Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.
Diesen Monat in Büchern: Kaiserreich, Nachahmung, Maus, Finanzkrise, Frieden
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Care-Arbeit, Schweiz
BÜCHER
Ivan Krastev/Stephen Holmes – Das Licht, das erlosch – Ein Abrechnung (Ivan Krastev/Stephen Holmes – The Light that failed)
Es ist mittlerweile eine Binsensweisheit, dass die Luftsprünge, der Westen kollektiv angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 vollführte, deutlich verfrüht waren. Seither unterliegt Osteuropa einem antiliberalen Backlash, der mit der Wahl Donald Trumps seinen Weg auch über den Atlanktik zurückgefunden hat. Das Autorenduo untersucht in drei großen Kapiteln, warum der Liberalismus seine Strahlkraft so schnell und nachdrücklich verlor.
Die Argumentation zieht sich dabei entlang der Konzepte der „Nachahmung“ und Demografie entlang.
Im ersten Kapitel untersuchen die Autoren, wie die osteuropäischen Staaten damit scheiterten, mit ihrer Nachahmung des westlichen Liberalismus aufzuschließen und Respekt und Wohlstand zu erlangen. Stattdessen zogen Millionen junger Menschen aus den östlichen Staaten in den Westen. Die Zurückgebliebenen wurden mit einem neuen, antiliberalen Nationalismus bei der Stange gehalten, die Liberalen als Verräter an der Nation gebrandmarkt. Letztlich richtete sich Osteuropa in der Stagnation ein und schottete sich nach außen ab, um nicht noch mehr Verluste zu erleiden. Dass diese Sicht nur eingeschränkt mit den wirtschaftlichen Erfolgen der Liberalisierung in Einklang zu bringen ist, versteht sich von selbst. Es ist das Gefühl, dass die Nachahmung keinen Respekt erbracht habe, das solchen Schaden anrichtet.
Noch viel schlimmer ist die Lage in Russland: Auch hier ist die demografische Lage katastrophal, aber weniger wegen Abwanderungen in den Westen – mangels EU-Beitritt ist das für Russ*innen keine Option – sondern wegen der Lage des Landes selbst. Die Autoren beschreiben es eindringlich als „Geburtenrate einer westlichen Nation und Lebenserwartung eines Entwicklungslands“. Die Aussichten in Russland sind düster, das Land schwach. Man fühlt sich vom Westen betrogen. Deswegen greife Russland seit etwa 2007 zum aggressiven Mittel der Spiegelung: dem Westen werde vorgehalten, wie hohl die eigenen Ansprüche sind, vom Krieg in Georgien bis zur Wahlmanipulation 2016 in den USA.
Am merkwürdigsten ist der Fall der USA selbst. Sie sind das Land, das von der ganzen Welt nachgeahmt wird, und doch gibt es gerade hier einen starken illiberalen Backlash. Die Autoren erklären dies damit, dass die Nachahmung aus Sicht vieler Amerikaner*innen eine eigene Schwäche offenbart oder geschaffen habe. Dafür haben sie gute Argumente: Die Dominanz des amerikanischen Werte- und Kultursystems sorgt dafür, dass das Land weltweit gut verstanden wird – Wissen, das gegen die USA eingesetzt werden kann. Dagegen haben die Amerikaner*innen praktisch keine Kenntnisse über das Ausland. Dazu kommt, wie in Osteuropa und Russland, das Gefühl, demografisch von „Fremden“ bedroht zu sein.
Die Argumentationslinie des Buches ist spannend und bietet einen erkenntnisreichen Analysezugang. Wenn ich eine Kritik hätte, dann, dass es insgesamt länger ist, als es sein müsste. Gelegentlich fühlte es sich arg an, als wiederholten sich die Autoren. Aber das soll von einer Empfehlung nicht abhalten.
Christoph Nonn – Zwölf Tage und ein halbes Jahrhundert
Christoph Nonns Buch über die Geschichte des Kaiserreichs wählt eine interessante Perspektive, um den Stoff neu aufzuarbeiten. Zwölf Tage werden exemplarisch sehr detailliert besprochen, um bekannte Themen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. So werden etwa die Sozialistengesetze aus der Perspektive von Julie Bebel beschrieben, die den Anschlag auf Wilhelm I. erlebt. Oder die Katholikenverfolgung anhand einer angeblichen Mariensichtung in einem Dorf geschildert.
Solche Ansätze ermöglichen es Nonn, nicht nur ein über die Beschreibung großer Strukturen, Dynamiken und, vor allem, der „Geschichte großer Männer“ hinausgehende Betrachtung zu schreiben, sondern auch, das Kaiserreich lebendig wirken zu lassen. Man fühlt den Alltag der Menschen und ihre Mentalität mehr als der sonst üblichere, distanzierte Blick.
Gerade dieser Tage erfreut sich das Kaiserreich glücklicherweise anlässlich des Gründungsjubiläums und eines passenden Historiker*innenstreits neuer Aufmerksamkeit. Nonns Buch ist rundum empfehlenswert.
Art Spiegelman – Maus (Art Spiegelman – Maus)
Es gibt genau zwei Graphic Novels, die auch außerhalb von Comicfankreisen weithin bekannt und als Literatur anerkannt sind: Alan Moores „Watchmen“ (deutsch) und Art Spiegelmans „Maus“. Nicht, dass diese Einschätzung notwendigerweise gerechtfertigt wäre; es gibt eine ganze Reihe weiterer Werke, die bekannter sein sollten, als sie es sind. Ich habe diesen Monat wieder einmal Maus gelesen, und dabei ist mir aufgefallen, dass ich es bisher hier noch gar nicht besprochen habe. Das soll korrigiert werden!
„Maus“ erzählt die Geschichte von Vladeck Spiegelman, dem Vater des Autors. Der polnische Jude geriet 1939 in Kriegsgefangenschaft, überlebte die folgenden Jahre im Untergrund und wurde schließlich bei einem Fluchtversuch von den Schleppern verraten und nach Auschwitz deportiert. Er überlebte den Horror des Vernichtungslagers und die anschließenden Todesmärsche durch Deutschland bis nach Dachau. Durch Zufall entrann er den Erschießungskommandos und wurde von den US-Truppen befreit.
Die Geschichte läuft zweigleisig: Vladeck erzählt Art die Geschichte, die dieser für das Zeichnen des Comics aufschreibt. Dieser Strang verläuft in der Gegenwart, und Art muss sich dabei auch mit der schwierigen Persönlichkeit seines Vaters und seiner eigenen Identität herumschlagen. Narrativ wird das vor allem zur Darstellung des langen Schattens des Holocaust benutzt. Das Gros der erzählung aber nimmt die Holocaust-Erzählung ein.
Die zentrale Gestaltungsentscheidung in „Maus“ ist die Darstellung aller Juden als Mäuse und der Deutschen als Katzen. Dies erlaubt Spiegelman die Arbeit auf mehreren metaphorischen Ebenen, besonders wenn es um die Täuschungsversuche der Umgebung geht: Vladeck gibt sich oft als Pole aus, um seine jüdische Identität zu verbergen, was durch eine Schweinsmaske angedeutet wird (die Polen sind Schweine, die Franzosen Frösche, die Schweden Elche, die Amerikaner Hunde). In einem besonders selbstreflektiven Teil sieht man Art als Mensch, aber er trägt eine Maus-Maske.
„Maus“ ist keine leichte, aber eine fesselnde Lektüre. Was es so faszinierend macht, ist gerade die Intimität der persönlichen Lebensgeschichte Vladecks. Er kann kaum stellvertretend für alle Juden stehen, aber gerade diese Individualität sticht so hervor, denn sie zeigt eine zentrale Wahrheit über den Holocaust: Ob jemand überlebt oder nicht ist oft blanker Zufall, und wo es das nicht ist, stehen Betrug, Diebstahl und Täuschung, die – gerade zusammen mit der arbiträren Natur des Überlebens – auch zum Schuldgefühl der Überlebenden beitragen, ein Schuldgefühl, von dem auch Art nicht frei ist – starb sein jüngerer Bruder doch im Holocaust.
Auch nach 40 Jahren ist „Maus“ deswegen immer noch eine mehr als empfehlenswerte Lektüre, und wer sich noch nie damit auseinandergesetzt hat, sollte das dringend nachholen.
Adam Tooze – Crashed (Adam Tooze – Crashed)
Adam Toozes Buch über die Finanzkrise las ich diesen Monat zum zweiten Mal. Es ist ein umfassendes Werk, das die eigentliche „Kernkrise“ von 2007 bis 2009 in einen wesentlich größeren Zusammenhang bettet. Das Narrativ, das Tooze entwirft, zieht sich bis ins Jahr 2018 und enthält damit auch den Brexit und die Wahl Trumps, die er durchaus als direkt mit der Krise verbunden beschreibt. In mehreren großen Kapiteln widmet sich Tooze zuerst dem Aufbau des internationalen Finanzsystems in den Jahren vor der Krise. Es ist ihm hier wichtig zu betonen, dass es sich um ein globales System handelte, in dem sämtliche Industrienationen direkt und der Rest der Welt mehr oder weniger indirekt miteinander verbunden waren. Tooze hat wenig Geduld mit Peer Steinbrück oder Nicolas Sarkozy, wenn diese behaupten, es sei eine „amerikanische“ Krise. Für Tooze ist die Krise international.
Diese Argumentation belegt er dann im Zusammenbruch des Systems. Die ganze Welt hing (und hängt) vom Dollar ab, weswegen eine amerikanische Immobilienkrise auch der Auslöser war. Es war das amerikanische Krisenmanagment einerseits und die Lektionen der Asienkrise von 1997 andererseits die einen weltweiten Totalcrash analog zu 1929 verhinderten. Für die Reaktion der Europäer (zu denen für Tooze Großbritannien meist nicht gehört, da ist er ganz Brite) hat er dagegen nur Kritik übrig.
Das macht Sinn, denn er sieht die folgende Eurokrise nicht als eine eigene, losgelöste Staatsschuldenkrise, sondern als einen weiteren Teil der Krise des globalen Finanzsystems. Sie ist zudem hausgemacht. Für die Politik besonders Deutschlands während der Krise hat Tooze keinerlei Verständnis, aber auch die meisten anderen Akteure kommen nicht sonderlich gut dabei weg.
Tooze betrachtet auch mehr als nur die EU und die USA, sondern bettet gleichzeitig weitere außenpolitische Entwicklungen in diesen Kontext ein. Dazu gehört vor allem der antiliberale Umschwung in Russland und China, der dann in Georgienkrieg und Ukrainekrise einerseits und der symbiotischen Beziehung Chinas zu den USA andererseits direkten Niederschlag findet. Eher gegen Ende untersucht Tooze dann den politischen Fallout, vom Aufstieg (und Fall) Syrizas in Griechenland zu Orban in Ungarn über Occupy Wallstreet und schließlich Brexit und Trump.
Toozes Analysen sind scharf, sein Narrativ ist fesselnd und seine Perspektive augenöffnend und herausfordernd. Das Buch ist voll und ganz zu empfehlen.
Philipp Zelikow – The Road less Traveled
Ereignisse, die nicht stattgefunden haben, sind aus geschichtswissenschaftlicher Sicht immer sowohl attraktiv als auch ein Problem. Was nicht passiert ist, lässt sich schwer erforschen und belegen. In vielen Fällen ist es aber trotzdem wertvoll. Dies ist so ein Fall.
Zwischen Frühjahr 1916 und 1917 gab es eine Serie von Versuchen, den Ersten Weltkrieg mit einem Kompromissfrieden zu beenden. Die Verluste auf allen Seiten waren hoch, und es gab keine Aussicht, dass eine der beiden Seiten einen entscheidenden Sieg erreichen konnte. Alles, was blieb, war ein langsames, langes Abnutzen – um am Ende doch in völliger Erschöpfung einen Kompromiss schließen zu müssen. Die linken und liberalen Politiker in allen beteiligten Staaten sahen dies und drängten auf eine Friedenslösung.
Doch dem standen große Hindernisse entgegen. Im Krieg bestanden keine direkten Kommunikationskanäle, niemand wollte den ersten Zug machen und das Vertrauen war zerstört. Die Alternative lag auf der Hand: Amerika musste, als neutrale Macht, den Frieden als Mediator vermitteln. Der amerikanische Präsident war willens, genau das zu tun. Und doch schlugen all diese Versuche fehl. Im Februar 1917 erklärte das Deutsche Reich den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Im April traten die Vereinigten Staaten auf Seiten der Entente in den Krieg ein.
Dieses Buch verfolgt die Versuche, den Frieden zu vermitteln, und warum sie scheiterten. Die Hauptakteure sind Wilson und sein Sonderbevollmächtigter Edward House, der deutsche Botschafter in Washington, Bernstorff, und die britischen Premierminister Asquith und Lloyd George. Das Narrativ, das Zelikow entwickelt und nachverfolgt, ist auf House als Hauptperson fokussiert. Das ist die größte Stärke und Schwäche des Buchs.
Wie so viele angelsächsische Geschichtswerke neigt auch Zelikow dazu, starke Narrative in den Vordergrund zu stellen. So erfährt man unter anderem, dass der britische Außenminister Grey gerne Fliegen fischen ging und welche Schulen House besuchte, was die Personen lebendig macht. Aber aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist das alles Fluff, Zuckerwatte, süß, aber wenig nahrhaft. Letztlich sind diese ganzen Informationen wenig hilfreich bei der Analyse, und wie die leeren Kalorien von Zuckerwatte drängen sie sich gerne in den Vordergrund weil die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens die Schärfe der Analyse beeinträchtigt.
Das ist zugegebenermaßen auch eine persönliche Präferenz; ich bin einfach zu sehr an deutschen Universitäten sozialisiert, als dass ich das problemlos gouttieren könnte. Das Buch ist trotzdem insgesamt zu empfehlen, allein weil es keine anderen Abhandlungen zu diesem entscheidenden Thema gibt. Es ist absolut faszinierend, wie Leute wie House, die außer reichen Eltern und guten Beziehungen nichts vorweisen konnten, in praktisch allmächtiger Position das Schicksal der ganzen Welt entscheiden konnten und aus bloßer Inkompetenz scheiterten. Wenn irgendetwas die zentrale These dieses Buchs sein könnte (nicht, dass das so ausdrücklich gesagt wird), dann dass diese Leute geradezu absurde blinde Flecken hatten.
Auch der Grad ökonomischer Ignoranz ist erschreckend. Wenn Bethmann Hollweg, Hindenburg und Ludendorff auch nur ein bisschen ökonomische Kenntnisse gehabt hätten, wäre ihnen klar gewesen, dass die Weigerung der Fed aus dem Oktober 1916, weiterhin die britischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen, mehr Schaden als jedes U-Boot anrichten musste. Aber in ihrer reaktionären Weltsicht konnten sie nur in eingefahrenen, militaristischen Bahnen denken und rissen darüber die ganze Welt mit in die Tiefe. Es ist auf eine dunkle Weise faszinierend.
ZEITSCHRIFTEN
Aus Politik und Zeitgeschichte – Care-Arbeit
Es ist ein bemerkenswerter Trend der letzten Monate, dass Care-Arbeit wesentlich mehr in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt ist. Die oft prekäre Natur dieser Arbeit, ihre Existenz im Schattenraum scheinbar privater Arrangements in Beziehung, ihre Abwälzung auf Frauen und Einwander*innen, die schlechte Bezahlung und Arbeitsbedingungen und die mangelnde Anerkennung wurden durch Corona in ein grelles Scheinwerferlicht gerückt. Dies hat eine Debatte darüber angestoßen, wie Care-Arbeit künftig organisiert und gesellschaftlich bewertet werden soll, die noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.
Diese Ausgabe bietet einen sehr guten Überblick über die Themen dieser Debatte. Ich würde sie vor allem in drei Bereichen sehen, die unmittelbar miteinander verknüpft sind. Einerseits ist Care-Arbeit in überragendem Maße weiblich. Der Löwenanteil dieser Arbeit wird immer noch unentgeltlich geleistet und lastet auf den Schultern von Frauen – auch wenn diese in Doppelverdiener-Ehen vollzeit tätig sind. Gleichzeitig wird die Arbeit sehr gering geschätzt und oftmals auch gar nicht wirklich als Arbeit anerkannt, schon gar nicht als eine, die der Entlohnung oder Wertschätzung verdiene. Wenig überraschend, Dimension 3, wird sie im gewerblichen Bereich deswegen zu großen Teilen von Einwander*innen durchgeführt.
Die Geringschätzung der Care-Arbeit ist untrennbar mit ihrer Codierung als „weiblich“ verbunden. Deswegen ist sie schlecht oder gar nicht bezahlt, deswegen wird sie nicht wertgeschätzt. Es ist dringend notwendig, dass hier ein Umdenken einsetzt. Der demografische Wandel einerseits und die Änderung der Paardynamiken andererseits machen es unbedingt erforderlich. Zwar findet dieses Umdenken bereits statt, aber es passiert mit der Geschwindigkeit eines durchschnittlichen Gletschers, und konkrete Folgen dieses Umdenkens lassen noch auf sich warten.
Die Eidgenossenschaft in der Mitte Europas ist ein eigener, bemerkenswerter Staat, der sich von seinen Nachbarn in vielerlei Dingen fundamental unterscheidet. Das vorliegende Heft unternimmt den Versuch, die Besonderheiten des Alpenstaates anhand seiner Geschichte herauszuarbeiten, ohne in Schweiz-Romantik zu verfallen und zu viele Klischees zu reproduzieren.
Letzteres gelingt recht gut. Diverse Beiträge im Heft sind gegen den Strich gebürstet, wo es etwa um die Beteiligung der Schweizer Eliten am Sklavenhandel im 18. Jahrhundert oder die alles andere als ruhmreiche Geschichte des Baus des Gotthardt-Tunnels geht. Aber wie immer, wenn solche gewaltigen Zeiträume verhandelt werden, kann kaum mehr als an der Oberfläche gekratzt werden, regiert der grobe Pinsel. So viele Themen müssen verarbeitet werden: Schweizer Söldner, Wilhelm Tell, Neutralität, Uhren, Heidi, Föderalismus und Asylpolitik.
Die Autor*innen geben sich reichlich Mühe, Klischees auszuweichen und ein differenziertes Bild der Schweiz zu entwerfen, aber was ist „die Schweiz“ über einen Zeitraum von 800 Jahren schon? Wie in den Beiträgen selbst klar wird, gibt es sie in ihrer heutigen Form ohnehin erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Versuch fühlt sich daher ein wenig wie die unsäglichen Geschichten „der Deutschen“ an, die gerne über einen 1000-Jahres-Zeitraum erzählt werden, als ob da irgendeine Kontinuität bestünde. Diese Konstruktion jahrhundertelanger Kontinuitäten ist trügerisch, und obwohl die Autor*innen immer wieder deutlich machen, dass sie nicht existieren, straft das ganze Heft-Konzept diesen Ansatz ja wieder Lügen. Hier wäre etwas mehr thematische Selbstbeschränkung angeraten gewesen.
Danke für die Liste, immer wieder interessant. Den Empfehlungen Folge zu leisten kostet übrigens ca. 90 Euronen :'( . Ich sage nur: Elite 😎
Krastev/Holmes. Es werde Licht, und es ward Licht:
Am Ende des Tages – vielleicht auch des Buches, hab’s ja nicht gelesen^ – stellt sich die Frage, ob und warum das Volk da draußen die „liberale Demokratie“ überhaupt will oder wollen soll^ oder wenigstens damit einigermaßen einverstanden ist. Lange Geschichte. Ganz gut evident ist allerdings, dass Konsumwünsche-erfüllen-können und der Zustand des Vollgefressenseins bei breiten Schichten (die Linken sagen traditionell gerne „Massen“) diesbezüglich sehr förderlich ist. Dann und – ich würde sagen – eigentlich ERST dann gibt’s gute Chancen auf Toleranz, Großzügigkeit in sittlichen (im breiten Wortsinn) Fragen und all die schönen Sachen, die unter „liberal“ (wieder im breiten Sinn) firmieren.
Der viel besungene aber mittlerweile zunehmend verfluchte sog. Neo-Liberalismus, der eigentlich Neu-Feudalismus heißen müsste, bewirkt nicht zufällig, dass „die Massen“ kleinkariert, biestig und ILLIBERAL werden (oder bleiben^). Da ist man beim Thema Enttäuschung und damit beim Thema „der Osten nach 89“. Das Konzept Niedriglohngebiet hat halt keine große Freude aufkommen lassen.
Die liberale Aufklärungsphilosophie war weiland ein Hobby für reiche Leute, die in der breiten Bevölkerung (Bauern u. dgl.) niemand kannte (da schließt sich der argumentative Kreis zu Wagenknecht^^). Also: Gebt den Leuten erst mal Brot, also guten Lohn für’s Schaffe (heißt heutzutage: Gute Wohnungen, Waschmaschinen, tolle Autos, Urlaubsreisen pp.), dann werden sie freundlich bzw. das Licht geht (ggf. wieder) an. Dann haben sie (besser gesagt: wir) auch evtl. genug Zeit, um sich mit Aufklärung, Grundgesetz und all so was zu beschäftigen. In den frühen Jahren der Bundesrepublik hat sich keine Sau für das Grundgesetz interessiert. Das war was für die da oben. Politik hieß: Der Herr Erhard schafft Wohlstand und der Herr Adenauer Ruhe. Beides musste es erst mal geben, damit später das liberal-reformerische Gewese Platz ergreifen konnte bzw. denen da unten schmackhaft gemacht werden konnte, natürlich nicht automatisch und von selbst, aber den Humus des guten Lebens „für Alle“ (O-Ton Erhard) sollte, um nicht zu sagen muss, es erst mal geben.
Das Licht ist übrigens ja schon öfter mal ausgegangen^. Zum Beispiel in GB in den 70ern. Auch ein sehr lesenswertes Buch:
https://www.amazon.de/When-Lights-Went-Out-Seventies/dp/0571221378/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&dchild=1&keywords=Britain+When+the+lights+went+out&qid=1619771410&sr=8-1
Crashed und Mouse besaß ich ja schon, die las ich zum zweiten Mal 😉 Aber Bildung gibt es nicht umsonst. Wesentlich günstiger aber wenn man statt Amazon bei der BpB kauft 😉
Liberalismus war immer schon eine Oberschichtenveranstaltung und wird immer eine bleiben, das ist keine Frage. Ich denke deine Erhardt-Adenauer-Analogie passt da sehr gut. Ich wäre aber vorsichtig, den Illiberalismus besonders Osteuropas, aber auch der AfD, nur auf ökonomische Verhältnisse zu beziehen. Das ist eine sehr linke Kritikart.
Danke für die spannende Liste. Ein Audible-Abo hilft übrigens auch, die Kosten in Grenzen zu halten (obwohl ich leider nicht weiß, ob das dann mit dem Affilatelink funktioniert)^^
Ich sehe es auch so, dass es nicht nur ökonomische Gründe hat, dass in Osteuropa (ich zähle hier den deutschen Osten mal irgendwie mit), die liberalen Kräfte nicht durchkamen. Würde es aber auch nicht völlig vernachlässigen. 1945 war es ja durchaus eine wesentliche Überlegung, die Massen einzubinden. Nicht nur was direkt Geld angeht, auch Wohnen, Lebensverhältnisse, Bildung, Aufstiegschancen etc.
Und zwar in aus heutiger Sicht gesehen quasi durch sozialistische Maßnahmen.
Der Zeitgeist hatte sich 1990 nur schon soweit gedreht, dass man davon ausging, der freie Markt macht das alles von alleine (was wohlgemerkt 1945 überhaupt nicht in den Köpfen vorkam) und das hat nicht funktioniert.
Man hat eigentlich sowas wie eine umgekehrte Situation zu 45 geschaffen, da kam die Demokratie zusammen mit wirtschaftlichem Aufschwung und besseren Lebensverhältnissen und in Osteuropa war es genau umgekehrt.
Und ja, die Massen denken nicht Tag für Tag über das Grundgesetz und Demokratie nach, die wirtschaftlichen bzw allgmeinen Lebensverhältnisse sind etwas, was alle unmittelbar erleben, die sind viel greifbarer als Demokratietheorie. Es ist vielleicht ein bisschen ähnlich wie zu den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Die „Zufriedenheit zu den bestehenden Verhältnissen“ macht da schon eine Menge aus.
Les grad zu Schweiz
Volker Reinhardt, Die Geschichte der Schweiz: Von den Anfängen bis heute
Wie die vor einem größeren Umbruch um 1800 ein absolut oligarchisches System aufzogen, das offiziell auf einer Rhetorik der Einfachheit des Berglebens fußte, ist für mich mega-faszinierend. Gerade im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus hatte deren Geschichte viele Parallelen zum Dilemma der Chile, das ja 190 Jahre mit Ausnahme der Militärdiktatur eine zunehmend demokratischere Republik wurde, aber gleichzeitig, sozusagen unter der Haube eine gut funktionierende Oligarchie.
Gute Entscheidung mir das Buch der Schweizer Geschichte zu kaufen und nicht das andere, das ihren Schwerpunkt mehr auf die jüngere Geschichte setzt.
Ich hab zwischen 1981 und 1988 praktisch jedes Geo von vorne bis hinten gelesen. Meine Eltern hatten das als Abo. Die Geo Geschichte kaufe ich mir meistens, les die aber irgendwie nie. Nach 400 bis 800-seitigen Ländergeschichten bin ich süchtig.
The Light that failed, kauf ich mir jetzt. Danke.
Zwischen 1998 und 2011 zerbrach auch der kurzlebige, aber heftige Lateinamerikanische (Neo)Liberalismus 1973/82 bis 1998.
Ich hab mein Abo der GEO Epoche jetzt beendet. Nicht, dass es schlecht wäre, aber ich habe zu viele andere Sachen zu lesen. Meine Sammlung habe ich verkauft.
Das Buch über die Schweiz klingt wirklich spannend. Danke für die Empfehlung!
Ich bevorzuge grundsätzlich kürzere Bücher, aber ich les natürlich auch Wälzer.