Rezension: Neil Gaiman – Sandman Overture

Rezension: Neil Gaiman – Sandman Overture

Ich schäme mich ein wenig, muss ich zugeben. Mir ist nämlich die Existenz von „Sandman Overture“ völlig entgangen, als ich 2021 das ganze Epos von Gailman in der neuen, fünfbändigen Edition gelesen und rezensiert habe (hier, hier, hier und hier). Aber ich hab ja auch vergessen, Band 4 zu rezensieren, irgendwas ist immer. Zumindest den Fehler mit „Overture“ habe ich nun korrigiert und den ebenfalls recht neuen Sammelband herangeschafft und gelesen. Und, was soll ich sagen: es war ein Fest. Nicht nur hat Gailman eine absolut faszinierende Geschichte vorgelegt, die zwar technisch gesehen ein Prequel ist, sich aber eigentlich nur mit dem Wissen des ganzen Epos vernünfig genießen lässt. Nein, „Overture“ ist auch ganz große Comic-Kunst, weil J. H. Williams III. nicht nur grundsätzlich beeindruckende Zeichnungen erschafft, sondern auch die Grenzen des Mediums in einem Ausmaß ausreizt, das ich selten zuvor gesehen habe. Wo Dave Gibbons bei „Watchmen“ eine strenge Symmetrie von neun Panels pro Seite einhält, um das Augenmerk auf der eigentlichen Geschichte zu halten (so Alan Moores erklärte Absicht), sprengt J. H. Williams III. nicht nur die Idee von Panels, sondern auch gleich davon, dass maximal eine Doppelseite zur Verfügung stehen könnte.

Mehrmals finden sich in „Overture“ riesige Splashs auf Aufklappseiten, Texte und zerbrechende Panels sind manchmal im oder gegen den Uhrzeigersinn auf einer Doppelseite angeordnet, Bilder werden in anderen Bildern verortet, der Kosmos selbst fasst Rückblenden in die Vergangenheit ein, die wiederum das Geschehen der Gegenwart aufbrechen – die kreative Vielfalt in Worten zu beschreiben, ist fast unmöglich. Die Zeichnungen selbst sind ebenfalls atemberaubend gut geworden, und da sie alle vom selben Zeichner sind, entsteht eine größere Kontinuität, als dies bei dem Opus der anderen fünf Bände der Fall ist. Damit endet allerdings meine künstlerische Expertise auch; ich kann zwar die Kunst auf den Seiten weiter bestaunen, aber nicht clever dazu schreiben. Wenden wir uns also der Geschichte zu.

Diese beginnt auf einem erdähnlichen Planeten, auf dem (unter anderem) eine Rasse intelligenter fleischfressender Pflanzen lebt. Wie bei allen intelligenten Lebewesen kennt auch sie einen Aspekt von Traum, der mit der beunruhigenden Erkenntnis beginnt, dass irgendetwas sehr, sehr falsch ist – um dann spektakulär und schmerzhaft zu verbrennen. Die Bedeutung dieses Zwischenfalls wird erst spät am Ende des Bands klar. In der Gegenwart des Jahres 1913 irdischer Zeitrechnung, also kurz vor der Gefangennahme Traums durch einen gewissen überehrgeizigen britischen Logenvorsitzenden, begegnet Traum einer Menge von Aspekten seiner selbst. Neben der amüstanten Feststellung, dass Traum kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse ist – er erträgt die emohafte Selbstzentriertheit der anderen Aspekte kaum – stellen sie geeint fest, dass irgendetwas sehr falsch läuft und dass sie – er? – herausfinden müssen, was es ist.

Zusammen mit dem Katzenaspekt seiner selbst und einem außerirdischen Mädchen namens Hoffnung (subtil!) macht sich Traum auf, herauszufinden, was passiert ist. In aller Kürze, falls so etwas überhaupt möglich ist: als der erste Vortex erschien, weigerte sich Traum lange, diesen zu töten, wodurch beinahe eine Katastrophe geschah. Dieses Ereignis hat Welleneffekte durch den Kosmos geworfen, dessen Existenz nun bedroht ist. Zumindest in diesem Universum, denn wenn es tatsächlich untergehen sollte, würde ein neues entstehen (oder weiterexistieren, wer kann das schon so genau sagen), das ebenfalls wieder Aspekte der Endlosen, zu deren illustren Familie Traum gehört, aufweisen würde. Die Frage, ob der Untergang des Universums verhindert werden sollte, ist daher so eindeutig gar nicht zu beantworten.

Der Weg führt Traum denn auch zuerst zu seinem Vater, Zeit. Es ist das erste Mal dass wir den Eltern der Endlosen begegnen, und Zeit ist nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse. Wer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft personifiziert hat kein sonderlich ausgeprägtes Interesse an irgendeinem spezifischen Zustand, so dass Traum hier keine Hilfe zu erwarten hat. Ähnlich unkooperativ erweisen sich die Sterne, deren Personifizierungen in einer eigenen Stadt, mit eigenen Gesetzen, leben und Traum gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen sind. Einer der Ihren ist über Traums Handlungen verrückt geworden, und sein Wahnsinn ist es, der das Universum zerreißt. Die unkooperativen Sterne stoßen Traum in ein Schwarzes Loch, wo er seiner Mutter, Nacht, begegnet. Nicht unbedingt schockierend ist, dass sie nicht gut auf Zeit zu sprechen ist und mit der Vorstellung, dass das Universum sich in ein Schwarzes Nichts verwandeln könnte, eigentlich nicht unzufrieden ist.

Das Universum zu retten ist Traums Aufgabe, und eine, die beinahe unmöglich ist. Zusammen mit Träumer*innen aus den verschiedensten Galaxien reist er nun mit einer Art Traum-Arche durch den Kosmos. Um den Punkt noch zu verdeutlichen, wird Hoffnung getötet – nicht ohne Traum damit zu beauftragen, ihren Namen niemals zu vergessen, auch wenn die Geschehnisse von „Overture“ selbst bald der Vergessenheit anheim fallen werden. Tatsächlich vergisst Traum ihren Namen nicht; man erinnere sich an das Duell gegen Choronzon im ersten Sammelband (vierter Band insgesamt). Den Träumenden auf der „Arche“ gelingt es schließlich, gemeinsam eine Welt zu erträumen, in der Traum den Vortex so tötete, wie es sein Auftrag war – und damit das Universum zu retten (auch diese Idee dürfte den geneigten Lesenden aus der eigentlichen Saga bekannt vorkommen). Die Universumsrettung aber erschöpfte Traum, weswegen er denn auch gefangen wird – der Kreis schließt sich.

Ich habe hier nur die absolute Oberfläche eines absolut epischen und universumumspannenden Plots angerissen, der so viele verschiedene Ebenen und Metaphern hat, dass ich die zweite Lektüre des Bandes kaum abwarten kann. Wer wie ich den Sandman schon gelesen, Overture aber auch verpasst hat, sollte die Lektüre dringend nachholen.

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