Teil 1 hier. , Teil 2 hier.
In diesem Spannungsfeld finden nun reale Policies statt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Seenotrettung staatlicherseits komplett eingestellt worden ist. Selbst das ist eigentlich noch eine Beschönigung, weil durch illegale Pushbacks, unterlassene Hilfeleistung und gezielte Versenkungen sogar aktiv Migranten*innen getötet werden. Andererseits sind die Aufnahmelager inzwischen Gefängnisse, die jedem menschenrechtlichen Anspruch spotten. Da die Lebenslügen beide Seiten eine ernsthafte Bewegung in der Migrationspolitik unmöglich machen, greifen institutionelle Logiken und Pfadabhängigkeiten. Das bedeutet eine Stärkung der Exekutive, im Rahmen der Europäischen Union also der Minister*innenkonferenzen, der Kommission und natürlich in der Agenturen wie Frontex. Was sie nicht erlauben ist das konstruktive Schaffen neuer Regelungen und Systeme.
Da eine konstruktive Regelung innerhalb dieser Pfadabhängigkeiten nicht möglich ist – das würde die Zustimmung nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments erfordern – kann nur im bestehenden Rahmen operiert werden. Dieser aber erlaubt nur eine Verschärfung bestehender Politiken. Diese ist zwar, da sind sich Rechte und Linke einig, nicht zureichend, erlaubt aber immerhin Aktivität.
Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Der wichtigste davon ist die schleichende Erosion des Rechts. Auf der einen Seite wird die illegale Seenotrettung heroisiert und normalisiert (was zu der politisch selbstmörderischen Entscheidung der LINKEn, Carola Rackete zur Spitzenkandidatin der EP-Wahlen zu machen, führte), die man zwar durchaus moralisch begrüßen mag, die dadurch aber nicht weniger illegal wird. Auf der anderen und institutionell bedeutenderen Seite haben wir den beständigen Rechtsbruch durch die Mitgliedstaaten und besonders durch Frontex, die sowohl die international gültigen Menschenrechte als auch die Gesetze der Europäischen Union und meistens der Mitgliedstaaten selbst unter Billigung derselben Europäischen Union und Mitgliedstaaten verletzen. Dadurch entsteht eine Kultur des permanenten Rechtsbruchs, die jederzeit von der Peripherie ins Zentrum getragen werden kann. Wer sich für diese Argumentation tiefergehend interessiert, sei auf diesen Artikel verwiesen.
Genauso kann das Desiderat einer modernen Einwanderungspolitik nie verfolgt werden. Einerseits müsste das gesamteuropäische abgestimmt sein (ein Ausschlusskriterium von praktisch allem), andererseits fehlt dafür in Deutschland jegliche Akzeptanz. Dasselbe gilt auch für die Idee eines europäischen Verteilungsschlüssels. Würde ein solcher, wie von Deutschland offiziell gewünscht und unter anderem von Polen und Ungarn blockiert, tatsächlich kommen, würde dies zu einer Zunahme statt zu einer Abnahme von Aufnahmen führen. Die Ernsthaftigkeit der Verhandlungen seitens der Regierung, gleich welcher parteipolitischer Färbung, darf daher bezweifelt werden.
Entsprechend ist die aktuelle Politik ein Mix aus dem schlechtesten aus beiden Welten. Auf der einen Seite werden hohe Standards beschworen, die auf der anderen Seite permanent unterlaufen werden. Die Politiken sind nicht geeignet, die Zahlen der Geflüchteten signifikant zu reduzieren, erhöhen aber das Leid der Betroffenen außerordentlich.
Ob dieser Gordische Knoten jemals durchschlagen werden kann, ist offen. Grundsätzlich nehme ich an, dass das Thema mit der Zeit an Prävalenz verlieren und anderen Aufregerthemen Platz machen wird. Dafür spricht, dass dies in der Vergangenheit noch immer so gelaufen ist: die massenhafte Zuwanderung vom Balkan in den 1990er Jahren bewegt die Gemüter heute nicht mehr. Die Ruhrpolen, einst nicht zu integrierende Minderheit mit fremder Kultur und hohen Geburtenraten, sind mittlerweile allenfalls an einem Nachnamen erkennbar. Die Deutschtürken, lange Zeit das Aushängeschild jeglichen Diskurses über nicht integrierte Minderheiten, werden inzwischen als Mustermigrant*innen mit Einwandernden aus Syrien oder Afghanistan verglichen.
Es ist wie immer ohnehin auffallend, dass ein Großteil der Menschen überhaupt keinen Kontakt und keine Erfahrungen mit Geflüchteten hat. Auch das war schon immer so: da Zugewanderte eine Neigung haben, sich in eher städtischen Regionen zu konzentrieren, ist gerade auf dem Land, wo das ausländerfeindliche Ressentiment am größten ist, der Berührungspunkt mit den Menschen auch am geringsten. Der deutsche Ansatz der dezentralen Unterbringung und Verteilung auf die Kommunen ist daher grundsätzlich tatsächlich am besten geeignet, dem Problem innenpolitisch langfristig die Zähne zu ziehen, weil er für mehr Berührungspunkte sorgt und Gettoisierung vorbeugt. Wir machen also nicht alles falsch. Die Kommunen müssen nur die Möglichkeiten haben, diese Aufgaben auch auszuführen. Und die Politik muss in irgendeiner Weise dafür sorgen, dass der knappe Wohnraum vernünftig verteilt ist: auch hier gilt schließlich, dass das Problem mit Sicherheit durch Zuwanderung nicht kleiner wird.
Das führt auch zu dem Punkt, dass jegliche Migrationspolitik auch gleichzeitig erfolgreiche Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik sein muss. Das Gefühl, benachteiligt und vergessen zu sein, darf keine reale Grundlage haben. Nur dann kann man tatsächlich versuchen, Zahlen und Fakten auszupacken. Anders ausgedrückt: nur, wenn ich tatsächlich einen Zahnarzttermin bekomme und mich die Reparatur des Gebisses nicht ruiniert, habe ich kein Problem damit, wenn auch Asylbewerber*innen im Wartezimmer sitzen.
Eine ungeklärte Grundsatzfrage bleibt, inwieweit man damit rechnet, dass diese Menschen zeitnah wieder in ihre Ursprungsländer zurückkehren beziehungsweise ob man sie als Ressource begreifen möchte oder nicht. Hiermit haben ironischerweise sowohl Linke wie auch Rechte ein Problem. Linke, weil es so furchtbar kapitalistisch ist, Rechte, weil es bedeutet, dass Menschen permanent einwandern. In diesem Spannungsfeld zerreibt sich bislang noch jeder deutsche Versuch der Reform des Einwanderungsrechts.
Das Gute ist, dass sich auf diesem Feld beide Seiten bewegen und geliebte Positionen räumen müssten. Das hat das Potential für einen neuen überparteilichen Konsens, der sich tatsächlich auch von den Positionen der AfD abhebt und somit eine politische Auseinandersetzung der demokratischen Kräfte mit den Rechtsradikalen erlaubt, der in den aktuellen Schienen der Debatte nicht möglich ist.
Zudem ist es eine Forderung, die auf weitgehende Zustimmung in der Industrie stößt. Das ist wenig verwunderlich, da diese bekanntlich unter Fachkräftemangel leidet. Das erfordert Entbürokratisierung und wesentlich lockerere Regeln, als wir aktuell haben. Der andere Punkt, der in diesem Konsens zwingend adressiert und politisch flankiert werden müsste, ist das zu erwartende Lohndumping durch solche neuen Fachkräfte. Jegliche Migrationspolitik, die dies ignoriert – und das tun die liberalen Ansätze, die am ehesten in diese Richtung gehen, leider – wird das gleiche Zustimmungsproblem haben wie das Heizungsgesetz von Robert Habeck. Wo wir es gerade von den Grünen haben: zumindest bei ihnen würde die FDP hier bereits offene Türen einrennen.
Letztlich bedeutet dies einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Die unfruchtbare ständige Diskussion, ob es sich nun um Geflüchtete, Asylsuchende, „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder ganz normale Migranten*innen handelt, führt ohnehin zu überhaupt nichts und ist mangels rechtlicher Trennschärfe ohnehin wenig zielführend. Stattdessen macht es Sinn, die Menschen konkreter als Ressource zu begreifen, die wir schon alleine aus demografischen Gründen benötigen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, darauf zu verzichten, und können es uns genauso wenig leisten, so zu tun, als würden wir hier schlüsselfertige Fachkräfte erhalten, die wir all diese Tätigkeiten übernehmen lassen können, die wir selbst nicht ausüben wollen (Stichwort: Pflege).
Stattdessen werden wir nicht umhin kommen, diesen Menschen einerseits einen rechtlichen Weg zu einer dauerhaften Bleibeperspektive (ich verweise auf meinen Grundsatzartikel zum Pfad zur Staatsbürgerschaft) zu eröffnen, sie dafür zu ertüchtigen und auszubilden – was große Investitionen erfordert und angesichts des Lehrkräftemangels ein völlig ungeklärtes Problem darstellt – und dann auch die entsprechenden Forderungen an sie zu stellen, den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Cortana
Ein anderes wichtiges Feld ist die Migrationsdiplomatie. Auch hier ist die Europäische Union bereits seit vielen Jahren mit einem Flickenteppich von Maßnahmen dabei, ob es nun die Ertüchtigung der libyschen Küstenwache, das Abkommen mit der Türkei oder das Errichten von Lagern in Tunesien ist. Diese Politik und Diplomatie funktionieren natürlich im Rahmen der beschriebenen Pfadabhängigkeiten und Funktionslogiken und sind daher nur eingeschränkt geeignet, dem Problem Herr zu werden. Sie weisen allerdings bereits in die richtige Richtung. Ohne die Mitarbeit der Staaten an der europäischen Peripherie wird jegliche Lösung unmöglich sein.
In einem darüberhinausgehenden Schritt ist Migrationsdiplomatie auch in den Ursprungsländern der Geflüchteten erforderlich. Das Bekämpfen von Fluchtursachen muss von einer Sonntagsrede zu real existierender Politik werden. Anders ist es nicht vorstellbar, das Problem jemals in den Griff zu bekommen, wenn man nicht offen bereit ist, mit tödlicher Gewalt jeglichen Grenzübertritt zu verhindern – was mit einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat vollkommen unvereinbar ist. Wer sich mehr für dieses Thema interessiert, sei auf meinen Podcast mit dem Experten Alexander Clarkson verwiesen.
Die Parteien müssen hier auch der Versuchung widerstehen, die Fehldeutungen von 1993 zu wiederholen. Der damalige Kompromiss löste ein bürokratisches und organisatorisches Problem, kein gesellschaftliches. Dies zu verwechseln öffnet Tür und Tor für die sogenannten Baseballschlägerjahre und normalisierte und legitimierte Gewalt gegen Zugewanderte. Dies darf nicht noch einmal passieren. Leider sind die Anzeichen hierfür nicht besonders günstig. Bereits jetzt hat sich die Rhetorik so weit nach rechts bewegt, das Gewalt gegen fremd aussehende Menschen als ein Indikator für Probleme und nicht als Problem selbst begriffen wird. Dem ist zwingend ein Riegel vorzuschieben. Plakativ ausgedrückt: Wenn Franz-Josef Wagner deine Rhetorik als zu rechtsradikal verurteilt, ist sie es vermutlich.
Das alles ist natürlich nicht überragend realistisch. Ich weiß auch nicht, ob es eine wünschenswerte Lösung darstellt. Ich möchte noch einmal betonen, kein Experte für diese Themen zu sein und keinesfalls Musterlösungen bereitstellen zu wollen oder können. Nach meinem Dafürhalten ist nur offenkundig, dass sich die Migrationspolitik aktuell in einer Sackgasse befindet. Die Ansätze, die wir debattieren und verfolgen, lösen das Problem nicht und geben den Feinden der Demokratie und des liberalen Rechtsstaates Zeit, Raum und Munition für ihr zerstörerisches Tun:
Die Migrationspolitik ist aber, egal ob es uns gefällt oder nicht, ein zentrales Thema unserer Zeit, das Wahlentscheidungen maßgeblich beeinflusst, Identitäten bildet und gesellschaftliche Diskurse prägt. Zudem ist es für die Lebensrealität von Millionen Menschen ausschlaggebend, auch wenn diese keine formellen Mitwirkungsrechte am politischen Prozess haben. Wir ignorieren dieses Problem daher auf eigene Gefahr.
Ich möchte einen Aspekt herausgreifen, weil sich darin die Frage nach dem Generellen aufwirft:
Auf der anderen und institutionell bedeutenderen Seite haben wir den beständigen Rechtsbruch durch die Mitgliedstaaten und besonders durch Frontex, die sowohl die international gültigen Menschenrechte als auch die Gesetze der Europäischen Union und meistens der Mitgliedstaaten selbst unter Billigung derselben Europäischen Union und Mitgliedstaaten verletzen. Dadurch entsteht eine Kultur des permanenten Rechtsbruchs, die jederzeit von der Peripherie ins Zentrum getragen werden kann.
Den permanenten Rechtsbruch der Maastricht-Verträge rechtfertigst Du seit Jahren damit, dass sie gar nicht einzuhalten seien, was ja der Rechtsbruch über die meisten Mitgliedsländer zeige. Aber gilt das dann nicht auch für den Bruch der selbst gegebenen Asyl- und Zuwanderungsregeln? Die Einhaltung der von EU und EUGH verfassten Bestimmungen zusammen mit den zahnlosen Bestimmungen und Möglichkeiten der Abschiebung, gerade in Deutschland, würden zu einer völlig grenzenlosen Migration führen. Das illegale Vorgehen ist da die einzige Möglichkeit, dem Mangel des Rechts abzuhelfen. Diese Argumentation wäre doch angesichts Deiner Haltung zu den Maastrichtregeln konsequent.
Überhaupt fällt auf, dass Du nicht nur zwischen den verschiedenen Formen der Migration erklärtermaßen keinen Unterschied machen willst, sondern auch keinen dezidierten zwischen legaler und illegaler Zuwanderung. Hier wird das linke Mantra übernommen: Kein Mensch ist illegal. Diese Position ist nicht konsensfähig und das ist keine Rechte Lebenslüge.
Es geht nicht, einerseits bei systematischen Rechtsbrüchen des Staates die Erosion des Rechts zu erklären und andererseits dies zu verteidigen. Das ist keine stringente Position.
@ Stefan Sasse
Nachdem die drei Teile durch sind, stelle ich fest, dass sie sehr allgemein und etwas wolkig und unscharf gehalten sind. Muss mal schauen, ob mir dazu noch etwas Klügeres einfällt.
Danke trotzdem.
ich hab halt keine konkreten vorschläge, weil ich kein experte bin. und wie ich eingangs schrieb, sind meine gedanken gerade sehr im fluss, ich wandle meine position gegenüber früher ja gerade durchaus. das führt sicher dazu.
@ Stefan Pietsch 6. Oktober 2023, 08:31
Dem kann ich im Großen und Ganzen folgen.
Ich versuche noch, einen Artikel dazu zu verfassen, der sich sinnvoll einfasst.
Du hast Recht, was das Rechtsbrechen von Maastricht angeht. Du missverstehst allerdings in meinen Punkt: in beiden fällen muss die rechtslage angepasst werden. bei maastricht kommt das meinen präferenzen sehr entgehen (obviously), bei Migration so wirklich gar nicht. Ich unterscheide außerdem sehr wohl zwischen legaler und illegaler Migration; mein punkt ist ja gerade (seit jahren), dass legale Migration völlig dysfunktional ist. Ich bin kein open borders Mensch. auch hier ist mein argument eher, dass die leute, die da sind und die du nicht abschieben kannst, besser genutzt und integriert werden als in der illusorischen hoffnung auf massenabschiebung marginalisiert werden sollten. das ist eine andere argumentationslinie, als du unterstellst.
Nur als Nebenbemerkung – die Bekämpfung von Fluchtursachen ist eine Nebelkerze. Da, wo die Fluchtursache ein Krieg oder Bürgerkrieg ist, würde sich gerade Deutschland niemals die Hände schmutzig machen. Und da, wo sie Armut/Perspektivlosigkeit ist, wo also wirtschaftliche Entwicklung gefrgat ist, können wir a) sehr wenig tun und b) würde bessere Entwicklung erst einmal Migrantenzahlen erhöhen – Migration ist nämlich teuer, die Ärmsten setzen sich eigentlich niemals in Bewegung, weil sie mit Überleben ausgelastet sind.
Und dann addressieren wir auch hier mal den Elefanten im Raum konkret:
Wenn ich Deine Kritiken an Mindsets und Politiken und Deine Empfehlungen/gewünschten Politiken zusammenpacke und das ganze ein wenig verkürze, willst Du, parlamentarische Mehrheiten dafür vorausgesetzt, folgendes:
Unbegrenzte Zuwanderung von wem und woher auch immer, unterstützt durch einen enormen Resourceneinsatz für Wohnungen, Ausbildung und Integration im Zielland der Migranten.
Denn nur das wäre – Deinen eigenen Worten folgend, dass Abschottung kein Problem löst – eine echte Alternative zum derzeit zögernd eingeschlagenen Pfad der EU, es Flüchtlingen und Migranten immer schwerer zu machen, Europa zu erreichen.
Hier gibt es keine Mittelwege, deshalb schön, dass Du das so deutlich herausarbeitest. Danke dafür. Nur gibt es für Deinen (von mir hergeleiteten) Pfad in keiner sichtbaren Zukunft eine politische Mehrheit in Europa.
Gruss,
Thorsten Haupts
Auch nach meiner Lesart der Texte hast Du Stefans Pfad richtig hergeleitet. Darüber hinaus stimme ich Dir bei Deinem Fazit zu, dass es keinen Mittelweg zwischen Abschottung oder Öffnung gibt, sofern man die von Dir als zögernden Pfad der EU beschriebene Methode, die ja tatsächlich eine Art Mittelweg wäre, nicht als eine solchen anerkennt (ob sie überhaupt eine Lösung darstellt, wäre nochmal eine andere Frage, wahrscheinlich nicht).
Insofern ist Stefans Fazit aus Sicht eines moderat Linken nur schlüssig, weil man sich natürlich klar machen muss, was der von Dir so salopp als „Abschottung“ bezeichnete andere Weg tatsächlich bedeutet, weil jede „moderatere“ Lösung den Zustrom nicht stoppen wird:
– Grenzwall an Landgrenzen, in Anbetracht der drohenden zunehmenden Flüchtlingsbewegungen wahrscheinlich mittelfristig mit Schießbefehl
– an Seegrenzen keinerlei „Seenotrettung“, evtl. sogar gewolltes Abdrängen von Flüchtlingsbooten, auch bis hin zur militärischen Abwehr
– Akzeptanz von riesigen, wahrscheinlich nahezu rechtsfreien Flüchtlingssiedlungen unter inhumansten Zuständen an den Außengrenzen, einschl. möglicher Destabilisierungen der entsprechenden Länder (sofern die Außengrenze von einem einigermaßen funktionierenden Staat getragen wird, würde sich diese Flüchtlingssiedlung entsprechend an deren Außengrenze verlagern).
Ich stimme Dir zu, Stefans Lösung findet in Europa nie eine politische Mehrheit finden. Andererseits ist derzeit die andere Lösung, wie sie oben skizziert wurde, mit der rechtlichen Situation in Europa nicht vereinbar (könnte man natürlich ändern, wobei dies bei Menschenrechten problematisch wird, aber auch dafür wird sich eine juristische Lösung finden). Es gibt zudem, wenigstens noch derzeit, einen substantiell großen Anteil an der Bevölkerung die eine derartige Lösung mit solchen Konsequenzen auch nicht mittragen würde (auch das könnte sich ändern).
Insofern stecken wir in einem Catch22. Praktisch können wir uns nur immer weiter auf dem aktuellen Wankelpfad der EU bewegen, der uns aber auch irgendwann automatisch in immer extremere Formen der Abschottung bringen wird, weil das schwerer machen ja immer weniger hilft. Andere Lösungen sind derzeit einfach nicht machbar. Wir werden mittelfristig damit de facto und wahrscheinlich auch de jure, grundlegende humanitäre Maßstäbe für Fremde aufgeben müssen – mit allen Folgerungen, die das auch in der Binnenwirkung haben wird (abgesehen davon, dass einmal aufgegebene humanitäre Maßstäbe sich dann auch bei anderen Gruppen schneller aufgeben lassen).
Nur zur Klarstellung, ich bedaure das. Ich befürchte auch, dass dies zu enormen inneren Konflikten führen wird. Andererseits halte ich Thorstens Fazit für realistischer. Stefans Lösung halte ich für vollkommen unrealistisch.
Gruß, M.
@ Thorsten Haupts 6. Oktober 2023, 09:31
… die Bekämpfung von Fluchtursachen ist eine Nebelkerze.
Da stimme ich zu. Mit einem Blick auf die Welt erkennt man, wie viele Menschen es auf der Welt gibt, die nach unserer hochgestochenen Lesart „rettungsbedürftig“ wären. I jedem Falle zu viele für uns.
Solange man sich keine Gedanken darüber macht, auf welchem Level hier die Verarbeitungsgrenze liegt (angesichts der Zustände in den Kommunen tippe ich mal auf derzeit „0“), hauen wir uns selbst immer weiter in die Pfanne. Wir sind zu klein, um die ganze Welt zu retten.
total. ich dachte, das auch thematisiert zu haben. aber vermutlich zu wenig. Ich prononciere es im finalen Artikel noch etwas:
„Insgesamt aber müssen wir uns hier vermutlich deutliche Grenzen eingestehen: viele Dinge haben wir effektiv nicht in der Hand (Bürgerkriege etc.) und können da kaum eingreifen. Dort wäre es vermutlich sinnvoll, die Mitigierung der Folgen für die Menschen möglichst in der Region zu betreiben (vulgo: Investieren über Entwicklungs- und Sicherheitspolitik), weil das günstiger ist als die Folgen erst innerhalb der EU abzuwickeln.“
völlig korrekt.
Wie kommst du auf die Idee, ich wöllte unbegrenzte Zuwanderung?!
Egal, ob Du die WILLST, sie wäre die zwangsläufige Folge einer Deinen Präferenzen folgenden Politik.
Wieso?
Easy: Du scheinst sicher zu sein, dass zunehmende Abschottung zu Schiessbefehlen an der Grenze führen MUSS, die Du zu Recht entschieden ablehnst. Du bis ebenso zu Recht gleichzeitig sicher, dass es für eine europäische Verteilung von Migranten niemals die politisch notwendige Unterstützung aller EU-Staaten geben wird.
Damit bleibt nur noch die Hinnahme von Migration übrig. Und ohne einen europäischen Vertielungsschlüssel, der politisch umgesetzt wird, führt diese Migration heute und in absehbarer Zukunft überproportional stark nach Deutschland.
Beweisvortrag abgeschlossen.
Gruss,
Thorsten Haupts
Das lässt sich leicht aufbrechen. Ich denke nicht, dass zunehmende Abschottung dazu führen muss. Mein Argument ist, dass wir das nicht beliebig eskalieren können, weil – wie du ja bestätigst – spätestens der Schießbefehl an der Grenze nicht geht. Das heißt, einen beliebigen Druck aufzubauen ist nicht möglich. Daher ja mein Plädoyer für mehr Migrationsdiplomatie; die „Pufferzone“ muss gewissermaßen deutlich erweitert werden. Das Ziel ist, die Abschottung nicht auf dem Mittelmeer, sondern schon weit vorher zu erzielen. Erneut empfehle ich dazu den Podcast mit Alex Clarkson.
Ein europäischer Verteilungsschlüssel ohne Begrenzung, btw, führt ja auch zu unbegrenzter Migration, die würden wir dann nur verteilen. Ich spare mit die „Beweisführung“, dass du dafür plädieren würdest.
Okay. Abschottung VOR der EU-Aussengrenze. Yup, könnte funktionieren, Zeithorizont für die Implementierung: 10 Jahre (Minimum). Bis dahin also weiter wie bisher.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich kenne den Podcast, aber auch mir scheint „Migrationsdiplomatie“ eine geflügelte Umschreibung für Bekämpfung der Fluchtursachen zu sein.
Um mal wieder Zahlen reinzubringen, das sind derzeit schon ca. ein Drittel aller Kosten, die der deutsche Staat mit Flüchtlingen hat.
Moralisch fragwürdig (zumindest die Deals mit Autokratien), teuer und anscheinend auch nicht sehr hilfreich.
Und im Gegensatz zu einem eingereisten Flüchtling gibt es keine Chance auf den ROI.
Das spielt schon mit eine Rolle, aber es geht halt auch um die Schaffung sicherer Fluchtorte außerhalb Europas.
Dann verstehe ich nicht den Unterschied. Sichere Fluchtorte schaffe ich doch mit der Bekämpfung von Fluchtursachen?
Ne. Angenommen, wir haben Land A, in dem Bürgerkrieg herrscht. Benachbart ist Land B. Wir sind Land C. Die Idee wäre, sichere Fluchtorte in Land B zu schaffen.
Vielen Dank für Deine Artikelreihe
Ich denke, du hast das innenpolitische Dilemma sehr gut auf den Punkt gebracht: Wir brauchen Zuwanderung, jedoch sind die dazu notwendigen stützenden Infrastrukturen in einem beklagenswerten Zustand. Ob Kitas, Schulen, Ärzte, Sozialarbeiter, Justiz, Wohnraum – schon die bestehende Bevölkerung überlastet diese Strukturen und Zuwanderer verschlimmern die bereits bestehenden Verteilungskämpfe.
Gleichzeitig wird unsere Welt nicht ruhiger – die Fluchtbewegungen aus Afrika werden sogar noch zunehmen, genährt durch Klimawandel, mangelnder Perspektiven der jungen Bevölkerung und politischer Instabilität. Am Schicksal Afrikas wird sich das Schicksal Europas entscheiden.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf, das Problem kann nicht länger ausgesessen oder zur Lösung an andere delegiert werden.
Insofern sollte die deutsche Politik die Dinge angehen, die sie mehr oder weniger selbst kontrollieren kann: Wohnungsbau und Stützung der Integrationsstabilisierenden Infrastruktur. Wenn hier der soziale Friede wegbricht, wird der innere Konsens zerbröseln und das Land den Extremisten anheim fallen. Zur Klarstellung: es geht nicht darum Zuwandern eine möglichst schöne Wohnung zu bauen – es geht darum den Verteilungskampf zu entschärfen, denn von einem guten Angebot bezahlbaren Wohnraums profitieren alle in unserem Land. Gleiches gilt für Ausbau der sozialen Betreuung, wirkt diese präventiv für die Kriminalitätsbekämpfung sowie bringt sozial Schwächere unabhängig von Herkunft in den Arbeitsmarkt und macht sich das bestehende Potenzial unserer Volkswirtschaft zu Nutze. Gleichsam sorgt eine handlungsfähige Justiz für die schnelle Durchsetzung des Rechts und sorgt für einen handlungsfähigen Rechtsstaat, der durchgreift.
Ich bin ob der politischen Durchsetzung sehr skeptisch – es bräuchte eine Abkehr von der schwarzen Null, eine Refokussierug auf Investitionen statt Sozialtransfers und starker politischer Führung. Hier sehe ich weder in der Ampel noch in einer anderen Konstellation Köpfe, die das durchsetzen vermögen.
deswegen schrieb ich ja, dass erfolgreiche migrationspolitik immer auch erfolgreiche sozial- und wirtschaftspolitik ist. geht nicht ohne.
@ Kning4711 6. Oktober 2023, 12:57
Um mit dem Schluss anzufangen:
… es bräuchte eine Abkehr von der schwarzen Null, eine Refokussierug auf Investitionen statt Sozialtransfers und starker politischer Führung.
Die Abkehr von der schwarzen Null halte ich für einen Fehler. Wir müssen lernen, mit dem Geld auszukommen, dass wir erwirtschaften, statt dauernd die späteren Generationen immer weiter zu belasten. Die werden ihre eigenen, vermutlich ebenfalls kostspieligen Probleme zu bewältigen haben.
Das bedeutet entweder Einschnitte heute oder (die offenbar deutlich schwieriger umzusetzende Lösung) endlich Bürokratieabbau und stärkere Effizienz. Geld ist eigentlich in ausreichender Menge vorhanden, aber es geht nicht dahin, wo es müsste, und tut nicht, was es sollte.
ich denke immer noch, es kommt drauf an. konsumausgaben – 100%. Das soll aus dem laufenden Bedarf gedeckt werden. aber so kram wie bundeswehr aufrüsten, schulen sanieren etc. – da wäre es IMHO sinnvoll.
@ Stefan Sasse 7. Oktober 2023, 12:35
Aber so kram wie Bundeswehr aufrüsten, Schulen sanieren etc. – da wäre es IMHO sinnvoll.
Nein, absolut nicht. Wenn wir keine Bundeswehr hätten und jetzt unter Bedrohung von außen aus dem Stand möglichst schnell wehrfähig werden müssten, wären Kredite OK. Wenn wir kein Bildungssystem hätten und nun Schulen aus dem Boden stampfen müssen, wären Kredite OK.
Aber so? Wir haben praktisch alle Zuwächse der letzten Jahrzehnte in den Konsum gepackt und am Erhalt von allem gespart. Nun stellen wir fest, wie blöd das war, machen ungebremst weiter mit dem ineffizienten, verschwenderischen Konsum und rauben den folgenden Generationen jeden Rest an finanziellen Spielräumen, während gleichzeitig am Horizont sinkende Steuern (Boomer in Rente) drohen?
Magst Du Deine Kinder nicht mehr?
Letztlich fragst du mich, ob ich meinen Kindern jetzt in der Gegenwart wehtue (indem wir massiv kürzen, um das Geld umzuleiten, so verstehe ich dich zumindest) oder ob sie die Kosten in der Zukunft werden abtragen müssen.
Möglicherweise wirst Du gefragt, warum Deine Generation nie mit dem Geld hingekommen ist, was verdient wurde. Warum alles verprasst wurde statt Infrastruktur und Umwelt zu erhalten.
Meine und Deine Generation hat Staatseinnahmen erlebt, wie sie für Deine Kinder nicht mehr möglich sind. Trotzdem müssen sie nicht nur irrwitzige Renten und Pensionen nebst Pflegeleistungen schultern. Du möchtest ihnen zusätzlich noch Schulden und Zinsen aufbürden, die schon Italiener und Griechen erdrosseln. Die dachten nämlich auch wie Du heute.
Deswegen fragte Erwin spitz, ob Du Deine Kinder nicht mehr magst. 🙂
Als Schuldenhasardeur kann man ja immer noch die argentinische Erfolgsstrategie fahren: alle paar Jahre einen Staatsbankrott hinlegen und auf Entschuldung oder wenigstens großzügige Umschuldung setzen.
Funktioniert bekanntlich prächtig. 🙂
Wir hauen es für die Fehler eurer Generation raus.
Dann versuche ich es anders. Was willst Du mit der Abschaffung der Schuldenbremse finanzieren? Wahrscheinlich die Klassiker, also Infrastruktur und Gebäude. Die Straßen und Brücken, die heute instandgesetzt werden, müssen alle 7-10 Jahre repariert werden. Neue Trassen sind ja ohnehin unerwünscht. Du siehst, worauf ich hinaus will? Bis Deine Kinder erwachsen sind und Steuern zahlen wurde die Infrastruktur noch zweimal erneuert und muss dann von den neuen Steuernzahlern wieder repariert werden. Anders ausgedrückt: Deine Kinder dürfen dann nicht nur die Neu-Reparaturen schultern, sondern dürfen auch für Deine Nachholarbeiten Zinsen zahlen. Geil.
Mit Gebäuden verhält es sich ähnlich. Oder glaubst Du, in 25 Jahren wollen die jungen Leute in Butzen leben und arbeiten, die zuletzt vor einem Vierteljahrhundert erneuert wurden?
Erklär‘ nochmal, warum Du Deine Kinder liebst. 🙂
Nun, da meine Kinder in der Schule sind, sind Investitionen in die dortige Infrastruktur jetzt statt in 25 Jahren schon ziemlich für die. Und verteidigt werden wollen sie auch heute.
Ja, aber das hast Du gefälligst aus Deinem und nicht ihrem Portemonnaie zu bezahlen. Schließlich müssen sie das auch dereinst. Der Punkt, über den wir die ganze Zeit reden: Du willst Dich zulasten Deiner Kinder entlasten. Du willst Kosten nicht tragen und nicht Konsumverzicht leisten, der geleistet werden muss. Baust Du Straßen und Schulen, gibt es eben keine Bürgergelderhöhung. Aber im Zweifel ist Dir das Bürgergeld in der Tasche abgelehnter Asylbewerber wichtiger als die neue Schule.
Das ist eine ziemlich infame Unterstellung. Davon abgesehen kriegen Asylsuchende immer noch kein Bürgergeld.
Das war nicht meine Absicht. Wir diskutieren über den Sinn von Verschuldung. Infrastruktur und Gebäude sind Investitionen, die jede Generation wiederholt tätigen muss. Wie bei Unternehmen und Haushalten bestehen auch die beim Staat die Ausgaben nicht nur aus Konsum. Kein Unternehmen und nur prekär lebende Haushalte kann es sich leisten, auf Investitionen zu verzichten.
Unterlassene Investitionen können nicht durch verstärkte Kreditaufnahmen kompensiert werden. Dann gerät das Budget an anderer Stelle in Schieflage. Die Konsequenz aus unterlassenen Investitionen sind die Reduzierung von Konsumausgaben. Das passiert in Unternehmen durch Streichung aller möglichen Ausgaben – Personal, Mieten, Reisekosten, Marketing usw. Haushalte streichen die Ausgaben für Urlaub, kaufen häufiger bei Aldi statt REWE, verzichten auf Streamingdienste. Alles nicht schön, aber alternativlos. Prinzipiell können auch Unternehmen und Haushalte Kredite aufnehmen. Nur kommt ihre Finanzlage damit häufig in einen kritischen Bereich und das Rating sinkt. Das ist beim Staat kein bisschen anders.
Du wirst Deinen Kindern (vielleicht) mal erklären müssen, warum es Deiner Generation nicht möglich war, die international höchsten Sozialabgaben nur zu begrenzen, warum es unmöglich war, bei einer top-fitten Generation länger als 63 Jahre zu arbeiten und im Gesundheitssystem eine Rund-um-Sorglos-Versorgung notwendig war. Und sie dafür zahlen sollen, in dem sie die Schulden Deiner Generation abtragen sollen – oder nur die Zinsen schultern.
Ich kann meinen Kindern anhand des Hauses, in dem sie leben, ziemlich gut den Wert von schuldenbasierten Investitionen erklären.
Wenn Dein haus einen ordentlichen Erhaltungszustand hat, wahrscheinlich. Bei den existierenden Schienen, Strassen und Schulen könnte die Erklärung schwierig werden 🙂 .
@ Stefan Sasse 8. Oktober 2023, 22:35
Wir hauen es für die Fehler eurer Generation raus.
Au weia. Hat „Deine“ Generation nicht von Staatsausgaben profitiert? Hast Du Dich in den 8 Jahren, die ich hier nun mitdiskutiere, je ein einziges Mal ernsthaft (über eine beiläufige „Ja, aber“-Zustimmung hinaus) mit dem Thema Schuldenabbau beschäftigt?
Auch Du gehörst, wie das Gros der Deutschen, zu den Menschen, die lieber spätere generationen belasten, als sich jetzt zusammenzureissen.
Das war Polemik, nicht ernstgemeint.
Die Abkehr von der schwarzen Null halte ich für einen Fehler.
Da stimme ich Dir voll und ganz zu. Allein der Investitionsbedarf für die Energiewende ist gigantisch und wird von der Politik noch immer kleingeredet. Und mindestens bis zum Tode Xis und Putins (also bestimmt noch 15-20 Jahre) werden wir leider auch noch Unmengen an Geld in Rüstung und Sicherheit stecken müssen. Wer das missachtet, handelt grob fahrlässig. Die Zeiten, in denen die Zinsen niedrig waren und Politiker auf halsbrecherische Weise Geld raushauen konnten, um strukturell nichts ändern zu müssen, sind vorbei.
Auf EU-Ebene müsste sofort die noch immer massive Agrarunterstützung abgeschafft werden, auf Bundesebene der Zuschuss für die Pleiterente. Aber das sind nur die offensichtlichen Sparkandidaten. Die Junkiepolitik muss endlich aufhören.
Sorry, @ Erwin Gabriel
@ Tim 6. Oktober 2023, 14:41
Sorry, @ Erwin Gabriel
Alles gut. Ich hatte es schon richtig zuordnen können. 🙂
Auf der einen Seite wird die illegale Seenotrettung heroisiert und normalisiert
Ähem es wäre mir schon wichtig, da zu differenzieren. Seenotrettung ist nie illegal! Die rechtliche Problematik betrifft das an Land bringen.
Seenotrettung findet üblicherweise auf einem wirklich in Seenot geratenen Schiff statt. Und nicht als de facto Shuttleservice knapp ausserhalb der libyschen 3 Meilen-Seegrenze kurz nach Abfahrt der Boote. Bei dieser Art von „Seenotrettung“ ist der Shuttleservice fest eingeplant und integraler Bestandteil der Migration – sowohl von der Seite der Schlepperbanden als auch von Seiten der Seenotretter.
Deshalb – doch, das „illegal“ trifft es genau. Die sogenannten Seenotretter sind exakt der verlängerte Arm der Schlepperbanden. Und wissen das auch und wollen das ebenso.
Gruss,
Thorsten Haupts
Nein trifft es nicht. Da ertrinken ja selbst mit den Initiativen noch genug Menschen und vorher sind nicht weniger Schiffe gefahren, nur noch mehr ertrunken.
@ Ariane 6. Oktober 2023, 22:34
Da ertrinken ja selbst mit den Initiativen noch genug Menschen und vorher sind nicht weniger Schiffe gefahren, nur noch mehr ertrunken.
Da muss ich zugeben, deutlich stärker bei Thorsten zu sein.
Der korrekte Formulierung für diese Situation lautet „in Seenot geraten“ und nicht „sich in Seenot begeben“.
Eine Seereise über das Mittelmeer (bzw. wohin auch immer) ist nicht grundsätzlich gefährlich, wenn man sie in einem richtigen Boot antritt. Die Gefahr auf diesen Reisen liegt nicht grundsätzlich am Mittelmeer, erst Recht nicht in besonderem Maße an dieser speziellen Stelle kurz vor der libyschen Küste, wo anscheinend immer wieder gerettet werden muss.
Wenn schon die Fahrt übers Mittelmeer mit dem richtigen Boot grundsätzlich ungefährlich ist, sollte es die Fahrt an diese besagte Stelle vor der libyschen Küste erst Recht sein. Dass selbst auf diesem kurzen Stück immer wieder Menschen sterben, ist offenbar gewollt, um genau diesen Eindruck von Seenot und moralischem Druck zu erzeugen.
Ich wünsche wirklich keinem dieser Menschen den Tod, auch nicht annähernd eine Situation, dass sie das Gefühl bekommen, sich auf solch eine Reise begeben zu müssen. Aber willst Du ausschließen, dass sich die Leute in Schlauchboote setzen (lassen) und absichtsvoll ihr Leben riskieren, musst Du sie in richtigen Schiffen selbst herüber fahren. Alle, jeden einzelnen von ihnen. Das kann keine Lösung sein.
Gibt es denn eine realistische Möglichkeit, das zu unterscheiden und konsequent durchzuziehen? Also wir lassen konsequent alle ertrinken, die sich „in Gefahr begeben“ und retten konsequent alle, „die in Seenot geraten“? Wie würde das denn aussehen?
Um das ganze noch komplizierter zu machen, verpflichtet das internationale Recht Kapitäne dazu, Seenotrettung zu leisten. Theoretisch sogar bei Kriegsfeinden.
Realistisch? Klar. Keine Seenotrettungsschiffe, die direkt an der Seegrenze Libyens oder Tunesiens auf Boote warten und deren Besatzungen aufnehmen.
Also Menschen opfern, um andere abzuschrecken? Von der Unmenschlichkeit abgesehen – es wird nicht funktionieren: Die Beendigung der EU-Rettungsprogramme Triton und Sophia 2018/19 hat nicht dazu geführt, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen.
Also Menschen opfern …
Klitzekleine aber wichtige Korrektur: Ich oder andere opfern niemanden, das besorgen die „Opfer“ hier schon selbst. Ich sehe nur keine Verpflichtung zum Shuttleservice, das ist alles.
Gibt es ja auch nicht. Genauso wenig wie nen Shuttleservice.
Den gäbe es aber sofort wieder, wenn sich diejenigen durchsetzen, die eine europäische Verpflichtung zum „Seenotrettungs“einsatz vor Libyens Küste postulieren. War vor einigen Jahren mal EU-Konsens.
Gruss,
Thorsten Haupts
Natürlich ist eine Überfahrt in einem richtigen Schiff mit Sicherheitsvorkehrungen viel weniger gefährlich, aber die wollen ja auch keine Schiffsreise übernehmen, sondern von A nach B kommen – mit allen Mitteln.
Und ich finde, es darf schon noch etwas zwischen „Fährverbindung einrichten“ und „Leute ertrinken lassen“ geben.
@ Ariane 7. Oktober 2023, 15:41
Was mich an der ganzen Situation stört, ist der unterschwellige Standpunkt, dass jeder, dem es schlecht geht, hierher darf, und wir für ihn verantwortlich sind. Selbst wenn es nicht sooo explizit gefordert wird, läuft es darauf hinaus: Wer sich ins Meer stürzt, hat ein Anrecht auf Sozialhilfeleistungen nach deutschen Standards.
Und ich finde, es darf schon noch etwas zwischen „Fährverbindung einrichten“ und „Leute ertrinken lassen“ geben.
Keine Einwände, gerne. Im Moment haben wir Fährdienst, auf alternative Vorschläge bin ich gespannt.
Ich mag niemanden verrecken sehen, egal aus welchem Grund. Ich mag aber auch nicht in verantwortung genommen werden für solch enorme Risiken, die so viele Menschen auf sich nehmen.
Ich habe diesen Standpunkt zumindest nicht.
Und wir haben keinen Fährdienst. Fährdienste mit tausenden von Toten sind keine Fährdienste.
Ich tue mich verdammt schwer, Deine eigentliche Position zu erkennen. Sie ist nirgends so unklar wie auf diesem Feld.
So sagst Du, Du möchtest nicht, dass jeder nach Deutschland kommt. Gleichzeitig sagst Du, Du wüsstest nicht, wie dies verhindert werden könnte (und sollte). Damit sagst Du nur so wenig, dass Du hoffst, dass nicht jeder nach Deutschland kommt. Wenn es aber passieren würde, dann wäre es so.
Sie ist auch zugegeben ziemlich im Fluss.
Okay, verstehe. Ich kenne solche Situationen und Flows. Dann greife ich das vorerst nicht weiter an.
„in Seenot geraten“ und nicht „sich in Seenot begeben“.
Wie war das bei den deutschen Auswanderern in die USA im 19. Jahrhundert? Die hätten ja auch zu Hause bleiben können.
Sehen Sie das als Basis für eine seriöse Diskussion?
Deren Schiffe waren in der Regel weit seetauglicher, als die der Schlepper-Schweine für Mittelmeermigranten. Und mir wäre auch neu, dass Sennotrettungsschiffe knapp ausserhalb der Ablegehäfen auf sie warteten.
In beiden Fällen gehen Menschen auf eine lebensgefährliche Überfahrt, um Verfolgung oder Armut zu entrinnen. Selber schuld? Die Formulierung „begeben….“ legt das nahe.
Machen wir der Bergwacht Vorwürfe, wenn sie leichtsinnige Touristen rettet? Haben die sich in Bergnot begeben oder sind sie in diese geraten?
Menschen zu retten darf nicht kriminalisiert werden.
Quatsch. Flüchtlinge und Schlepper haben meist nicht vor, dass das Schiff die See überquert. Die Seeuntüchtigkeit ist Teil des Kalküls.
Weder konnten sich die Einwanderer nach Nordamerika darauf verlassen gerettet zu werden noch trieb sie maßgeblich Verzweiflung. So wenig wie die heutigen Migranten. Diese Idealisierung nervt inzwischen kollosal. Sie zeichnen ein Bild, das völlig unangemessen ist.
Ich verstehe die Diskussion nicht. Gegen welche Gesetze wird denn durch die Seekotgesetze verstoßen? Gab es hierzu schon Gerichtsurteile?
Aber mal davon abgesehen, hat die Seenotrettung gar keinen Einfluss auf die Zahl der Migranten. Niemand, der sich auf den Weg macht, plant solche Details mit ein. Es kann allerdings sein, dass die Schleuser es tun.
Ok, gegen die Seekotgesetze wird wahrscheinlich verstoßen, gemeint hatte ich aber „Seenotrettung „. 😉
Ich fürchte, den Schleusern ist das ziemlich egal, die sitzen ja nicht mit in den Booten. Aber wir haben das Problem ja nicht erst seit gestern, es gab Zeiten, als da niemand kreuzte, es gab Zeiten, da hatte die EU mit Mare Nostrum höchstselbst eine Seenotrettungsmission (nach einem Unglück, an dem 300 Menschen am Tag angespült worden sind) und schon eine ganze Weile lang die Situation wie jetzt mit einigen zivilen Seenotbooten.
Nach internationalem Seerecht müssen Menschen in Seenot gerettet und an einen sicheren Ort gebracht werden.
Das ist also nicht die rechtliche Schwierigkeit. Sondern laut internationalem Recht ist der sichere Ort der nächstgelegene Hafen und der ist Griechenland oder Italien. Und da die Italiener und Griechen sind nicht so erfreut, wenn da illegale Einwanderer in ihre Häfen kommen, (es gab mW schon Anklagen wegen Schlepperei und Formalien, die Boote werden ja auch häufiger festgesetzt), ich glaube Urteile aber nicht. Ich gebe Thorsten und Erwin ja durchaus recht, dass wir hier nicht so eine übliche Situation haben, wo vielleicht mal ein Fischerboot in Seenot gerät. Das ändert nur am Seenotfakt nichts und alle Notrettungen haben gemeinsam, nicht zu fragen, ob man sich versehentlich oder absichtlich in Gefahr begibt.
es gab mW schon Anklagen wegen Schlepperei und Formalien, die Boote werden ja auch häufiger festgesetzt
Ja, deswegen hatte ich gefragt. Es scheint, dass Schleuserrei, trotz Telefonüberwachung und verdeckten Ermittlern, den Seenotrettern nicht nachgewiesen werden konnte. Andere Anklagen beziehen sich auf Formalitaeten, wie überfüllte Boote, und waren offensichtlich ebenfalls nicht erfolgreich. Also passiert hier zumindest nichts illegales. Es hätte auch gewundert, wenn der Staat offensichtlich illegale Aktivitäten finanziell unterstützt.
Eben. Und meine persönliche Meinung ist, dass die bisherigen Versuche auch mehr „Druck aufbauen“ sind als der Versuch, da wirklich rechtlich etwas zu bewegen, das betrifft ja auch noch unterschiedliche Rechtssysteme und deutsche und andere EU-Staatsbürger, die problemlos bis zum EUgH gehen könnten, da werden die Italiener auch nicht viel Interesse daran haben.
Danke nochmal für den Text und auch für die konstruktiven Kommentaren.
Ein paar Bemerkungen gegen den etwas pessimistischen Tenor:
– Die allermeisten Migranten integrieren sich sehr gut und tragen zur Gesellschaft konstruktiv bei. Die Aufnahme von mehr als einer Million Flüchtlingen im Jahr 2015 hat kaum zu mehr Gewaltverbrechen geführt und auch offensichtlich nicht zu mehr islamischen Terrorismus, wie von manchen vor 7 Jahren befürchtet. Einzelfälle, von den Medien hervorgehoben, verschwinden in der Statistik. Die Flüchtlingen haben offenbar auch niemanden die Arbeitsplätze weggenommen, zumindest gibt es keinen entsprechenden Zuwachs in der Arbeitslosenstatistik.
– Viel Arbeit und hohe Kosten entstehen hauptsächlich in den ersten Jahren nach der Ankunft von Flüchtlingen. Solche Flüchtlingswellen wie im Jahr 2015 oder 2022 sind aber temporär. Die Zahl von Migranten, die gerade übers Mittelmeer kommen sind viel zu hoch für Lampedusa, aber nichts im Vergleich zu den Flüchtlingszahlen von 2015 oder 2022.
– Grundsätzlich gibt es genug Wohnraum in Deutschland, nur eben nicht in den Städten, dort wo Menschen wohnen wollen. In der Heimatstadt meiner Kindheit wurden bis vor kurzem Wohnungen abgerissen. In der Summe wurde Wohnraum für 30 tausend Menschen vernichtet, innerhalb von ca. 10-15 Jahren. Natürlich verstärken die Flüchtlinge die Wohnungsnot. Allerdings, gäbe es die Wohnungsnot auch, wenn wir Geburtenraten hätten wie in den 60er oder 70er Jahren. Damals wurde Wohnraum geschaffen, und jetzt geht das auch. Hier ist die öffentliche Hand gefragt.
– Ja, aber das ist nicht die Wahrnehmung, und das ist ein Riesenproblem.
– Korrekt, aber s.o.
– Ja.
Wie gesagt: die Fakten und Zahlen sind relativ sekundär für die innenpolitische Debatte.
Wenn das eine Beobachtung ist, bin ich bei dir.
Wenn du aus der Beobachtung den Schluss ziehst, dass man aufgrund der Wahrnehmung anders/härter agieren muss, wird es sehr dünnes Eis.
Drag Queens sind auch eine wahrgenommene Bedrohung. Was sollte daraus folgen?
Meine Schlussfolgerung ist, dass es wenig hilft, gegen die Wahrnehmung mit Zahlen anzugehen. Niemand interessiert, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, Opfer migrantischer Gewalttaten zu werden, wenn man die Befürchtung generell hat. Menschen sind furchtbar schlecht darin, Gefährdungen richtig einzuschätzen und Risiken abzuwägen. Logischerweise bin ich nicht für pauschal und sinnlos härteres Vorgehen, das schafft nur neue Probleme und löst keine. Aber es mit Verweis auf die Faktenlage zu ignorieren ist auch kein gangbarer Weg. Ich bin lost, ehrlich gesagt.
Was mich an der ganzen Situation stört, ist der unterschwellige Standpunkt, dass jeder, dem es schlecht geht, hierher darf, und wir für ihn verantwortlich sind. Selbst wenn es nicht sooo explizit gefordert wird, läuft es darauf hinaus: Wer sich ins Meer stürzt, hat ein Anrecht auf Sozialhilfeleistungen nach deutschen Standards.
Ich glaube, du nimmst die Sache etwas zu persönlich.
Aber deswegen finde ich die Debatte so deprimierend, ich weiß auch keine andere Lösung als dieses – für alle Seiten – unbefriedigende Konstrukt. Klar kann man jetzt endlos diskutieren, ob wir die drei – fünf Seenotschiffe dalassen oder nicht, aber die machen echt keinen großen Unterschied. Außer dass ich drauf hinweise, dass dann immer noch zuviele Menschen ertrinken und ihr, dass aber drei – fünf Schiffsladungen Menschen mehr in der EU sind.
Ich glaube aber nicht, dass es irgendeine Art von politischer Lösung geben wird. Wir werden an den Fluchtursachen nichts ändern und wir werden keine EU-Lösung finden.
Ich hab mir mal genauer angeguckt, worüber die EU da gerade verhandelt und vermutlich können wir uns alle die Hand geben und Empörendes finden. Tunesien bekommt mehr Geld, Frontex vermutlich auch. Schutzstandards in Italien und Griechenland dürfen unterlaufen werden, allerdings werden auch mehr Leute in Deutschland bleiben, weil Dublin dann ausgesetzt wird. In Krisensituationen, keine Ahnung, wer die ausruft. Beim europäischen Verteilungsschlüssel hat man sich nicht mal aufs davon Freikaufen verständigt.
Da standen wir vor fünf Jahren, da stehen wir heute, da werden wir auch noch in fünf Jahren stehen.
Was wir mit den Menschen machen, die hier sind, da hab ich noch Hoffnung (ein wenig), aber in Fragen der Migration an sich glaube ich nicht an politische Lösungen.
Ariane 8. Oktober 2023, 15:11
Mein Problem sind nicht 50 oder 100 Menschen mehr in Europa. Mein Problem ist, dass da etwas im Fluss ist, dass die Gefahr in sich birgt, die EU oder unsere Gesellschaft gründlich zu zerstören. Falls Du Dich mal etwas intensiver mit der Situation in Afrika beschäftigst, kannst Du vielleicht besser nachvollziehen, wo meine Bauchschmerzen liegen.