Ariane und ich sprechen über das Grundgesetz, das im Mai 74jähriges Bestehen feierte. Deutschlands Verfassung ist von vielen Mythen umrankt, die wir in einer kurzen historischen Einordnung ausräumen, bevor wir ans Eingemachte gehen: Wie wird das Grundgesetz im politischen Meinungskampf ge- und missbraucht? Wie funktioniert Verfassungsrealität? Welche Rolle spielt das Bundesverfassungsgericht? Braucht es vielleicht etwas weniger Grundgesetz?
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Shownotes:
- Rezension zu Möllers Buch zum Grundgesetz
- Mein Artikel von 2010 (!), der Parlamentarismus erklärt
- Meine Serie zum deutschen Politischen System: Verfassungstheorie und -wirklichkeit, die Akteure, die Institutionen, Gesetzgebung, Probleme
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Vielen Dank; interessant wie immer. Unterschreibe meinerseits praktisch alles^.
Gibt’s also gar nichts zu meckern? 🙁
Doch; man muss nur in den Krümeln suchen 🙂
„Das Institut „Verfassungsbeschwerde“ wurde erst 1968 eingeführt,“ hieß es
Nee, gibt es seit Anfang der fuffziger Jahre. Neu seit der damaligen Groko war, dass die Verfassungsbeschwerde selbst seitdem Verfassungsrang hat. Deswegen wurde dieser spezielle Rechtsweg aber nicht irgendwie „gewichtiger“, man kann ihn nur nicht mehr so leicht abschaffen, falls das jemand vor hat. Im Rahmen des „einfachen Gesetzgebung“ war das auch schon vorgesehen und wurde auch genutzt.
Wegen der „Notstandsgesetze“ war das, richtig. Aber das eigentlich neue Institut anlässlich dessen, welches es vorher nicht gab, war in diesem Zusammenhang der neue Absatz 4 in Art. 20:
„(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Mit „diese Ordnung“ ist die Grundverfassung der Bundesrepublik gemeint, also das Fundamantale. So watt wurde im Parlamentarischen Rat 48/49 auch schon besprochen, aber damals verworfen, namentlich von Carlo Schmid.
Wirft natürlich gleich die Frage auf: Wie muss man sich da einen praktischen „Fall“ vorstellen? Gar nitt so einfach. Läuft wohl darauf hinaus, dass als auslösender „Fall“ nur ein veritabler „Staatsstreich“ mit allem Drum und Dran in Frage kommt. Hmmm. Da in einem solchen Fall wohl eher echte Waffen das Sagen haben und nicht mehr „Experten“ bei Anne Will, entsteht die Frage ob etwaige Staatsstreicher der Hinweis auf Abs.4, Art. 20 so erschreckt, dass sie sodann unverzüglich wieder nach Hause gehen. Man fuchtelt dann vermutlich eher mit Gewehren und weniger mit Gesetzbüchern nebst Kommentaren.
Die Moral von der Geschicht: Die Bindewirkung des GG existiert nur im mindestens einigermaßen gesitteten Normalbetrieb. Dass das GG selbst Vorkehrungen für den Fall zu trifft, dass die Welt untergeht, ist schon niedlich. Wenn die politische Kernschmelze mal tatsächlich kommt, gucken wir halt mal, was davon zu halten ist.
Und die Grundrechte, klar. Ganz richtig eure Hinweise, dass die Grundrechte immer als Katalog zu lesen sind. Das Herausgreifen einzelner Artikel führt auf einen groben Irrweg. Und richtig auch, dass unsereiner da exegetisch mit seinem Latein am Ende ist, bevor man überhaupt angefangen hat. Interessant auch, dass „verfassungsfeindlich/-widrig“ als Argument gegen dies und jenes in Deutschland ein beliebter verbreiteter Volkssport ist. Kaum jemand kommt z.B. in Frankreich in den üblichen Diskursen auf so eine Idee. Da gilt eher die Auffassung: Die Verfassungen kommen und gehen, Frankreich bleibt. Warum keine VI. Republik? Klar, kann’s doch geben. Wird auch zunehmend diskutiert heutzutage.
Desillusionierend: Auch die für die Bibelexegese zuständigen höchsten Richter:innen in Karlsruhe (Frauen waren schon mal in der Mehrzahl, momentan genau fiftiy fifty) mit hochkarätigen Ausbildungen, viele davon Profs, große Erfahrung und, und, und – kommen bei den zu bearbeitenden Fällen nicht selten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Am Ende zählt auch da schlicht und ergreifend die Mehrheit, wie im Gemeinderat von Kleinkleckerdorf. Auch über die Idee „unpolitisch“ oder auch „überpolitisch“ kann man nur lachen. Karlsruhe ist also keineswegs so was Ähnliches wie Gott im Himmel.
Die schlechte Nachricht: Verfassungsgemäß versus -widrig ist empirisch nicht entscheidbar. Am Ende des Tages sind wir da immer bei Meinungen, auch dann, wenn die mit hochkarätiger Expertise unterlegt ist.
Zur Spiegel-Affäre, die angesprochen wurde: So wie angesprochen war’s nicht. Die Verfassungsbeschwerde der Spiegel-Leute wurde abgewiesen; das war schon mehrere Jahre nach den Geschehnissen und im urteilenden Senat bestand Stimmengleichheit; unentschieden; in diesem Fall gilt eine Beschwerde als abgewiesen. Die „Maßnahmen“ à la Adenauer/Strauß waren also im vorliegendem Fall nicht verfassungswidrig. Roma locuta.
Trost für den Spiegel: Dessen Auflage wuchs in den 60ern raketenartig. Auch ein Urteil; vermutlich das wichtigere^. Politisch war die Spiegel-Affäre eine Zeitenwende, wie man heutzutage so sagt. Die Grundidee Was-die-da-oben-so-machen-hat-schon-seine-Richtigkeit wurde in breiten Schichten der Bevölkerung erschüttert. Das Karlsruher Spiegel-Urteil wurde gar nicht groß wahrgenommen – sieht man ja auch daran, dass deine Sicht darauf nicht ganz den Tatsachen entspricht. Damals wurde noch mehr an Gott geglaubt als heutzutage, aber eher weniger an Karlsruhe. War vielleicht gar nicht soooo schlecht^.
Recht ersetzt Politik ist natürlich hoch-problematisch, wurde ja auch ausführlich besprochen. Läuft darauf hinaus: Wenn meine politischen Ideen mit dem Prädikat „Recht“ geadelt werden, bin ich aus dem Schneider. Also verrechtlichen wir am besten alles – natürlich in meinem Sinn; rein damit ins GG oder mindestens mal behaupten, meine politische Lieblingsspeise würde da präferiert. Da kann man das Konto leicht überziehen, was auch heftig geschieht.
Danke für die Korrektur.
Dass das GG nur hält, wenn die Verantwortlichen es akzeptieren, ist eine Binse, die ich schon sehr, sehr lange betone.
Grundrechte: Zustimmung.
Desillusionierend: Ebenso.
Spiegelaffäre: Danke für die Korrektur, und Zustimmung.
Verrechtlichung: Zustimmung.
Danke fürs Hören und ergänzen/kommentieren 🙂
Recht ersetzt Politik ist natürlich hoch-problematisch, wurde ja auch ausführlich besprochen. Läuft darauf hinaus: Wenn meine politischen Ideen mit dem Prädikat „Recht“ geadelt werden, bin ich aus dem Schneider. Also verrechtlichen wir am besten alles
Jep, hattest du weiter oben ja auch angeschnitten, diese getrennten Sphären sind hochproblematisch. Politik wird immer als total schmutzig angesehen und abgeleht, aber Recht und Gesetz natürlich total rein (und neutral weil Gesetz)
Das ist totaler Quatsch, denn wer macht denn die Gesetze? (OMG die Politik) oft sogar noch nach moralischen Gesichtspunkten (Gutmenschentum!) Genauso wie VerfassungsrichterInnen von der Politik bestimmt werden und eigene politische Präferenzen (und meist auch Parteizugehörigkeiten glaub ich) haben. Unpolitisch eh so eine irreale Wunschvorstellung wie totale Neutralität.
Exakt das!
Hören hat sich gelohnt. Danke. Zwei Anmerkungen:
Die Bedeutung des „Papiers“ redet ihr mE zu klein: Zumindest legal kann eine Diktatur sich nicht etablieren wie anno 33. Die Verbesserungen gegenüber der WRV sind sehr relevant.
Die politische Natur des (Verfassungs-) Rechts arbeitet ihr gut heraus. Der Kinderglaube vom „unpolitischen“ oder „überpolitischen“ Recht erstaunt mich immer wieder.
Die Sache ist: legal war das 1933 auch nicht. Es gab nur niemand, der was tun konnte.
Danke.