeutung, weil „Neger“ im Deutschen als „extremely offensive“ gilt.

              • Ralf 8. September 2023, 15:56

                Es gilt aber nur deshalb als “extremely offensive”, weil Aktivisten es dazu gemacht haben. In den 80er Jahren war das noch ein völlig normales Wort. Ist bei uns zuhause, als ich klein war, am Küchentisch zum Beispiel ganz normal verwendet worden.

                • Stefan Sasse 8. September 2023, 18:44

                  ja no shit ändern sich wertmaßstäbe.

                  • Ralf 8. September 2023, 18:51

                    Es ist ein Unterschied, ob sich Wertmaßstäbe, die selbstverständlich im Fluss sind, sich langsam in der Breite der Bevölkerung ändern. Oder ob eine kleine Gruppe elitärer Aktivisten, die an wichtigen Hebeln sitzt, Druck auf die Mehrheit ausübt und auf Linie zwingt.

                    • Stefan Sasse 9. September 2023, 09:33

                      ach so ein unsinn. MLK und konsorten waren eine kleine gruppe aktivisten. die frauenbewegung startete mit einer kleinen gruppe aktivisten. die arbeiterbewegung begann mit einer kleinen gruppe aktivisten. alles was du sagst ist „ich mag diesen wandel nicht, und deswegen delegitimiere ich ihn“.

                    • Thorsten Haupts 9. September 2023, 15:34

                      Und alles, was Du sagst, ist: Ich mag diesen Wandel, deswegen legitimiere ich ihn. Mann, Selbsterkenntnis ist nicht so Dein Ding, nein?

                    • Stefan Sasse 9. September 2023, 21:05

                      Ich habe nie, nie, nie etwas anderes behauptet. Never. Weil ich diese Selbsterkenntnis habe.

              • derwaechter 8. September 2023, 16:31

                Und da schließt sich der Kreis. Meine Theorie ist doch gerade eben das dieses „extremely offensive“ auch Aufgrund der Übernahme des amerikanischen Diskurses und der falschen Verwendung von N-Wort rührt. Die Leuten kennen n-word aus Amerika als quasi unaussprechlich, als „The Filthiest, Dirtiest, Nastiest Word in the English Language“. Diese Stellung hatte Neger auf Deutsch nicht.

                Der Duden unterscheidet auch zwischen Neger als „diskriminierend“ und „veraltet“ und „sollten vermieden werden“ und Nigger als „stark diskriminierendes Schimpfwort“ und „Die Verwendung dieses Schimpfworts sollte unbedingt vermieden werden.“

                • Stefan Sasse 8. September 2023, 18:45

                  ja genau. aber was hilft es, korinthen zu kacken und alte semantiken auszugraben? relevant ist der heutige diskurs, und dieser feine unterschied wird schlicht nicht gemacht.

                  • derwaechter 8. September 2023, 20:42

                    Es gibt einen Unterschied zwischen „mache ich nicht“ oder „machen viele nicht“ und „wird nicht gemacht.

                    Wie hier und auch beim letzten Mal schon mehrfach belegt machen, ganz aktuell, Duden, Leo, Langenscheidt, Wikipedia und Wiktionary usw. sehr wohl diesen Unterschied.

                    Und auch Zeitungsartikel aus diesem Jahrhundert.

                    Ich glaube allerdings, dass ich dich auch mit 150 weiteren Quellen nicht von Deiner Meinung abbringen kann. Deshalb lasse ich es jetzt mal gut sein.
                    So wichtig ist mir das Thema dann doch nicht.

                    • Stefan Sasse 9. September 2023, 09:36

                      Sorry. 🙂

                    • Mikefromffm 12. September 2023, 09:17

                      Ich finde es immer wieder komplett grotesk, wenn einWeißbrot Menschen mit anderer Hautfarbe mittels ihrer ganz privaten „semantischer Analyse“ vorschreiben wollen, wie sie gefälligst welche Worte zu verstehen haben. Solche Menschen sind exakt das Problem, über dessen Lösung sie zu verfügen glauben.

  • Ariane 7. September 2023, 20:01

    Ich habe meinem Sohn einige Klassiker nähergebracht, indem ich anhand von mir als Kind heißgeliebter Adaptionen aus den frühen 1990er Jahren vorlas: Robinson Crusoe, Die Schatzinsel, In 80 Tagen um die Welt, 80.000 Meilen unter dem Meer,

    Mochte er sie denn? Und es sind übrigens nur 20.000 Meilen unter dem Meer^^

    Ich mags ja eigentlich sehr, wenn alte Stoffe immer neu interpretiert werden, auch um zu gucken, was funktioniert oder eben nicht. Und ich liebe es, wenn die Kulturkrieger meinen, die Zeichentrick-Disneys sind quasi die Originale!

    Ich schätze, dass Disney deswegen recht bewusst bisher die Finger zb von Tarzan oder Pocahontas gelassen hat, da würde die ganze Geschichte so nicht mehr funktionieren – schon gar nicht kindertauglich.
    Ein anderes Beispiel sind übrigens Kinderheime. Eine Freundin von mir hat in einem gearbeitet und lachtweint immer darüber, dass wirklich jeder nur die 19.-Jahrhundert-Versionen davon sofort im Kopf hat. Da gibts einfach keine modernen Erzähl-Entsprechungen zu, selbst bei Minions – der ja echt neu ist – wird das Kinderheim als Charles-Dickens-Version dargestellt.

    • Stefan Sasse 8. September 2023, 08:00

      Manche ja, manche nicht so. Robinson Crusoe fand er cool, 20k Meilen teilweise, Robin Hood war gut, David Copperfield ging gar nicht, Huckleberry Finn war gut.

  • Ralf 8. September 2023, 11:30

    Ich halte Deine These, ein Wertewandel beim Publikum habe den Tod der klassischen Abenteuergeschichten und einen Wandel hin zu wokem Fantasy mit “diversen” Figuren bewirkt, für fundamental falsch.

    Erstens gibt es diesen “Wertewandel” vornehmlich bei einer zahlenmäßig dünnen Elite und kaum in der breiten Bevölkerung. Das sieht man z.B. beim Gendern, das in der auf der Straße gesprochenen Sprache praktisch keinerlei Anwendung findet und bei Umfragen sprechen sich wieder und wieder Mehrheiten gegen das Neusprech aus. Auch dass tiefe Gefühle in der deutschen Bevölkerung bezüglich des historischen Unrechts, das die Indiander durch die weißen europäischen Einwanderer erfahren haben, existiert und dass wegen dieser tiefen Gefühle der Western als Genre gestorben sei, ist mit Verlaub Quatsch. Ich erinnere mich an nicht ein einziges Gespräch mit Freunden, Kollegen, Nachbarn oder Familienmitgliedern, in dem der europäische Kolonialismus in Nordamerika zur Sprache gekommen wäre. Das ist schlicht ein “Nicht-Thema”.

    Zweitens ist es mitnichten so, dass die aktuellen Film- und Fernsehmedien Inhalte, die aus woker Perspektive politisch unkorrekt sind, aus dem Programm nehmen würden. “South Park” ist zum Beispiel ein Riesenerfolg. Dasselbe galt für “The Office” (bzw. die deutsche Adaption Stromberg).

    Drittens sind viele erfolgreiche und moderne Fantasyproduktionen nicht besonders divers. Herr der Ringe – wir erinnern uns an den dramatischen Erfolg der Filme vor einigen Jahren – hat kaum weibliche Figuren. Niemand ist schwarz. Am ehesten kommt noch der Kleinwüchsige Gimli einer Minderheit nahe. Auch A Song of Ice and Fire hat kaum Minderheiten oder “Fremde” – und die, die vorkommen, sind nicht weniger exotisch als Berichte aus Afrika im 19. Jahrhundert.

    Viertens hat gerade in den vergangenen Jahren das Genre der historischen Romane geblüht. Autoren wie Rebecca Gablé oder Ken Follett verdienen sehr, sehr gut an ihren Büchern. Mehrere Geschichten von Bernard Cornwell sind erfolgreich verfilmt worden und laufen als Serien im Fernsehen. Der Siegeszug eines Genres, das sich explizit auf historische Geschichten gründet, ist schwer zu erklären im Kontext einer Entwicklung, bei der das Publikum angeblich aus der Realität in Fantasywelten flüchtet, weil dort nicht die Stolpersteine realer historischer Ereignisse lauern.

    Fünftens liegt der Reiz von Fantasy-/Science Fiction-Geschichten nicht selten exakt gerade darin, dass direkte und offensichtliche historische Analogien mit Bezug zu uns und unserer Welt geknüpft werden. Die Auseinandersetzungen zwischen Menschheit und Klingonen in Star Trek sind z.B. eine direkte Parallele zu Konflikten zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Frage in Battlestar Galactica, ob Menschen und Cylons gleich viel wert sind, ist eine direkte Parallele zu derselben Frage bezüglich Weißen und Schwarzen im 19. Jahrhundert. Dass diese Parallelen so offensichtlich konstruiert werden, legt nicht den Schluss einer Flucht ins Fantasy-Genre nahe, in der Hoffnung, dass sich dort diese Fragen nicht stellen.

    Tatsächlich sind “klassische Abenteuergeschichten” meiner Meinung nach gegenwärtig schlicht aus der Mode gekommen, weil nunmal jeder Trend irgendwann vorübergeht. Im Kontext der Western-Erzählung ist z.B. fast alles erzählt worden, was erzählt werden kann. Irgendwann begann sich das Genre zu wiederholen – neuer Gauner, neuer Sheriff, neuer Indianerhäuptling, aber im wesentlichen dieselbe Geschichte. Das Publikum wendet sich dann dem nächsten Trend zu. In der Musik ist es genauso. Erst letzte Woche beschwerte sich ein Freund von mir lautstark, es würde keine gute Rockmusik mehr produziert werden. Ja, stimmt. Das Genre ist so ziemlich gestorben. Klar, gibt es einige Veteranen, die beim liebgewonnenen Stil bleiben. Es gibt auch noch Leute, die Winnetou lesen oder “Spiel mir das Lied vom Tod” anschauen. Aber eben nicht die Mehrheit. Die Mehrheit ist weitergezogen.

    Und was heute weg ist, kann morgen wieder da sein. Fantasy war tot, bis George R. R. Martin mit seinen ASOIAF-Romanen aus dem Nichts auftauchte und die aus 1954/55 stammenden “Lord of the Rings”-Bücher – sehr nahe am Original – neu verfilmt wurden. Auch in der Musik gibt es Parallelen. Die Rockmusik war ja zu einem früheren Zeitpunkt auch schon mal tot gewesen, nämlich Anfang der 80er Jahre. Damals wurde sie durch den klassischen Pop ersetzt. Später setzten sich Techno und Dancefloor durch. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, waren da Anfang der 90er auf einmal Nirvana (Nevermind), Guns ‘n Roses (Use Your Illusion 1 & 2) und Metallica (Black Album). Und das Pendel schlug zurück. Ganz genauso könnte es dem Western gehen. Oder Jules Verne. Oder Mark Twain.

    • Ralf 8. September 2023, 13:32

      Einfach zu frappierend, um es nicht zu erwähnen:

      Der Prototyp des modernen, kommerziell megaerfolgreichen Fantasyfilms Avatar ist laut den Worten von Produzent James Cameron explizit ein “Re-Telling” der Kolonialisierungsgeschichte Nord- und Südamerikas, also mein Punkt 5 von oben und somit de facto mitten drin im Western-Genre. Und trotz geographischer Verlagerung der Erzählung aus dem Wilden Westen auf einen Mond von Alpha-Centauri sind die Reaktionen des woken Mobs exakt die gleichen wie bei Winnetou (Quelle Wikipedia / https://en.m.wikipedia.org/wiki/Avatar_(franchise)):

      Some indigenous groups, including Native Americans, have called for a boycott of the franchise over „tone-deaf“ handling of indigenous cultures and cultural appropriation. Both Avatar films have drawn criticism for casting several white and other non-indigenous actors in the roles of the alien native people. Cameron said he tried to move away from a white savior narrative.[65][66][67] The film series was criticized for „romanticization of colonization“ and putting forward a monolithic portrayal of Indigenous people.[68]

      Klassische Abenteuergeschichten durch Fantasy zu ersetzen, löst also kein Problem. Avatar war sicher nicht deshalb erfolgreich, weil er historisch belastete Storylines aussparte. Avatar war erfolgreich, weil er eine unglaublich professionelle Produktion auf der Höhe des damals Möglichen darstellte.

      • Stefan Sasse 8. September 2023, 15:25

        ich habe auch nie behauptet, dass es ein panacea wäre, sondern dass das der grund für die attraktivität ist. dieselben geschichten in anderem gewand.

    • Stefan Sasse 8. September 2023, 15:25

      1) nur produziert diese elite die produkte. davon abgesehen unterschätzt du glaube ich im anti-woken reflex, wie tiefgreifend das bereits ist.
      2) absolut nicht, habe ich auch nie behauptet.
      3) wie du schon selbst schreibst: fantasy. das stützt meine these.
      4) true as far as it goes; wenn man aber an sachen wie last kingdom oder so denkt ist das ein völlig anderes setting als früher und wird auch fantasymäßig aufbereitet, also in den tropes und strukturen.
      5) nein, natürlich nicht. du hast völlig recht, das ist ja gerade der reiz. das war ja auch schon immer so, wir haben da ja keinerlei dissens.

      Grundsätzlich natürlich möglich. ich beschreibe im artikel auch nur die gegenwart.

      • Thorsten Haupts 9. September 2023, 22:09

        … davon abgesehen unterschätzt du glaube ich im anti-woken reflex, wie tiefgreifend das bereits ist. …

        Bei einer relativ kleinen Minderheit mit grossem Einfluss im Kulturbereich? Hell, yeah.

        Bei und in der breiten Bevölkerung? Hell, no 🙂 . Umfragen zeigen über die Jahre, dass heute zunehmend WENIGER Menschen sich als Feministen bezeichnen wollen oder „gendergerechte“ Sprache benutzen wollen. Der Trend der Zustimmung und Übernahme ist – anders, als bei erfolgreichen Ideologien – abnehmend. Dazu trägt genau diese tiefgreifende, intellektuell anspruchslose, arrogante und selbstgerechte Überzeugung der Wokies nicht unerheblich bei.

        Kann sein, dass Universitäten, Kultureinrichtungen und liberale Medien weiterhin Quellen des Wokie-Kultes bleiben werden, nur eben zunehmend isoliert.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 10. September 2023, 10:19

          Etiketten sind leztztlich irrelevant. Die Begriffe wurden durch den kulturkampf sehr unattraktiv gemacht. Wie wenig Menschen in Deutschland bezeichnen sich denn als „rechts“, und wie viel sind es? gleicher fall.

          • Thorsten Haupts 11. September 2023, 11:29

            Schön. Ich würde trotzdem darauf wetten, dass keine der Kernthesen der Wokies
            – Geschlecht ist frei wählbar, ausschliesslich sozial konstruiert und es gibt hunderte davon;
            – Hautfarbe/Ethnie ist der einzig wesentliche Einflussfaktor für Erfolg oder Misserfolg;
            – Es ist nur dann Rassismus, wenn ein Angehöriger einer Minderheit Vorurteilen oder Abwertungen begegnet;
            – Eine wie auch immer grosse Mehrheit muss ihren Sprachgebrauch drastisch ändern, sofern dieser die Gefühle auch nur eines Menschen verletzt, vorausgesetzt, dieser Mensch gehört zu einer Minderheit)
            von einer nennenswerten Minderheit (> 20% als Näherungswert) in Deutschland geteilt wird.

            Und ich werde weiterhin darauf setzen, dass die Ablehnung wächst, je mehr Leute darüber informiert sind, welchen Bullshit sie da zu kaufen gezwungen werden sollen. Fand es deshalb eine tolle Idee, die blosse Erwähnung des biologischen Geschlechtes eines Transmenschen im neuen Selbstbestimmungsgesetz unter Strafe zu stellen, davon brauchen wir mehr!

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Stefan Sasse 11. September 2023, 14:17

              Jetzt müssten das nur noch Kernthesen sein und nicht Verzerrungen von dir, und dann hättest du so was wie ein Argument.

              • Thorsten Haupts 11. September 2023, 15:51

                Pruuust. Lustige Verzerrungen direkt aus dem Munde reichweitenstarker Social Media Accounts im englischsprachigen Raum. Wieviele Beispiele muss ich bringen, bevor Du zugibst, dass das KEINE Verzerrungen sind?

                Gruss,
                Thorsten Haupts

                • Stefan Sasse 11. September 2023, 18:39

                  sobald du die spinner deiner seite als repräsentativ für deine eigene meinung siehst, mach ich dasselbe mit den meinen. Deal?

                  • Thorsten Haupts 12. September 2023, 08:39

                    Standard-Verteidigungslinie 1:
                    Das kritisierte Phänomen existiert gar nicht
                    Standard-Rückfallverteidigungslinie 2:
                    Also schön, das Phänomen existiert, ist aber nur bei wenigen Radikalen zu beobachten und ansonsten irrelevant

                    Lass einfach gut sein, ich kenne den Verlauf dieser Debatten aus eigener Beteiligung und aus Anschauung jetzt seit vielen Jahren.

                    Gruss,
                    Thorsten Haupts

                    • Stefan Sasse 13. September 2023, 12:10

                      Nein, wir reden glaube ich über unterschiedliche Dinge. ich stimme dir völlig zu, dass vor allem in den usa das gerade auf der radikaleren linken ziemlich zunimmt und immer weiter in den progressiven mainstream einsickert. ich finde das auch sehr problematisch. nur rede ich von was anderem; ich meine die „weichgespülten“ „basisversionen“ davon. So was wie: gleichgeschichtliche liebesbeziehungen sind ok, trans dürfen existieren, frauen sind gleichberechtigt, so kram.

                    • Thorsten Haupts 13. September 2023, 13:51

                      So was wie: gleichgeschichtliche liebesbeziehungen sind ok, trans dürfen existieren, frauen sind gleichberechtigt, so kram.

                      Huh? DIE Akzeptanzgrenzen hatten wir AFAIR bereits in den achtzigern überschritten?

                    • Stefan Sasse 13. September 2023, 17:30

                      nein, wirklich gar nicht.

                    • Thorsten Haupts 14. September 2023, 09:41

                      Ich kam damals aus einer tiefschwarzen westfälischen Kleinstadt in meine erste Grosstadt und habe es anders wahrgenommen, aber das ist natürlich anekdotische Evidenz.

  • Detlef Schulze 8. September 2023, 13:39

    Zur These, warum Abenteuerliteratur nicht mehr so zieht wie frueher:

    Die belletristische Abenteuerliteratur mag zurueckgegangen sein, Buecher, Dokumentationen und Vortraege ueber echte erlebte Abenteuer von Bergsteigern, Extremsportlern oder von Ueberlebenden irgendwelcher Katastrophen scheinen aber zu boomen. Das Exotische von Literature ueber fremde Laender und Kulturen ist in der Tat verlorengegangen. Wahrscheinlich gar nicht so sehr, weil wir alles selber erleben koennen, sondern weil die unterschiedlichen Laender und Kulturen sich immer mehr angleichen. Das Leben in den USA oder in China ist jetzt nicht so unterschiedlich, wie es frueher einmal war.

    Was den Realitaetsbezug angeht, so haben die Karl-May-Filme nicht weniger Bezug zur Realitaet des „Wilden Westens“ als die „Tatort“-Filme zu echter Polizeiarbeit.

  • Thorsten Haupts 9. September 2023, 16:07

    Soweit ich das erkennen kann, ist die Grundthese des Artikels einfach falsch: Abenteuergeschichten wurden durch Fantasy ersetzt. Nope.

    Ich war gerade alt genug, um die erste Phase der deutschen Fantasy (samt der Übersetzungen aus dem US-amerikanischen) von Ende der siebziger bis Mitte der achtziger zu genissen (mein Bücherschrank hat hunderte von Fantasy-Romanen). Ursula LeGuin und Patricia McKillip waren die ersten, die mich in echte Lese-Marathons führten.

    Aber das Fantasy Genre, wie ich aus meiner Suche nach halbwegs gut geschriebenen Romanen weiss, starb danach zwar nicht völlig, aber für eine Reihe von Jahren (gefühlt Ende der achtziger bis zum Beginn der 2000er) war das Angebot mehr oder weniger eine Widerholung der wegweisenden Romane mit anderen Protagonisten. Erst seitdem sehe ich wieder frische Ideen und neue Konzepte.

    Will heissen, ich sehe keinen Ersatz einer Literaturgattung durch eine andere, statt dessen Wellenbewegungen mit Ups und Downs über die Zeit. War und ist ähnlich mit einer anderen Literaturgattung, die ich liebe – Kriminalromane. Immer mal wieder eine trockene zeit zwischen Wellen.

    Ich bin zwar kein besonderer Fan von Abenteurromanen, bin aber anhand der immer wieder zu sehenden Verlags-Neuauflagen über die Jahre 100% sicher, dass Jules Verne niemals wirklich verschwinden wird. Bei Karl May bin ich nicht zu 100% sicher, aber doch ziemlich – einfach deshalb, weil er, sobald jemand ausreichend Interesse hat, ein so grosses, halbwegs zusammenhängendes Angebot machen kann. Nur ist der Fokus auf die beiden Genannten vermutlich ohnehin daneben – ich kenne mich in dem Genre mangels Interesse schlicht nicht ausreichend aus, um überhaupt zu wissen, welches Angebot es gibt und wie es sich verkauft. Nicht zu vergessen, dass bestimmte unter SciFi oder Agentenromanen oder Fantasy abgelegte Autoren im Kern de facto ebenfalls „Abenteuer“romane produzieren, nur in einer mehr oder weniger exotischen Umgebung.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  • cimourdain 10. September 2023, 09:05

    1) Ich sehe es ähnlich wie Ralf und Thorsten Haupts, es ist voreilig, von toten und lebenden Genres zu sprechen. Der von dir (als sicher tot) erwähnte Western hatte schon mehrere Revivals, das letzte in den 2010ern. Und zu Abenteuerfilmen: Es kam dieses Jahr eine Neuverfilmung der Drei Musketiere raus und natürlich mit „Indiana Jones und das Geheimnis der verbrannten Millionen“ ein ganz klassischer Abenteuerfilm.

    2) Sehr viel sehr erfolgreiche Fantasy ist in „unserer Welt“ verankert, sei es durch den Protagonisten, der durch ein Portal hinüberwechselt ( Barsoom, die unendliche Geschichte) ; sei es dadurch, dass das fantastische ein verborgener Teil dieser Welt ist (Harry Potter, Sandman). Wie groß ist da der Unterschied zu früher, als sich das fantastische in unerforschten Ecken der Welt stattfand ( Lost World, Tarzan)

    3) Den Unterton des Unbehagens, wenn du Fantasy als „zumindest scheinbar sauberer[e] und attraktiver[e]“ bezeichnest, kann ich nachvollziehen. Ich halte z.B. den Fantasy-Rassismus für in gewisser Weise gefährlicher als die Stereotype der alten Abenteuergeschichten. Zum Funktionieren einer Fantasy-Welt gehört, dass der Leser die Regeln der Welt als gegeben akzeptiert. Und wenn dazu gehört, dass Völker grundsätzlich weise, hässlich oder inhärent böse sind, kann man das nicht mal diskutieren, sondern es ist so. Und diese Denkweise kann sich auch in die Wirklichkeit transferieren, nicht umsonst bezeichnen Kriegsparteien in „dieser“ Welt ihre Gener als „Orks“.

    4) Wenn die gleiche Disney-Sauce in einer ‚bunteren‘ Verpackung serviert wird, ist das keine Vielfalt. Vielfalt bei Schneewittchen ist ein spanischer Neo-Stummfilm, der in Sevilla spielt, mt Stierkämpfern und Jahrmarkt. Vielfalt ist, eine russische oder japanische Versionen anzusehen, eine Horror- oder RomCom Variante.

    5) kleine Beobachtung: Es scheint so, als ob Netflix Diversity besser hinbekommt als Disney. Sie casten ebenso „bunt“, aber kriegen viel seltener „Nerd-Rage“ ab. Allein diesen Sommer haben sie zweimal dafür anfällige Serien rausgebracht, ohne dass es nennenswerte Aufregung gab.

    • Stefan Sasse 10. September 2023, 10:22

      1) Die Western erreichen wie gesagt überhaupt kein breitenpublikum mehr. Und Indiana Jones ist auffällig durch den völligen Verzicht auf koloniale Abstecher. Der hat Nazis als Bösewichte, und sie jagen ein Artefakt der griechischen Antike, das Zeitreisen ermöglicht.

      2) Das ist genau mein Argument…?

      3) gefährlicher sicher nicht, aber real.

      4) es ist mehr vielfalt als früher. ist es perfekt? nein. aber besser.

      5) ist halt auch viel kleiner als disney und nicht im ziel eines kulturkampfs durch den gouverneur von florida.

      • cimourdain 11. September 2023, 09:20

        1) a) 2013 war „Django unchained“ einer der erfolgreichsten Filme. „Prey“ und „Yellowstone“ haben auch in den 2020ern ein massives Publikum.
        b) mit Indiana Jones “ völligen Verzicht auf koloniale Abstecher“ schaust du aber nur sehr oberflächlich. Höhepunkt des Films ist die Initialzündung westeuropäischen Imperialismus (Belagerung von Syrakus); der Topos „Archäologe“ ist inhärent kolonial, das Museum, in das er seine Artefakte bringt, liegt selbstverständlich in Europa/USA.

        2) Ja, da sind wir uns in der Idee einig, mir geht es nur darum, dass die Übergangszone so stark ist.

        4) Nein, weil die vorgetäuschte Fassadenvielfalt über die inhaltliche Langeweile hinwegtäuscht. In Venedig wurden die alten weißen (und nach deiner Lesart problematischen) Regisseure Friedkin, Allen, Polanski gefeiert, weil sie interessante Filme machen.

        5) Disney hatte seinen Kulturkampf gegen das halbe Internet lange bevor deSantis da mitgetrollt hat.

    • cimourdain 11. September 2023, 09:34

      Ein Positivbeispiel, das meine Punkte erläutert: Der indische Film „RRR“ (2021). Es ist hauptsächlich ein historischer Abenteuerfilm vor der Kulisse des kolonialen Indien (1) mit genreübergreifenden Einsprengseln von der Buddy-Bromance bis zum Superhelden-Finale (2). Die Engländer werden als auf Filmnaziniveau dumm, brutal und böse dargestellt (3). Um „woke“ Befindlichkeiten kümmert er sich null: die weibliche Hauptrolle ist eine Damsel-in-Distress, alle Handlungpersonen sind eindeutigen Geschlechts, außer (verschiedenen) indischen Ethnien und Engländern kommt keine ethnische Gruppierung vor (4). Aber dank Verbreitung durch Streamingdienste (5) war er auch im Westen (für einen Nicht-Hollywood Film) durchaus erfolgreich.

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