Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.
Diesen Monat in Büchern: Kapitalismuszeitalter, Sanktionen, MMT, Sandman 5
BÜCHER
Jonathan Levy – Ages of American Capitalism (Hörbuch)
Wirtschaftsgeschichte ist ein Feld, das in der Geschichtswissenschaft ein stiefmütterliches Dasein fristet. Umso wichtiger sind diejenigen Werke, die den nötigen Kontext schaffen, um hier entscheidendes Verständnis zu schaffen. Das Ganze einen Schritt weiter bringt Jonathan Levy in seinem Werk „Ages of Capitalism“, indem er den Versuch unternimmt, die Geschichte der USA als Wirtschaftsgeschichte zu erzählen. Die Prämisse ist, dass die Bedeutung der Wirtschaft so groß ist, dass sie die anderen Geschichtsbereiche entscheidend mitbestimmt. Für das Geburtsland des modernen Kapitalismus ist das keine zu gewagte Behauptung, und Levy gelingt es hervorragend, nicht nur einen Abriss über 250 Jahre Wirtschaftsgeschichte zu geben, sondern das auch in einen analytischen Rahmen zu gießen.
Für die Grundstruktur seines Buches führt er den Kapitalismus dafür auf seine Grundlage zurück, die schon im Namen steckt: Kapital. Durch alle „Zeitalter“, die Levy hier untersucht, stellt er die Frage, in welchen Formen Kapital existiert, welche Formen es annimmt, welchen Zwecken es zugeführt wird und auch wie es verteilt ist. Levy beschränkt sich dabei, vermutlich weise, auf die reine Analyse. Weder urteilt er über die Entwicklungen, noch ergibt er sich in Was-Wäre-Wenn. Diese Beschränkungen halten das ohnehin nicht eben dünne Werk auf einem handlebaren Niveau, aber sie helfen auch, die Klarheit des Arguments zu schärfen und nicht einzutrüben. Trotzdem fühlte ich manchmal einen Phantomschmerz und fände einen ähnlichen Abriss über die „roads not taken“ mehr als spannend. Denn so viele Situationen der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte ermöglichen andere Pfade, die zu einer völlig anderen wirtschaftlichen Entwicklung führen.
Aber damit genug der Vorrede, was sind Levys Thesen? Er teilt die amerikanische Wirtschaftsgeschichte in vier Zeitalter ein. Diese bekommen nicht alle konkreten Namen, aber ich würde die erste hier als „Empire of Liberty“ bezeichnen (ca. bis 1865), ein Begriff Thomas Jeffersons, den Levy für diese Epoche immer wieder gebraucht. Dieses Zeitalter ist vor allem durch einen lang anhaltenden ideologischen Konflikt gekennzeichnet, der sich auch in der Wirtschaft niederschlug. Während die Mittel- und Südstaaten ihr Kapital vor allem in Land sahen – ob in Yeoman’s Farms oder in den großen Plantagen – und den Status der (ausschließlich männlichen, weißen) Bürger an den Besitz von Land banden, sah der Norden Kapital eher als Investitionsgut.
Dieser Konflikt ist elementar, denn Levy arbeitet heraus, dass dem Jefferson’schen Ideal ein Nullsummenspiel zugrundeliegt: da Land endlich ist, ist auch die Akkumulation von Kapital endlich, und alles, was abseits von Land passiert – vor allem das Handels- und Bankenwesen – sind inhärent verdächtig und unsolide. Der Norden dagegen sieht Kapital weniger als gebundenes Aufbewahrungsgut, sondern als Investitionsmasse, die eingesetzt wird und so mehr Kapital produziert. Entsprechend verfolgt der Norden eine Politik der „internal improvements„, dem Bau von Infrastruktur, um Investitionsmöglichkeiten für Kapital zu schaffen, während der Süden dies ablehnt. Die entscheidende Rolle in der Lösung dieses Streits kommt dem Westen zu: anfangs neigt er zu der Idee des „Empire of Liberty“, die sich in jedem Western wiederfindet – der individualistische Farmer auf seinem Hof gegen den Rest der Welt – doch nach dem Ende der großen landgrabs zulasten der indigenen Bevölkerung neigen die Farmer, deren Produkte von Anfang in den Welthandel fließen, der Politik der internal improvements zu, die ihnen die Lieferung an selbigen globalen Markt erlauben.
Diese Anbindung kann man gar nicht wichtig genug einschätzen, denn im Gegensatz zu Europa, wo die Landwirtschaft zu einem zuverlässig konservativen Blocker jeglicher Entwicklung wurde und verlässlich für hohe Schutzzölle und gegen die Industrialisierung eintrat, war sie in den USA ein Treiber der kapitalistischen Entwicklung.
Dieser komplette Konflikt war mit der Frage der Sklaverei aufs Engste verknüpft, die ihre gewaltsame Auflösung im Bürgerkrieg fand. Dieser beendete zwar nicht die wirtschaftliche Rückständigkeit der Südstaaten, aber er beseitigte den politischen Widerstand gegen die Ausrichtung der USA auf den Welthandel und stellte den Durchbruch in Richtung Industrialisierung für den Mittleren Westen, Kalifornien und den Nordosten dar. Chicago steht hier als ein zentrales Beispiel für den Aufstieg verschlafener Kleinstädte zu boomenden Metropolen in wenigen Jahren, der weltweit seinesgleichen sucht und wohl nur in den chinesischen Sonderwirtschaftszonen des frühen 21. Jahrhunderts ein Gegenstück findet – wenn überhaupt.
Der größte wirtschaftspolitische Problemfall jener Ära aber war das Geld. In der Ideologie der Zeit war Geld gleichbedeutend mit Metall. Papiergeld existierte praktisch nicht. Diese Beschränkung der Geldmenge sorgte dafür, dass wegen des Mangels an harter Münze periodische Wirtschaftskrisen entstanden, die mit staatlicher Geldpolitik völlig vermeidbar gewesen wären und die permanent für Unruhe sorgten und Menschen in Armut stürzten, die dann gegen den Staat aufbegehrten – etwa in der Whiskey-Rebellion. Die Armee wurde bereits damals als Instrument verstanden, die Interessen der Reichen zu schützen und jeden Protest gewaltsam zu ersticken.
Im nun folgenden Zeitalter der Investitionen (1865-1933) steht ein unglaublicher Zuwachs an Kapital im Zentrum. Riesige Firmen entstehen, indem sie Monopole aufbauen und radikal die Preise senken. Die Gewinnmargen werden reinvestiert, so dass die Firmen erneut wachsen. Die Besonderheit dieser Ära ist, dass die Investitionen größtenteils in Investitionsgüter fließen, sprich: Maschinen und Fabriken. Obwohl der amerikanische Konsumgütermarkt bereits zu dieser Zeit eine Abkopplung von Europa erlebt und zu einem weltweit einzigartigen Wohlstandsniveau führt, liegt diese Entwicklung noch weitgehend in der Zukunft und beginnt erst im 20. Jahrhundert, was Levy exemplarisch an Ford aufzeigt.
Stattdessen entsteht in diesen Jahren eine gigantische soziale Ungleichheit, die zu massiven Konflikten führt. Es ist vor allem in diesem Abschnitt, wo zahlreiche „roads not taken“ vom Genossenschaftsmodell zu einer stärkeren Rolle von Gewerkschaften und Sozialdemokratie zum Ausbau eines Sozialstaats bestehen. Stattdessen zeichnet Levy detailliert die bekannte Entwicklung: die Oligarchen vermachen ihre gigantischen Vermögen an Stiftungen. Die Ideologie der Kapitalisten, nach der Sozialleistungen nur Faulheit förderten und es Bildungschancen brauche (eine falsche, aber unausrottbare Vorstellung), setzt sich durch, ebenso die Vorstellung, dass dies keine staatliche Aufgabe sei, sondern eine privater Philantropie. Der Staat wird dabei nicht aus dem Wirtschaftsleben herausgehalten, im Gegenteil. Die mächtigen Milliardäre (nach heutigen Preisen) nutzen die Armee und Polizei, um Streiks und Mitbestimmungsforderungen brutal zu unterdrücken. Der amerikanische Staat wird zum Instrument der reichen Elite und führt geradezu einen wirtschaftlichen Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung, der immer wieder in blutigen Streiks seinen Ausdruck findet.
Auch in der Landwirtschaft finden sich heftige Konflikte. Am bekanntesten ist der Streit um den Bimetallstandard. Der immer noch nicht gelöste Mangel an Kapital sorgte für heftig fluktuierende Preise und eine Knappheit an Krediten, die die Farmer benötigen würden, um ihre Betriebe konkurrenzfähig zu halten. Eine gewaltige populistische Bewegung forderte daher, neben Gold auch Silber zum Zahlungsmittel zu machen und so die Geldmenge auszuweiten. Die Interessen der Kapitalisten, deren Investitionen auf gerade dieser Knappheit aufbauten, standen dem entgegen. Der politische Streit um den Bimetallstandard war ein ständiges Hintergrundrauschen bis in den Ersten Weltkrieg hinein und zeigt erneut die schlechte und (damals) völlig unverstandene Wirtschaftspolitik, die die Entwicklung des Landes hemmte.
Der New Deal ab 1933 war der wohl stärkste Bruch in der gesamten amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Die Zeit bis zu seinem (endgültigen) Ableben 1980 bezeichnet Levy als „Age of Control“, weil dies den Anspruch und Versuch des Staates einerseits und der Wirtschaft selbst andererseits (die oft vergessene Kehrseite des goldenen Zeitalters der Sozialdemokratie; die Unternehmen war ja nicht willenlose Opfer, sondern mit Feuer und Flamme dabei) auf Kontrolle und Einhegung der Wirtschaftsprozesse zum Ausdruck bringt. Zum ersten Mal nutzt der Staat unter Roosevelt etwa die Geldpolitik zur Konjunktursteuerung, was bis heute bahnbrechende Folgen hat. Deficit Spending, staatliche Infrastrukturprojekte und der Ausbau des Sozialstaats schaffen die Welt, in der wir heute leben, und bilden mit der Entstehung einer breiten Mittelschicht den klarsten Bruch mit der Vergangenheit (wenn auch hoffentlich nicht der Zukunft).
Diese Entwicklungen sind hinreichend bekannt und in meiner Artikelserie auch ausführlich beschrieben. Ich will hier vor allem auf die Wende hinaus, die bei Levy breiten Raum einnimmt. Er identifiziert die Inflation, die ab den späteren 1960er Jahren zu einem nicht mehr endenden Dauerproblem wird, als das größte Thema, und führt das direkt auf die kurzsichtige Bretton-Woods-Konstruktion zurück. Anstatt Keynes‘ Vorschlag einer internationalen Verrechnungswährung (Bancor) zu folgen, installierten die USA den Dollar als Leit- und Reservewährung der Welt. Das war in Ordnung, als sie, wie nach dem Krieg, 75% aller Dollarreserven hielten und erlaubte eine freizgügige Wirtschaftspolitik. Der Aufstieg Westeuropas aber zog Dollars in den Europäischen Raum ab, was inflationären Druck auf die USA ausübte – die dann unter Nixon den gordischen Knoten zerschlugen und Bretton Woods aufkündigten.
Dies aber führte nicht zu einer Rückkehr in die Geldknappheit der Zeit vor 1933, im Gegenteil. Die Fed konzentrierte sich darauf, über die Geldmengensteuerung (Friedman lässt grüßen) die Leitzinsen indirekt statt direkt zu beeinflussen. Dadurch schirmte sie sich vor dem politischen Fallout der Wirtschaftskrise, der stattdessen den ebenso glück- wie einsichtslosen Carter traf. Die Age of Control endete mit dem expliziten Aufgeben des Kontrollanspruchs durch Politik und Wirtschaft gleichermaßen; die Ideologie freier Märkte, in denen rationale Akteure rationale Entscheidungen treffen, die dann zu einem rationalen Ganzen führen, setzten sich durch. Das leitet die letzte Phase ein, die „Age of Chaos“, in deren (vermutlich) letzten Zügen wir gerade leben.
Levy meint „Chaos“ dabei wertneutral. Die großen Marktwirtschaftler propagierten ja gerade dieses Chaos als einzig möglichen Ausdruck der Marktwirtschaft – zu komplex, um je von einer Person oder Institution überschaut zu werden, zurückgeworfen auf das freie Spiel der Marktkräfte. Natürlich gab es das nie in Reinform. Die Fed beschränkte sich zwar auf das Kontrollieren des Geldmengenflusses, aber sie weitete die Geldmenge kontinuierlich aus. Diese Zunahme allerdings kam fast nur noch bei der Spitze der Pyramide an, allen Beteuerungen von trickle-down zum Trotz.
Stattdessen finanzierten die Amerikaner*innen den Konsum der im neuen Tech-Boom entstandenen Güter zunehmend durch Kredite. Überhaupt sieht Levy die „Age of Chaos“ als bestimmt durch den Aufstieg des Finanzsektors. Wo im „Empire of Liberty“ Landbesitzer und Händler bestimmten, im Zeitalter der Investitionen die Monopole herrschten und in der „Age of Control“ der Staat seinen Machtanspruch ausdrückte, waren es nun die Banken, die alles kontrollierten. Die Firmen, die in der „Age of Control“ langfristige Investitionen in immer mehr Kapazitäten getätigt hatten, schwenkten nun um und wurden zu Spekulaten auf den Finanzmärkten. Zahlreiche Betriebe schlossen und/oder wurden ins Ausland verlagert.
Dies war umso leichter, weil die amerikanischen Gewerkschaften, anders als ihre europäischen Pendants, in der „Age of Control“ ausschließlich Lohnsteigerungen verhandelten. In einer Grundsatzentscheidung in den 1940er Jahren – ein weiteres faszinierendes „Was wäre wenn“, eine „road not taken“ – gaben sie sowohl Forderungen nach Mitbestimmung als auch nach genossenschaftlichen Strukturen auf. Das Resultat waren beispiellose Wohlstandsgewinne bei den Arbeitern und Angestellten (vorausgesetzt, sie waren männlich und weiß). Als im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren auch Frauen und Schwarze endlich Zugang zu den „guten“ Jobs erhielten, begann die große Krise und der lange Niedergang des Sektors; einmal mehr waren sie vom Wohlstandserwerb ausgeschlossen.
Da mit Erwerbsarbeit kein Geld mehr zu verdienen war – Gewinne wurden nicht mehr in Fabriken, sondern über asset price appreciation erzielt, also Wertsteigerungen von Eigentum, etwa in Immobilien, Anlagen oder Unternehmensanteilen – wurde der neue amerikanische Traum das Teilhaben an diesem Boom der Finanzmärkte über Hypotheken. Das Ende dieser Geschichte ist hinreichend bekannt und lässt sich in wesentlich größerem und gründlicherem Detail bei Adam Tooze nachlesen (hier rezensiert). Hier bietet Levy wenig neue Einsichten.
Insgesamt konnte ich die grundlegenden Argumentationslinien Levys hier natürlich nur anreißen. Für mich hat das Buch enorm viel Kontext geboten, an den vorheriges Wissen über die verschiedenen Epochen andocken kann und das neue Analyserahmen bietet. Ich kann die Lektüre nur wärmstens empfehlen; das Buch ist für mich auch ein heißer Kandidat dafür, ein einigen Monaten noch einmal gelesen zu werden.
Nicholas Mulder – The Economic Weapon (Hörbuch)
Wirtschaftliche Sanktionen sind gerade angesichts der russischen Aggression gegenüber der Ukraine in aller Munde. Sie sind ein Werkzeug im diplomatischen Werkzeugkasten, das dort noch nicht so furchtbar lange zur Verfügung steht und scheinen in ihrem Potenzial und ihren Grenzen unzureichend verstanden. Nicholas Mulder versucht, einen Teil dieser Lücke zu schließen, indem er diese Monographie zur Erfindung von Wirtschaftssanktionen vorlegt.
Als der Erste Weltkrieg begann, planten alle Seiten mit einem raschen Ende der Feindseligkeiten. Große Offensiven sollten dieses Ende herbeiführen. Gleichzeitig würde ein globaler Handelskrieg eine längerfristige Kriegführung praktisch unmöglich machen. Keine dieser Vorhersagen traf ein. Aber während das Vertrauen in entscheidende Offensiven nachhaltig erschüttert wurde, schien die totale Blockade der gegnerischen Wirtschaft ein probates Mittel zu sein und bleibt bis heute ein scheinbar effektives Mittel.
Mulder entwirft im ersten Teil seines Buchs eine kurze Geschichte der ersten Wirtschaftssanktionen, der Blockade des Kaiserreichs. Er zeigt dabei auf, wie die Interdependenz des globalisierten Handels das Reich sehr verwundbar machte, und arbeitet die Schwierigkeiten heraus, die Blockade tatsächlich umzusetzen, vor allem in Bezug auf die Neutralen, etwa die Niederlande oder die skandinavischen Staaten, über die Deutschland seinen Handel abwickelte. Die Alliierten lernten rapide dazu, aber die Blockade konnte nur funktionieren, wenn alle Länder weltweit an ihr teilnahmen – eine Bedingung, die nie erfüllt war. Auch die technische Umsetzung gestaltete sich als schwierig, und während die Blockade ernsthafte Einschränkungen für Deutschland bedeutete, konnte sie nie die Hoffnungen erfüllen, kriegsentscheidend zu sein.
Doch genau dieser Eindruck wurde nach dem Krieg erweckt. Auch aus einem Mangel an Zahlen und sozialwissenschaftlicher Forschung gingen die Alliierten von einer viel größeren Effektivität aus, als tatsächlich bestanden hatte, ein Narrativ, das die Deutschen nur allzu gerne ebenfalls bedienten, weil es ihnen erlaubte, sich als Opfer zu stilisieren – inklusive völlig inflationierter Opferzahlen – und hervorragend zur Dolchstoßlegende passte, nach der der blockadeinduzierte Zusammenbruch der Heimatfront zur Niederlage geführt habe. Dies führte dazu, dass die Effektivität auf allen Seiten massiv überschätzt wurde.
In der Gründung des Völkerbundes wurden große Hoffnungen auf Sanktionen als Durchsetzungsmechanismus gesetzt. Die Idee war, dass alle Völkerbundnationen automatisch Teil von Sanktionen gegen Aggressoren würden, was solch eine abschreckende Wirkung besäße, dass diese von Krieg Abstand nähmen. Die titelgebende „Economic Weapon“ (der Begriff, der damals genutzt wurde, wo wir heute „Sanktionen“ sagen) erfüllte damit dieselbe Abschreckungswirkung, die nach 1945 Atomwaffen einnehmen sollten – und war in etwa genauso praktikabel.
Bereits Anfang der 1920er Jahre zeigten sich Potenzial und Grenzen der Sanktionen deutlich. Während sie ausreichten, um Jugoslawiens Aggresisonskrieg gegen Albanien zu beenden – ein klarer Erfolg der Sanktionen – waren sie völlig unfähig darin, Italiens Aggression gegen Griechenland auf Korfu einzudämmen. Gleichzeitig war die wiederholte Besetzung des Rheinlands unter dem Deckmantel der Sanktion eine Zweckentfremdung, die von der Verhinderung von Aggression zur Durchsetzung der eigenen wirtschaftlichen Interessen führte, eine Intention, die Frankreich auch in internen Dokumenten klar eingestand.
Hier zeigt Mulder auch das größte Problem der Sanktionen auf. Sie waren bereits vorher ein grundsätzlich bekanntes diplomatisches Mittel – allerdings nur in beschränktem Maße als Kriegsmaßnahme. So bezahlte etwa Russland während des Krimkrieges weiterhin Zinsen für seine Schulden an den Kriegsgegner Großbritannien und war es für die Deutschen 1871 völlig unvorstellbar, dass französische Unternehmer nicht ihren Geschäften in Deutschland nachgehen sollten. Erst die Entgrenzung des Ersten Weltkriegs machte den totalen Krieg gegen die feindliche Wirtschaft möglich, beschränkte ihn aber auf Kriegshandlungen – eine Beschränkung, die mit dem Waffenstillstand auseinanderbrach, als die Entente-Mächte die Blockade aufrecht erhielten, um trotz ihrer Abrüstung ein Druckmittel für die Versailler Verhandlungen zu haben.
Für das Selbstbewusstsein gerade der Mittelmächte, aber auch anderer europäischer Staaten, war, dass Wirtschaftssanktionen abseits des Krieges zwar ein bekanntes Mittel waren – so gab es etwa um die Jahrhundertwende eine gemeinsame europäische Blockade Venezuelas zur Erzwingung von Schuldentilgungen – aber eines, das gegen koloniale Vasallenstaaten eingesetzt wurde. Es war vollkommen in Ordnung, Kanonenboote nach Agdir zu schicken, Kiatschau zu belagern oder Venezuela zur Aufgabe zu zwingen, aber unter „zivilisierten“ Staaten machte man so etwas nicht. Kaum etwas brachte die Deutschen so sehr auf die Palme wie die Gleichsetzung mit Algerien durch die französische Besatzungspolitik; eine bewusste Beleidigung, die die Franzosen noch durch den Einsatz von Kolonialtruppen unterstrichen.
Im Konflikt mit Italien, einer Siegermacht des Krieges, zeigte sich aber 1923 bereits, dass man zwar einen unbedeutenden Randstaat wie Jugoslawien unter den Willen der Entente zwingen konnte, nicht aber mächtigere Staaten – schon gar nicht ohne die Unterstützung der USA, die nicht Mitglied des Völkerbunds waren und kein Problem hatten, von dem Unterlaufen von Völkerbundssanktionen zu profitieren. Realpolitik und imperialistische Machthierarchien zeigten also bereits in den frühen 1920er Jahren die Grenzen von internationalen Völkerrechtsbestimmungen auf.
Gleichzeitig war die potenzielle Macht einer Wirtschaftsblockade offenkundig, wenngleich übertrieben. Die Hoffnung auf einen schnellen Sieg durch Sanktionen zerschlug sich bald, aber allen Beteiligten war bewusst, welches Potenzial sie für längerfristige Abnutzungs- und Erschöpfungsstrategien hatten (eine Lektion, die manchen Staatenlenkern für den Konflikt mit Russland heute vermutlich gut zu Gesicht stünde). Die Faschisten zogen daraus für sich nicht die gewünschte Lehre, nämlich eine Unterwerfung unter das Regime der liberalen Weltordnung; stattdessen setzten sie in bewusster Referenz zur „Economic Weapon“ auf Autarkie, einen starken kontinentalen Block gegen angelsächsische Wirtschaftssanktionen.
Im zweiten Drittel des Buchs befasst sich Mulder vor allem mit der Ausgestaltung der Sanktionen und ihrer Entwicklung in den 1920er Jahren. Hier zeichnet er vor allem drei große Konflikte nach.
Einerseits einen ideologischen Kampf innerhalb des Liberalismus‘ über die Frage, welche Rolle Sanktionen spielen und wie sie mit anderen, klassischen Machtmitteln interagieren. Die Liberalen versuchten dabei, die klassische Unterscheidung von „public“ und „private“ aufzumachen: „private wars„, verstanden als Konflikte zwischen Aggressorstaaten zur Eroberung, sollten verboten und durch Sanktionen entweder verhindert oder abgewürgt werden, während „public wars„, verstanden als Koalitionskriege zur Friedenssicherung. Diese Konzeption scheiterte letztlich daran, dass die Idee, die Royal Navy zu einem Instrument von „public wars“ zu machen – also quasi als Weltpolizei zu etablieren – an den imperialen nationalstaatlichen Interessen des Vereinigten Königreichs scheiterte.
Andererseits schlug unter anderem Keynes, der wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, eine Ergänzung der „Economic Weapon“ um eine positive Komponente vor. Neben der Isolation vom Welthandel und dem Weltfinanzmarkt von Aggressoren sollten deren Opfer durch aktive Lieferungen resilienter gemacht werden.
Zuletzt versuchten einerseits die klassischen neutralen Staaten wie Dänemark, Schweden oder die Schweiz, das Sanktionsregime zu schwächen, indem sie Ausnahmeregelungen für sich heraushandelten. Dasselbe Ziel verfolgte ab 1926 das Neumitglied Deutschland, das kein Interesse daran hatte, sich an Sanktionen zu beteiligen und als potenzielles Opfer von Sanktionen diese Waffe weitgehend abschwächen wollte.
Der Völkerbund hatte mit Sanktionen zwei Erfolge (Griechenland und Jugoslawien), aber überwiegend wurde die „Economic Weapon“ in den 1920er Jahren nicht benutzt. Das größte Problem, das nie zufriedenstellend gelöst werden konnte, war, dass die Völkerbundmitgliedstaaten bei konsequenter Anwendung gezwungen wären, den USA den Krieg zu erklären, die außerhalb des Völkerbunds blieben und mit sanktionierten Staaten Handel trieben. Gleichzeitig aber war die Drohung der Sanktionen so real, dass zahlreiche Staaten Abwehrmechanismen entwickelten.
Die größte Herausforderung für das System sind dann die im letzten Drittel besprochenen Dreißigerjahre, in denen Italien, Spanien, Deutschland und Japan allesamt auf einen faschistisch-militaristischen Kurs einschwenkten und versuchten, im deutschen Begriff, „Blockadefestigkeit“ zu erlangen. Hierzu diente die Phantasmagorie der „Autarkie“, also Unabhängigkeit vom Welthandel und damit Immunität gegen die Sanktionen. Dies war aus verschiedenen Gründen unerreichbar, aber die Drohung der Sanktionen bestimmte den wirtschaftspolitischen Kurs der Diktaturen maßgeblich.
Es ist faszinierend, wie Mulder die Wechselwirkung zwischen der Drohung der Sanktionen und den Ausweichversuchen der Regime nachzeichnet. Die klarste Schlussfolgerung dabei ist, dass der Handlungsspielraum der Diktaturen massiv eingeschränkt wurde. Im spanischen Fall schreibt Mulder den Sanktionen den entscheidenden Beitrag bei der Verhinderung des Kriegseintritts zu, aber Italien, Deutschland und Japan manövrierten sich immer mehr in eine Lage, die Krieg wahrscheinlicher machte – und nicht, wie die Hoffnung 1919 gewesen war, unwahrscheinlicher.
Ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen; das soll dem Buch vorbehalten bleiben. Stattdessen möchte ich noch hervorheben, dass während des eigentlichen Krieges neben der (offensichtlichen) Wirtschaftsblockade im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit die von Keynes geforderte positive Seite der „Economic Weapon“ massiv zur Geltung kam. Über das Lend-Lease-Programm unterstützten die USA die Kriegswirtschaft ihrer Verbündeten maßgeblich, was diese stabilisierte und den notwendigen Buy-In für die Nachkriegsordnung (die UNO) schuf, in der Sanktionen dann wiederum festgeschrieben wurden, die aber anders als der Völkerbund auch einen Sanktionsmechanismus kannte, der nicht auf Koalitionen beruhte (den Sicherheitsrat).
Für mich auffällig war – deswegen auch der Vergleich zu Beginn – wie problematisch Sanktionen als Instrument sind. Es ist nicht, dass sie nicht wirkungsvoll wären, sondern dass sie – wie Mulder gut herausarbeitet – erstens langfristig und abnutzend statt kurzfristig und schockartig wirken und zweitens so zerstörerisch sind, dass sie ähnlich wie Atomwaffen eine ultimative Drohung sind, die man nur schwer einsetzen kann. Auch heute können die USA theoretisch kleine Staaten mit einem Atomschlag bedrohen, nur ist das so zerstörerisch, dass es de facto als Option nicht auf dem Tisch liegt. Ähnlich ist es bei umfassenden Wirtschaftssanktionen auch.
Das Buch bietet daher wertvollen Kontext für die heutige Diskussion über Sanktionen. Mulder hält sich weise mit Ratschlägen und Prognosen zurück; er zeigt, woher die „Economic Weapon“ kam und wie sie gestaltet wurde, was sehr hilft, die heutigen Probleme zu verstehen. So stellt sich die Frage, ob Sanktionen gegen Russland nicht die Lage eskalieren, weil sie Putin in die Ecke drängen und ihm Optionen nehmen. Oder ob es nicht sinnvoll wäre, die Ukraine wesentlich massiver zu unterstützen, als wir das bisher tun. Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, aber der Verdienst der Lektüre ist, dass ich sie überhaupt stelle und einen intellektuellen Rahmen habe, innerhalb dessen ich darüber nachdenken kann.
Das Buch kann durchaus auch als Komplementärwerk zu Quinn Slobodians „Globalisten“ (hier besprochen) und zu Adam Toozes „Deluge“ („Sintflut„) (hier besprochen) sehen. Wo Slobodian aufzeigt, wie die Liberalen in diesen Jahrzehnten eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen versuchten, die nach dem Untergang der Imperien dauerhafte Ordnung schaffen konnte, zeigt Tooze für die gleiche Zeitperiode auf, wie die Finanzmärkte und Rüstungskontrollen agierten. Beides ist Kontext, innerhalb dessen die besprochene Sanktionsmechanik hervorragende weitere analytische Zugänge öffnet. Die jeweilige Lektüre sei wärmstens empfohlen.
Dirk Ehnts – Modern Monetary Theory
Ich versuchte bisher immer, mich nicht zur MMT als ökonomischer Theorie zu äußern, weil mir einfach das grundlegende Verständnis dafür fehlt. Ich habe mich stattdessen auf die politische Wirkung von MMT beschränkt (erfolgreich, will ich meinen). Aber ich habe ein weitergehendes Interesse, dem ich nachgehen will. Bevor ich mich an Stephanie Keltons Standardwerk „Der Defizit-Mythos“ (Englisch) herantraue, wollte ich allerdings erst einmal gewissermaßen den großen Zeh ins Wasser tauchen und etwas für Einsteigende lesen. Da kommt mir Dirk Ehnts in der Reihe Essentials erschienenes 80 großzügig gelayoutete Seiten schmales Büchlein gerade Recht. Der Ökonom ist der wohl bekannteste deutschsprachige Vertreter der MMT. Er ist auch als einer der Miterfinder des „Green New Deal“ bekannt, eine Doppelrolle, von der später in dieser Rezension noch zu sprechen sein wird.
Das Buch ist grob zweigeteilt. Die erste Hälfte befasst sich mit einer groben Überblickserklärung dessen, was MMT eigentlich ist. Die zweite Hälfte spricht demgegenüber von den Möglichkeiten der Anwendung von MMT, besonders, was den Green New Deal angeht.
Im Kern unterscheidet sich die MMT von den klassischen Wirtschaftstheorien, wie der Name bereits sagt, in der Frage des Geldes und des Geldkreislaufs. Die nicht eben neue Erkenntnis, dass die Geldschöpfung in der Zentralbank passiert, nimmt die MMT zum Anlass, die künstliche Grenze zwischen Zentralbank und den anderen Akteuren („Unabhängigkeit der Zentralbank“) als genau die Nebelkerze zu entlarven, die sie ist (schließlich dient auch dieses Arrangement spezifischen Interessen, sie sich dadurch von jeder Partizipation und Kritik insulieren).
Natürlich erklärt die MMT nicht, wie ihre aktivistischen Gegner*innen gerne behaupten, der Staat oder die Notenbank könnten beliebig viel Geld schöpfen. Stattdessen gibt es klare Grenzen in der Realwirtschaft. Der revolutionäre Gehalt der MMT liegt darin, dass sie die Grenzen staatlichen Handelns nicht in der Verfügbarkeit von Krediten (in Form von Staatsanleihen, die nur von den großen Banken gekauft werden können) sieht, sondern in der realen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, gemäß dem Keynes’schen Motto: „Everything we can actually do, we can afford.“ (Paraphrase)
In diesem Zusammenhang dienen Steuern dann nicht mehr der Finanzierung des Staates, sondern der Steuerung von a) Inflation und b) volkswirtschaftlicher Aktivität. Ihre Rolle für die Inflation ist recht leicht zu verstehen. Wenn inflationärer Druck entsteht, können höhere Steuern Kaufkraft auffressen (weil der Staat Steuern nicht zur Finanzierung braucht, vernichtet er mit der Erhebung von Steuern effektiv Geld; dieses Verständnis des Geldkreislaufs ist elementar für die MMT). Umgekehrt können Steuersenkungen die Kaufkraft erhöhen und so Wachstumseffekte freisetzen (hier ergeben sich überraschende Überschneidungen der MMT mit klassisch liberalen Präferenzen).
Etwas problematischer ist die volkswirtschaftliche Aktivität. Die MMT setzt sich, anders als die Klassik, in Ehnts Verständnis das Ziel der Vollbeschäftigung. Ist es erreicht, steigen die Steuern, um eine Überhitzung zu verhindern; ist es nicht erreicht, stimuliert der Staat die Nachfrage, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Das Mittel dafür sieht Ehnts in einer Jobgarantie: kommunale Jobs, die nicht in Konkurrenz zum regulären Arbeitsmarkt treten und etwas schlechter bezahlt sind als das durchschnittliche Jobs auf dem freien Markt. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit kommt so nicht vor, und Menschen bleiben dauerhaft in Beschäftigung – entweder in Jobmaßnahmen oder im freien Markt (bevorzugt Letzteres).
Gleichzeitig, so Ehnts, erlaube die MMT die Finanzierung großer sektoraler Umbauten, wobei er natürlich vor allem an den Green New Deal denkt. Da die Jobgarantie die negativen Effekte des Wandels bei Jobverlusten abfedert und die Grenze für staatliche Investitionen nicht das Steueraufkommen, sondern die Leistungsfähigkeit der Realwirtschaft ist, ergibt sich hier ein natürlicher Fit.
Bevor ich zu meiner Kritik komme, kurz der für mich wichtigste Faktor, der für MMT spricht: sie offeriert ein kohärentes Denksystem dafür, wie ein notwendiger massiver sektoraler Umbau überhaupt zu stemmen wäre. Da sind wir dann auch wieder bei dem politischen Faktor: die klassische Wirtschaftstheorie hat auf diese Frage schlicht überhaupt keine Antwort außer der Hoffnung, der private Sektor möge das irgendwie freiwillig tun, was ich für reichlich naiv halte.
Leider ist auch die MMT in meinen Augen nicht frei von Naivität. Die Idee, mit dem Heben und Stenken von Steuersätzen die Inflation und gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steuern, funktioniert auf dem Papier sehr gut, aber dasselbe gilt ja auch für die monetaristische Idee der Geldmengensteuerung, die auch in der Theorie, nie aber in der Praxis, zu einem Gleichgewicht führt. Es ist schlichtweg nicht vorstellbar, dass ein demokratisch verfasstes Staatswesen in der Lage sein soll, allein auf volkswirtschaftlicher Rechnung die Steuersätze so zu heben oder senken, dass die erwünschte Steuerungswirkung erzielt werden kann.
Auch ist fraglich – ebenso wie bei der klassischen Wirtschaftstheorie – ob die Analysewerkzeuge überhaupt ausreichen, um diese Momente zu erkennen und verlässliche Prognosen abzugeben. Bisher darf das aus guten Gründen bezweifelt werden (was übrigens, erneut, auch für die jetztige Politik gilt; mit verfehlten Inflationswarnungen deutscher Orodliberaler ließe sich ein Palast tapezieren).
Dazu kommt die zweite Einschränkung, die bei MMT-Befürworter*innen gerne in einem Halbsatz abgefrühstückt wird: MMT funktioniert nur für Staaten, die sich ausschließlich in ihrer eigenen Währung verschulden, was für die meisten Länder gar nicht zutrifft. Vor allem ist MMT eine Theorie für den amerikanischen Finanzhaushalt, dessen Anwendbarkeit auf andere Länder einerseits und Dauerhaftigkeit im internationalen Vergleich noch zu beweisen ist.
Letztlich aber gilt diese Kritik für jede Wirtschaftstheorie. Es sind Theorien. Ihre Anwendbarkeit unterliegt immer einem Realitätscheck, der für die Theorie grundsätzlich nicht besonders gut ausfällt. Ich neige allein deswegen der MMT zu, weil ihre Nachteile mir angesichts der Vorteile nicht so bedeutsam erscheinen; ich habe darüber im Kontext Keynesianismus vs. Neoklassik 2013 (!) auch schon einmal geschrieben.
Ich freue mich in jedem Fall, all diese Fragen kommende Woche im Podcast der Bohrleute mit Dirk Ehnts besprechen zu können, der freundlicherweise zugesagt hat. Von daher freue ich mich auch auf eure kritischen Anmerkungen in den Kommentaren, die ich dann in das Gespräch mit einbringen kann.
Neil Gaiman – Sandman Deluxe Edition 5
Mit dem fünften Sammelband findet die Sandman-Saga ihr Ende – und ich habe fünf hübsche Hardcover-Gesamtausgaben in meinem Comicregal stehen. Diese haben zwar leider den Nachteil, dass manchmal die nahe an der Falz liegenden Bilder schwer erkennbar beziehungsweise der Text dort unleserlich ist, weil der Rand arg knapp gehalten wurde und die Bände ziemlich dick sind, aber dieses Mini-Detail ist so ziemlich der einzige Kritikpunkt, den ich gegenüber diesen Werken habe. Das Einzige, was ich an dem Kauf der insgesamt fünf Wälzer bereue ist, sie nicht schon viel früher gelesen zu haben.
Ich erwähnte bereits, dass in diesem Band die Saga ihr Ende findet. Nachdem Traum am Ende des vierten Bandes durch die Furien vernichtet wurde – der Abschluss zahlreicher Plotfäden, die sich bis weit in die griechische Antike zurückstrecken – befasst sich die erste Geschichte dieses Bandes, die zugleich die letzte im durchgehenden Handlungsstrang ist, mit dem Begräbnis Traums, während seine neue Inkarnation – „Ideen sind unsterblich“, wie Lucien Matthew mitteilt – ohne Wissen über die Welt, aber im vollen Bewusstsein seiner Aufgabe ängstlich darauf wartet, seine Geschwister zu treffen.
Das Begräbnis findet, passenderweise, in der Traumwelt statt und hat zahllose Gäste, die aus den bisherigen Geschichten oder der Mythologie bekannt sind. Vermischt mit philosophischen Betrachtungen über die Natur der „Endlosen“, von Träumen und der conditia humana sind dabei Erinnerungen und Reminiszenzen der Charaktere, die dem Prozedere eine bedeutungsschwangere, traurige gravitas geben, wie sie dem Abschluss eines Epos gebührt.
Gleichzeitig findet ein paralleler Handlungsstrang mit Matthew im Zentrum statt. Der Rabe ist traurig und wütend zugleich, weigert sich, an den Feierlichkeiten teilzunehmen und hat kein Interesse daran, weiter im Traumreich zu dienen. Er will weiter, worin auch immer dieses „weiter“ bestehen mag (man ist sich allseits aber sehr sicher, dass es mit Traums Schwester Tod zu tun haben wird). In Gesprächen mit der neuen Inkarnation Traums und mit Lucien aber lässt sich Traum schließlich doch dazu bereit erklären, Traum als Berater zu dienen. Ob das eine Beförderung darstellt, eine Bürde oder beides, bleibt letztlich offen.
Die weiteren Geschichten des Bandes sind im bekannten Anthologien-Stil gehalten. So begleiten wir William Shakespeare beim Verfassen seines letzten Dramas, und dem zweiten, das er Traum schuldet. Shakespeare reflektiert über sein Leben und sein (sehr eingeschränktes) Familienglück und fragt sich, ob es den Preis am Ende wert war. Berühmt ist er nun, aber wäre er vielleicht mit einer „normalen“ bürgerlichen Existenz glücklicher gewesen? Eine Antwort auf diese Frage erhält er nicht, nicht von Traum und nicht von sonstwem, und da ist der Titan der Schriftstellerei so menschlich wie selten zuvor.
Ich bin trotzdem weiterhin kein großer Fan des Shakespeare-Plots, der, wenig überraschend, der Favorit der meisten Kritiker*innen ist (man denke vor allem an die Sommernachtsgeschichte im zweiten Sammelband, die den „Sandman“-Epos in den Pantheon der Literatur geschossen hat, in dem sonst nur noch „Watchmen“ zu finden ist). Es ist mir zu…provinziell, beinahe schon. Ja, Shakespeare ist der wichtigste englische Dichter, aber Traum ist eine kosmische Figur, und seine Begeisterung für Shakespeare, anstatt für Dichter*innen anderer Kulturkreise, scheint mir arg eine angelächsische Nabelschau. Ja, Gaiman umgeht das Problem durch die vielen Facetten von Traums Persönlichkeit, aber da wir als Lesende nur diese Perspektive haben, ist das kein echter Trost.
Eine andere große Geschichte ist künstlerisch interessanter, weil sie einen anderen Kulturkreis zugänglich macht, in diesem Fall die Welt japanischer Mythen. Ein buddhistischer Mönch wird von einem Fuchs und einem Waschbär geplagt, die eine Wette am Laufen haben. Die Füchsin verliebt sich in den Mönch und versucht, ihn vor Dämonen zu beschützen; das führt in eine Reise ins Traumreich bis vor Traums Thron. Die Geschichte ist im Band doppelt enthalten: einmal mit Zeichnungen eines japanischen Künstlers im Wasserfarbenstil, mit dem Text als Prosa daneben abgedruckt, einmal als klassischer Comic. Ich bevorzugte tatsächlich den Wasserfarbenstil, der der Geschichte angemessener erscheint und sie als künstlerisch interessanter erscheinen lässt, zumindest für mich.
Insgesamt mochte ich den eigentlichen, durchgehenden „Sandman“-Handlungsstrang am Liebsten, konnte aber mit den meisten Anthologien auch etwas anfangen (am wenigsten tatsächlich mit denen des vierten Sammelbandes). Rückblickend stellt sich für mich die Frage, ob eine Anordnung im Sammelband in getrennter Form nicht sinnvoller gewesen wäre, aber so bleibt die Geschichte verworrener, facettenreicher und – dafür – schwieriger zu folgen. Alles hat seinen eigenen Payoff, fürchte ich. So oder so bleibt eine unbedingte Empfehlung für alle Sandman-Bände bestehen.
die Ideologie freier Märkte, in denen rationale Akteure rationale Entscheidungen treffen, die dann zu einem rationalen Ganzen führen, setzten sich durch. Das leitet die letzte Phase ein, die „Age of Chaos“, in deren (vermutlich) letzten Zügen wir gerade leben.
Ich weiß echt nie, was damit überhaupt gemeint sein soll. Es ist nicht nur so, dass es freie Märkte „nie in Reinform“ gibt, sondern dass es nirgendwo in der westlichen Welt überhaupt auch nur ansatzweise „freie Märkte“ gibt, nicht einmal in den USA. Das Maß an Regulierung ist heute überall sehr hoch. Mit am höchsten übrigens im Finanzsektor, den die meisten paradoxerweise für komplett dereguliert halten.
Wenn ich so etwas lese, habe ich schon keine Lust mehr auf das Buch. Zuviel Ideologie.
Daher auch „Ideologie“ und nicht „Realität“.
Und wo sollen die „durchgesetzt“ haben? Nirgendwo.
Ein Lesetip aus aktuellem Anlass :
Die Märzausgabe der „Blätter für Deutsche und internationale Politik“ hat als Schwerpunkt den Russland-Ukraine-Konflikt und ist unmittelbar vor dem Angriff (der ‚Zeitenwende‘ ) entstanden. Neben den stichhaltigen Analysen ist die ‚Vorher‘ Sicht ein hervorragendes Zeitdokument.
https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz