Christoph Möllers – Das Grundgesetz
Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Anders kann man eine Verfassung, die bald 75 Jahre alt sein wird, kaum beschreiben. Wenige geschriebene Verfassungen erreichen ein solch stattliches Alter. Was genau darin steht und wie es zu lesen ist, ist allerdings vielen Menschen nicht bekannt. Hier spielt eine Dichothomie eine Rolle, die vielfach bemerkt wurde: die Sprache des Grundgesetzes ist schlicht und angenehm lesbar (für einen Verfassungstext), was aber nicht bedeutet, dass sie deswegen auch verständlich wäre. Christoph Möllers vergleicht das mit einem Gedicht, das ebenfalls sprachlich hoch verdichtet Bedeutungsebenen verschränkt und der Kompetenz der Textanalyse (in dem Fall der lyrischen) bedarf, um tatsächlich verstanden zu werden. Da wir nicht alle Zeit für ein juristisches Staatsexamen haben und Grundgesetzkommentare ohne ein solches auch nicht verständlich sind, ist sein schmales, in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienenes Bändchen hier mehr als hilfreich.
Möllers beginnt seine Darstellung in Kapitel 1 vorne, bei „Vorgeschichten und Entstehung“. Zuerst beschreibt er in Abschnitt 1 die Vorgeschichten. Die Landesverfassungen vor 1848 sieht er als wenig prägend für das Grundgesetz; vielmehr sei es die Sprache der Paulskirchenverfassung, die stilbildend war und an der sich das Grundgesetz deutlich orientiert. Die Weimarer Reichsverfassung bekommt als erste demokratische und republikanische Verfassung mehr Aufmerksamkeit. Möllers wiederholt die mittlerweile konsensuale Feststellung, dass die Weimarer Reichsverfassung besser als ihr Ruf war, und attestiert dem Grundgesetz eine Überkompensation zum Schutz vor Extremismus, die die Rechtsprechung Weimars übersehe. Gleichzeitig überrascht die Fortführung bestimmter Traditionen aus dem Kaiserreich, etwa die Ausgestaltung des Reichspräsidentenamts oder die starke Stellung des Staats, nicht. Der Nationalsozialismus schließlich dient dem Grundgesetz vor allem als Negativfolie. Seine Missachtung von Grundrechten, sein Aushebeln jeglicher rechtsstaatlicher Prinzipien und seine Vorrangstellung des Staats und seiner Interessen vor dem Individuum waren Negativpunkte, gegen die sich die Ordnung des Grundgesetzes explizit verwahrte.
Von diesem Kurzüberblick geht es zu Abschnitt 2, den Vorentscheidungen. Diese beziehen sich vor allem auf die Arbeit in Herrenchiemsee, wo ein Entwurf erarbeitet wurde, der maßgeblich sein sollte. Für mich ist die Parallele zum Einfluss des Virginia Plan bei amerikanischen Verfassungsgesetzgebung offensichtlich. Hier wurde auch beschlossen, dass das Grundgesetz ein reines Provisorium sein sollte, um die Wiedervereinigung nicht zu verunmöglichen.
In Abschnitt 3 untersucht Möller den Parlamentarischen Rat, indem er kurz entscheidende Personen beschreibt – vor allem Carlo Schmid als Staatsrechtler und Konrad Adenauer als öffentliches Gesicht und vorrangigen „Politiker“. Zentrale Streitpunkte betrafen vor allem den Staatsaufbau – die Sozialdemokraten wollten möglichst viel Zentralismus, Alliierte und Christdemokraten Föderalismus, der zudem dem Charakter als Provisorium mehr entgegenkam. Der Streit verschiedener Verfassungsverständnisse ist sehr rechtsphilosophisch – er ging mir ehrlich gesagt über mein Verständnis. Am Beispiel der Menschenwürde, die in Weimar bei weitem nicht so zentral war wie im Grundgesetz, zeigt Möllers den Umgang mit dem Weimarer Erbe genauer auf. Der Konflikt lief hier vor allem darauf ab, ob die Menschenwürde eine rechtliche Norm schuf (was die SPD erklärte) oder einen moralischen Zustand nur festschrieb (was die CDU behauptete). Formal behielt die SPD, in der Sache die CDU Recht, was die hervorgehobene Stellung der Menschenwürde in der Auslegung des Grundgesetzes bis heute erklärt. Abschnitt 4 erläutert kurz die Legitimation des Grundgesetzes: da nicht das gesamte deutsche Volk gefragt werden konnte, bezog es seine Legitimation wesentlich aus seinem Provisoriumscharakter.
In Kapitel 2, „Das Grundgesetz als Text“, erläutert Möllers in Abschnitt 1 zuerst Aufbau und Gliederung. Das Grundgesetz stellt einen Grundrechteteil voran, enthält dann zweimal drei Abschnitte zum Staatsaufbau (eine unnötig komplizierte und nicht immer eingängige Konstruktion), ehe es noch Bestimmungen zu Finanzverfassung, Notstand und Übergangsbestimmungen auflistet. Für Möllers aber ist eine Zweiteilung entscheidend: die 19 Grundrechtsartikel zu Beginn, das Scharnier der Staatsziele in Artikel 20 und dann der ganze Rest, der den Verfassungsaufbau vorgibt.
Im zweiten Abschnitt erläutert er dann anhand einiger Beispiele zentrale Normen des Grundgesetzes. Er erläutert den umfassenden Begriff der Menschenwürde, die in Deutschland einen einzigartig hervorgehobenen Platz vor allen anderen Normen besitzt; die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, die vor allem eine Aspiration beschreibt, die von Konservativen und Reaktionären erbittert bekämpft wurde und bis heute bekämpft wird; die Meinungsfreiheit als konstitutives Element der Demokratie; das Eigentumsrecht und seinen schwammigen Cousin, die Verpflichtung zum Gebrauch für das Allgemeinwohl; die Bedingung, dass alles staatliche Handeln vom Volk auszugehen habe (also von vom Volk bestimmten Institutionen); die Rolle der Parteien, die er als eine weitere Überkorrektur aus Weimar empfindet, da ihre Konstitutierung als Staatselement zu allen Arten von unangenehmen Verflechtungen beitrug; den wohl missverstandendsten Artikel, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten (die eben nicht von politischem Druck befreit); und zuletzt den quixotischen Artikel 146, der die Abschaffung des Grundgesetzes regelt.
Im dritten Abschnitt beklagt er die Natur der Textänderungen des Grundgesetzes, die allesamt eher die sprachliche Schönheit des Originals zerstört hatten und auf ein Übermaß von verfassungsrechtlicher Festschreibung politischer Konflikte zurückzuführen sind, währen der vierte Abschnitt zur Sprache des Grundgesetzes gerade diese Schönheit noch einmal darlegt.
Das dritte Kapitel, „Das Grundgesetz als Norm“, erläutert im ersten Abschnitt den Vorrang der Verfassung: alle Bundes- und Landesgesetze müssen mit ihr konform gehen oder ihre Gültigkeit verlieren, ein entscheidendes Merkmal der Verfassung. Der zweite Abschnitt erläutert das Bundesverfassungsgericht in der Entwicklung des Grundgesetzes. Seine Existenz ist nicht selbstverständlich; der Bundesgerichtshof (BGH), der sich als direkte Fortsetzung des Reichsgerichts verstand und reaktionär ausgerichtet war, beanspruchte diese Rolle für sich und führte zähe Abwehrkämpfe gegen das BVerfG, die sich bis heute fortsetzen. Der dritte Abschnitt skizziert das Wechselverhältnis von Grundgesetz und Politik: das Grundgesetz beschränkt zwar die Politik; gleichzeitig aber beruft sich diese gerne darauf, weitet ihre Spielräume aus und nutzt es als aktive Waffe in der politischen Auseinandersetzung. Üblicherweise stand das BVerfG in Opposition zu der jeweiligen Regierung und schränkte ihre Spielräume ein.
Diese Auseinandersetzungen werden dann im vierten Abschnitt, Politische Epochen im Spiegel des Grundgesetzes, genauer aufgeschlüsselt. Die institutionelle Konsolidierung und die Anfänge des BVerfG waren noch tastende Schritte, in denen die Richter das Abwägen von Grundrechten ebenso erfanden wie ihre Ausweitung. Diese wurden dann in der „permanenten Grundrechterevolution“ immer weiter ausgedehnt, indem das BVerfG die Bedeutung der Grundrechte und die Ansprüche der Bürger*innen darauf ausweitete. Das deutsche Recht erlaubt mit der Verfassungsbeschwerde hier ohnehin viel Spielraum. Die Notstandsgesetzgebung, die in den 1960er Jahren solche Sprengkraft entwickelte, hat sich in der Realität glücklicherweise als bislang irrelevant erwiesen, während das BVerfG in den 1970er Jahren den Reformeifer der sozialliberalen Koalition empfindlich beschnitt.
In den 1980er Jahren erlebte die Kohl-Regierung ähnliche Dämpfer, am berühmtesten wohl im Falle des Volkszählungsurteils 1983, bei dem das BVerfG das Recht auf informelle Selbstbestimmung erfand. Die Entscheidung, die Neuwahl 1983 über die absichtlich verlorene Vertrauensfrage zuzulassen, zeigte dagegen wie auch 2005 eine weise Selbstbeschränkung des Gerichts, politische Probleme den Politiker*innen zu überlassen. Leider ist solche Selbstbeschränkung nicht allzu häufig. Dass es 1989/90 nicht zu einer neuen Verfassung nach Artikel 146 gekommen sei, findet er angesichts der Qualität des Grundgesetzes und der Änderungsmöglichkeit nur folgerichtig.
Die großen Föderalismusreformen 1994 und 2006 ordneten das Verhältnis zwischen Ländern und Bund neu, was auch dringend nötig war: die Bundesländer erfüllten ihre eigentliche Aufgabe bereits lange nicht mehr und waren de facto bundespolitische Player geworden. Die wechselnden Mehrheiten im Bundesrat und die spätere Zersplitterung des Parteiensystems machten diesen zudem zuerst zu einem Blockadeinstrument und haben ihn heute zu einem bedeutungslosen Gremium einer peramenten Allparteienregierung verkommen lassen. Möllers kritisiert zudem die Ausweitung der Staatsziele, die ständig – konsequenzfrei – ins Grundgesetz geschrieben wurden und skizziert noch kurz die Internationalisierung des Grundgesetzes durch die europäische Integration, der auch die Struktur des Bundestags folgte.
In Kapitel 4 untersucht Möllers „Das Grundgesetz als Kultur“. Im ersten Abschnitt macht er sich an den Begriff des Verfassungspatriotismus, der als Ersatz für nationalstaatlichen Patriotismus seit den 1970er Jahren durch die Debatte geistert. Zwar schätzt er die rechtsphilosophische Untermauerung der entsprechenden Argumente, bezweifelt aber, dass dieser Verfassungspatriotismus Breitenwirkung entwickeln konnte und kann. Gleichwohl empfindet er die Idee, einen Patriostismus, der explizit vom Nationalstaat losgelöst ist (das Grundgesetz war ja ein Provisorium ohne Staatsvolk!) als wegweisend.
Im zweiten Abschnitt skizziert er kurz die Geschichte der Staatswissenschaft, die als Nebendisziplin der Jura im späten 19. Jahrhundert konsolidiert wurde. Sie beschreibt er als lange Zeit inhärent konservativ bis teilweise reaktionär, in latenter Opposition zum Parlamentarismus und in einem Bekenntnis zur Macht des Staates, was durch die Verschränkungen der Wissenschaftler*innen über Posten und Gutachten mit demselben nicht verbessert würde. Der dritte Abschnitt betrachtet kurz das Grundgesetz im Ausland, das dort in Möllers‘ Erzählung vor allem in lateinamerikanischen und asiatischen Ländern große Anerkennung genießt. Die deutsche Rechtstradition werde oft höher geschätzt als die angelsächsische, wenngleich sich diese dank der Sprache und amerikanisch-britischen Macht weiter verbreitet habe.
Im fünften Kapitel skizziert Möllers „Herausforderungen“. Im ersten Abschnitt geht es um die Herrschaft des Volkes und die Herrschaft des Rechts, also den Erhalt des Rechtsstaatsprinzips und der demokratischen Legitimation aller staatlichen Entscheidungsgremien. Der zweite Abschnitt zu Öffentliche Sicherheit und Schutz der Verfassung zeigt kurz das problematische Verhältnis zwischen allzu frei agierenden Geheimdiensten (vor allem des Verfassungsschutzes) auf, verwirft den angeblichen Dualismus von Sicherheit und Freiheit – Freiheit sei nur in Sicherheit zu haben – und erklärt die problematische Funktion von Parteiverboten. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit Religion. Die Vorrangstellung der christlichen Amtskirchen führe auf der einen Seite zu deren „Verstaatlichung“, erschwere andererseits aber die Gleichstellung solcher Religionsgemeinschaften, die nicht über halb-staatliche Organisation verfügen. Dieses Erbe des Parlamentatischen Rats wird sich kaum auflösen lassen.
Der vierte Abschnitt befasst sich mit der demokratischen Öffentlichkeit, die zu gewährleisten im Zeitalter des Internets und der privaten Medien nicht leichter wurde. Zwar bekräftigt Möllers wie das BVerfG grundsätzlich die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen, weist aber deutlich auf deren geschwundene Legitimation und wandelnden Kern hin (die immer stärkere Orientierung an Unterhaltung), die das immer schwieriger aufrechtzuerhalten mache. Ein weiteres heißes Eisen ist der fünfte Abschnitt, der sich mit der Wirtschaftsverfassung beschäftigt. Möllers weist emphatisch darauf hin, dass Regulierungen wirtschaftliche Freiheit oft überhaupt erst ermöglichen und daher zwingend notwendig seien. Er betont zudem, dass das Grundgesetz weder eine kapitalistische Wirtschaftsweise vorschreibe noch irgendeine andere bevorzuge; die Wirtschaftsverfassung sei vielmehr dezidiert im politischen Bereich zu verorten. Zuletzt befasst er sich im sechsten Abschnitt mit der Europäischen Union; nicht erst seit dem ultra-vires-Urteil des BVerfG ist das Spannungsverhältnis zwischen europäischen Rechtsnormen und denen des Grundgesetzes ein ähnlich virulentes Problem wie die Neigung von Regierungen, unpopuläre Beschlüsse über den Umweg transnationaler Organisationen laufen zu lassen.
In seinem Schluss, „Der fehlende Grund des Grundgesetzes“, versucht sich Möllers dann noch an einem Fazit. Wenig überraschend sieht er im Grundgesetz ein grundsätzlich relevantes und starkes Dokument, das allerdings im politischen Betrieb noch überbetont wird. Die Neigung der deutschen Politik, politische Fragen zu verrechtlichen, habe viele Nachteile. Er bewundert allerdings seine Fähigkeit, sich anzupassen und glaubt deswegen an seine Zukunftsfähigkeit.
Ich empfand die Lektüre als juristischer Laie als sehr erhellend, auch wenn mir viele Argumentationen aus den Politikwissenschaften bereits bekannt waren. Der schmale Band ist als Einstieg in die faszinierende deutsche Verfassungsstruktur hervorragend geeignet und liest sich sehr flüssig, ohne dass der Autor deswegen an Klarheit verlieren würde. Das alles gilt natürlich nur, wenn man ein gewisses nerdiges Interesse an Verfassungstexten hat. Aber das ist ja für Lyrik auch nicht anders.
Danke!
Gerne. Ende der Woche kommt auch noch ein Podcast dazu 🙂
Was ist denn an Art. 146 bitte quixotisch?
Die Situation, die er regelt, ist absurd. Das GG erlaubt seine Abschaffung, wenn es abgeschafft wird. Aber für die Situation brauche ich keine Regel. Wenn das Staatsvolk sich eine neue Verfassung geben will, wird es das tun. Das braucht die alte nicht zu erlauben, weil das immer so ist.
„Wenn das Staatsvolk sich eine neue Verfassung geben will, wird es das tun. Das braucht die alte nicht zu erlauben, weil das immer so ist.“
Es gibt halt auch andere als das Staatsvolk, die auf die Idee kommen können, dem Staat eine neue Verfassung zu geben. Die Reichsbürger lassen grüßen. So absurd scheint es daher nicht, wenn die Verfassung in ihrem letzten Artikel auch eine Regel dafür aufstellt, was ihre legitime Ablösung konstitutieren würde, und was nicht. Das GG erlaubt halt nicht einfach seine Abschaffung, wenn es abgeschafft wird, sondern wenn dessen Regeln dazu eingehalten werden (im Endeffekt ja nur eine Regel). Das mag im Angesicht von Waffengewalt ein moot point sein, aber im Angesicht von Waffengewalt wäre so ziemlich alles in der Verfassung ein moot point.
Das ist aber exakt der Punkt: Das GG versucht etwas zu regeln, was unter anständigen Demokraten keiner Regelung bedarf und in jedem anderen Fall völlig sinnlos ist. Klarer Fall von „gut gemeint“ 🙂 .
Die Regel ist, dass eine Mehrheit eine neue Verfassung will. Wenn den Reichsbürgern das Werben um 51% gelingt, haben sie das geschafft.
Mag sein, aber es ist dann eine Mehrheit und keine Waffengewalt. Und dass die Stange für eine neue Verfassung so niedrig liegt – gerade gegenüber Änderungen der Verfassung selbst – ist halt auch bemerkenswert. Weil so absurd ist es ja auch nicht das jemand kommt und sagt, ich habe hier mal was ausgearbeitet und hätte gerne für in einem halben Jahr eine Abstimmung darüber anberaumt (ich erinnere mich dunkel, dass es bei Querdenkern ja in Ansätzen solche Bestrebungen gab). Und dass der dann dafür nicht mal ne 2/3 Mehrheit braucht…
Zeigt: Man kann und könnte sich mit guten Gründen eine Menge Gedanken machen auch über das genaue Prozedere, welches einen legitimen Verfassungswechsel ausmacht.
Das Ding ist: es ist eine Mehrheit des deutschen Volkes, nicht eine Mehrheit des Bundestags. Wenn die das gemeint hätten, hätten sie es reingeschrieben. Wie diese Mehrheit des Volkes aussehen soll, ist völlig unklar, aber ich denke nicht, dass man einer neuen verfassungsgebenden Versammlung vorbeikäme.
Je mehr man sich damit auseinandersetzt, umso weniger finde ich den Artikel eigentlich quixotisch, eher merkwürdig unterbestimmt.
Ich hab bei der BpB was interessantes gefunden https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32023/das-grundgesetz-eine-verfassung-auf-abruf/
Danke, insbesondere die historischen Aspekte mit der Wiedervereinigung waren mir neu, ich war jetzt davon ausgegangen, dass das alles direkt nach Art. 23 gelaufen war, vor allem, weil man in der Nachwendezeit halt immer diese Diskussion über 23 vs. 146 gehabt hat. Dass der völkerrechtliche Vertrag von Art. 23 gar nicht vorgesehen war und es im engen Sinne eigentlich kein Beitritt war, habe ich nicht gewusst.
Ich vorher auch nicht.
Zitat FS:
„ich war jetzt davon ausgegangen, dass das alles direkt nach Art. 23 gelaufen war, “
So war es auch. Die Haarspaltereien im verlinkten Artikel sind etwas irreführend. Hier der Art. 1 des entscheidenen „Vertrag
zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland
über die Herstellung der Einheit Deutschlands
-Einigungsvertrag- “ :
„(1) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Für die Bildung und die Grenzen dieser Länder untereinander sind die Bestimmungen des Verfassungsgesetzes zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 22. Juli 1990 – Ländereinführungsgesetz – (GBl. I Nr. 51 S. 955) gemäß Anlage II maßgebend. “ Dann kommt noch was zu Berlin und dann alle Einzelheiten.
Vorausgegangen (im August) war ein formeller Beitrittsbeschluss der Volkskammer der DDR gem. Art. 23. GG der Bundesrepublik. Das Ding lautet so:
„Die Volkskammer erklärt den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Sie geht davon aus,
dass die Beratungen zum Einigungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind,
die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen einen Stand erreicht haben, der die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regelt,
die Länderbildung soweit vorbereitet ist, dass die Wahl in den Länderparlamenten am 14. Oktober 1990 durchgeführt werden kann.“
Auf die taggenaue Staatsrechtslage der DDR AM 3.Oktober kommt es also gar nicht an. Hauptsache, die bestand noch territorial und der „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ auch^ und das war ja auch so . Im 2 + 4-Vertrag war diese Sache eh sekundär. Eine interne Sache der Deutschen.
Mehrheitlich beschlossen im „Palast der Republik“; weit nach Mitternacht und nach stundenlanger Debatte, die sich hinzog. Auf hohem Niveau übrigens; hab das damals im Fernsehen geguckt. Ein gewisser Joachim Gauck, den damals noch keiner kannte, stimmte – aus seiner Fraktion Bündnis 90 der Einzige, die anderen haben sich enthalten – dagegen, weil er einen anderen Weg befürwortete. Das war die allgemeine Debatte hüben und drüben mit allerlei Facetten. Ernst Benda zum Beispiel, ehemaliger, zu diesem Zeitpunkt schon ausgeschiedener Präsident des BVerfG, schlug Art 23 nebst einer Volksabstimmung vor . Eine Art Kompromiss zwischen den 23ern und den 146ern^. Dazu kam es allerdings auch nicht.
DIE Einordnung ist meiner Erinnerung nach auch schlicht inkorrekt.
Das ist ein grundsätzlicher Fehler bei Dir. In einem demokratischen und Rechtsstaat entscheidet eben nicht nur die Mehrheit. So sind einzelne Artikel des Grundgesetzes unveränderbar, auch nicht bei Einstimmigkeit. Vor dem Lissaboner Vertrag war ein Austritt aus der EU rechtlich ausgeschlossen.
Damit eine zivile Demokratie funktionieren kann, müssen sich Bürger wie Institutionen an die rechtlichen Grundlagen halten. Und da kann es eben sein, dass auch 100% nicht ausreichend sind.
Freu‘ Dich, genau das fesselt Extremisten und Populisten aller Art.
Der fragliche Artikel spricht explizit von der Mehrheit.
Äh, nee, nur von der freien Entscheidung des deutschen Volkes.
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_146.html
Prinzipiell würde ich davon ausgehen, dass bei einer Abstimmung zwischen zwei Alternativen (was es wohl wäre) das einfache Mehrheitsprinzip gilt. Aber im Artikel steht es nicht.
Zitat Stefan Pietsch:
„So sind einzelne Artikel des Grundgesetzes unveränderbar“
Richtig. Das heißt aber nicht, dass das GG als Ganzes nicht legal ersetzt werden kann. Genau das erlaubt Art. 146. Im letzteren Fall handelt es sich nicht um ein „Änderung des Grundgesetzes“ gem. 79 (3).
Wie dieser komische Art 146 in der aktuellen Fassung zustande gekommen ist, kann man ja in Stefan Sasses Verlinkung nachlesen. Im Grunde ein Kuhhandel. In der SPD bestanden im Hinblick auf die Anwendung von Art 23 anno 1990 erhebliche Vorbehalte, die mussten aber zustimmen wegen 2/3. Tatsächlich war der 23 für den „Fall“ 1990 auch nicht gedacht. Es müsse jetzt aber alles schnell gehen, hieß es.
So giltet der 146 auch weiterhin nach dem Motto: Das kann man ja später in Ruhe^ immer noch machen und zwar nicht nur im konkreten Fall der Wiedervereinigung (alte Fassung), weil dieser Fall ja jetzt mit Art. 23 erstmal erledigt wird, sondern überhaupt, wie auch immer.
Man muss schon sehr phantasievoll sein, um sich eine konkrete Anwendung von Art 146 vorzustellen^. Vielleicht eine Vorsorge für zukünftige juristische Korinthenkacker nach einer Revolution. Die können sich dann darauf berufen und haben es nicht so schwer wie mit der Frage, wie die Weimarer Verfassung eigentlich genau gestorben ist und ob überhaupt ausreichend „sauber“ . „Durch den Hitler“ ist schon mal falsch, nur „politisch“ richtig, aber wie man da sieht, kommt es darauf an. Aber es gibt schon diesbezüglich eine gebastelte „überwiegende Auffassung“ oder auch „hL“ von Staatsrechtlern, mehr nicht. Aber eigentlich interessiert das ja auch keinen.
Zitat:
„Freu‘ Dich, genau das fesselt Extremisten und Populisten aller Art.“
Glaub ich nicht. Wer sagt denn, dass die Fesseln halten ? Gem. 146 GG müssen die ja auch nur im herkömmlichen Normalbetrieb halten. Im Übrigen wurde die Politik – falls es knackig kämpferisch, und das nicht nur mit Worten, wird – noch nie von der Juristerei besiegt; man kennt eher den umgekehrten Fall^.
Wer glaubt, Extremisten ließen sich von Verfassungsbestimmungen aufhalten, für den hab ich einen Palast in Venedig günstig anzubieten.
Wer sagt denn, dass die Fesseln halten ?
Stimmt. Die Pandemie hat da bei mir erhebliche Zweifel geweckt. Mit welcher Wollust sich da die meisten mittigen Parteien zusammentaten um zu massiven Grundrechtseinschränkungen auf Dauer zu schreiten, hat mich nachhaltig verstört. Und die Regierung konnte selbst dann nicht von den Grundrechtswegnahmen lassen, als alle Welt zeigte, dass die Deutschen (wieder einmal) auf dem Holzweg waren.
Wie sehr wir uns von den zivilen Regeln entfernen, zeigt sich daran, dass Teile des politischen Establishments Serienstraftäter feiern und in der Pandemie Bürger, die gegen die Mehrheitsmeinung standen, aber keine Straftaten verübten, verfolgt sehen wollten.
Ein sehr düsteres Kapitel unserer Nachkriegsgeschichte.
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-101.html
Ich kenne die Urteile. Ändert das etwas?
Während der umfangreichsten Grundrechtseinschränkungen der Geschichte schwieg das Bundesverfassungsgericht die meiste Zeit. Und es waren später nicht die Richter, die einordneten, sondern die Politik. Selbst der heutige Gesundheitsminister Lauterbach räumt inzwischen ein, dass vieles falsch und zu viel war. Doch im Frühjahr 2021, als die ganze Welt bereits die Einschränkungen zurücknahm, verschärfte die deutsche Politik. Und ohne Regierungswechsel im Herbst 2021 hätte Deutschland noch den Sommer 2022 Maske getragen – ein Utensil, dass nach einer umfangreichen Metastudie zwar den Einzelnen schützt, nicht jedoch das Ausbreiten einer Pandemie verhindert oder einschränkt. Und nur zu einem solchen Zweck lässt sich ein übergeordnetes Interesse begründen.
Im Winter 2021 / 2022 führte das Land eine scharfe Debatte über eine generelle Impfpflicht. In anderen Bereichen wie dem Gesundheitswesen und der Bundeswehr war diese eingeführt. Auch hier hat inzwischen die Politik (ohne Konsequenzen) eingeordnet, dass man damit Menschen einer zusätzlichen (und unnötigen) Gefahr aussetzte.
Die große Mehrheit hier im Blog hat das Vorgehen vehement unterstützt. Irgendwelche Einsicht, irgendwo katastrophal (!) falsch gelegen zu haben? Wir wissen längst (andere Länder früher als wir) dass Kinder nicht die Verbreiter des Virus waren. Dennoch schloss Deutschland die Schulen am Längsten. Irgendwelche Einsichten? Schon gar nicht bei den Lehrern hier im Blog.
Das ist pures Gift für eine Gesellschaft.