Eine Bestandsaufnahme des Wahlkampfs vor der Weihnachtspause: CDU, SPD und Grüne

Der Wahlkampf 2025 hat mit dem Moment begonnen, als Olaf Scholz vor die Kameras trat, um die Entlassung Christian Lindners zu verkünden. Das Drama um den Zeitpunkt der Vertrauensfrage und den Wahltermin hatte auch den Hintergrund, dass relativ klar war, dass über Weihnachten und Neujahr wenig Weltbewegendes zu erwarten ist und man im Januar in die eigentliche heiße Phase starten wird. Das sind eine Menge Worte um zu sagen, dass dieser Artikel eine eher kurze Halbwertszeit haben dürfte – zu unklar ist, wie sich die Lage im neuen Jahr entwickeln wird. Trotzdem handelt es sich um eine Gelegenheit, die sich abzeichnende Strategie der Parteien unter die Lupe zu nehmen und einige Prognosen zu wagen beziehungsweise festzustellen, wo solche sich schlicht nicht machen lassen.

Die CDU. Friedrich Merz und seine CDU ist der absolute Platzhirsch bei den anstehenden Wahlen. Sie rangiert in den Umfragen stabil in den niedrigen 30ern, was mittlerweile auch stetig genug ist, um eine Art natürlichen Regierungsanspruch zu stellen. Tatsächlich wirkt es oft so, als sei die CDU als Kanzlerpartei bereits gesetzt. Allerdings ist diese Stärke auch eine potenzielle Quelle von Schwäche: Selbstzufriedenheit kann dazu führen, dass die eigenen Anhänger*innen weniger motiviert sind und die Wahlbeteiligung relativ zur Konkurrenz geringer ist.

Der CDU gelang es, sich in den vergangenen drei Jahren als vorherrschende Oppositionspartei zu inszenieren und damit einen doppelten Zug zu vollziehen. Einerseits machte sie die innere Unruhe in der Partei über und die Ermüdung in Teilen der Bevölkerung mit der Merkel-Kanzlerschaft völlig vergessen. Jens Spahn kann sich heute ohne rot zu werden hinstellen und verkünden, dass Deutschland einen Neustart brauche, weil die Politik der Vergangenheit ein Irrweg sei, ganz so, als sei diese Politik ohne ihn und die CDU entstanden. Aber das war schon immer der Prärogativ der Opposition. Man muss auch in der Lage sein, diesen zu verwandeln. Merz gelingt das bislang, wo etwa Steinbrück 2013 krachend scheiterte. Der andere Teil des Zugs ist es, als Alternative zu erscheinen.

Das gelingt der CDU trotz – oder wegen – ihrer üblichen programmatischen Dürre. Es war schon immer einer der größten Vorteile der Partei, dass sich niemand für ihr Programm interessiert und dass an der Regierung zu sein für sie, anders als für die anderen Parteien, üblicherweise als Endzweck ausreicht. Was die CDU nun als Programm veröffentlicht hat, ist unseriöses Wahlkampfklimbim. Hundert Milliarden völlig ungedeckte Haushaltslücke? Wen interessiert das bei einer Partei, die ihr eigenes Geschwätz von gestern bekanntlich auch nicht interessiert? Ein Hundertstel dieses Betrags gälte bei anderen als Beleg unseriöser Haushaltspolitik. Bei der CDU ist es kein Problem. Das sind Pfunde, mit denen man wuchern kann.

Die Partei hat aber auch ein Problem: ihren Spitzenkandidaten. Merz kann theoretisch mit einer Erzählung aufwarten, die in Deutschland selten ist: jemand, der es in der „freien Wirtschaft“ zu Wohlstand und Erfolg gebracht hat, der nicht mehr ins Amt müsste und der es quasi aus Verantwortungsgefühl tut. Auch bringt er den notwendigen unbedingten Willen zur Macht mit. Gleichzeitig aber hat er eine offene Flanke, weil er sein Geld effektiv durch Versilbern seiner politischen Kontakte und die Arbeit bei einer Investmentfirma erworben hat. Ob die SPD das wird ausnutzen können bleibt abzuwarten; dazu entschlossen ist sie allemal. Dazu kommt, dass er zu impulsiven Ausbrüchen neigt und seine gesellschaftspolitischen Positionen in den 1980er Jahren steckengeblieben sind.

Eine weitere Schwäche für die CDU ist ihre Schwesterpartei. Markus Söder hat schon 2021 keine Gelegenheit verstreichen lassen, zur Pflege des eigenen Egos den CDU-Kanzlerkandidaten zu demontieren; er lässt auch bisher wenig solcher Gelegenheiten aus. Seine ständigen Querschüsse dürften der Partei noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Auch intern ist sie nicht geeint: besonders die erfolgreichsten Ministerpräsidenten, Wüst und Günther, stellen sich gegen die Strategie, die Grünen als Hauptgegner auszumachen, während die bedrängten Ministerpräsidenten aus Neufünfland die CDU beständig nach rechts zu drängen versuchen. Gelingt es der CDU, diese Flügel alle unter sich zu vereinen, hat sie ein breites Zelt und kann sogar die 40% anpeilen. Gelingt es ihr nicht, bleibt sie zerrissen und irrlichtert in Richtung der 20% zurück.

Dazu trägt auch die Migrationsfrage bei. Auf der einen Seite nutzt die Union sie zur scharfen Abgrenzung nach links, aber auf der anderen Seite zahlt sie damit ins Kontor der AfD ein. Das ist ein schwieriger Balanceakt, der Fingerspitzengefühl erfordert – nicht eben eine Stärke Merzens. Die CDU bleibt dennoch der klare Favorit. Aber die Ausschließeritis des Frühjahrs kommt nun als strategisches Problem zurück, und der Wahlkampf ist noch lange nicht entschieden. Merz ist für viele Wähler*innen eine noch definierbare Unbekannte, und je mehr man von ihm sieht, desto schlechter wird das Bild. Das war schon im letzten Jahr die Hoffnung der SPD.

Die SPD. Die Strategie der SPD lässt sich recht einfach beschreiben: die Wähler*innen daran erinnern, dass Olaf Scholz Kanzler ist, dass Olaf Scholz besonnen ist und dass Friedrich Merz schon irgendwie gar nicht so sympathisch und stabil ist. Sie hat natürlich auch wenig andere Möglichkeiten. Die einzige Chance, aus dem Umfragenjammertal der aktuell 14-15% zu entkommen, ist die Duellsituation mit Friedrich Merz. In der Frage nach der Kanzlerdirektwahl erzielt Scholz solide Werte, die deutlich über denen seiner Partei (ein Problem) und auch Merz‘ (ein Vorteil) liegen. Dementsprechend wird es ihr vor allem darum gehen, die Wahl zu einer Abstimmung zwischen Scholz und Merz zu verwandeln. Wer wird die neue Koalition anführen? Wird es Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz? Das ist die Frage, die die SPD den Wählenden zu stellen versucht. Nicht, dass das aktuell eine wäre.

Aber hier kommt der Vorteil der Sozialdemokraten zum Tragen. Die aktuelle Situation ist relativ belanglos; entschieden wird die Wahl im Januar und Februar. Fast die Hälfte der Deutschen ist unentschlossen und sagt, es sei nicht absehbar, wer die Wahl gewinnen wird. Das ist eine große Menge, und wenn die SPD diese Unentschlossenheit aufrechterhalten kann, dann hat sie Aussicht auf dieselbe Dynamik wie 2021: dass die CDU und vor allem Merz Fehler machen, die dann natürlicherweise ihr zufallen.

In der Außenpolitik setzt die Partei den Regierungskurs fort: bloß nirgendwo festlegen, überall bremsen, überall und nirgends dabei sein. Eine wenig tragfähige Position, aber offensichtlich eine mehrheitsfähige. Wer es schafft, Friedrich Merz als Kriegstreiber hinzustellen und eine Debatte über den drohenden Atomkrieg loszubrechen, kann offensichtlich auf tiefsitzende Gefühle zurückgreifen. Jedoch: auch wenn die Ukraine ein dominantes Thema ist, entschieden wird die Wahl über die Innenpolitik. Hier bekommen wir die üblichen SPD-Versatzstücke: mehr Geld für Familien, irgendwie Respekt und Politik für die arbeitende Bevölkerung, und so weiter. Klimbim, weitgehend. Genauso wie die CDU steht die SPD vor allem für ein „weiter so“. Und wer weiß, vielleicht ist es genau das, was das Elektorat wünscht.

Die Grünen. Nach ihren Wahlverlusten haben die Grünen eine ziemlich radikale Neuausrichtung vorgenommen. Wie die FDP nach 2013 orientieren sie sich auf ihr Zugpferd aus. Robert Habeck macht quasi den Lindner. Der linke Flügel tat der Parteispitze den Gefallen, sich selbst aus dem Spiel zu nehmen (das würde einem Konservativen oder Liberalen nie passieren), so dass das Ganze recht geräuschlos über die Bühne gehen konnte. Die Grünen-Strategie, die ich unter dem Schlagwort „Mehr Ländle wagen“ analysiert hatte, war riskant. Für den Moment aber scheint sie aufzugehen. Die Partei hat in den Umfragen aufgeholt und steht nun wieder bei ihrem Ergebnis von 2021 und fast gleichauf mit der SPD.

Das macht den Kanzlerschaftsanspruch Habecks nicht eben realistischer. Ungeachtet der Umfragewerte kann er nicht von derselben Dynamik profitieren wie Scholz. Es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn er stärker als Union und SPD werden und die Kanzlerfrage überhaupt stellen könnte. Nein, aktuell ist diese Kandidatur vor allem als energische Unterstreichung des Regierungswillens zu verstehen. Die Grünen geben lautstark und bei jeder Gelegenheit zu Protokoll, dass sie bereit sind, in eine Regierung einzutreten – ob mit Scholz oder mit Merz.

Das Problem der Grünen wie der SPD ist, dass sie sich leicht gegenseitig kannibalisieren. Dasselbe geschah 2021, als die Gewinne der SPD auch die Verluste der Grünen waren. Gelingt es Scholz, seine Duellsituation aufzubauen, so rückt Habeck in den Hintergrund. Gelingt es Habeck, sich ernsthaft als dritter Mann im Spiel zu halten, verliert Scholz sein größtes Zugpferd. Gleichzeitig würden beide Parteien gerne im Tandem stärker werden. Es ist ein Dilemma.

Und wo wir bei Zugpferden sind: weder Merz noch Scholz können als große Charismatiker gelten. Scholz hat die ganze Spröde Hamburgs kultiviert,  mitsamt einer Schmidt’schen Arroganz, ohne je Schmidts intellektuelles Niveau erreichen zu können. Und Merz ist Meister des reaktionären Fettnäpfchens und ebenfalls niemand, der Wärme ausstrahlen würde. Habecks Strategie der Küchentischgespräche, das ostentative Zuhören und die Bürger*innennähe, ist daher folgerichtig, weil es eine Lücke besetzt. Ob diese Lücke gefragt ist oder ob der Bedarf nach einer emotional distanzierten Führungsperson gerade dominanter ist, bleibt aktuell noch völlig unklar. Die Wählendenschaft weiß ja selbst noch nicht, was sie will; auf diesem Gebiet operieren alle Parteien blind. Immerhin hatte Habeck das gute Glück, dass der Skandal um die Hausdurchsuchungen („Schwachkopfgate“) nicht an ihm hängen blieb, wohl vor allem dank der tatkräftigen Hilfe der FDP, die die Schlagzeilen mit ihrem D-Day-Papier besetzt hält.

Programmatisch sind die Grünen wenig spannend unterwegs. Einige Klassiker – grüne Investitionen, ein bisschen eFörderung, mehr für Familien, Gleichstellung etc., das Ganze finanziert mit einer Milliardärssteuer – sind erkennbar Wahlkampfrhetorik. Das ist auch kein Fehler. Die Partei ist ein gebranntes Kind, was zu konkrete Wahlprogramme angeht. Ein wenig Ambiguität schadet da keinesfalls.

Auch scheint es, als wäre die rechte Flanke weitgehend geschlossen. Der Schwenk nach rechts unter Habeck und das scheinbare Ende des syrischen Bürgerkriegs tragen zu einer Entspannung in der Migrationsfrage bei, die den Grünen nur schaden kann. Je weniger die Debatte um offene Grenzen, Aufenthaltstitel und Integration eine Rolle spielt, desto besser für die Partei.

Die AfD, FDP, LINKE und das BSW analysieren wir übermorgen.

{ 22 comments… add one }
  • Dennis 18. Dezember 2024, 10:43

    Zitat Stefan Sasse:
    „Hier bekommen wir die üblichen SPD-Versatzstücke: mehr Geld für Familien, irgendwie Respekt und Politik für die arbeitende Bevölkerung, und so weiter. Klimbim, weitgehend.“

    Heißt es bei der SPD. Dein Urteil diesbezüglich betreffend CDU und Grünens ist ähnlich. Tenor: Wahlprogramme sind einfach nur scheisse, die kein vernünftiger Mensch ernst nehmen kann.

    Das kann stimmen. Sagt aber einiges über die so genannte Demokatie. Wenn die planmäßige Verarsche, um nicht zu sagen Verlogenheit und der Verzicht auf Wahrhaftigkeit als hoch-professionell gilt, braucht an sich wohl nicht drüber zu wundern, wenn sich die Leut aus der Veranstaltung zunehmend verabschieden.

    • Stefan Sasse 18. Dezember 2024, 13:54

      Ich äußere mich despektierlicher, als ich selbst fühle. Irgendwie war das mein Groove beim Schreiben des Artikels. Grundsätzlich sollen Wahlprogramme mir ein Bild dessen vermitteln, was die Partei machen will. Ich finde es nur alles so unglaublich wabernd und losgelöst vom Rest. Ich meine, die CDU hat eine 100-Milliarden-Deckungslücke im Programm und will die Schuldenbremse einhalten. Wie soll ich das ernstnehmen?

      • Dennis 18. Dezember 2024, 19:25

        Nee, nehm ich ja auch nicht ernst. Aber wenn die Aussagen von Parteien niemand mehr ernst nimmt, weil es für das Nichternstnehmen gute Gründe gibt, stellen sich ernsthafte Fragen^.

    • CitizenK 18. Dezember 2024, 14:47

      „“Wenn … Verlogenheit und der Verzicht auf Wahrhaftigkeit als hoch-professionell gilt“

      Diese Tendenz habe ich auch schon bei Dir vermutet. Wenn Ideale in der Wirklichkeit nicht beachtet werden, ist das kein Grund, sie abzuschreiben.
      Wir halten ja auch an Normen wie „nicht stehlen“ fest, obwohl dauernd geklaut wird.

      • Dennis 18. Dezember 2024, 19:59

        Nun ja, eine Selbstauskunft über operationelle Absichten (= Programm anlässlich unmittelbar bevorstehender Wahlen) ist eigentlich nicht lediglich ein Ideal, IMHO, und eine rechtliche oder moralische Norm (Dein Beispiel) schon mal gar nicht.

        Die allgemeinen Absichten, also das Wolkige, können ja ins Grundsatzprogramm und im Wahlprogramm kann man womöglich davon auch noch offen abweichen, im Sinne von entgiften, was z.B. die CDU/CSU ja macht, in Sachen Regelaltersgrenze. Das sieht zwar nicht so gut aus, aber egal.

        Fun fact: Die programmaverse Union hat das längste Wahlprogramm, fast 80 Seiten; grün ist etwas kürzer, die programmgeile SPD wohl noch ’n paar Seiten weniger.

        Insgesamt natürlich die Krankheit überflüssiger Ausführlichkeit, die allerdings nur aus Lyrik besteht. Anstelle de Lyrik könnte es wenigstens genauere Einzelheiten zu angedeuteten Vorhaben geben, z.B. zum wolkigen „Deutschlandfonds“ bei Grünens. Genaue Ausgestaltung? Finanzierung und, und? Natürlich kommt da nichts. Wenn man bei Grünens privat danach fragen würde, so nach einem Glas Rotwein oder so, käme mit Sicherheit die Antwort: Vergiss den Quatsch; ist eh nur Blabla.

        • CitizenK 19. Dezember 2024, 07:52

          Wie Du selbst sagst: Da stellen sich ernsthafte Fragen. Wenn eh alles absurdes Theater ist: Warum mitspielen? Weil wir auch nicht mehr an den Sinn der „Veranstaltung“ glauben?

    • Erwin Gabriel 18. Dezember 2024, 16:20

      @ Dennis 18. Dezember 2024, 10:43

      Tenor: Wahlprogramme sind einfach nur scheisse, die kein vernünftiger Mensch ernst nehmen kann.

      Im Großen und Ganzen ist das doch auch so. Im Wahlkprogramm steht, was sich die Klein-Fritzchens der Parteien wünschen: Den Drachen töten, die Jungfrau (selbstverständlich m/w/d) retten, solch Kram.

      Aber selbst bei absoluter Mehrheit kommen die Parteiflügel, die stillgehalten haben, mit abweichenden Wünschen daher, muss man mit der Hinterlassenschaft der Vorgänger-Regierung zurechtkommen (das Gecshrei wird heuer noch lauter sein als nach dem Abtreten von Merkel), hat man Probleme außen (Ukraine, Trump etc.) und von innen (Klimawandel vs. Wirtschaftsschwäche), und über alles kein Geld für irgendwas.

      Noch schwieriger wird es, wenn ein oder zwei Koalitionspartner ins Haus stehen; dann zählt nicht mehr, was nach eigener Wahrnehmung sinnvoll, sondern nur noch, was mit den anderen kompromissfähig ist (zum Start der Ampel mussten die Liberalen das Abschalten von AKWs und die klimagetriebenen Grünen den Ausbau der Kohleenergie schlucken und Gas von den Scheichs kaufen). Keiner wird auch nur den kleinsten Baby-Drachen töten, keiner irgendeine Art von Jungfrau aus dessen Klauen befreien.

      Nur eines ist sicher: Am Ende werden alle unzufrieden sein, und Schuld daran haben wie stets andere.

      • Kirkd 19. Dezember 2024, 10:17

        „Im Großen und Ganzen ist das doch auch so. Im Wahlkprogramm steht, was sich die Klein-Fritzchens der Parteien wünschen: Den Drachen töten, die Jungfrau (selbstverständlich m/w/d) retten, solch Kram.“

        Brilliant. Genau so ist es. Und schöne Allegorie.

  • Sören Schmitz 18. Dezember 2024, 12:28

    zur Union
    Gelingt es der CDU, diese Flügel alle unter sich zu vereinen, hat sie ein breites Zelt und kann sogar die 40% anpeilen. .

    Das wäre aus der Perspektive der Union das Wunschszenario. Halte ich persönlich aber für wenig realistisch da diese Flügel auch prominente Köpfe brauchen, die das bundesweit verkörpern. Was meine ich damit? In NRW klappt das ganz gut, da hier mit Karl Josef Laumann jemand den christlich/liberalen Flügel, Herbert Reul den konservativen Flügel und der Ministerpräsident den Wirtschaftsflügel bedient. Alle drei sind in NRW sehr bekannt – lässt sich aber auf die Bundesebene nicht übertragen. Hier fehlt dem sozialpolitischen Flügel einfach eine strahlende Figur: Mit Klöckner, Spahn und Linnemann mag man Konservative begeistern, als „Linker“ in der Union fühlt man sich dann doch aber abgeschreckt und könnte sich dann wohler bei den Grünen fühlen. Die CDU gibt eine neoliberale Antwort auf die Probleme der Zeit: Auf die Themen Bildung, Wohnen und Zukunftsfähigkeit der Sozialversicherung bleibt sie Entwürfe schuldig. Da war das Programm von Merkel 2005 weitaus mutiger.
    Die CSU könnte mehr denn je zur Bürde dieses Unions-Wahlkampfes werden – diese bajuvarische Selbstbesoffenheit führt zu immer mehr Zwist – und warum soll ein Zwist CDU-SPD/ Grüne – CSU weniger aufreibend sein, als de Zwist in der Ampel?

    Die Grünen stecken in der Falle, weil die Wirtschaft eben nicht läuft und Habeck als Wirtschaftsminister, ob er es will oder nicht in Verantwortung genommen wird. Auch hier: Wenn mein Fußballteam ständig verliert, weil der Torwart nicht gut ist, werde ich wahrscheinlich nicht aus dem Torwarttrainer den Cheftrainer machen. Schon im Januar drohen neue Hiobsbotschaften aus der Automobilbranche wenn BMW und Daimler ihrerseits konkreter in ihren Sparprogrammen werden.

    Die SPD kann nur hoffen, dass die Weltlage nicht noch raschere Entscheidungen erzwingt – Scholz wirkt wie ein Zwerg auf der europäischen und Weltbühne. Deutschland findet eigentlich international gar nicht statt, das Feld bespielen andere. Weitere wirtschaftliche Abschwünge wird man ihm dann auch noch zuweisen.

    Auf der einen Seite sind durchaus RIchtungsunterschiede zwischen den Parteien erkennbar – aber in meinen Augen spielen alle auf Sicherheit und keiner wagt sich mit einer größeren Vision / aus der Deckung. Anders als 2005 glaube ich fest, das viele Wähler weiter sind und dieser Mut dieses Mal belohnt würde. Aber der Wahlkampf fängt ja jetzt erst an und ggf. bewegt sich hier noch was.

    • Stefan Sasse 18. Dezember 2024, 13:57

      Ja, sicher. Ich sehe da auch keinen Widerspruch zu den Sachen, die ich gesagt habe 🙂

  • Hias 18. Dezember 2024, 15:53

    Soweit d’accord.
    Nur ein, zwei Anmerkungen.
    Zum Programm der CDU: Es ist im Vergleich zu den anderen Parteien vglw. unwichtig, da gebe ich Dir Recht. Es geht eher darum, welches „Gefühl“/“Atmosphäre“ man damit erzeugt und aktuell klappt das meines Erachtens eher gut, da man so ein bisschen an die „gute, alte, erfolgreiche Zeit“ anknüpft. Es darf halt nicht so werden wie 2005.
    Aber ein Problem könnte meines Erachtens schon werden, wenn Merz versucht seine Karte als Wirtschaftsexperte auszuspielen und „die Wirtschaft“ beständig die geplante Politik kritisiert (E-Autos, Wärmepumpe).
    Das Thema Gegenfinanzierung würde ich nicht unterschätzen. 100 Mrd. ist halt schon ne Hausnummer. Das wirkt einfach unseriös und das ist mE für Merz schon gefährlich, wenn an ihm das Etikett unseriös hängenbleibt, insbesondere weil er halt keine Regierungserfahrung hat.

    So oder so ist mE das Thema Wahlkampf eh noch sehr offen, da ja am 20. Januar Trump sein Amt antritt. Je nachdem was er dann macht, kann meines Erachtens ziemlich viel passieren: Einführung von Zölle mit dementsprechendem Aufschrei in der Wirtschaft, Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland und Ukraine mit der Forderung nach deutschem Friedenstruppen, etc.

    • Stefan Sasse 19. Dezember 2024, 07:47

      Ja, aber die Kritik aus der Wirtschaft ist insgesamt trotz allem eher verhalten; die fossile Industrie liebt ihn, und von der gibt es noch reichlich. Und andere Teile stehen ihm gewogen bis neutral gegenüber. Dass überhaupt Gegenwind aus der Wirtschaft kommt, ist ungewöhnlich, aber (noch) nicht ausschlaggebend, glaube ich.

      Das Ding mit dem Geld ist: wer soll ihn dafür glaubhaft angreifen? SPD, Grüne, LINKE und BSW wollen auch Geld ausgeben. Die AfD findet alles immer schrecklich, also auch das. Und die FDP stürzte selbst über Schattenhaushalte und Gedöns.

      • Hias 20. Dezember 2024, 11:01

        Sehe ich nicht so. Nicht die fossilen Industrie, sondern die Verbände und Lobbyisten, die von Kürzungen bei den Sozialausgaben träumen, lieben ihn.
        Aber alleine die Aussagen zu Wärmepumpen und Verbrenneraus werden noch zu weiterer Kritik führen. Die Firmen investieren da für die nächsten 5-10 Jahre und das ständige hin und her ist da tödlich. Ist mE auch der Grund, warum die Energiekonzerne keine Lust mehr auf AKWs haben, weil sie der Union keine Kontinuität zutrauen.
        Und das Problem ist hier weniger der politische Gegner, als die Tatsache, dass der Wirtschaftsexperte überhaupt Kritik aus der Wirtschaft bekommt. Das wird auf die Dauer zum Problem.

        Und genauso bei den Steuerplänen. Da geht es nicht um die Ausgaben, sondern um die Gegenfinanzierung. Klar ist, dass auch die Union die Schuldenbremse schleifen wird. Aber solange sie die weiterhin im Programm haben, ist das halt ne massiv offene Flanke, die ihn in jeder Menge Talkshows schlecht aussehen lassen.

        Und Merz wichtigster Punkt ist halt, dass er der Finanz- und Wirtschaftsexperte ist. Und dann in diesen beiden Themen unter Druck zu geraten, dann wird es halt schwierig

    • Dennis 19. Dezember 2024, 11:44

      „Es darf halt nicht so werden wie 2005.“

      Mal sehn. Die Übereinstimmung ist, dass Merkel damals noch 150 %ig merzistisch unterwegs war. Den Fuß auf der Bremse hat in dieser Hinsicht witzigerweise die Seehofer-CSU. Danach auch Merkel, die den Schalter rasch umgedreht hat und alles Merzische kam in den Müll; und jetzt kommt die Rache^.

      Aber dass der Scholz, Olaf so auf den Putz haut wie weiland der Schröder, ist eher nicht zu erwarten. Und den Professor aus Heidelberg gibt’s auch nicht. Aber heut ist im Übrigen eh alles komplexer. Und dass der Merz aus der „Wirtschaft“ angeblich kritisiert wird, ist leihstimmenmäßig wiederum gut für die „Liberalen“. Da können die sagen: Wir sind die ganz Echten und bei den Unionisten, da weiß man ja nie. Aber das Raum dafür ist natürlich sehr, sehr eng. Der Merz ist nicht der Kohl^.

      • Hias 20. Dezember 2024, 11:08

        Der Olaf scheint eher die Strategie zu verfolgen, den Fritze zu ärgern. Find ich etwas seltsam.

        Die Strategie eher neoliberal unterwegs zu sein, könnte schon aufgehen, solange sie es nicht übertreiben, sich zB nur auf das Bürgergeld fokussieren. Wenn die Union zugeben muss, dass sie zB auch bei den Rentner sparen müsste, dann wird’s kritisch.

        Ich glaub nicht, dass da viele Leihstimmen zu den Liberalen gehen. Der Umgang mit dem D-Day-Papieren hat die Glaubwürdigkeit beschädigt und die Musk/Milei-Lobpreisungen taugen nicht als Stimmenfänger für Unions-Wähler.

        • Dobkeratops 20. Dezember 2024, 14:23

          Der Olaf scheint eher die Strategie zu verfolgen, den Fritze zu ärgern. Find ich etwas seltsam.

          Finde ich überhaupt nicht seltsam. Vorweg: Ich bin alles Andere als ein Fan vom Olaf. Ich fand den schon als Bürgermeister von Hamburg katastrophal und als Bürgermeister von Deutschland performt er erwartungsgemäß auch nicht besser.

          Politisch fällt es ihm als altem Seeheimer naturgemäß schwer, sich allzu scharf von Merz abzugrenzen, also kann er das nur auf der charakterlichen Schiene versuchen. Ich bin allerdings überrascht davon, wie gut das klappt und wie berechenbar Merz agiert.

          Hätte der ein Mindestmaß an Souveränität und womöglich noch Humor, hätte er Scholz elegant mit einem Spruch der Marke „Wenigstens habe ich keine Gefächtnislücken wie der Olli“ kontern können und die Sache wäre gegessen gewesen. Stattdessen tut er Scholz den Gefallen, sich fürchterlich über den „Fritze“ (den ich zwar als respektlos aber nicht als beleidigend empfinde) aufzuregen und wie Rumpelstilzchen herumzupoltern.

          Ob Scholzenz Kalkül aufgeht und sich genügend Wähler fragen, ob der Kanzlerposten bei so einem dünnhäutigen HB-Männchen in guten Händen ist, wird man sehen.

  • cimourdain 19. Dezember 2024, 08:34

    Ich habe mir in Dennis Sinn die Wahlprogramme angesehen.

    Die Grünen wollen viel: Soziales, Aufrüstung, Infrastruktur, finanziert aus einem Sonderschuldentopf „Deutschlandfond“, dazu einen Mindestlohn von 15€.
    https://www.gruene.de/artikel/zusammen-wachsen

    CDU/CSU liefern eine Menge Unternehmensberater-Formulierungen, es ist daraus ersichtlich, dass ein deutlicher Sozialabbau stattfinden wird.
    https://www.politikwechsel.cdu.de/

    Die SPD hat ihr Wahlprogramm noch nicht richtig öffentlich gemacht:
    https://www.golem.de/news/spd-wahlprogramm-verzweifelt-gesucht-2412-191820.html

    • Dennis 19. Dezember 2024, 10:14

      Ach so; das S-Programm hab ich gestern Abend verzweifelt und ergebnislos gesucht. Hätte ich mir ja sparen können. Aber mittlerweile isses ja draußen.
      Der Leitbegriff ist „wir kämpfen“. Nicht schlecht. Passt gut zu Olafs norddeutscher Bräsigkeit.

      Ob die, auf die es ankommt, nämlich die älteren Herrschaften, mit dem TikTok-Tünkram und all dem App-Klimbim viel anfangen können und mächtig die QR-Codes scannen und all so was, glaub ich eher weniger, aber egal; dass alles Wesentliche erstmal hinter Kindergarten-Spielerei-Quatsch versteckt wird, ist offenbar das Hochmodern-Digitale. Die Sozen vermuten offenbar – womöglich zutreffend – da draußen verbreitetes Analphabetentum als Ergebnis ihrer Bildungspolitik^. Stattdessen soll man mit einem „Cube“ spielen. Wunderbar.

      Früher, z.B. 1949, war alles besser. Knapp sieben Seiten statt über 60 wie heutzutage :

      http://library.fes.de/spdpd/1949/490801-sondervers.pdf

      Interessant u.a. der nationale Einschlag, z.B. : „Wäre es nach den Machtwünschen der Alliierten und ihrer deutschen Helfer gegangen….“ , außerdem gab es ganz offiziell noch (anzustrebend) Sozialismus (sinnigerweise das letzte Wort^).

      • cimourdain 19. Dezember 2024, 11:35

        i) „App-Klimbim“ : Wer so etwas auf seiner Homepage veranstaltet ( versuch mal, an den Inhalt hinter den Plakaten zu kommen), hat definitiv null Digitalidee.
        https://www.spd.de/bundestagswahl

        ii) Mit einem Cube spielen: Ich gehöre noch zur „Generation Zauberwürfel“, dieser ist eigentlich keine schlechte Metapher für nachhaltige Politik: Du findest eine komplett unübersichtliche Situation vor und sollst ALLES in Ordnung bringen. Es ist ein guter Anfang, erst einmal von einer Seite her zu sortieren, aber das ist nur ein kleiner Teil, je mehr du erledigst, desto schwieriger wird es, neue Verbesserungen zu machen, ohne dass das bisher geordnete wieder in Unordnung gerät. Und sollte es dir wider Erwarten gelingen, alles in Ordnung zu bringen, musst du das Teil nur aus der Hand geben, damit der Nächste innerhalb kürzester Zeit wieder alles in Unordnung ist.

        • Erwin Gabriel 19. Dezember 2024, 13:59

          @ cimourdain 19. Dezember 2024, 11:35

          … Zauberwürfel … ist eigentlich keine schlechte Metapher für nachhaltige Politik: Du findest eine komplett unübersichtliche Situation vor und sollst ALLES in Ordnung bringen. Es ist ein guter Anfang, erst einmal von einer Seite her zu sortieren, aber das ist nur ein kleiner Teil, je mehr du erledigst, desto schwieriger wird es, neue Verbesserungen zu machen, ohne dass das bisher geordnete wieder in Unordnung gerät. Und sollte es dir wider Erwarten gelingen, alles in Ordnung zu bringen, musst du das Teil nur aus der Hand geben, damit der Nächste innerhalb kürzester Zeit wieder alles in Unordnung ist.

          Hab‘ ich gelacht … 🙂 🙂

          So treffend. Danke !!!

  • Ariane 20. Dezember 2024, 00:39

    Ich denke der CDU könnte es auch gerade schaden, keine große Programmpartei zu sein, weil das den Fokus automatisch mehr auf Merz und die Söder-Querelen lenkt. Und je näher der Wahltermin rückt, desto mehr könnte man sich in Dilemmata verstricken, ob man ne Koalition mit Grünen und vielleicht gleich noch der SPD ausschließt, Medien lieben diese Themen.

    Finde den Vergleich mit 2005 gar nicht so verkehrt. Das kann schon gefährlich sein, da jetzt auf „wir machen alles anders“ und wollen am liebsten mit der FDP und Lindner als Finanzminister ein neoliberales Revival einläuten. Vor allem wenn man sich vorstellt, was für eine grandiose Macho-Shitshow das Trio Merz-Söder-Lindner wären.

    Die soziale Kälte haftet Merz eh an wie Pech, das wird er auch nicht mehr ändern können. Die Versuche sein Frauenproblem zu lösen, sind mir auch schon cringe genug. Aber es könnte eben auch dem Wunsch der Bevölkerung widersprechen, einfach vier Jahre ne ruhige Regierungszeit zu haben die nicht in Querelen und Chaos aufgeht.

    Nachher landen die Leute dann nämlich doch wieder bei der SPD und Scholz. Das ist zwar unambitioniert, aber vermutlich die klügste Strategie da eher besonnen und bisschen unsichtbar zu sein und die Bühne Merz und Söder zu überlassen. Gerade wenn die Wahl eher darum geht, was die Leute auf keinen Fall wollen, kann Scholz mit seiner SPD einfach durch totale Egalheit gewinnen.

    Imo war der Verlauf des D-Day dann für Scholz auch gar nicht verkehrt, er ist auf den letzten Metern doch nochmal als handelnder Akteur und führungsstarker Kanzler aufgetaucht und die Grünen spielten keine Rolle mehr, für die FDP und ihre Freunde war plötzlich die SPD der Gegenspieler. Für den Duellcharakter war das Gold wert.

    Ansonsten gilt jetzt noch mehr als bei der letzten Wahl, Scholz ist tatsächlich am ehesten Merkel 2.0, er könnte ganz hervorragend mit ihrem Spruch „sie kennen mich“ (und können mich in der nächsten Sekunde wieder vergessen!) in den Wahlkampf ziehen.
    Und ich würde die Sehnsucht nach bekannten Größen und dem Versprechen auf Ruhe nicht unterschätzen.

    Die Grünen kann ich schwer einschätzen, Habeck besetzt ne Lücke und bei einigen oder vielen verfängt das sicherlich auch, ich weiß nur nicht wie tragfähig das ist. Ich denke, da wird es viel mehr darauf ankommen, welche Themen dann dominieren. Wenn das Wirtschaft und Migration sind, verlieren die Grünen eher automatisch.

    Dazu kommt, dass man die Grünen eher wählt, weil man wirklich etwas grundlegend anders haben will. (imo sind das eh schon nicht soviele) und das widerspricht dann dem „wir wollen einfach regieren und es allen recht machen“ (ja dann kann ich halt auch die SPD wählen). Das ist genau der Zwiespalt, den sie gerade mit Image haben (Radikalinskis – für alles verantwortlich) und der Realität (waren irgendwie dabei) haben. Da kann man halt auch unter die Räder kommen.

    Mir fehlt da auch bisschen die Erzählung: wenn ich Neoliberalismus und Leistungsgesellschaft will, wähl ich halt den Merz. Wenn ich Ruhe mit bisschen sozialem Anstrich will, den Scholz. Wenn ich alles scheiße finde, die AfD oder BSW. Aber wann genau wähle ich den Habeck? Bisschen Sozialpädagogik am Küchentisch ist da vielleicht etwas wenig.

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