Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.
Diesen Monat in Büchern: Sandmann, Sowjetunion, Thronenspiel, Schlüssel, Bone
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –
BÜCHER
Vladimir Zubok – A Failed Empire
Die Sowjetunion, so die zentrale These Zuboks, war geprägt von ihren „starken Männern“: Stalin, Chruschtschow, Breschnjew, Andropow, Tschernenko, Gromyko und Gorbatschow. Anhand ihrer Amtsperioden untersucht er die Geschichte der Sowjetunion.
Die Stalin’sche Terrorherrschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs stellt dabei den Startpunkt des Buches dar. Zubok zeigt auf, die wie Paranoia des Kreml-Diktators nicht nur sein direktes Umfeld gefährdete, sondern auch den Staat und die Gesellschaft selbst in einem Zustand militanter Armut hielten. Die Konzentration auf Schwerindustrie und Rüstung besaß geradezu absurde Ausmaße, der Grad der ständigen Kriegsbereitschaft ein ebenso ökonomischer wie emotionaler Klotz am Bein.
Nach Stalins Tod versuchte Chruschtschow, der sich in den folgenden drei Jahren als Herrscher durchsetzte und die Fiktion der „kollegialen Regierung“ beendete, einen Kurswechsel. Sein „Tauwetter“ aber konnte die inneren Widersprüche des Systems nicht beseitigen, konnte keine grundlegende Kritik und Reform zulassen. Chruschtschows ständiges Lavieren, impulsives Agieren und wenig durchdachtes Handeln führte zu außenpolitischen Debakeln wie der Kubakrise. Gleichzeitig aber schuf das „Tauwetter“ die Voraussetzungen für eine kleine Elite, freier zu denken und zu diskutieren – jene Elite, die später mit Gorbatschow an die Macht kommen und einen ernsthafteren Reformversuch unternehmen würde.
Chruschtschow einstweilen aber wurde von Breschnjew abgelöst. Die Änderung der UdSSR konnte man bereits dadurch sehen, dass das unblutig vonstatten ging, anders als die Diadochenkämpfe nach Stalins Tod. Breschnjew beendete das „Tauwetter“ und führte jene bleierne Repression ein, für die die UdSSR und der Ostblock generell bekannt sein würden. Für die Bevölkerung brachte die Entspannungspolitik mit dem Westen einen besseren Zugang zu Konsumgütern.
Als Breschnjew starb, folgten ihm gleich drei unbedeutende Vertreter seiner Generation nach. Keiner von ihnen besaß die mentale Flexibilität, das knirschende Gebäude des Sowjetstaates zu reformieren. In ihrem Alter und ihren Krankheiten wirkten sie wie Personifizierungen einer verkrusteten Gesellschaft. In dieser festgefahrenen Situation wurde Gorbatschow, Vertreter der „Tauwetter“-Generation, zum Generalsekretär. Seine Politik von Glasnost und Perestroika folgte keinem Plan, sie war instinktgetrieben und vertraute geradezu blind auf die gutartige Kooperation des Westens. Unfähig zu verstehen, was um ihn herum geschah, ist Gorbatschows ewiger Verdienst die unblutige Abwicklung des sowjetischen Imperiums.
Generell hat Zubok kein gutes Bild von dem Führungspersonal der KPdSU. Stalin war ein brutaler Schlächter
Neill Gailman – The Sandman Deluxe Edition Vol. 1 (Deutsch)
Schon seit gefühlt einer halben Ewigkeit habe ich mir vorgenommen, meine literarischen Kenntnisse im Graphic-Novel-Bereich durch die Lektüre von Gailmans „The Sandman“ aufzubessern, der zu den absoluten Klassikern des Genres gehört. Ich wusste praktisch überhaupt nicht, was mich erwartet.
Die Cover jedenfalls, die scheinbar auf maximalen Abschreckungseffekt hin konzipiert wurden, sollten nicht abschrecken. Ich mochte den Zeichenstil sehr, der die Grundidee der Hauptfigur – eine antropomorphe Repräsentation des Traums – sehr durch zahlreiche surreale und, ja, traumhafte Bilder vermittelt, ohne dass ich dazu Text brauche.
Der erste Sammelband dieser „Deluxe-Edition“ (insgesamt sind fünf Bände geplant, zwei davon bereits erschienen) ist qualitativ hochwertig; der einzige Wermutstropfen ist, dass die schiere Menge an Inhalt – Lesestoff ist wahrlich genug vorhanden – dafür sorgt, dass die Innenseite des Bands manchmal durch die Bindung schwer lesbar ist. Das ist aber glücklicherweise selten ein Problem.
In diesem Band findet sich der Ursprungszyklus von miteinander verbundenen Geschichten. Traum wurde fast 70 Jahre lang eingesperrt und muss sein Reich wiederaufbauen und die drei Talismane zurückgewinnen, die ihm seine Macht geben.
Doch die Handlung selbst ist weniger der relevante Part; wichtiger sind die Leitmotive dessen, was Träume eigentlich sind und die Erkundungen der Charaktere, die als Gefäße für archetypische menschliche Begierden und Ängste dienen.
Ich werde darauf bei der Besprechung von Band 2 noch etwas genauer eingehen; der Sammelband ist den interessierten Lesenden jedenfalls wärmstens ans Herz gelegt.
Neill Gailman – The Sandman Deluxe Edition Vol. 2 (Deutsch)
Der zweite Sammelband zeigt Gailmans zunehmende Sicherheit mit den von ihm erschaffenen Charakteren. Anders als im ersten Zyklus gibt es hier keine zusammenhängenden Geschichten mehr; stattdessen dominieren Episoden mit klaren Leitmotiven und Allegorien.
Besonders hervorheben möchte ich hier, wofür „The Sandman“ besonders bekannt ist: den hohen Grad an Intertextualität. Gailman referenziert permanent mal mehr, mal weniger offensichtlich Werke der Literatur, vor allem Shakespeare und die antiken Klassiker. Das bekannteste Werk in dem Zusammenhang ist Gailmans Neuinterpretation von Shakespears „Mittsommernachtstraum“. Mein persönlicher Favorit war die Neuinterpretation des Orpheus-Mythos.
Die episodische Natur bedeutet auch, dass Traum als Hauptfigur deutlich in den Hintergrund rückt. Seine Geschwister Begierde, Delirium, Verzweiflung und vor allem Tod werden beinahe auf denselben Status gerückt und dienen in ihren Personifikationen der philosophischen Auseinandersetzung mit Themen, die so alt sind wie die Menschheit selbst.
Daher sei auch für den zweiten Band eine unbedingte Empfehlung ausgesprochen
Noch ein letzter Hinweis: ich habe parallel zur Lektüre der Bände auch noch das Audible-Hörspiel (hochkarätig unter anderem mit James McAvoy als Traum besetzt) angehört. Ohne die Lektüre der Bände allerdings hält sich der Genuss des Hörspiels doch in Grenzen; man sollte die Bilder und Panels halbwegs vor Augen halten, um zu verstehen, was dort eigentlich passiert. Dann aber ist es großartig.
George R. R. Martin – A Game of Thrones (George R. R. Martin – Der Winter naht)
Der folgende Text anlässlich meiner semi-regelmäßigen Neulektüre des „Lieds von Eis und Feuer“ entstammt dem Patreon meines Podcasts zum Thema, der Boiled Leather Audio Hour. Unterstützung des Patreon ist stets willkommen!
Like most of you (I gather), I reread „A Song of Ice and Fire“ about once per year, or near enough as makes no matter. For this reread, I want to focus on the structure of „A Game of Thrones“, a kind of meta-analysis, if you will, and especially concentrate on „early installment weirdness“. That term relates to the first volume of a series, or the first episode, or whatever your medium might be, and how it usually is a bit rough on the edges. Ideas are not fully formed yet, characters not really „there“, and there are elements that didn’t work and were consequently dropped.
There’s a surprisingly big amount of that. It shouldn’t really be surprising, given that Martin started writing this almost thirty years ago (in 1993!), but compared to the later novels or the (finished!) TV series, it is rather noticable. For example, there is Tyrion’s artistic ability, never brought up again until Martin retroactively put a lid on it in „A Dance with Dragons“ by explaining it as an artifact of his backstory.
Such details pale towards plot elements that stem from Martin’s original outline. There is the groundwork laid for the later three-way-romance between Tyrion, Jon and Arya (mercifully dropped already by the end of the novel, but if you know that Martin planned for this, it’s clear to see). Jon’s relationship with Arya is strongly established and has little payoff in the novels following it; Robb is the much more important fixpoint for Jon’s memories of home.
There’s the groundwork laid for the later planned destruction of Winterfell at Tyrion’s hands. The wolves‘ aggression towards Tyrion, his strong connection to the place, the tragic of his friendship to Jon – both in terms of the planned romance with Arya and the destruction of his childhood home – all point towards that direction.
There’s the groundwork laid for Catelyn’s journey beyond the Wall, as when she is the primary conduit for the dark promonitions about the Land Beyond the Wall, Mance Rayder and the Others. When she hopes that Eddard will have gotten her pregnant again after they had sex in her first chapter, we see an echo of the child birth that wa ssupposed to be her death in that frozen wasteland (a plot thread that Martin returned to with alarming regularity since).
There are also many elements that, would he write „A Game of Thrones“ now, would be there but are absent. The most glaring for me is the lack of references. Eddard Stark becomes Hand of the King, but no one compares him to Cregan Stark, which would be an obvious comparison, especially for Pycelle, Varys and Littlefinger. The behavior of people towards Eddard as the first Stark Hand since Cregan makes no sense at all now that „The Hour of the Wolf“ is a thing, but of course, it was not yet conceived back then.
People instead tread Ned as a provincial, a bit unrefined and straightforward, much as he is written. But given what we know about Targaryen history by now, there should be a lot darker and much more concrete biases at work. The same goes for kingsguard, king and nobolity in general, the Dothraki and the role of the Free Cities – none of it is grounded in the detailed history Martin has written since. One can debate, I guess, the wisdom of creating all that stuff afterwards.
The same is true of several regions: the Iron Islands are treated as an afterthought; they will be developed as a solution after Tyrion cannot destroy Winterfell anymore because his plot leads to King’s Landing. Dorne is only mentioned in passing. The Tyrells likewise. There’s no mention of the Crownlands. And so on.
The novel itself remains the weakest of the entire series when we talk about intricacy of plotting and depth of character. It is „only“ an extremely well written political thriller set in a low-fantasy world. The main threads are Ned’s investigation in Jon Arryn’s death – a mystery that will only be solved in the finale of „A Storm of Swords“! – and the political fallout of the Lannister intrigue against Robert Baratheon.
What is very noticable is the tight plotting on the one hand – chapters are following directly on each other and deliver the consequences of the actions of the previous chapter much of the time, instead of following unconnected threads, with the notable exception of Daenerys‘ arc. But even Dany gets connected to the main plot via the murder attempt and the fears of Robert in a way that will not be true in the following novels.
It’s even more pronounced with Jon’s arc, which is so carefully plotted that each revelation comes just too late for Jon to take a different course, perfectly calibrated to play out his inner struggles with his dual identity between Stark and Night’s Watch.
That is not to take away from an, once again, extremely well written novel. But especially compared to Feastdance, the lack of themes, the close interconnectedness of character arcs with the plot, and above all, the careful construction of the plot. It is incredible on how many chances and coincidences the plot hinges. The fates in the person of Martin have their thumbs on the scales, HARD.
Once again, all of that is not take away from „A Game of Thrones“. It makes it, however, the least „A Song of Ice and Fire“-y of all the novels. It’s no wonder that Martin was able to write the first three novels so much faster than the last three. The main challenge here is to think about which character best to tell which event through, as to obfuscate and set up most effectively. But there is no question who is present where when; Martin only needs to choose. There is no Meereenese Knot, no question of which character will arrive when where to which effect, how to make time jumps and so on. It’s almost quaint. And if you know „A Game of Thrones“, you know what that means for the series at large. It’s a breathtaking accomplishment. One can only stand in awe of Martin’s abilities.
Joe Hill/Gabriel Rodriguez – Locke&Key
Neben dem für mich neuen Sandman habe ich diesen Monat einen alten Bekannten aufgesucht: Locke&Key. Die Graphic-Novel-Reihe erzählt die Geschichte des Keyhouse in Lovecraft, Massachussetts (nicht unbedingt subtil), in dem die Kinder einer durch den Mord an ihrem Vater traumatisierten Familie magische Schlüssel finden und gegen eine dämonische Macht verteidigen müssen.
Vom Genre her ist der Graphic Novel wohl am ehesten Horror zuzuordnen, mit ordentlichen Schüssen Mystery, Fantasy und klassischen High-School-Coming-of-Age-Elementen. Die Geschichte fesselt mich immer wieder vor allem wegen zwei Faktoren.
Einerseits ist es die Geschichte selbst. Die Mythologie der Schlüssel, ihre verschiedenen Funktionen und Hintergründe ist clever ausgedacht und interessant, vom Überallschlüssel, der das Reisen an andere Orte ermöglicht, zum Geisterschlüssel, zum Kopfschlüssel, dem Zeitschlüssel bis hin zum Omega-Schlüssel, der das ultimative Geheimnis birgt. Was Hill und Rodgriguez mit ihnen machen und wie sie die Schlüssel mit den Charakteren und Ereignissen zu einem wendungsreichen und spannenden Plot verweben ist großes Kino.
Auf der anderen Seite stehen die Charaktere. Vor allem die Hauptcharaktere Bode, Tyler und Kinsey sind facettenreich und interessant und haben die Sympathie der Lesenden auf ihrer Seite, aber auch die anderen Charaktere, inklusive des/der düsteren Antagonisten (welches Geschlecht hat ein Dämon?) wissen zu überzeugen und selbst mit kürzeren Auftritten einen Eindruck zu hinterlassen.
Der Zeichenstil gefällt mir ebenfalls; er ist eher auf der realistischen Seite, abgesehen von einigen surrealen Elementen, die durch die Schlüssel einerseits und Bodes etwas verzerrte Weltsicht andererseits hervorgerufen werden. Das Audible-Hörspiel leidet in meinen Augen wie das des Sandmans unter dem weitgehenden Fehlen eines Erzählers; wer also die Comics nicht ordentlich vor Augen hat, wird Probleme haben, es zu verstehen.
Ein letztes Wort zur Netflix-Serie: die ist leider Gottes Mist, wie ich hier beschrieben habe (inklusive einer deutlich ausführlicheren Beschreibung dessen, worum es in der Geschichte geht). Wer sie also gesehen hat, sollte nicht von ihr auf den Graphic Novel schließen. Letzterer ist weit besser.
Jeff Smith – Bone (Jeff Smith – Bone)
Und noch ein weiterer Graphic Novel. Diesen Klassiker aus den 1990er Jahren habe ich schon öfter gelesen, das hier ist also eine Re-Lektüre (gibt es da eigentlich ein Wort für, das dem englischen „reread“ entspricht?). Das Bone-Epos umfasst in der oben verlinkten günstigen Gesamtausgabe fast 1200 schwarz-weiße tuschegezeichnete Seiten.
Die drei Bone-Vettern – Fone, Phoney und Smiley Bone – landen nach ihrer überstürzten Flucht aus Boneville in einem mittelalterlichen Fantasy-Tal. Nicht nur sprechende Tiere und Rattenwesen machen ihnen das Leben schwer; schnell finden sie sich inmitten eines dräuenden, apokalyptischen Krieges wieder. Ungefähr das erste Drittel des Epos ist noch recht niedrigschwellig und behandelt das Dorf Barrelhaven und den Hof von Grandma Ben, Phoneys vergebliche Versuche zu Reichtum zu kommen und Fone Bones Annäherung an die schöne Thorn. Doch die Figur des Bösen „Vermummten“ (The Hooded One) streckt bereits ihre Hände nach Phoney aus, dem unwissentlich eine große Rolle in seinem Plan zukommt.
Bald stellt sich heraus, dass Thorn in Wahrheit die Thronerbin und die schrullige Grandma Ben die ehemalige Königin ist. Während der Einsatz immer größer wird und die Gefahren ebenso versuchen die Bones, in dem Chaos zu überleben. Fone identifiziert sich immer mehr mit der Sache der Talbewohner, während Phoney eigentlich nur möglichst reich das Tal wieder verlassen will…
Ich bezeichne den Graphic Novel als Epos, was er sicherlich schon allein des Umfangs wegen ist. Aber auch die von einem kleinen Bauernhof zum Schicksal der Welt eskalierende epische Geschichte weiß zu überzeugen. Etwas gewöhnungsbedürftig ist der wohl für die 1990er Jahre typische ironische Stil, der viele Elemente durchzieht und immer wieder für abrupte Tonwechsel sorgt. Auch der Cartoon-Stil der Bones mit den ansonsten eher klassisch realistisch gehaltenen Fantasyzeichnungen ist vermutlich nicht jedermanns Sache. Wer sich aber damit anfreunden kann bekommt eine ganze Menge Lesestoff.