Bücherliste August 2023

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Mad Men, Kochland

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: 1848, Deutsche Außenpolitik

Bücher

Matt Zoller Seitz – Mad Men Carousel. The complete critical companion

Über einen Mangel an neuen TV-Serien kann man nicht gerade klagen. Netflix und Co pumpen Monat für Monat neue, gleichfalls generische wie irrelevante Produkte auf den Markt. Die „Golden Age of Television“, die 1999 mit den „Sopranos“ begann und deren Ende üblicherweise um 2014 herum verortet wird, hatte eine Menge großer „Stars“: die erwähnten Sopranos ebenso wie „Rome“, „Deadwood“, „Breaking Bad“ und viele mehr. Einer der schillerndsten Einträge in dieser Reihe mit Strahlkraft weit über den Fernsehbildschirm hinaus bleibt aber David Chases „Mad Men“. Die Serie lief von 2007 bis 2014 in insgesamt sieben Staffeln und gehört zu den absoluten Lieblingen der Kritiker*innen. Die komplexe Struktur der Serie mit ihren großartigen Dialogen, Parallelisierungen von Leitmotiven, teilweise scheinbar abrupten Stimmungswechseln und vielen anderen Eigenschaften machen sie aber weniger zugänglich als eine durchschnittliche Folge „Yellowstone“. Umso hilfreicher ist es, einen Begleitband zu haben, der von kompetenter Hand verfasst wurde. An solchen Händen mangelt es glücklicherweise nicht – „Mad Men“ hat eine schillernde Literatur an Interpretationen hervorgebracht, die leider teilweise dem Vergessen des Netzes anheim gefallen ist -, aber dass ein profilierter Kritiker wie Matt Zoller Seitz sich der Sache annimmt, versprucht Großes.

„Größe“ ist ohnehin eine relevante Kategorie. Auch in der Taschenbuchausgabe ist „Carousel“ kein schmales Bändchen, sondern bringt eine veritable Seitenzahl auf den Tisch. Das Konzept des Bandes ist das eines „critical companion“ und zur Lektüre während des Serienschauens gedacht. Sofern man die Folgen nicht sehr gut im Kopf hat, sollte man sie vor der Lektüre lieber noch einmal ansehen. Denn Zoller Seitz macht direkt klar, dass er die in den frühen Nullerjahren entstandene Profession des „Recappers“ nicht als Produzenten von Inhaltsangaben sieht. Er untersucht, was an der jeweiligen Episode interessant ist, sei es eine Charakterbeziehung, ein Leitmotiv oder einfach nur die Storystruktur. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt er genauso wenig wie einen auf Chronologie. Zoller Seitz bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Episoden; vorwärts, rückwärts, wie mit einer Zeitmaschine. Wer versteht, worauf der Titel und diese Worte anspielen, kann sich zu der Zielgruppe zählen. Wer sich an der Stelle verwirrt am Kopf kratzt, sollte eher noch einmal zur Serie zurückkehren.

Ich habe das Buch bereits bei meinem ersten kompletten Mad-Men-Marathon als ständigen Begleiter benutzt und jeweils eine Folge geschaut und dann das zugehörige Essay gelesen. Zoller Seitz strukturiert das Werk dabei so, dass es sowohl für den Erstkontakt als auch für die Wiederholung geeignet ist: ein ausführlicher Fußnotenapparat gibt zusätzlichen Kontext (etwa zu Schauspieler*innen, vergangenen Episoden oder historischen Hintergrund; „Mad Men“ ist voll von obskuren Referenzen auf die Alltagskultur der 1960er Jahre), während eine zweiter, getrennter Fußnotenapparat in die Zukunft blickt und Vorausdeutungen erklärt. Wer sie Serie zum ersten Mal ansieht, ignoriert den zweiten Apparat einfach; wer sie bereits kennt, findet hier viele Aha-Erlebnisse und weitere Beweise für die geschickte Storystruktur, so es dieser noch bedurft hätte.

Zoller Seitz schreibt für meisten Episoden ein Essay; manchmal werden für ein Essay zwei oder drei zusammengefasst, wo dies strukturell Sinn macht (etwa für das Finale von Staffel 2). Jedes Kapitel – eines pro Staffel – wird von einer Illustration begonnen, die zentrale Elemente der jeweiligen Staffel künstlerisch umsetzt. Verstehen kann man diese nur, wenn man die ganze Staffel bereits gesehen hat, was eine weitere Interpretationsebene eröffnet. Zudem erhält jeder Essay eine kleine Illustration eines Gegenstands, der mit der jeweiligen Episode in Verbindung steht – für das Finale von Staffel 1 etwa wenig überraschend „The Wheel“. Zudem findet sich am Eingang jedes Kapitels ein Gedicht, das Zoller Seitz als relevant für die Leitmotive der jeweiligen Episode betrachtet.

Das Buch beginnt mit den Anfängen der Serie. Die Charaktere müssen sich zwar wie so oft noch finden. Gleichzeitig zeigt sich aber in der geringen Veränderung gegenüber späteren Staffeln, wie detailliert ausgedacht sie jeweils schon waren. Noch mag es keine Anzeichen für Peggys späteren Aufstieg geben. Paul, Harry und Ken aber sind bereits in ihrer Anlage deutlich erkennbar. Bert Cooper und Roger Sterling werden in all ihren Facetten vorgestellt, Joan genauso wie Betty. Über all dem schwebt dominant der von Jon Hamm eindrücklich verkörperte Don.

Spätestens im perfekt konstruierten Finale, das die banalen Abgründe in Dons Seele in zwei Szenen einzufangen und zu kondensieren weiß, ist der Weg für die weitere Serie vorgezeichnet. Zoller Seitz nutzt den ihm zur Verfügung stehenden Raum einerseits zur Kommentierung der Geschehnisse, andererseits aber auch zum Aufstellen genereller Thesen über „Mad Men“. So verwirft er die Analogie mit einem Roman, die so viele Serien zu emulieren versuchten (beinahe ein so schreckliches Klischee wie „wir machen einen zehn Stunden langen Film“, was nur „Game of Thrones“ je umzusetzen vermochte). Die Metapher der Wahl ist stattdessen die Kurzgeschichte. Sie erklärt die eigentümliche Struktur der Serie, ihre scheinbare Diskontinuität, die sich erst im Weben des narrativen Teppichs als Gesamtbild verschiedener Leitmotive erschließt. Immer wieder lenkt „Mad Men“ den Blick, scheinbar unberührt von dramaturgischen Regeln (ohne diese je aus dem Blick zu verlieren) den Fokus auf mal diesen, mal jenen Aspekt.

So begleiten wir in einer Folge neben dem „Standardensemble“ der Hauptcharaktere einmal Ken Cosgrove und seine Herausforderungen als „Accounts Man„, erleben Fremdscham bei Paul Kinseys Versuchen, sich als Progressiver zu inszenieren (samt schwarzer Freundin!), beobachten Harry Crane beim geradezu versehentlichen Aufstieg in der Firma oder fragen uns, ob Bert Cooper eigentlich irgendetwas von Kunst oder Literatur versteht oder diese wirklich nur als Statussymbole verwendet.

Die Serie ist dabei nicht frei von Fehltritten, die Zoller Seitz auch immer wieder klar benennt. Der Versuch, Homosexualität in einer aggressiv heteronormativen Ära wie den 1960er Jahren zu thematisieren, führt zu der nicht immer glücklich geschriebenen Figur Sal Romanos, der dann auch ein geradezu beleidigend beiläufiges Ende auf den Leib geschrieben bekommt. Zwar gelingt es den Autor*innen der Serie überwiegend, der Versuchung zu widerstehen, heutige Werte allzu plakativ auf die 1960er zu spiegeln („condescending to the past„, in Zoller Seitz‘ Worten), aber in Einzelfällen kann „Mad Men“ der Versuchung des Zaunpfahls nicht widerstehen. „Trouble quitting when it’s ahead„, nennt Zoller Seitz das treffend.

Das größte Versagen aber attestiert er der Serie konsistent im Umgang mit schwarzen Charakteren. Die mangelnde Diversität der Serie – die heute mit Sicherheit so nicht mehr denkbar wäre – lässt sich zwar durch den Fokus auf Madison Avenue in den 1960er Jahren erklären. Die schwarzen Charaktere aber bleiben fast durch die Bank eindimensional, anders als Charaktere anderer diskriminierter Gruppen. Treten sie auf, tun sie es fast immer als Schwarze, nicht als Personen. Zoller Seitz vergleicht ihre Rolle mit der des Chors in der griechischen Tragödie; verdammt dazu, wortlos im Hintergrund einen Kommentar abzugeben. Wenn „Mad Men“ versucht, den Kontext der Bürgerrechtsbewegung aufzugreifen, tut es sich daher auch konsistent schwer.

Ansonsten aber ist das Buch natürlich eine Liebeserklärung an eine Serie, die auch bei wiederholtem Ansehen zahlreiche neue Zugänge eröffnet, Interpretationsperspektiven bietet und natürlich auch sui generis als Drama zu brillieren weiß. Auch wenn es immer wieder einmal crowd-pleaser-Höhepunkte gibt (wer könnte das Finale von Staffel 3 vergessen?), so ist dies doch in ihrem Kern eine Serie über Menschen, die es nicht schaffen glücklich zu werden und konsistent damit scheitern, die Gründe für ihr Unglück anzugehen und zu verbessern. Der Vorwurf, dass die Serie sich gleichsam im Kreis drehe, wird aber vom Autor zurecht zurückgewiesen. Nicht nur werden ständig neue Facetten beleuchtet, die das Interesse des Publikums aufrecht erhalten. Die Charaktere wandlen sich durchaus, wenngleich sie nie fundamental zu anderen Personen werden (was aber auch nicht wirklich im Interesse der Handlung wäre).

Das heißt nicht, dass kein Wandel stattfände. Don wächst, Pete sowieso, und die größten Wandlungsprozesse sind den weiblichen Hauptfiguren vorbehalten, Peggy and Joan. Die beiden sind ohnehin das geheime Herzstück der Serie. Während Jon Hamm unbestritten der Star der Veranstaltung ist, sind es diese beiden Charaktere, die die größte emotionale Reise unternehmen und die relevantesten Dinge zu sagen haben, schon allein, weil Weiner nie den Fehler macht, es ihnen uns uns zu einfach zu machen. Sie sind nicht einfach feministische oder auch nur protofeministische Ikonen. Peggy ist ein Workaholic, der zu toxischen Ausbrüchen neigt, und Joan ist erstklassig darin, mit spitzen Aussagen maximale Verwundungen anzurichten. Das aber gerade macht sie so menschlich; all ihre Fehler, ihre elementaren Charakterschwächen, sind nicht zu überwindende Hindernisse. Sie sind, wer diese Personen sind. Und das macht es so real.

Nicht alle Mad-Men-Folgen oder -Staffeln sind gleich geschaffen. Die schwächste Staffel ist wohl die sechste, in der auch Zoller Seitz immer wieder einzelne Episoden eher pflichtgemäß abarbeitet, wenngleich er immer interessante Ansatzpunkte findet, selbst wenn das Ensemble einmal nicht wirklich zusammenkommen will. Aus der Perspektive der mittlerweile abgeschlossenen Serie ist auch durchaus kurios, was für absurde Theorien in der Fangemeinde damals gesponnen wurden. Auch Zoller Seitz selbst war dagegen nicht immun. In Fußnoten lässt er uns an seinen absurdesten Fehltritten teilhaben. Ich gehe davon aus, dass vieles davon der Einfluss von „Lost“ ist, das mit seinem Konzept der Mystery-Box eine ganze Generation von Drehbuchschreibenden vergiftete und Flurschäden hinterließ, die wie eine posttraumatische Belastungsstörung noch Jahre später komplette Strukturentscheidungen prägten (die Entscheidung von David Benioff und Dan Weiss etwa, in „Game of Thrones“ sämtliche Prophezeiungen aus den Skripten zu streuchen, rührt direkt aus den Erfahrungen mit „Lost“).

Am Ende ist das Buch ein ungemein wertvolles Companion Piece zur Serie. Da Zoller Seitz keine generischen Recaps schreibt, sondern tiefgreifende Analysen, ist es schwierig, es einfach zu lesen, wenn man die Folgen nicht frisch im Kopf hat. Vielmehr sollte man das Werk als Anlass nehmen, die Serie erneut zu schauen. Es lohnt sich, für beide Medien. „Man Men“ ist eine der besten Serien aller Zeiten, und Zoller Seitz einer der besten Schreiber zum Thema.

Christopher Leonard – Kochland. The Secret History of Koch Industries and Corporate Power in America (Hörbuch)

Auf Empfehlung des Journalisten Christian Stoecker, dessen Artikel über den Einfluss der Lobbyisten der fossilen Industrie ich in einem Vermischten kritisch kommentiert hatte, habe ich mir das vorliegende Buch über die Kochfamilie gekauft. Koch Industries gehört zu den mächtigsten Firmen der USA mit einem weitreichenden rechtsgerichteten Lobby Netzwerk und Kontrolle über große Teile der Energiewirtschaft. Gleichzeitig handelt es sich um eine sehr geheimnisumwitterte und legendär intransparente Firma. Christopher Leonard hat sich intensiv mit ihr befasst, zahlreiche ehemalige Beschäftigte interviewt und versucht, anhand einer intimen Betrachtung der Firmengeschichte und der Biographien dieser Personen nicht nur ein Portrait der Firma selbst, sondern auch der amerikanischen Wirtschaft zu erstellen. Ob dieser ambitionierte Spagat gelingen kann, soll die folgende Rezension zeigen.

In der Preface, „The Fighter„, stellt Leonard den Firmengründer Fred Koch vor. Die erzählte Geschichte ist eine klassisch amerikanische: Sohn deutschstämmiger Eingewanderter, der aus zwar nicht bettelarmen, aber nicht sonderlich privilegierten Verhältnissen einen beispiellosen sozialen Aufstieg hingelegt hat und es zu beträchtlichem Wohlstand brachte. Dabei gab er den Wert harter Arbeit an seine Kinder weiter, die in ihrer Kindheit und Jugend zu Sparsamkeit erzogen, von den Privilegien des Reichtums ferngehalten und früh zu bezahlter Erwerbsarbeit gebracht wurden. Koch liebte die Prärie seines Heimatstaates Kansas und betrachtete den Besitz seiner Ranches und die Arbeit als Rancher als Apotheose des menschlichen Daseins, was er so auch an seine Kinder weitergab, die seine Begeisterung für Ranches gleichwohl nicht hundertprozentig teilten.

Damit beginnt Abschnitt 1, „The Koch Method„.

Der Beginn von Leonards Darstellung in Kapitel 1, „Under Surveillance„, liegt in den 1980er Jahren, als das FBI sich für die Firma zu interessieren begann. Der Hintergrund war ein wenig ungewöhnlich: Koch Industries förderte in Oklahoma in einem Indianergebiet Öl, und das FBI hatte Grund zu der Annahme, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zuging. Nun ist Betrug durch Großunternehmen, gerade wenn es um die indigene Bevölkerung geht, nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist vielmehr, dass die anderen Ölfirmen wie Exxon ungeheuer bereitwillig mit den Behörden kooperierten. Denn das Ausmaß, in dem Koch Industries betrog, war ohne Beispiel.

Für die Behörden merkwürdig war dabei, dass vor diesem corporate whistleblowing nie jemand von Koch Industries gehört hatte. Die Firma war groß und ein wichtiger Player im Energiegeschäft, Flug aber praktisch komplett unter dem Radar. Schnell begann für das FBI ein Verdacht aufzukommen, der sich durch intensive Beobachtung erhärtete: Die Arbeiter von Koch Industries logen planmäßig bei der Entnahme des Öls, so dass Koch Industries, wie es im Fachjargon heißt, immer „over“ war. „Under“ zu sein bedeutet, etwas weniger Öl in die Pipeline einzuspeisen, als man entnommen hat. Das ist wegen der physikalischen Eigenschaften von Öl der Normalfall. Das Gegenteil kann ausschließlich durch Messfehler passieren – und Messfehler, die bei jeder einzelnen Entnahme vorkommen, sind keine Fehler, sondern Absicht.

Die Agenten schrieben Vorladungen und forderten Dokumente an. Sie interviewten zahlreiche Arbeiter, was ihnen viel Material für Ihren Verdacht gab. Schließlich interviewten sie die Spinne im Zentrum des Netzes: Charles Koch. Er war der CEO der Firma. Bereits das Firmengelände wirkte wie ein Hochsicherheitstrakt eines Geheimdienstes, mit mehreren gestaffelten Sicherheitsschleusen und extensiven Kontrollen. Im Gespräch war Koch unzweideutig über seine Maxime, möglichst viel Profit zu generieren, versuchte allerdings eine halbe Ewigkeit lang so zu tun, als wüsste er nicht, wie seine eigenen Pipelines funktionieren. Als die Agenten erschöpft das Gebäude verließen, fragten sie sich, wer zur Hölle Charles Koch eigentlich war. Bis dahin kannte ihn praktisch niemand.

Das zweite Kapitel, „The Age of Volatility begins„, beschäftigt sich entsprechend mit seiner Biografie. Er war der zweitgeborene Sohn der Familie und von früh an der designierte Erbe seines Vaters. Zuerst versuchte er, sich dessen Wunsch, die Firma zu übernehmen, zu entziehen, ließ sich dann aber mit Verweis auf seine familiäre Pflichten überreden. Dieses Kapitel zeigt bereits deutlich einige der Schwächen dieses Buches. Denn wer Charles Koch ist, wird auch hier nicht klar.

Nicht, dass ich ein brennendes Bedürfnis hätte, diese Person besonders kennenzulernen. Ich brauche keine massenhafte biografischen Details, die das Desiderat jeder Biografie, den „runden“ Blick auf den Menschen, zeigen. Das Problem ist vielmehr, dass Leonard durch seine vielen Interviews mit diesen Personen einen geradezu hagiographischen Blick auf Charles Koch übernimmt. Das Klischee, das auf diese Art gerinnt, ist sattsam aus dem Genre bekannt: Der hart arbeitende, sich nur für die Firma interessierende Patriarch, der seine begabten Untergebenen fördert. Ein Mensch ist dieser Holzschnitt nicht, und das unreflektierte Abfeiern der toxischen Arbeitskultur, die Koch pflegt (beispielsweise, dass er Untergebene willkürlich sonntags für Besprechungen in den Betrieb ruft), stoßen mir mehr als sauer auf und zieht sich durch das komplette Buch.

In diesem Zusammenhang wird auch Kochs rechte Hand vorgestellt: Sterling Varner. Wir erhalten die genretypischen Marker: die von ihm geförderten Protegés lieben ihn, harter Arbeiter, hochgearbeitet, sehr intelligent. Nichts davon ist in irgendeiner Art und Weise besonders interessant oder hätte nicht in einem einzigen Satz zusammengefasst werden können. Bücher wie „Kochland“ leben aber zwangsläufig vom personalisierten Narrativ, das, wie man zugeben muss, von Leonard kompetent geschrieben wird.

Kapitel 3, „The War for Pine Bend„, kommt dann der Einlösung des Versprechens, auch grundsätzliche Aussagen über die Kultur von corporate America in der Ägide treffen zu können, wenigstens etwas näher. Die titelgebende Raffinerie Pine Bend nimmt eine zentrale Rolle für die Firma ein. Da sie bereits relativ alt ist, konnte sie unter den lobbyismusverseuchten Regularien weiterbetrieben werden, ohne Umweltstandards einhalten zu müssen, was Charles Koch sofort als große Gelegenheit erkannte. Für Koch Industries sollte die Raffinerie zur Cash Cow werden.

Doch bevor das geschehen konnte, musste die Macht der Gewerkschaften gebrochen werden. Hier erwies sich Charles Koch als Avantgardist. Noch bevor Reagan und Thatcher die Zerstörung der Gewerkschaften zur offiziellen Regierungspolitik erhoben und damit für die nächsten Jahrzehnte nachhaltig das Machtverhältnis zugunsten des Kapitals verschoben, war Koch ein Pionier dieser Disziplin.

Mit dem örtlichen Raffineriepräsidenten, der kein Problem hatte, unter Belagerungszuständen mehrere Monate in der Raffinerie zu leben, Personal aus Texas einzufliegen und den Konflikt so weit wie möglich eskalieren zu lassen, hatte Koch genau den Mann den er brauchte. Die Gewerkschaften damals waren in einer völlig anderen Machtposition, als wir das heute kennen. Die Abläufe, die sie für Ihre Mitglieder in den jeweiligen Unternehmen heraus gehandelt hatten, waren tatsächlich hochgradig ineffizient, wenngleich für ihre Mitglieder sehr bequem. Dass ich hier etwas ändern musste stand außer Frage, und die Gewerkschaften erwiesen sich als ungeheuer unkooperativ.

Spannend auch im Hinblick auf aktuellere Arbeitskämpfe ist die Rolle der Solidarität unter verschiedenen Gewerkschaften: streikt der eine, so streikten alle und erhöhten dadurch den Druck ungemein. Doch wie sich bereits bei den illegalen Abschöpfungen von Öl gezeigt hatte, interessierte sich Charles Koch weder für das, was legal war, noch für die Meinungen seiner Peers. Zudem waren die Gewerkschaften nur im Norden stark: im Süden waren sie geradezu verhasst, weswegen es Koch auch gelang, loyale Arbeiter aus Texas einzufliegen. Dies erklärt auch die große Verlagerung von Arbeitsplätzen aus den Nord- in die Südstaaten vor allem in den 1970 und 1980er Jahren – ein Vorgang, der, wie wir noch sehen werden, sich in den 1990 er Jahren mit Mexiko wiederholen sollte.

Der Kampf mit den Gewerkschaften eskalierte wie bereits beschrieben komplett, woran die Gewerkschaften selbst großen Anteil hatten. Anders als in Deutschland waren sie weniger korporatistisch und kooperativ organisiert, sondern verhielten sich eher wie große Banden, die vor Gewaltanwendung keinesfalls zurückschreckten. Diese amerikanische Eigenheit findet sich bekanntlich in vielen Sektoren der Gesellschaft. Am Ende gewann Koch Industries den Kampf gegen die Gewerkschaft, weil Charles Koch bereit war, wesentlich mehr Geld zu verlieren, als die armen Gewerkschaftsmitglieder je aufbringen hätten können. Ohne die krasse ideologische Verhärtung der Fronten wäre eine wesentlich entspanntere und kooperative Lösung dieser Konflikte möglich gewesen, die die Gesellschaft mehr befriedet hätte – davon bin ich überzeugt. Es zeigt einmal mehr die Überlegenheit des deutschen Systems mit seinem Ausgleichsfokus.

Wir werden in der Raffinerie Pine Bend in einem späteren Kapitel wieder begegnen. für den Moment beginnt sie jedenfalls mit dem gebrochenen Personal unter neuen Regeln effizienter, auf Wachstumskurs, schmutziger und für das Personal schädlicher zu arbeiten – eine fast perfekte Zusammenfassung der Reagan-Ära, was merkwürdigerweise von Leonard überhaupt nicht thematisiert wird.

In Kapitel 4, „The Age of Volatility intensifies„, kommen wir dann zu der eigentlich expansiven Phase von Koch Industries. Das beherrschende Ereignis, quasi der Urknall des eigentlichen Unternehmens, ist der Ölpreisschock von 1973. Die vorherberechenbar billige Ressource Öl wurde mit einem Schlag zu einem volatilen, teuren Produkt, das den Amerikanern ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt schmerzhaft vor Augen führte. Produzierten die USA in den 1940 er Jahren noch genügend Öl im eigenen Markt, wurden sie schleichend von Importen vor allem aus der arabischen Welt abhängig – eine Entwicklung, die 1973 schlagartig sichtbar wurde. Die Mentalität Kochs, die schon immer das Ausnutzen von Volatilität und einen unnachgiebigen Wachstums- und Profitkurs betont hatte, war in diesen Zeiten von unschätzbarer Bedeutung. Auch dass er seine nachgeordneten Entscheidungsgremien auf einen ähnlichen Kurs und ein ähnliches Mindset eingeschworen hatte, kam ihm nun zugute.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Mitbewerber nutzt Koch für eine methodische Akquise-Strategie. Diese bestritt er weitgehend aus Eigenmitteln, die zur Verfügung standen, weil er praktisch keine Dividenden auszahlte, sondern alle Gewinne reinvestierte. Diese Strategie wird uns im nächsten Kapitel noch einmal aus anderer Warte begegnen. Sie war Ausdruck von Kochs Geheimniskrämerei, die ein Jahrzehnt später die FBI-Agenten so verwirren sollte. Die Geschäftszahlen von Koch Industries waren ein Geheimnis, dass sich mit den Atom-Codes der US-Regierung messen konnte.

Die Expansion in den 1970 er Jahren beruhte neben den natürlichen Instinkten Kochs und seiner Untergebenen auch auf der Nutzung der neuesten Technologien: Computer und Datenblätter waren ein weiterer zentraler Fokus der Koch’schen Unternehmensstrategie. Wo sich die Mitbewerber wie auch Fred Koch zuvor fiel auf ihr Bauchgefühl und ihre Instinkte verlassen hatten, betonte Charles Koch bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit von Daten und datengestützten Entscheidens. Auch hierin war er ein Avantgardist. Im Rückblick ist daher nicht schwer zu sehen, warum das Unternehmen in dieser Zeit so stark wuchs und immer mehr zu einem Moloch wurde. Dazu kam eine weise Selbstbeschränkung: Koch kaufte solche Unternehmen auf, die im selben Geschäftsfeld wie er oder doch zumindest benachbart waren, so dass eine Sachkenntnis im eigenen Unternehmen über die jeweilige Akquise vorhanden war und die Neuanschaffung sich gut eingliedern ließ. Auf diese Art und Weise expandierte das Unternehmen sowohl in die Breite, indem es ganze Zweige des Pipeline- und Raffineriegeschäfts unter seine Kontrolle brachte, als auch in die Tiefe, indem es zunehmend große Teile der Wertschöpfungskette integrierte.

In Kapitel 5, „The War for Koch Industries„, gibt uns Leonard eine Art Staffel von „Succession“, mit weniger glamourösen Charakteren und wilden Plottwists, dafür aber mehr Realismus und etwas mehr Kompetenz bei den Beteiligten. Der Konflikt des Kapitels, der namengebende Krieg um Koch Industries, fand vor allem zwischen David und Charles Koch auf der einen und ihrem Bruder Bill Koch auf der anderen Seite statt. Bill wollte Dividenden Zahlungen, um das Leben etwas mehr genießen zu können. Dazu kamen Konflikte über die richtige Strategie des Unternehmens, die aber in Leonards Erzählung eine untergeordnete Rolle spielen.

Es ist ohnehin auffällig, wie sehr Charles Koch die Rolle des Guten und Bill Koch die Rolle des Bösen in dieser Erzählung übernimmt. Der schlimmste Faktor, den Leonard gegen Bill ins Feld führt, ist, das dieser ist wagt, an einem Sonntag Football im Fernsehen anzuschauen, anstatt im Büro zu arbeiten. Das unreflektierte Abfeiern einer toxischen Arbeitskultur findet hier seine Fortsetzung.

Am Ende gewinnt Charles kocht die Auseinandersetzung mit einer guten Menge Glück, indem er rechtzeitig von den Plänen seines Bruders erfährt und deswegen mit einem überaus großzügigen Gegenangebot einen Schlüsselspieler aus dessen Koalition herausspringen kann. Letztlich wird Bill aus dem Unternehmen heraus gekauft. Damit wird der Konflikt zwar nicht enden, wie wir später noch sehen werden, aber die Kontrolle über das Unternehmen liegt nun endgültig in den Händen von Charles und David Koch – ausschließlich.

Diese Kontrolle nutzte Charles Koch, wie Kapitel 6, „Koch University„, aufzeigt, zur Indoktrination aller Untergebenen mit der von ihm erfundenen Lehre des Market Based Managment, MBM. Hierzu unterrichtete Charles Koch seine nächste Unternehmenshierarchie höchstpersönlich im eindrucksvollen Hauptquartier in Wichita und Instruierte sie, das so Gelernte nach unten weiterzugeben. Auf diese Art und Weise entstand eine festgefügte Ideologie mit eigener Sprache, die außerhalb von Koch Industries praktisch nicht verstanden wurde und gleichzeitig innerhalb der Firma für hohe Kohäsion sorgte.

Doch damit war noch lange nicht genug. Koch richtete auch Lobbyorganisationen ein, die Richter und Politiker auf Basis dieser Ideologie bewerteten (das Ganze abholen verfänglich mit Freiheit und Marktwirtschaft benannten) und ihnen kostenlose Seminare an attraktiven Ferienorten anboten, um ihre Bewertungen zu verbessern. Besonders Richter*innen gingen auf dieses großzügige Angebot ein und wurden so zu guten Freunden und Gesinnungsgenossen Charles Kochs, was im späteren Verlauf noch sehr gute Dienste leisten sollte.

Die Früchte dieser Arbeit sehen wir in Kapitel 7, „The Enemies Circle„. Durch einen personellen Wechsel beim FBI gut brach die in Kapitel 1 beschriebene Untersuchung weitgehend zusammen. Befreundete Richter starten zudem interne Informationen an David Koch durch und entschieden in seinem Sinne. Dadurch musste er an dieser Front nicht mehr wirklich etwas befürchten. Aus all diesen Geschehnissen zog Koch die Lehre, dass er den politischen Prozess nicht ignorieren konnte. Er baute in Washington extensive Lobbyorganisationen auf und vernetzte sich stark innerhalb der Republikanischen Partei. Die quijotische Kandidatur seines Bruders David für die libertäre Partei entsprach zwar eher seinen ideologischen Prämissen – die völlig wirklichkeitsfremde Agenda der Partei verlangte die praktisch völlige Abschaffung und Privatisierung des Staates -, Geld zu machen allerdings war mit den Verbindungen zur GOP.

In dieser Zeit formulierte Koch sein Konzept des „market based managment“ vollständig aus und sorgte dafür, dass jede*r Angestellte im Unternehmen diesen Kult lernte und verinnerlichte. Zentral für diesen Kult war die Ablehnung jeglicher staatlichen Regulierung, eine absolute Betonung von Wachstum und das Ergreifen von Chancen. In der Sprache von MBM bedeutete dies die Schaffung von „decision spaces“ durch sogenannte „process owners“. Diese waren sämtliche Angestellte, die durch ihre Funktion in der Lage waren, Wachstum im Unternehmen zu erzeugen. Sie galten als die besten Angestellten und waren in der internen Hierarchie klar bevorzugt. Wer Die Probleme einer solchen Ideologie nicht erkennen kann, befindet sich wohl im selben headspace wie Charles Koch.

In Kapitel 8, „The Secret Brotherhood of Process Owners„, kommen dann genau diese Probleme ans Tageslicht. Unter Ronald Reagan verschob sich das Gewicht in der amerikanischen Wirtschaft zunehmend zu den Großunternehmen. Die Anzahl der Regulierungen nahm entgegen des omnipräsenten Deregulierungsversprechens massiv um beinahe 50% zu, während sich die Staatsschulden auch hier entgegen der Wahlkampfversprechen verdreifachten. Das verwunderte wenig, bestand die Grundlage von „Reagonomics“ doch in der Kürzung der Steuern für die Oberschicht ohne auch nur annähernd korrespondierende Kürzungen bei den Ausgaben.

Beinahe noch relevanter für Koch Industries war allerdings die bewusste Sabotage diverse Ministerien, die wir in der jüngeren Vergangenheit unter der Regierung Trump in ähnlicher Weise begutachten konnten: während die Zahl der Regulierungen und ihre Komplexität zwar massiv zunahmen, was die Großunternehmen mit ihrer entsprechenden Personalkraft auf diesem Gebiet stark bevorteilte und zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen aus dem Markt drängte, wurde selektiv die Überwachung und Verfolgung zentrale Standards und Regulierungen hintertrieben – ob nun im Bereich der Steuereintreibung oder, für Koch ganz besonders wichtig, beim Umweltschutz.

Die konkreten Auswirkungen erkennt man dann an der Geschichte der Raffinerie von Pine Bent, die uns bereits aus dem Arbeitskampf der 1970er Jahre ein Begriff ist. Seit dem erfolgreichen Klassenkampf von oben hatte die Raffinerie um mehr als den doppelten Umfang expandiert und massiv von dem staatlichen Schutz der Reagan-Regierung profitiert: Eine der vielen Regulierungen war, das Raffinerien, die vor 1970 gebaut worden waren, von den Umweltregeln ausgenommen waren. Dadurch konnten Raffinerien wie die von Koch billiger produzieren als ausländische Konkurrenz und mussten keine neue inländische Konkurrenz befürchten, weil diese den Regulierungen genügen musste und daher im Preiskampf keine Chancen hatte. Wenig überraschend wurde in den USA seit 1977 keine neue Raffinerie mehr gebaut; die Besitzer der alten Raffinerien dagegen fuhren – und fahren! – fantastische Gewinne ein.

In Pine Bent zeigte sich die durch MBM geforderte Spaltung der Belegschaft sehr deutlich: sie war in Profit- und Nicht-Profit-Abteilungen gegliedert. In letztere Kategorie fielen beispielsweise die Anwälte, technische Expertise und Compliance. während erstere Kategorie, in der die process owners ihre decision spaces hatten, große Freiheiten bei ihren Entscheidungen hatte, sofern sie nicht die Dienste der zweiten Kategorie in Anspruch nehmen wollten (was intern stark sanktionsbehaftet war), die durch ein internes Preissystem abschreckend gestaltet und galt in der Unternehmenshierarchie als vergleichbar mit staatlichen Institutionen und damit dem Bösen schlechthin galt. Man misstraute ihr also und schloss sie von Entscheidungs- und Informationsprozessen aus. Wer nicht sieht, welche Probleme aus dieser Mentalität erwachsen können, ist im selben headspace wie Charles Koch.

Das Drama um die Raffinerie nahm dann auch seinen Lauf. Wie jede Raffinerie produzierte sie massenhaft Luft- und Umweltverschmutzung. In einem gewissen Rahmen war dies gesetzlich zulässig. Der Staat hatte hierfür (bezeichnenderweise unter Nixon) Grenzwerte gesetzt, die nicht überschritten werden dürfen. Im Fall der Raffinerie betraf dies vor allem die Ammoniak-Verseuchung des Wassers, das in den Mississippi abgeleitet wurde. In der Raffinerie arbeitete eine Expertin, deren Aufgabe es war, die Einhaltung dieser Grenzwerte zu überwachen. Es versteht sich von selbst, dass sie in der Nichtprofit-Kategorie und entsprechend unbeliebt und aus den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen war.

Die process owners aus der Profiabteilung zwangen nun die Produktion dazu, nicht wie bisher zu versuchen, so weit wie möglich unter den Grenzwerten zu bleiben und sich so Spielräume für Probleme zu schaffen, sondern die Grenzwerte maximal auszunutzen. Anstatt, wie in der Compliance üblich, die Intention des Gesetzes in die eigene Arbeit einzubeziehen, betrachteten die process owners diese gewissermaßen als ein Mandat. Je näher sie an die Grenzwerte heranrückten, desto höher ihre Profite. Sie vertrauten dabei auf ihre überlegenen Fähigkeiten, die es ihnen erlaubten, die komplizierten und volatilen Prozesse solcher Art zu kontrollieren, dass sie beständig am Maximum arbeiten und die Lage jederzeit unter Kontrolle behalten würden. Diese Hybris basierte auf einem permanenten best-case-Szenario.

Um die Profite noch weiter zu steigern, machen außerdem die Investitionen in Unterhalt und Reparatur der Infrastruktur so weit wie möglich heruntergefahren worden. Die berechenbare Folge, neben höheren Profiten, war ein langsamer Abnutzungsprozess von Pipelines und Maschinen. Erstere wurden undicht und tropften wesentlich mehr Schadstoffe in den Boden, über dem sie gebaut waren, als die Pipelines der Konkurrenz, während zweitere das während des Raffinerieprozesses verwendete Wasser wesentlich mehr verseuchten als branchenüblich. Überall in der Raffinerie sammelten sich daher große Schadstoffmengen.

Das war ein Problem, weil dieses verseuchte Wasser, dessen Menge beständig zunahm, ja nicht in den Mississippi geleitet werden durfte. Da die Firma verpflichtet war, die Schadstoffmengen des abgeleiteten Schmutzwassers permanent zu überprüfen und zu melden, gab es nach Erreichen der Schadstoffschwelle auch keinen Spielraum mehr. Die Entscheider in den Profitabteilungen verfielen deswegen auf eine „brillante“ Idee: ein Teil des schmutzigen Wassers wurde dafür benutzt, die Tanks für den Notfall – Brände in der Raffinerie zu löschen – zu befüllen. Nach einer gewissen Weile musste das Wasser aus den Tanks in die umliegende Landschaft verspritzt werden. Dieser Routineprozess war selten und wegen der geringen involvierten Mengen nicht besonders problematisch. Die Idee war nun, die Tanks komplett über diesen Weg zu entleeren, weil hier keine Schadstoffgrenzen oder Meldepflichten festgelegt waren. Die Mitarbeiterin aus der Compliance erklärte von Beginn an, dass dies weder rechtlich noch in der Sache in irgendeiner Art und Weise zulässig war. Konsequenterweise schloss man sie vom Entscheidungsprozess aus und tat es trotzdem.

Zuerst schien alles glatt zu gehen. Niemand bemerkte die krasse Zunahme und die Compliance-Mitarbeiterin wurde eingeschüchtert und stellte ihre Kontakte zu den Aufsichtsbehörden vorläufig ein. Doch eine der Maschinen, die man aus Kostengründen nicht repariert hatte, brach nun endgültig zusammen und sorgte zusammen mit der fehlenden Expertise der Beteiligten dafür, dass Millionen Liter verseuchtes Wasser unter Hochdruck in die umliegende Landschaft gespritzt wurden und sie fast vollkommen zerstörten. Nicht einmal die den Interessen der fossilen Industrie sehr gewogenen Regierungen jener Zeit und konservativen politischen Ausrichtung konnten das noch ignorieren. Entsprechend hatte Koch Industries einen größeren Skandal an der Hacke.

Mich erinnert diese ganze Geschichte massiv an Tschernobyl: die Hybris der beteiligten Experten, institutionelle Blindheit, eine wirklichkeitsfremde Theorie, die nicht einmal unter ihren eigenen Prämissen funktioniert (Koch zerstörte mit dieser Ideologie die eigene Basis, schuf im Endeffekt eine Korrosion des gesamten Systems).

Natürlich hatte der Skandal Konsequenzen für die beteiligten Beschäftigten. Die Whistleblower und Bedenkenträger wurden bestraft – sie wurden kaltgestellt und durch konzentriertes Mobbing aus dem Unternehmen gedrängt – während diejenigen, die das Recht gebrochen, die Ratschläge und Anweisungen der Compliance ignoriert und die Behörden belogen hatten befördert wurden.

Dass eine solche Reaktion seitens des CEO und des Oberen Managements nicht eben dazu angetan ist, systemische Probleme zu beseitigen, zeigt sich dann in Kapitel 9, „Off the Rails„. In den 1990er Jahren fand das Motto „Wachstum um jeden Preis“ seine krassesten Auswüchse. Die Beschäftigten hatten die Lehren Kochs verinnerlicht und eine neue Generation gelangte als process owners an decision spaces. Zum ersten Mal bestanden diese Entscheidungsebenen nicht aus Leuten, die im Unternehmen groß geworden waren, sondern aus den BWL-Schnöseln der Ostküsten-Universitäten. Diese leisteten zwar Lippenbekenntnisse zu Kochs Lehren, ohne allerdings – wenn man Leonards Narrativ glauben darf – dessen Kernprämissen wirklich aufzunehmen. Man darf hier durchaus skeptisch sein, denn die Schuld für die Probleme der 1990er Jahre wird Leonard (wie Koch) bei diesen Leuten suchen. Mangelnde Linientreue war ja schon immer eine Entschuldigung in allen Regimes.

In Leonards Erzählung trägt Koch hierfür keinerlei Schuld, weil er zu jener Zeit durch einen Rechtsstreit mit seinem Bruder Bill abgelenkt war. Dieser führte einen persönlichen Rachefeldzug gegen seinen Bruder, weil er sich wegen des Ausverkaufs in den 1980er Jahren übervorteilt fühlte – oder aus welchem Grund auch immer, wirklich klar ist das nicht, weil sich Leonard für Bills seite nicht interessiert. Fakt ist allerdings, dass Bill in dem Rechtsstreit schmutzige Interna von Kochs illegalem Verhalten in die Gerichte zog und seinem Bruder so Probleme bereitete. In einer weiteren Merkwürdigkeit von Leonards Erzählung ist Bill dabei deutlich böser und schlimmer zu bewerten als die Umweltverbrecher von Pine Bent.

In der Zwischenzeit fand ein wahrer Bonanza der Firmenakquise statt. Eine der größten und folgenreichsten solcher Akquisen war der Kauf des Futtermittelherstellers Purina. Die Idee war stabil: eine starke und solide Kundenbasis, mit Koch Agriculture ein großes Konglomerat mit der passenden finanziellen Feuerkraft im Rücken und ein scheinbar todsicheres Geschäft, das auf der Spekulation mit diversen Koch bekannten Waren beruhte.

Erstmals in der Firmengeschichte wurde eine solch große Akquise mit Fremdkrediten gestemmt. Gut sechshundert Millionen Dollar wurden von mehreren verschiedenen Banken eingetrieben. Dabei übersahen die Finanzexperten allerdings – in Leonards Erzählung, weil ihnen die Präzision der Analyse eines Charles Koch abging -, dass die Firma große Verpflichtungen im Ferkelmarkt besaß. Als dieser 1998 crashte, stand Koch Agriculture plötzlich vor gigantischen Verlusten und die Banken verlangten Geld.

Koch argumentierte nun, dass der Futtermittelhersteller ein komplett eigenständiges Unternehmen sei, was theoretisch erlauben würde, es bankrottgehen zu lassen, ohne dass die Mutterfirma davon betroffen wäre. Die Banken würden dann alleine auf den Verlusten sitzen bleiben. Natürlich funktioniert das so nicht: die Firma war eindeutig ein Teil von Koch Agriculture. Koch einigte sich außergerichtlich mit den Banken und bezahlte einen größeren dreistelligen Millionenbetrag.

Wie so häufig nimmt Leonard eine empathische Sicht auf Koch ein. In Kapitel 10, „The Failure„, beschreibt er dessen Tiefpunkt. In seiner Erzählung wusste Charles Koch von nichts, war durch seinen bösen Bruder abgelenkt, an allem unschuldig und wurde in seinen Managmenttheorien beständig fehlinterpretiert. Ich halte das für groben Unfug. Letztlich ist es die Unternehmensvariante von „wenn das der Führer wüsste“. Natürlich braucht es keine explizite Anweisung vom CEO Charles Koch, in einer Raffinerie eine bestenfalls halblegale  und die Umwelt maximal verschmutzende Lösung zu wählen. Die gesamte Unternehmensphilosophie, wie Koch sie unter großem Aufwand etabliert hat, führt genau zu diesen Ergebnissen. Leonard lässt aber jede soziologische Untersuchung der Unternehmensstrukturen beiseite und konzentriert sich letztlich nur auf Personen. Damit bedient er uralte Narrative: der König ist gut, er hat nur böse Berater.

Stattdessen bekommen wir eine Geschichte, in der Koch effektiv alles richtig gemacht hat: die Fehler in der Raffinerie beruhten auf übereifrigen Angestellten, nicht auf einer fehlgeleiteten Unternehmenskultur. Diese stattdessen sei ein Quell versteckter Stärke, wie es sich in der Folgezeit der 1990er Jahre dann niederschlug. Die gemeinsame Sprache mit ihrem für Außenseiter unverständlichem Jargon hätte ein großes Gemeinschaftsgefühl geschaffen, das auch auf neu gekaufte Unternehmen übergestülpt werden konnte und so die Integration des Konzerns in einem Zeitalter der Expansion deutlich erleichterte. Von dem scheinbaren „Versagen“ Kochs aus dem Kapiteltitel bleibt so nichts übrig, man ist beinahe versucht, im metaphorisch über den Kopf zu streicheln und ihn zu trösten.

Natürlich zog Koch auch noch andere Konsequenzen aus dem Desaster. Von nun an würde ein wesentlich undurchdringlicherer Schutzwall aus Vernebelungen legalistischer Art um sämtliche Akquisen herum gebaut werden, damit Koch Industries vor jeglichen Ansprüchen durch geplatzte Unternehmungen geschützt sein könnte. Dies bedeutete zwangsläufig den Erhalt von Redundanzen, weil einer der größten Vorteile von Unternehmenszusammenlegungen, die Eliminierung von Bürokratien und Entscheidungsprozessen, so nicht möglich war. Angesichts der zu erwartenden Gesetzesverstöße und bankrotte, vor denen man sich so zu schützen wusste, war dies aber eine kluge Investition in die Zukunft. Al Capone hätte die Schmiergelder für Polizisten und Richter schließlich auch als kluge Investition abgeschrieben.

Leonard beendet das Kapitel für seinen Hagiographischen Stiltypisch: Charles Koch entschied sich, künftig noch härter zu arbeiten. Vermutlich war das Klischee-Phrasenschwein noch nicht voll.

Damit beginnt Abschnitt 2, „The Black Box Economy„.

Kapitel 11, „Rise of the Texans„, bringt die Langzeitfolgen der um Regulierung unter Carter und Reagan deutlicher in den Blick. die titelgebenden Texaner sind natürlich auf der einen Seite George Bush und sein Team, das 1989 ins Weiße Haus einzog. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Schicht aus diesem Bundesstaat, die wieder aus Kansas stammende Koch ihr Geld mit Spekulationen in der Energiewirtschaft verdiente und seit der Ölkrise kontinuierlich an Macht und Einfluss gewonnen hatte. Sie schickten ihre Lobbyisten mit Bush nach Washington, wo sie die Gewichte im Spiel des Einflusses auf  die US-Regierungsapparate deutlich veränderten. Die Trends, die Leonard hier skizziert, wurden bereits einmal angedeutet: eine Konzentration zu Großunternehmen, immer ausufernde Regulierungen in immer größerer Komplexität und ein unglaublicher Bedeutungsgewinn der Finanzindustrie nahmen alle unter der Regierung Bush deutlich zu und würden in gleichem Maße auch für die Regierung Clinton bedeutsam bleiben.

Für Koch Industries brachen goldene Zeiten an. Die Entwicklungen des Finanzsektors, in dem sich das Gewicht deutlich in Richtung von Spekulationen, Handel mit Futures und Derivaten sowie dem Aufstieg von Private Equity verschob, betrafen sein Kerngeschäft direkt. Warum dies gerade Koch so half, wird in Kapitel 12, „Information Asymmetries„, deutlich.

Es war vor allem der Bedeutungsgewinn des Derivatehandels, der hier eine entscheidende Rolle spielte. Da es sich effektiv um Wetten auf die zukünftige Entwicklung des jeweiligen Sektors handelte, hatte derjenige einen gigantischen Vorteil, der über mehr Informationen verfügte. Anders als die Spekulanten des Finanzsektors, die mit großen finanziellen Möglichkeiten, aber ohne Hintergrund in der fossilen Energieindustrie ihre Tätigkeit nachgingen, war Koch Industries eine solche Firma, die außerdem Derivatehandel betrieb. Allein dadurch gewann sie einen gigantischen Informationsvorteil, der kombiniert mit dem langfristigen Blick Kochs in Leonards Erzählung eine einzigartige Position für den Konzern bot. Was der Autor dagegen nicht betont ist, dass Wetten auf die Zukunft natürlich umso leichter sind, wenn man die Zukunft selbst bestimmen kann. Da Koch Industries mittlerweile eine Größe erreicht hatte, in der es die Rohstoffpreise durch Drosselung oder Ankurbelung der Produktion direkt mitbestimmen konnte, waren solche Wetten natürlich letzten Endes ein Insidergeschäft. Die Handelssektion des Konzerns begann, Profite in ungeahnter Höhe einzustreichen.

Gerade in diesem Bereich wurde die ohnehin hoch geschriebene Geheimhaltung noch einmal in ungeahnte Höhen getrieben. Niemand sollte auch nur annähernd erfahren können, wieviel Geld Koch Industries tatsächlich verdiente. In Leonards treuherziger Erzählung diente dies natürlich der Aufrechterhaltung der Kontrolle durch Charles und David Koch und den Behalten der Handlungsfähigkeit, was mit Sicherheit auch relevante und legitime Gründe waren. Dass hier mit Sicherheit auch in großem Stil Steuern hinterzogen wurden und die Intransparenz entscheidend für das Lobbying war, ist Leonard keine Silbe wert.

Ein Problem für Koch wurde zunehmend, das seine Händler verglichen mit dem Hauptkonkurrenten Enron und der Wall Street nur sehr wenig Geld verdienten. Dies lag an der Unternehmensphilosophie Kochs, der Bescheidenheit für einen relevanten moralischen Wert hielt und überzeugt war, dass große Bonizahlungen die Loyalität zur Firma erodierten und eine Maverickkultur etablierten. Damit hatte er sicher vollständig recht, konnte sich aber gegen den Zeitgeist nicht halten und musste auch seinen eigenen Händlern Millionenboni bezahlen. Dass Koch hier auf verlorenem Posten stand, führt Leonard auf eine neue Schicht des oberen Managements zurück, das an den Eliteuniversitäten mit den Werten der Wall Street aufgewachsen war und nicht Kochs Arbeitsethik des mittleren Westens teilte. Mir scheint das einmal mehr eine übertriebene Personalisierung zu sein – Koch hätte sicherlich auch ohne diese Leute dieselben Schritte ergriffen. Ein weiteres Detail am Rande: gemeinsame Nennungen von Koch Industries und Enron komme nun häufiger vor und sind ein Vorbote auf das, was kommen sollte, denn mit Enron will man eigentlich nie gemeinsam genannt werden.

Eine weitere riesige Lukrativität Steigerung ergab der Derivatehandel ab dem Jahr 2000 mit einem weiteren Texaner: George W. Bush brachte einen weiteren Schwung von Lobbyisten und eine Agenda mit ins Weiße Haus, die Umregulierungen zugunsten der Rohstoffhändler mit sich brachte. Die Folge war eine neue Volatilität, die die Methoden Kochs noch aggressiver werden und seine Profite in noch größere Höhen steigen ließ.

In Kapitel 13, „Attack of the Killer Electrons!„, geht es nach Westen. Nach den Erfahrungen im Derivatehandel mit fossilen Energieträgern wandte sich Koch Industries dem Markt zu, auf dem das richtig große Geld zu machen war: dem Stromhandel. Koch hatte hier bisher keine große Präsenz gehabt, besaß allerdings die Marktmacht und finanziellen Mittel, um sich neu zu engagieren. Das von Leonard beschriebene Schlachtfeld war Kalifornien. Dort wurde er ab 1996 der Energiemarkt radikal dereguliert – oder, wie es in diesen Fällen treffend eigentlich immer besser genannt wäre, umreguliert.

Treibende Kraft hinter diesen Bestrebungen war der konservative Thinktank ALEC, der den Lesenden eventuell aus einigen investigativen Stücken John Olivers und Co bekannt ist. Diverse Unternehmen finanzierten diesen Thinktank, der Gesetzestexte schrieb und diese quasi unterschriftenreif von einschlägig „überzeugten“ Politiker*innen der Republicans durchsetzen ließ. Unter dem Einfluss der großen Energiekonzerne änderte sich die Struktur ALECs nachhaltig: Enron und Koch Industries bezahlten so viel Geld, dass in dem Pay-to-Play-System ALECs niemand anderes mehr eine Chance hatte, ihre einseitige Position infrage zu stellen. Dies betraf vor allem die Kraftwerksbetreiber, die nur nicht eben sozialistische Umtriebe verdächtig waren und kein Interesse an den von ALEC neuerdings vorangetriebenen Umregulierungen hatten.

Es zeigt sich hier eine typische Dynamik sämtlicher Deregulierungsprozesse: außer den Lobbyisten interessiert sich praktisch niemand für die Vorgänge, so dass diese sie ganz in ihrem Sinne beeinflussen können, ohne öffentliche Aufmerksamkeit oder Kontrolle fürchten zu müssen. Im Falle der kalifornischen Umregulierung ist das schon alleine deswegen besonders auffällig, weil die Verbraucher*innen keinerlei Nutzen davon hatten: ihre Kosten stiegen während die Qualität der Leistungen sank. Die Profiteure waren die Energieunternehmen.

Das hing mit der neuen Volatilität zusammen. Bis 1978 war der Strompreis ungeheuer stabil gewesen und hatte sich nur in sehr kleinen Bahnen bewegt. Diese Volatilität wurde durch Sicherheitsmechanismen ausgeglichen: so kauften die Kraftwerke gegebenenfalls Notreserven zu sehr hohen Preisen zu, falls dies in seltenen Fällen notwendig war. Mit der neuen Privatisierungswelle ab 1996 wurden die Netze und die Betreiber voneinander getrennt. Das Vorhersehbare geschah: niemand investierte mehr in das Netz, stattdessen wurde die Finanzkapitalisierung das System ist vorangetrieben, indem starke Anreize für Wetten gesetzt wurden.

Genauso wie Enron wettete Koch auf einen Zusammenbruch des Marktes. Das lohnt sich natürlich, denn genau dieser Zusammenbruch wurde ja von Enron und Koch selbst betrieben. Einmal mehr zeigte sich das Problem, dass die Macht über real existierende Infrastruktur und Ressourcen seitens Koch der Firma nicht nur einen riesigen Informationsvorsprung gegenüber Finanzinvestoren, sondern auch die reale Möglichkeit der Gestaltung des Marktes nach den eigenen Vorhersagen in die Hand gab. Natürlich wäre keine Erwähnung im Zusammenhang mit Enron vollständig, wenn nicht und massenhaft illegale Geschäfte getätigt werden würden. In diesem Fall wurde Strom auf dem Papier an andere Bundesstaaten verkauft, in der Realität verließ er allerdings nie Kalifornien. Durch diese Papierkäufe wurden allerdings künstliche Knappheiten geschaffen, die die Kraftwerke dazu zwangen, völlig überteuerte „Notreserven“ zu kaufen und so gigantische Profite für Enron und Koch bereitstellten. Eine Reihe von aus den ausbleibenden Investitionen, den gestiegenen Nutzendenzahlen und diesen Geschäften resultierenden Stromausfällen Anfang der 2000er Jahre zerstörte die Legitimität des kalifornischen Staates nachhaltig.

Den unvermeidlichen Nachforschungen entkam Koch Industries weitgehend ungeschoren, weil sie nicht zu Unrecht darauf hinweisen konnten, in viel geringerem Ausmaß als Enron kriminelle Handlungen begangen zu haben. Dazu half Koch einmal mehr, dass die Unternehmensstruktur komplett undurchsichtig war und Nachweise extrem schwer zu erbringen. Es ist wieder einmal auffällig, wie hohl die Marktwirtschaftsrhetorik Charles Kochs immer bleibt. Er macht sein Geld, indem er monopolistische Stellungen schafft und Gesetze in seinem Sinn schreiben lässt. Mit realer Konkurrenz hat dies wenig zu tun.

Doch die gewaltige Spekulationswelle beschränkte sich beileibe nicht auf den Energiemarkt. Wie Kapitel 14, „Trading the Real World„, zeigt, begann ab 2003 eine riesige Akquisewelle. Wie bereits bei der ersten solchen Welle war die von Charles Koch ausgegebene Regel, dass die einschlägig im Sinne der MBM ideologisierten Mitarbeitenden Chancen zu erkennen hatten, wo sich diese boten. Um ähnliche Desaster wie beim Futtermittelhersteller Purina zu vermeiden, hatte Koch ein Board eingerichtet, das diese Ideen und Möglichkeiten auf Herz und Nieren prüfte. auch dies ist ein Leitmotiv der Entwicklung von Koch Industries: die zugrundeliegenden Strukturen sind sauber, gut strukturiert und verhältnismäßig krisensicher. Man kann sich einer gewissen Bewunderung für das Unternehmen nicht verschließen.

Auch die Strategie hierfür atmet diesen Geist: einer großen Investition ging immer ein kleiner Versuchsballon voraus, der die Validität des Investments überprüfen sollte. Zumindest ist das die Erzählung Leonards. Es bleibt in der Struktur des Buches unklar, inwiefern es sich dabei tatsächlich um eine Regel handelt oder nur um eine retrospektive Rechtfertigung, die im Nachhinein ein System konstruiert, wo keines war. Im eigentlichen Narrativ jedenfalls haben wir einen einzigen solchen Fall beschrieben, ohne dass klar wäre, das immer so vorgegangen worden wäre. Solche Ambivalenzen durchziehen leider das gesamte Buch.

In jedem Falle betrafen all diese Expansionen nur solche Bereiche, die die Expertise Kochs berührten. Das bedeutete vor allem Raffinerien, Energie, Infrastruktur. Sämtliche neuen Akquisen wurden durch aufwendige Schutzkonstruktionen vom Hauptkonzern getrennt, um Koch von möglichen Konsequenzen von Fehlinvestitionen zulasten der Banken und natürlich von der Möglichkeit der Regulierung und angemessenen Besteuerung durch den Staat zu schützen.

Gleichwohl hatte man vom Desaster von Pine Bent gelernt: die neue, beinahe fanatisch durchgesetzte Regel, die nun auch ordentlich Personal mit vernünftiger Macht dahinter hatte, war 100% Compliance 100% der Zeit (für die mathematisch etwas unsaubere Faustformel von 10000% Compliance). Die durchaus lobenswürdige Erkenntnis Kochs, dass Compliance im Interesse der Firma lag, gegen den meisten seiner Mitbewerbenden ab. Was Leonard gleichwohl nicht sagt, ist, das Koch dies natürlich nun umso leichter fiel, als er mittlerweile so viel politischen Einfluss gekauft hatte, dass er die Regeln, für die er 100% Compliance ausgab, ja zu großen Teilen selbst geschrieben hatte.

Dieser Theorie folgt in Kapitel 15, „Seizing Georgia-Pacific„, nun ein Praxisbeispiel. Die größte Akquise in der Firmengeschichte von Koch Industries war die von Georgia Pacific. Sie war eher ungewöhnlich. Georgia Pacific war ein Holzunternehmen, was auf den ersten Blick nicht zu Koch Industries zu passen schien. Doch die Prozesse innerhalb der Firma ähnelten denen einer Raffinerie. Wesentlich attraktiver als diese Ähnlichkeit der Geschäftsmodelle jedoch war etwas, das sich Koch gerne zunutze machte: die dämliche Quartalsmentalität der Wall Street. Kochs langfristiges Denken erlaubte es ihm, unterbewertete Unternehmen zu identifizieren und aufzukaufen.

Hier ist Leonard einmal mehr sehr unklar: er lobt die agent theory des CEO, nach der dieser allein der Profitmaximierung seiner Shareholder verpflichtet ist, im Falle von Koch Industries und kritisiert sie im selben Atemzug beim Rest der Unternehmen. Bei diesen nämlich führt sie zu einer Diffusion von Verantwortung und damit strategischer Kompetenz, während sie bei Koch zu einer Fokussierung genau desselben führten. Jedoch ist das eigentlich Unfug: Koch hatte genau zwei Shareholder, von denen einer gleichzeitig der CEO war. Unter diesen Bedingungen ist es natürlich leicht, strategisches Denken und ein Gehorchen der Interessen der Shareholder in Einklang zu bringen. Dass macht die Schlussfolgerung, das Kochs langfristiges Denken sehr ertragreich und dem kurzfristigen Maximieren des Shareholder Value an der Wall Street deutlich überlegen war natürlich nicht falsch, es scheint mir allerdings eine Theorie über etwas zu stülpen, das mit „ wenn du ein Milliardär mit einer eigenen Firma bist lässt sich diese leichter leiten denn als Angestellter“ deutlich unkomplizierter umschrieben wäre.

Aber zurück zu Georgia Pacific. Koch befand sich voll im Private-Equity-Modus. Zuerst kaufte er als den bereits im vorangegangenen Kapitel genannten Versuchsballon einen Teil der Firma für vier Milliarden Dollar, bevor er dann für weitere acht Milliarden die komplette Firma übernahm. Anders als in den 1980er Jahren investierte er hierfür kaum eigenes Geld: Koch war mittlerweile so groß geworden, dass er das Geld problemlos an den Kapitalmärkten eintreiben konnte.

Wie die anderen Heuschrecken lud er die Kosten für diese Kredite der aufgekauften Firma auf, deren Bilanzen nun massiv belastet waren. Im Austausch dafür hatte Koch praktisch keinerlei Risiko, weil die Firewall aus juristischen Winkelzügen gut jeden von jeder Haftung schützte. Nun klingt das in solchen Darstellungen immer alles sehr simpel, und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, das auf die leichte Schulter zu nehmen. Die beschriebenen Verfahren wurden von sehr vielen Firmen angewandt und flogen dem Großteil von ihnen in der Finanzkrise um die Ohren. Koch indessen kam nicht nur ziemlich gut durch die Finanzkrise, sondern konnte in dieser sogar weitere Akquise vornehmen. Das spricht schon für ziemliche Kompetenz.

Koch machte sich nun daran, Georgia Pacific zu modernisieren. Anders als viele Heuschrecken wollte er das Unternehmen nicht nur zerlegen, sondern tatsächlich langfristig gewinnträchtig gestalten. Ein großes Problem von Georgia Pacific war das Ersticken in Unternehmensbürokratie, das unter anderem zu einem Unterinvestment in die firmeneigene Infrastruktur geführt hatte. Koch indessen, der die grundsätzliche Gesundheit der Firma ja erkannt und sie deswegen gekauft hatte, investierte in viel zu lang aufgeschobene Bereiche. Was in Leonards Erzählung wieder einmal unklar bleibt, ist, ob das eine Besonderheit von Georgia Pacific war oder auch auf andere Akquisen zutrifft, weil gerade in Pine Bent damals ja das komplette Gegenteil der Fall gewesen war, mit dramatischen Konsequenzen. Weder wird dieser offensichtliche Widerspruch thematisiert noch eine Art Lektion herausgearbeitet. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier wieder einmal Einzelfälle nachträglich zu irgendwelchen Regeln aufgebauscht werden, um Koch als noch größeres Genie darzustellen.

Die Auswirkungen von Kochs Übernahme zeigen sich deutlicher in Kapitel 16, „The Dawn of the Labor Managment System„. Leonard beginnt mit einer Erzählung über einen Staplerfahrer im Lagerhaus von Georgia Pacific. Dieser hat sich aus kleinen Verhältnissen in die Mittelschicht vorgearbeitet, als er zu Beginn der 1980er Jahre das Glück hatte, diesen Job zu ergattern. Diese Jobs wurden auch viel von Menschen mit Collegeabschluss angenommen, weil sie mehr Geld einbrachten als etwa einen Job als Lehrer. Der Grund dafür war nicht die Großzügigkeit von Georgia Pacific, sondern die starke Stellung der Gewerkschaft. Dies erlaubte es Arbeitern, einen Mittelschichtenlebensstil zu verdienen.

Die Jobs selbst waren nicht besonders begehrenswert. Was sie trotz Ihrer Monotonie halbwegs erträglich machte, war die Kameradschaft unter den Arbeitern, die in diesem Milieu stark war. In den 1980er Jahren änderte sich das praktisch in allen Branchen. Die Gehälter reichten nicht mehr aus, um in die Mittelschicht vorzudringen, ja häufig nicht einmal, um überhaupt die Existenz zu sichern.

Mit dem Kauf von Georgia Pacific durch Koch Industries kamen diese Änderungen im Eilverfahren auch in das Leben der dortigen Beschäftigten. Leonard wechselt zunächst die Perspektive: die Manager von Georgia Pacific erhielten die üblichen Seminare in Market Based Managment, die mittlerweile geradezu industriell durchgeführt wurden. Die Manager mussten Videokurse sehen, deren Einhaltung (natürlich als unbezahlte Zusatzzeit) akribisch überprüft wurde. Wer nicht das richtige Maß an Begeisterung über die Inhalte an den Tag legte, wurde gefeuert. Dieses System wurde dann von der Managerebene bis in die kleinsten Jobs hinunter weitergegeben, so dass alle Arbeiter mit den Prinzipien der Ideologie vertraut waren.

Gleichzeitig änderte sich der Arbeitsablauf in der Fabrik massiv. Immer mehr Mitarbeitende wurden entlassen, ohne dass je neue eingestellt werden würden. Dadurch verteilte sich die Arbeit auf immer weniger Schultern, was zu massiv steigenden Arbeitszeiten bei gleichem Lohn führte. Wem das nicht passte, wurde die Kündigung nahegelegt – was angesichts der katastrophalen Aussichten für niemanden praktikabel war.

Noch viel schlimmer aber war das elektronische Überwachungssystem, das titelgebende Labor Managment System. Dieses wurde benutzt, um die Arbeitenden im Warenhaus von A nach B schicken zu können, indem es ihnen sagte, wo etwas einzusammeln und Hinzubringen war. Unter Koch wurden nun Testfahrten zwischen verschiedenen Punkten ohne Ein- und Abladen durchgeführt und als Maßstab für alle anderen Fahrten in das System eingespeichert. Gleichzeitig stieg wie beschrieben die Arbeitslast massiv an.

Das System überprüfte jede Sekunde in Echtzeit, wo sich welche*r Arbeiter*in gerade befand und trieb die Menschen in eine beständige Konkurrenz untereinander, in der die Ergebnisse veröffentlicht und das untere Drittel permanent mit Kündigung bedroht wurde. Der Stress stieg enorm an, die sozialen Kontakte brachen praktisch vollständig ab. Selbst die besten Performer litten unter Burnout.

Die Situation war eine absolute Dystopie des Kapitalismus. Ich finde vor allem die Parallelen zum real existierenden Sozialismus augenscheinlich. Da ist eine Ideologie, die mit massivem Aufwand eingedrillt und permanent überprüft wird, um absolute Linientreue zu erreichen. Der Anspruch totaler Kontrolle wird mit allen technologischen Mitteln und riesigem psychologischen Druck durchgesetzt. Das Ergebnis ist ein in sich schlüssiges System, den Menschen völlig egal sind und das kaum anders als totalitär zu beschreiben ist – mit den zwei zentralen Unterschieden, dass jeder jederzeit gehen kann und dass es wenigstens unter seinen eigenen Prämissen funktioniert.

Der Staplerfahrer in unserer Erzählung beschließt jedenfalls, sich zur Wehr zu setzen und bewirbt sich bei der Gewerkschaft für eine Vollzeitstelle, um Veränderungen anzustoßen. Überraschend gewinnt er die Wahl und tritt sein Amt praktisch zeitgleich mit Beginn der Finanzkrise an – das wohl schlechtestmögliche Timing.

Die Finanzkrise spielt dann in Kapitel 17, „The Crash„, die Hauptrolle. Leonard beginnt seine Erzählung hier mit David Koch, der rund 40% des Familienvermögens hält (weitere 40% hat Charles, der Rest verteilt sich auf diverse andere Personen). Anders als Charles arbeitet David nicht viel, sondern posiert als Bonvivant und Philanthrop. Hierzu gab er Spenden an das MIT, wo er für das Normalmenschenäquivalent von Centbeträgen höchste Ehren einfuhr, an die New Yorker Bibliothek (dito) und vor allem an das Theater, dem er einhundert Millionen Dollar spendete, was sein Vermögen nicht um einen Dollar reduzierte, sondern nur den Zuwachs ganz leicht abbremste.

Mich macht dieser Teil der Erzählung ungemein wütend, schon allein, weil Leonard die Selbstdarstellung Kochs als großer Philanthrop direkt übernimmt. Dabei streckte David Koch seine Spenden über mehr als ein Jahrzehnt, so dass die Beträge in Wirklichkeit viel kleiner waren, arbeitete anders als Charles nicht einmal dafür, sondern stand dem jüngeren Bruder vor allem nicht im Weg (was ja Bills großer Verstoß gewesen war) und gab das Geld genau den Institutionen, in denen er sich ohnehin bewegte. Anstatt in das Theater New York zu gehen, um sich dort zu präsentieren, ging er nun zu einer Aufführung im David-Koch-Flügel der Eliteneinrichtung, die genau das spielte, was er wollte. Das ist keine Philanthropie, das ist einfach nur Hobby. Aber wie üblich sprengen Milliardäre sämtliche Maßstäbe.

Es folgt eine kurze Erklärung der Abläufe der Finanzkrise, die für einschlägig Interessierte und Gebildete keine Neuigkeiten enthält, aber als Auffrischer willkommen ist und angenehm kurz bleibt.

Auch Koch Industries wird von der Finanzkrise getroffen, aber nicht so hart wie die meisten anderen Unternehmen Amerikas. Zu verdanken ist dies vor allem der konservativen Unternehmensphilosophie Charles Kochs, die hier einmal mehr besonders hervorgehoben werden soll. Im Gegensatz zu Davids „Spenden“ hat sie es durchaus verdient. Konkret hatte Charles Koch seinen Tradern Grenzen für ihre Spekulationen gesetzt, die zwar potenzielle Gewinne beschränkt, aber auch potenzielle Verluste in Grenzen gehalten hatten. Das zahlte sich nun aus.

Charles Kochs Reaktion wird wieder einmal hagiographisch dargestellt: der Firmenpatriarch analysiert alles kühl und verfällt nicht in Panik. Stattdessen bekommen wir einmal mehr den Philosophenkönig Charles Koch vorgestellt, der angesichts des Crashs seine angebliche prinzipielle Abneigung gegen Staatseingriffe wiederentdeckt (sofern diese ihm nicht nützen) und angesichts der Wahl Obamas zum Präsidenten beschließt, seine Einmischungen in den politischen Prozess massiv zu steigern.

Damit beginnt Abschnitt 3, „Goliath„.

In Kapitel 18, „Solidarity„, geht Leonard erneut auf die große Rolle von MBM für Koch ein. Bereits bei der Einstellung wurde durch zahlreiche Stufe ideologische Eignung der Kandidat*innen rigoros überprüft. Wenn keine Gewähr bestand, dass die Neueingestellten linientreu sein würden, erfolgte keine Einstellung. Die eigene Sprache mit ihren Begrifflichkeiten, die im Rahmen diese Ideologie eintrainiert wurden und im alltäglichen Sprachgebrauch der Firma zur Anwendung kamen, schufen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl aller Angestellten. Auch hier sind die Parallelen zum Sozialismus mit seinen ideologischen Schlagworten und der Betonung ihrer permanenten Verwendung für mich offenkundig.

Leonard wendet sich dann einer in den 2000er Jahren neu gegründeten Arbeitsgruppe zu, die aus Wissenschaftler*innen bestand, deren Aufgabe es war, Strategien für den Umgang mit sogenannten Holdouts zu finden. Dies waren Landbesitzende, die ihr Land nicht verkaufen wollten, um Koch den Bau von Pipelines zu ermöglichen. Mit großem Aufwand betrieb Koch Industries wissenschaftliche Experimente, um hier die bestmögliche Strategie herauszufinden. Diese Bestand in der planmäßigen Zermürbung der Holdouts einerseits und in der gleichzeitigen Verhandlung mit allen möglichen Konkurrent*innen andererseits.

An dieser Stelle wird die Erzählung aus Kapitel 16 wieder aufgenommen. Für Charles Koch waren die Gewerkschaftler letztlich auch nur Holdouts. In Verhandlungen über insgesamt 9 Monate, die von den Koch-Unterhändlern unter Anwendungen aller Möglichkeiten in die Länge gezogen wurden, war das einzige Ergebnis, das die Gewerkschaftler erreichen konnten, dass sie ihren eigenen Krankenversicherungsschutz behalten durften, sofern sie künftig 25% mehr bezahlten. Selbst dieses minimale Zugeständnis führte zur Entlassung des Chefunterhändlers von Koch. Sein Ersatz blockierte nun völlig offen und schrie den Gewerkschaftlern ins Gesicht, dass er sich niemals auch nur einen Zentimeter bewegen würde. Am Ende musste die Gewerkschaft das Diktat Kochs akzeptieren, wodurch – ein Zeichen der Zeit – die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen am Ende aber immer noch besser da standen als ihre nichtorganisierte Konkurrenz. Das Ausmaß, in dem die Löhne seit den 1980er Jahren gedrückt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert worden waren, war schlicht gigantisch.

Doch das war alles nur Vorspiel. In Kapitel 19, „Warming„, geht es um das größte politische Projekt Obamas aus Sicht von Koch: Cap and Trade. Nach Obama Care und dem Stimulus war dies die dritte Herausforderung durch den demokratischen Präsidenten und für Koch die Schlimmste. Er hatte seit 1991 massiv in organisierte Klimawandelleugnung investiert, genauso wie Exxon und die anderen fossilen Energiekonzerne auch. Als der wissenschaftliche Konsens zum menschengemachten Klimawandel nicht mehr ernsthaft zu leugnen war, waren alle Konzerne außer Koch aus der bezahlten Klimawandelleugnung ausgestiegen. Es war eine Art Alleinstellungsmerkmal.

Das von der Obama-Regierung favorisierte Cap and Trade wäre eigentlich eine marktwirtschaftliche Lösung für das Problem gewesen. Aber wie üblich war Marktwirtschaft für Charles Koch nur dann gut, wenn er die Regeln bestimmen und unzweifelhaft davon profitieren konnte. Seine angeblichen Prinzipien, die eine klare Trennung von Wirtschaft und Staat vorsehen würden, waren in dem Moment disponibel, in dem sie seinen Interessen zuwiderlaufen schienen.

Um diese Interessen durchzusetzen, beschäftigte Koch eine größere zweistellige Zahl hauptberuflicher Lobbyisten in Washington. Wie bereits bei der Deregulierung über ALEC in den 1990er Jahren besaß die Firma damit gegenüber den allermeisten anderen amerikanischen Firmen, die sich nicht einmal einen hauptberuflichen Lobbyisten leisten konnten, einen unschätzbaren Vorteil. Diesen nutzte Koch, um das Klimaschutzprojekt vollkommen zu zerstören.

Leonard erklärt hier kurz die Funktionsweise von Lobbyismus, die – auch dies ein Leitmotiv des Wirkens Kochs – vor allem auf überlegenen Informationen beruht. Diese erhält man vor allem durch ehemalige staffer, die die Seiten gewechselt haben und ihre Kontakte nun verkaufen.

Derart die theoretische Grundlage gelegt, berichtet Leonard von einem Lobbyisten, der seinen Job vor allem darin sieht, Chancen für Koch Industries zu ergreifen. Er erkannte, das Cap and Trade großes Potential für Koch Industries besaß, weil bereits vergleichsweise geringe Umstellungen im Produktionsprozess gewaltige Einsparungen an Treibhausgasemissionen bedeuten würden, die dann im lukrativen Verkauf von Zertifikaten münden würden. Er musste auf die harte Tour lernen, das Charles Koch den Planeten brennen sehen wollte.

Das Instrument dafür sehen wir in Kapitel 20, „Hotter„. Anhand des Beispiels von Bob Inglis, einem Kongressabgeordneten aus South Carolina, der stets verlässlich die Agenda von Koch Industries gestützt hatte, zeigt Leonhard die neuen politischen Dynamiken auf. Inglis hat er in der Vergangenheit Wahlkampfspenden von Koch erhalten, weil er dessen Positionen zu steuern und vorteilhaften Regeln für das Unternehmen vollumfänglich teilte. Aber in einem Punkt war er ein Häretiker: er wollte nicht öffentlich verkünden, dass der Klimawandel nicht existiere. Für diesen Frevel entschloss Koch sich, ein Exempel zu statuieren (dieses traf auch einige weitere republikanische Abgeordnete).

Inglis machte eine Erfahrung, die ab 2009 für die meisten Abgeordneten typische werden sollte. Ihre Wahlkampfveranstaltungen waren urplötzlich von massenhaft ungeheuer wütenden, gut organisierten und gebrieften Aktivist*innen besucht, die allesamt die exakt gleichen Formulierungen verwendeten und dieselben Fragen stellten. Unter dem Aufwand von zig Millionen Dollar hatte Koch Industries eine künstliche Protestbewegung schaffen geholfen, die die Abgeordneten massiv unter Druck setzte.

Dieser Druck richtete sich dezidiert weniger gegen die Democrats, sieht man von einigen Ausnahmen von mit der Fossilindustrie verbandelten Abgeordneten ab, weil Koch diese ohnehin als Feinde betrachtete. Stattdessen attackierte er über seine künstlichen Bewegungen, die in altbewährter Manier durch zahlreiche Vernebelungsschichten so von seinem Unternehmen getrennt wurden, dass der Zusammenhang fast nicht mehr sichtbar, mit Sicherheit aber juristisch nicht zu belegen und daher für die Gesetze zur Wahlkampffinanzierung irrelevant war, Republicans. Das Ziel war nicht so sehr, ihre Wiederwahl zu verhindern als Exempel zu statuieren und die Abgeordneten auf Linie zu bringen. Gleichwohl verloren viele von ihnen die Vorwahlen gegen radikale Unbekannte, die von Kochs Wahlkampfhilfen profitierten.

Kochs Erkenntnis, die Leonard wie üblich in den höchsten Tönen als strategisches Genie lobt (was in einer perversen Weise sicher richtig ist), dass er davon profitieren würde, wenn die Partei ein monolithischer Block war, der auf seine Ideologie hin eingeschworen war, fand ihren Niederschlag in der erwähnten massiven Lobbying-Kampagne, die solche Art noch nie dagewesen war. Sie erhöhte die Betriebstemperatur der amerikanischen Politik deutlich, indem sie auf blanken Hass und Wut setzte, die leicht zu mobilisieren waren. Dabei knüpfte Koch ohne jede Berührungsangst an allerlei radikale Milieus voller Verschwörungstheoretiker*innen an. Der Feind seines Feindes war sein Freund, mit all den schrecklichen Folgen für die Innenpolitik, die dies mit sich bringen würde.

Diese Lobbying-Maßnahmen waren hochgradig erfolgreich: Cap and Trade starb einen langsamen Tod im Senat und kam niemals zur Abstimmung. Koch war damit jedoch nicht am Ende. Seine Dachorganisation Americans for Progress (AFP), die diese Lobbyorganisationen koordinierte, verfasste einen pledge, niemals irgendeine Klimaschutzgesetzgebung, egal welche, zu unterstützen, wenn man in irgendeiner Art und Weise von Koch unterstützt beziehungsweise nicht aktiv bekämpft werden wollte. Allein von den 80 neugewählten Abgeordneten der Tea Party hatten 76 diesen pledge unterschrieben, was im Endeffekt garantierte, dass auf mindestens ein Jahrzehnt keine Klimaschutzgesetzgebung verabschiedet werden würde. Auffällig an Leonards Schilderung finde ich, dass er den Filibuster, wie ihn die Republicans etabliert hatten, als vollkommen normal betrachtet. Er spricht immer wieder von 60 Stimmen, die zur Verabschiedung von Gesetzen notwendig seien. Die Übernahme dieses konservativen Narrativs ist ein Dauerproblem moderater Beobachtender. Für Koch jedenfalls hatten sich die Lobbyingmaßnahmen mehr als ausgezahlt: sein Vermögen verdoppelte sich seit dem Ende von Cap and Trade.

Die Gründe dafür werden in Kapitel 21, „The War for American BTUs„, dargelegt. Die Grundlage dafür bietet der Boom im Fracking ab 2009. Die Frackingtechnologie war grundsätzlich seit den 1970er Jahren bekannt, allerdings immer unwirtschaftlich und war nur dank massiver Subventionen am Leben gehalten wurden. Mit den großen Preissteigerungskosten beim Öl mit dem Beginn der 2000er Jahre wurde die Technologie plötzlich wieder interessant und die Unternehmen begannen zu investieren, was die Preise noch einmal senkte und Fracking plötzlich wettbewerbsfähig machte. Wieder einmal ist auffällig, wie sehr Koch Industries (pars pro toto) von Subventionen profitiert, die in hohen Tönen und moralistischer Überlegenheit rhetorisch abgelehnt werden.

Kochs Geschäftsphilosophie zeigte sich einmal mehr: er war bereit, Risiken einzugehen und große Investitionen vorzunehmen, wenn ein entsprechender Gewinn in Aussicht stand. Die Firma baut ihr Pipelinenetz an der Golfküste massiv aus. Das Risiko war wesentlich höher, als Koch dies gewöhnlich einzugehen bereit war. Die Logik allerdings war stabil: der Frackingboom würde Öl in den USA wesentlich billiger machen. Der Peak Oil wurde durch einen Peak Demand abgelöst. Da in dem fragmentierten amerikanischen Markt anders als im OPEC-Kartell keine Möglichkeit bestand, die Ölförderung künstlich zu begrenzen, lag der Flaschenhals in den USA an einer anderen Stelle: Es waren einmal mehr die Raffinerien.

Durch die Firmenzusammenschlüsse, die durch die Gesetzesänderungen unter Reagan, Bush und Clinton so gefördert worden waren, gab es unter den amerikanischen Raffinerien (wir erinnern uns) seit den 1970er Jahren keine Neugründungen. Die amerikanischen Raffinerien fuhren unter permanenter Vollauslastung. Selbst Routinereparaturen sorgten dafür, dass die Preise beim Benzin Schwankungen wie bei einem Hurricane aufwiesen. Für Koch und die anderen Großunternehmen war das seit nunmehr 40 Jahren eine zuverlässige, politisch geschützte Einnahmequelle.

Koch investierte in die Raffinerie von Corpus Christi in Texas. Diese Raffinerie bediente vor allem Leichtöl, während die meisten anderen Raffinerien Schweröl bedienten. Leonard erklärt die dahinter liegenden Mechanismen des Raffineriegeschäfts ausführlicher, für uns soll an dieser Stelle genügen, dass die Raffinerie von Corpus Christi neben der von Pine Bent zur zweiten zuverlässigen Cashcow von Koch Industries wurde.

Die erwähnte Verdoppelung des Vermögens Kochs ist zu weiten Teilen auf dieses Investment zurückzuführen (neben den unzweifelhaften Erfolgen auf dem Spekulationsmarkt). Für Koch war der Peak Demand jedoch sehr gefährlich. Der Klimaschutz war zwar gescheitert, aber Obama war ungleich erfolgreicher in der Förderung alternativer und regenerativer Energiequellen gewesen, die an Wichtigkeit im amerikanischen Energiemix immer mehr zunahmen. Diesen marktwirtschaftlichen Erfolg konnte Koch selbstverständlich nicht akzeptieren, so dass er politische Handlungen seitens der Regierung zur Beeinflussung des Marktgeschehens hervorrufen musste (ein weiterer der vielen offensichtlichen Widersprüche zu der offiziellen Ideologie, der Leonard überhaupt nicht aufzufallen scheint).

Dabei berichtet Leonhardt nun über genau ein solches Beispiel: in Kansas hatte die Windenergie einen großen Boom erlebt, da das flache Land für die Windenergiegewinnung ideal war und auf diese Art und Weise viele Jobs entstehen konnten. Selbst ein rechtsradikaler Gouverneur wie Sam Brownback unterstützte die Windenergie. Koch und seine AFP Vernetzen sich mit anderen rechtsradikalen Netzwerken wie der NRA und investierten massiv in die Lokalpolitik. Das war quasi für Kleingeld möglich: normale Wahlkämpfe in Kansas (wir reden in einem so tiefroten Staat natürlich von Vorwahlkämpfen) mobilisierten vielleicht 1000 Wählende und kosteten maximal 10000 Dollar. Koch investierte in solche Wahlkämpfe Summen von 50000 Dollar und mehr, wobei er unbekannte Kandidat*innen auswählte, diesen sagte, dass sie einfach nur beiseitetreten sollten, und die Amtsinhabenden dann mit einer unglaublichen Masse an negative campaigning überzog. Wie bereits bei der Tea Party 2010 schuf er sich damit eine Gruppe fanatischer Befehlsempfänger*innen ohne jegliche Qualifikation, die sich vor allem auf das Schüren von Hass und das Zerstören verstanden. Aber mehr brauchte Koch nicht.

Er bezahlte dafür allerdings auch einen persönlichen Preis: nach 30 Jahren Zurückhaltung und Vernebelung seines politischen Einflusses durch zahlreiche Tochterfirmen und legalistische Manöver hatte die massive Investition in Lobbying seit 2009 eine landesweite Bekanntheit Kochs und einen neuen Status als Hassobjekt der Linken zur Folge. Die Konsequenz bestand in Todesdrohungen und der Notwendigkeit von wesentlich mehr Sicherheitsmaßnahmen. Leider zeigt sich hier einmal mehr, das radikale Aktivist*innen auf allen Seiten vorkommen und immer und zu allen Zeiten die gleichen kriminellen Vollidioten sind.

Kapitel 22, „The Education of Chase Koch„, nimmt dann einen kleinen narrativen Umweg. Im Jahr 2015 wurde Charles Koch 80 Jahre alt, wodurch sich zumindest inoffiziell die Nachfolgefrage immer häufiger und drängender stellte. Die offizielle Version, die man von den ideologisch gedrillten Angestellten aller Ebenen hörte, war die, dass die Lehre von MBM so gut und erfolgreich implementiert war, dass sie von der Person unabhängig war und dass das Unternehmen unter jedem neuen CEO erfolgreich sein würde. Während MBM in seinem Lauf weder von Ochs und Esel aufgehalten werden mochte, war bei weitem nicht so klar, ob es den Großen Vorgesetzten tatsächlich überleben konnte.

Anders als bei Fred Koch, der vier Söhne als potenzielle Nachfolger gehabt hatte, hatte Charles Koch nur einen: Chase Koch. Er hatte zwar auch eine Tochter, aber die zählte offensichtlich von Anfang an nicht, was Leonard allerdings nur in einem Nebensatz erwähnt. Ob Chase das Unternehmen einmal übernehmen würde und wenn, ob er das dann auch gut tun würde, stand in den Sternen. Die Erziehung Chases bereitete ihn jedenfalls auf dieses Ziel vor: so bestanden seine Sonntage als Kind daraus, Hörbuchversionen von von Mises und Hayek zu hören und dann von seinem Vater über die Inhalte geprüft zu werden gut – wohlgemerkt im Alter von 8 Jahren.

Chase musste auch explizit eine Sportart betreiben, in der er Spitzenleistungen erbrachte. Nachdem er im Basketball nicht gut war, wechselte er zu Tennis, wo er auch tatsächlich brillierte, in einem solchen Ausmaß, dass er Burnout bekam. Charles stellte ihn dann vor die Wahl, entweder zum Leistungssport zurückzukehren oder für den Sommer einen Job im Unternehmen anzunehmen (dass Chase einfach einmal Freizeit haben könnte, stand offensichtlich in die zur Debatte). Chase entschied sich für den Job, für den er dann drei Monate in einem Trailer mitten im Nirgendwo leben musste, was ihm sein Vater bis zum Antritt dieses Jobs nicht gesagt hatte.

Die ganze Geschichte ist wie aus dem Lehrbuch der amerikanischen Unternehmerbiographien entnommen. Chase brilliert natürlich auch in diesem Job, er kennt den Wert harter Arbeit, Macht wichtige Erfahrungen mit hart arbeitenden Typen des mittleren Westens und so weiter.

Mit 16 Jahren überfuhr Chase mit einem hochmotorisierten Auto ein Kind und tötete es. Leonard versichert uns schnell, das seine Eltern ihn auf keinen Fall von den Konsequenzen abschirmen wollten, aber sie taten genau das: die Firmenanwälte und der örtliche, mit Koch vernetzte Richter beschützten Chase vor den rechtlichen Konsequenzen (für Leonard ist es völlig bewundernswert, dass Chase überhaupt vor Gericht steht und die Bewährungsstrafe mit Sozialstunden akzeptiert), und obwohl seine Eltern ihn zwangen, sich beim Vater des toten Kindes zu entschuldigen, belog Chase den Vater über den Tathergang (was sich vor Gericht herausstellte), bleibt völlig unklar, welche Lektion Chase genau gelernt haben soll. Leonard versichert uns zwar, wie tief diese Episode ihn geprägt hat, bis zu dem Punkt, dass Chase als das wahre Opfer der ganzen Tragödie dasteht, aber auch das ist letztlich ein narratives Klischee: an keiner weiteren Stelle der Erzählung wird dieser angeblich schwerwiegende Einfluss noch einmal eine Rolle spielen.

Chase ging dann zum Studium nicht wie sein Vater und Großvater ans MIT, sondern an die Uni Texas, wo er einen eigenen Zirkel aufbaute und dann auch eine eigene Karriere zu starten versuchte. Die Klischees fliegen auch hier tief: mindestens siebenmal versichert uns Leonard auf ebenso vielen Seiten, dass Chase total bescheiden war und seinen Namen nie ausnutzte, alles aus eigener Kraft erreichte und so weiter und sofort. Schließlich wurde er dann doch ins Unternehmen zurückgeholt, wo er als Vorbereitung für die spätere Übernahme eine Reihe verschiedener Jobs übernahm, in denen er, man ahnt es schon, aus eigener Kraft und ohne Einfluss des Vaters brillierte – ich habe fast keine Kraft mehr weiterzuschreiben, so ermüdend ist das. Unklar ist an diesem Punkt des Narrativs, ob Chase die Nachfolge nun antreten möchte oder nicht.

Leonards Erzählung kehrt stattdessen in Kapitel 23, „Make the IBU Great Again„,  wieder zu Georgia Pacific zurück. Dort nahmen die Arbeitsunfälle seit den frühen 2000er Jahren beständig zu. In der Firma wurde jedes Jahr eine dreistellige Anzahl Arbeitsunfälle gemeldet, die häufig schwerwiegender Natur waren und Amputationen und andere Gliedmaßen Verluste zur Folge hatten. Damit nicht genug starben jedes Jahr eine mittlere einstellige Zahl Menschen bei der Arbeit im Betrieb. Damit hat er sich seit der Übernahme durch Koch Industries ein Trend zu mehr Sicherheit komplett umgedreht. Das Management stand vor einem Rätsel: trotz der 10000%-Compliance-Regel nahmen die Unfälle immer mehr zu.

Für die Mitarbeitenden war die Lage immer noch aus einem anderen Grund furchtbar: die Verträge und das Labor Managment System hat man sich keinen Deut gebessert. Lohnsteigerungen blieben die Ausnahme, stattdessen gab es nur jährliche Bonuszahlungen, wodurch das Fundament der Bildung einer Mittelschicht – langsam, aber stetig wachsende Gehälter – komplett ausgehebelt war. Das war natürlich kein auf Koch Industries beschränktes, sondern ein global beobachtbares Phänomen, das zur Vertiefung der Ungleichheit massiv beitrug.

Was die Arbeitsunfälle anging, war eine für das Managment merkwürdige Kausalität zu beobachten: wenn mehr Aufträge herein kamen, nahm die Zahl der Unfälle zu, brachen die Aufträge wie in der Finanzkrise ein, sank auch die Zahl der Unfälle. Für das Management war dieses Rätsel praktisch unlösbar. Für die geneigten Lesenden sollte es ziemlich offensichtlich sein, wo das Problem lag. Die Reduzierung des Personals auf das absolute Minimum und oft genug noch weit darunter sorgte für eine permanente Überlastung, die bei Auftragsspitzen Katastrophen zur Folge haben musste. Dazu kam ironischerweise die Schwächung der Gewerkschaft: diese hatte früher darauf bestanden, das nur entsprechend ausgebildete Arbeiter*innen an den gefährlichen Maschinen arbeiten durften. unter Kochs MBM-Ideologie sollten die Arbeiter*innen flexibel und unternehmerisch jede mögliche Aufgabe übernehmen können.

Um trotzdem die Sicherheit und 10000% Compliance zu gewährleisten, hatte Koch sehr detaillierte und lange Regelwerke aufstellen lassen, die pro Maschine 20 Seiten und mehr umfassten, und die Mitarbeitenden angewiesen, diese (natürlich in ihrer Freizeit) zu erlernen. Auf diese Art und Weise schoben sie die Verantwortung auf die abhängig Beschäftigten ab, wuschen ihre Hände in Unschuld und konnten sich in künstlicher Naivität darüber wundern, warum trotz 10000% Compliance Menschen für ihre Quartalsgewinne starben. Meine Verachtung für diese Brut kennt kaum Grenzen.

2015 stand eine Neuverhandlung der Verträge an. Der uns bereits bekannte Gewerkschaftschef stand in seinem letzten Arbeitsjahr. Er war zutiefst frustriert: die einst große Gewerkschaft, die er von der Vätergeneration übernommen hatte, war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ohne die Möglichkeit zu streiken (die Koch unter anderem durch politische Einflussnahme mit einer Änderung der Gesetze deutlich beschnitten hatte) hatte die Gewerkschaft keinen Verhandlungsspielraum und musste jedes Diktat der Firma akzeptieren. Auf einer Abschlussveranstaltung warf der Gewerkschaftsboss den Mitgliedern genau diese unangenehme, stets verdrängte Wahrheit vor die Füße und sagte ihnen, dass sie mit dieser Einstellung auch Trump wählen könnten.

Dieser Satz sollte sich als prophetisch erweisen: Trump gewann die Wahl 2016, weil die gewerkschaftlich noch relativ stark organisierten starten des vielgerühmten blue wall wie Pennsylvania und Wisconsin knapp an Trump fielen. Für Koch allerdings war die Wahl des rechtsradikalen Populisten eine Hiobsbotschaft.

Kapitel 24, „Burning„, macht klar, warum. Koch hatte in den Wahlkampf 2016 mit seinem Netzwerk neunhundert Millionen Dollar investiert, die vor allem an Jeb Bush, Marco Rubio, Ted Cruz und Scott Walker gegangen waren. Auf politischem Feld war Koch in anderen Worten kein besonderes Genie.

Trumps gesamte Wahlkampfplattformen war völlig konträr zu Kochs politischen Überzeugungen: anders als die klassischen republikanischen Kandidaten bekannte er sich explizit zum Sozialstaat und zu sozialen Leistungen – wenngleich nur für seine eigenen Wählenden. Der ökonomische Nationalismus bei einem Unternehmen wie Koch ebenso ein Dorn im Auge wie der beständige Kampf gegen „die Elite“, womit durchaus Koch und Konsorten gemeint waren.

Wie üblich allerdings verfiel Koch nicht in Panik und behielt einen langen Blick bei: er zog sich aus dem Wahlkampf zurück und konsolidierte sein Netzwerk in der richtigen Erkenntnis, dass er dieses 40 Jahre lang gehegt, gepflegt und ausgebaut hatte und dass Trump nichts dergleichen in der Hand hatte. Seine Strategie war daher die eines Blockieren und unterstützen: er würde Trump dort blockieren, wo er dies für nötig erachtete, und für dasselbe Hilfestellungen leisten. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Trump nicht einmal verstehen würde, wer ihm da gegenüberstand und warum.

Das erste Schlachtfeld Trumps – und damit Kochs – war Obamacare. Das Ziel, dieses abzuschaffen, teilte Koch mit Trump. Trumps großartige Ankündigungen, es mit „etwas Großartigem“ zu ersetzen, das allen Amerikaner*innen eine Krankenversicherung geben würde, war ihm dagegen ein Gräuel (mir bleibt allerdings unklar, wie jemand nach vier Jahren Trump solche Ankündigungen immer noch unkritisch wiederholen kann, als ob sich dahinter ein echter Policy-Vorschlag und eine realistische Aussicht verbergen würden). Daher befand sich Koch auf einem Gegenkurs zu Trumps Abschaffungsversuchen.

Sein Rezept war dasselbe wie beim Kampf gegen Cap and Trade. Er karrte bezahlte Aktivist*innen nach Washington, die für einen Tag Tourismus und einem freien Essen gerne für eine Stunde Plakate in die Luft hielten und Slogans riefen. Diese Slogans bemängelten absurderweise die mangelnde Qualität von Obamacare – ideologische Konsistenz allerdings, das haben wir nun oft genug gesehen, war Koch ohnehin nie wichtig. Am Ende scheiterte der Repeal dann allerdings dann an John McCain im Senat, was den von Leonard bemühten Vergleich zum Ende von Cap and Trade eigentlich komplett widerlegt.

Das zweite große Schlachtfeld war die Steuerreform. Wie bereits bei Obamacare war nicht auf den ersten Blick ersichtlich, warum Koch Trumps Reformagenda blockierte. Der Steuerplan, der hauptsächlich von Ryan ausgeklügelt worden war, kombinierte klassische republikanische Prinzipien mit dem Trumpismus. Eine deutliche Senkung der Unternehmenssteuern sollte aufkommensneutral gestaltet werden und so keine neuen Schulden generieren, was durch ein Umschichtung auf die sogenannte Border Adjustment Tax (BAT) erreicht werden sollte, die die Verlagerung von wirtschaftlicher Aktivität ins Ausland unattraktiver gemacht hätte und dadurch tatsächlich das Potential hatte, wirtschaftliche Aktivität zu generieren.

Keine neuen Schulden, eine Senkung der Unternehmenssteuern und eine Reduzierung von Abhängigkeiten vom Ausland sollten nun eigentlich keine Probleme für den prinzipientreuen Marktwirtschaftler Charles Koch sein. Tatsächlich aber hätte diese Steuerreform die Profite der seit 40 Jahren leistungslos arbeitenden Raffinerien beschnitten – und das konnte Koch nicht haben. Er log natürlich und behauptete, dass die Steuerreform ihm sogar helfen würde und dass er ihr aus rein prinzipiellen Gründen Widerstand leistete. Das allerdings war so eindeutig Unfug, dass sogar Leonard dies anerkennt. Kochs Blockade dieser Steuerreform basierte dagegen neben dem Offensichtlichen Profitmotiv auf derselben Idee, die Grover Norquist bereits 20 Jahre vorher formuliert hatte den: hohe Staatsschulden waren nämlich tatsächlich überhaupt kein Problem, wenn man diese mit einer Senkung der Steuern koppelte, weil der Staat dadurch handlungsunfähig wurde und nicht in der Lage war, seinen Kerntätigkeiten nachzugehen. Für vulgärlibertäre Nihilisten wie Koch eine attraktive Aussicht.

Den Abschluss des Kapitels macht eine Betrachtung der Übernahme des Umweltministeriums (EPA). Da Trump kein eigenes Netzwerk und damit auch keine geeigneten Kandidaten*innen für die Besetzung der vielen vielen Posten in Washington besaß, fiel er automatisch (und es ist nicht auszuschließen, dass er keine Ahnung davon hatte) auf das Personal von Koch zurück. Dadurch gerieten, völlig unabhängig vom Gewinner des Vorwahlkampfs 2016, automatisch Leute mit Kochs ideologischen Präferenzen in Entscheidungspositionen. Das traf nicht zwingend auf das Führungspersonal zu, wie wir an den Kämpfen zu Obamacare und der Steuerreform gesehen haben. Trumps Kandidat für die EPA war Scott Pruitt. Der Vorgang der Machtübernahme wurde allgemein gültig für die Trump-Regierung bereits von Michael Lewis in seinem Buch „The Fifth Risk“ (hier rezensiert) beschrieben: die Trumpleute hatten weder Ahnung von irgendetwas noch besondere Ambitionen, jenseits ihrer persönlichen Ziele im Amt irgendetwas zu erreichen.

Pruitt war selbst für Trump-Maßstäbe ungewöhnlich idiosynkratisch und korrupt: so war er überzeugt, dass die Beamt*innen im Ministerium versuchen würden ihn zu ermorden und gab hunderttausende von Steuerzahler*innendollar für absurde Sicherheitsmaßnahmen aus, während er in entwaffnender Offenheit sein Amt für persönliche Bereicherung und Profilierung nutzte, ohne die Agenda gezielt voranzutreiben. Die Agenda bestand unter einem sehr oberflächlichen Blick aus dem Abbau von Regulierungen. Es ging jedoch nicht um solche Regulierungen, die tatsächlich wirtschaftliche Aktivität der Volkswirtschaft als Ganzes behinderten, sondern Regulierungen der fossilen Industrie, die deren Profite schmälerte. In anderen Worten: die von Koch ausgebildeten und bezahlten Spezialist*innen, die unter Trump in die Ministerien einzogen, erledigten indirekt sein Geheiß. Als Pruitt 2018 zurücktrat und sein Stellvertreter kommissarisch die Geschäfte übernahm, zeigte sich das sofort: er war ein Koch-Mann und nutzte seine Wochen an der Macht, um einige Regulierungen für Koch abzuschaffen.

Zuletzt wagt Leonard in Kapitel 25, „Control„, einen Ausblick auf Koch 2018. Im Midtermwahlkampf gelang es ihm wieder, sein Netzwerk – dessen in der neueren amerikanischen Wirtschaftsgeschichte einzigartiges Ausmaß und Schlagkraft Leonhard an dieser Stelle noch einmal betont – zur Anwendung zu bringen und ihm genehme Leute, die kaum mehr als Befehlsempfänger waren, an die Macht zu bringen – auch wenn Leonard es fertig bringt, den für Koch nicht gerade idealen Ausgang der Wahlen komplett zu verschweigen.

Zum Ende des Narrativs kehren wir nach Wichita zurück. Koch übersah mit nunmehr 83 Jahren ein gigantisches Imperium, indem er als unumschränkter Herrscher schalten und walten konnte. In Wichita hatte er beinahe gottgleichen Status und komplette Kontrolle über sein eigenes Narrativ. Mochte er im Rest der Nation auch zum progressiven Feindbild Nummer 1 aufgestiegen sein, in der Umgebung seines Büroturms gab es keine Schule, Museum oder Schwimmbad, das nicht direkt oder indirekt auf seinen Einfluss zurückzuführen wäre – und alle wussten es. Dazu kam, dass kein Unternehmer jemals so viel ideologischen Einfluss ausgeübt hatte wie Charles Koch. Seine Bücher waren (zwangsläufig) Bestseller und eine von ihm erfundene Sprache wurde von Tausenden von ihm abhängigen Angestellten täglich gesprochen. Das Unternehmen wird nur von ihm und seinem Bruder geführt; sie halten 80% der Anteile. Nie erlaubte der Patriarch es, dass jemand, und sei es ein noch so vertrauter und verdienter CEO, eigene Anteile bekommen würde, wie es in praktisch allen anderen Unternehmen gang und gäbe ist.

Das Unternehmen war mittlerweile so groß, das ist nicht mehr scheitern konnte. Einzelne Teile des Unternehmens mochten sich als unwirtschaftlich erweisen und abgestoßen werden, manche Investments sich nicht lohnen und die Fehler der 1990er Jahre sich erneut wiederholen. Während Chase Koch sich als Venture Kapitalist ausprobierte, kämpften drei Spitzenmanager um die Nachfolge als CEO – wenigstens bis Chase sich entschied, das Erbe doch anzutreten. So oder so, schließt Leonard sein Buch, ist für Charles Koch die Geschichte erst am Anfang. Er schreibt an seinem ideologischen Magnum Opus, ein Werk, das MBM nicht nur als Managmenttheorie, sondern als Gesellschaftstheorie und Grundlage für die Organisation und Verfasstheit Amerikas etablieren soll. Der Albtraum hat, wenn es nach dem alternden Patriarchen geht, erst begonnen. –

Ich glaube es ist im Verlauf dieser Rezension deutlich geworden, dass ich nicht gerade ein Fan von Charles Koch bin. Ich halte ihn für einen der schlimmsten Auswüchse einen ganzen Klasse, die weltweit gigantische Schäden anrichtet. Man sollte diese Abneigung nicht damit verwechseln, dass ich seine Kompetenzen und Errungenschaften nicht anerkennen würde.

So ist für mich offensichtlich, dass der langfristige Ansatz in Kochs Unternehmensstrategie höchst bewundernswert ist, wenngleich er natürlich auf Voraussetzungen beruht, die die allermeisten Unternehmen*innen schlicht nicht haben. Die Wirtschaftsgeschichte ist aber voll von gescheiterten Söhnen erfolgreiche Unternehmensgründer, so dass man die unzweifelhaft vorhandenen Fähigkeiten und Erfolge Kochs neidlos anerkennen muss.

Dasselbe gilt für seine ebenso unbestreitbare Fähigkeit, mit chaotischen Situationen umzugehen und in volatilen Umgebungen erfolgreich zu sein. In Krisensituationen einen ruhigen Kopf zu bewahren, die langfristige Strategie nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem flexibel zu reagieren ist eine wahrlich seltene Fertigkeit.

Seine weise Selbstbescheidung ist zudem ebenfalls ein Faktor seines Erfolgs, der nicht unterschlagen werden sollte. Der Ansatz, nur so zu investieren, dass die Kernkompetenzen sowohl seine eigene Person als auch der Angestellten genutzt und nicht überschritten werden, ist mit Sicherheit einer, der zahllosen anderen Unternehmen die Pleite erspart hätte.

Auf der anderen Seite aber ist Koch eine ungeheuer zerstörerische Kraft. Von Beginn an war er ein erklärter Feind seine eigenen Arbeitnehmer*innen, deren Arbeitsbedingungen nach einer Koch-Akquise sich grundsätzlich verschlechterten, deren Gefahr, einen schweren Unfall zu erleiden oder gar den Tod zu finden sich unter ihm erhöhte und deren Einkommen unter ihm stagnierten. Planmäßig beraubte er sie jeglicher Möglichkeit, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen – während er gleichzeitig ideologische Phrasen von Freiheit in die Welt hinausposaunte.

Am schlimmsten jedoch ist seine komplette Leugnung der Auswirkungen seines Handelns auf Klima und Umwelt und seine aktiven Maßnahmen, alles noch viel schlimmer zu machen, nur um den gigantischen Haufen von Milliarden noch einige Millionen zusätzlich hinzuzufügen. Es widert mich einfach nur an. Kochs Vorgehen ist sicherlich legal; es steht allerdings zu offen, dass er und seinesgleichen irgendwann in Zukunft in der Reihe der großen Bösewichte der Menschheitsgeschichte stehen werden.

Eher kurios ist für mich seine ideologische Ausrichtung. Ich habe in der Rezension immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ähnlichkeiten zum real existierenden Sozialismus verblüffend sind. Koch schuf eine Ideologie und gemeinsame Sprache, die es locker mit den linguistischen Verirrungen der DDR-Bürokratie aufnehmen kann. Diese Ideologie wurde verbindlich und wird in Indoktrinationsmechanismen an alle Angestellten weitergegeben. Ähnlich totalitären Staaten verlangt Koch nicht nur ein öffentliches Bekenntnis in Form des Einhaltens von Sprachregeln und der Teilnahme an Ritualen, sondern tatsächliche Überzeugung und investiert massiv darin, diese Überzeugung zu generieren. Ich sage nicht, dass das schlechte Geschäftspolitik wäre; vielmehr liegen die Vorteile auf der Hand und werden durch Leonard ja auch gut herausgearbeitet. Aber es ist etwas, das sich in praktisch keinem anderen Unternehmen so findet.

Zudem fällt die klare Unternehmenshierarchie mit schlagkräftigen Abteilungen für „innere Sicherheit“ auf. Die Angestellten werden überwacht und durchleuchtet, Regeln werden kodifiziert und von oben nach unten durchgegeben. Es existiert ein Führerkult, der sich gewaschen hat und dem sich alle zu unterwerfen haben: das Genie Charles Kochs wird beständig beschworen und ein Bekenntnis zu ihm und, für sozialistische Regime typisch, seiner Ideologie und seinen heiligen Texten abverlangt. Seine Bücher haben eine riesige Auflage, weil sie erzwungener Lesestoff im Unternehmen sind – die Maobibel des Kapitalisten. Dazu kommt der Kontrollanspruch auf alle relevanten Teile der Gesellschaft, der mit massiver Lobbykraft nach außen getragen wird. Die Strukturen sind undurchdringbar und nach außen vollkommen abgeschottet; Kontakt zwischen der Bürokratie und der Gesellschaft existiert praktisch nicht.

Das soll nicht heißen, dass Koch Industries ein Staat wäre; die Staatsfeindlichkeit Kochs steht außer Frage, und der Laden ist dezidiert ein Unternehmen. Vielmehr ist hier ein bisschen Hufeisentheorie fällig. Der extreme Kapitalismus und der extreme Sozialismus sind einander ähnlicher, als es beide Seiten gerne wahrhaben wollen.

Dazu kommt, dass Kochs ideologisches Fundament genauso anfällig für Abgleiche mit der Realität ist wie sozialistische Regime. Diese versprachen das Arbeiterparadies und waren bestenfalls graue Unglücksproduzenten. Koch verspricht die Freiheit und schwingt das Wort von der absoluten, unbegrenzten Marktwirtschaft, war aber Zeit seiner unternehmerischen Existenz immer abhängig vom Staat. Ohne Subventionen und Regulierungen wäre Koch niemals so reich geworden, wie er ist, und wäre es nicht geblieben – der fundamentale Widerspruch der gesamten Struktur direkt im Fundament.

Doch auch in anderen Elementen steht Kochs Ideologie in ständigem Widerspruch zur Realität. Es ist kein Wettbewerb vorstellbar, ohne dass beide Seiten Gestaltungsmacht haben. Und das heißt für die überwiegende Mehrheit der Angestellten: Gewerkschaften. Koch sieht diese als seinen großen Feind. Dabei ist die einzige Möglichkeit, wie Angestellte realistisch im Wettbewerb mit Unternehmer*innen stehen könnten – und selbst dann mit großem Startnachteil – die Organisation. Koch weiß genauso wie bei der Beeinflussung und Nutzung des Staates sehr genau, warum er die Gewerkschaften von Anfang an zerstören wollte, und natürlich bediente er sich hierzu massiv des Staates. Das Streikbrechen von Pine Bent in den 1970er Jahren wäre ohne gewogenen Richter und entsprechendes Urteil so nicht möglich gewesen.

Eine Auffälligkeit bezüglich der Konstruktion Kochs, auf die Leonard immer wieder verweist – die „Firewall“ aus legalistischer Vernebelung, die ihn von jeder Konsequenz abschirmte und das Anhäufen des Reichtums ermöglichte, indem es ihn von den negativen Folgen von Krediten, Fehlspekulationen etc. abschirmte, also erneut staatlicher Schutz! – ist, wie effektiv diese ist. Ich habe das Hörbuch gehört und für diese Rezension immer wieder die Namen von Firmen oder zentralen Figuren nachrecherchieren wollen. Das war fast unmöglich. Nicht einmal die Namen der aufgekauften Unternehmen lassen sich vernünftig finden, selbst auf Wikipedia nicht! Die Geschichte des Futtermittelherstellers Purina etwa findet sich quasi nicht; die Wikipedia-Seite der Firma hat, obwohl die Firmengeschichte bis 1883 zurückreicht, keine Informationen über die 1990er Jahre. Auch hierin gleicht Koch Industries den realsozialistischen Regimen und ihrer manischen Kontrolle der eigenen Geschichte, dem Retuschieren von Misserfolgen (man denke nur an das Canceln Trotzkis!) und den Sprechverboten über die Vergangenheit.

Zum Abschluss möchte ich zum Buch selbst kommen. Ich habe im Verlauf der Rezension immer wieder deutlich gemacht, dass ich die Haltung Leonards sehr merkwürdig fand. Einerseits ist sein nüchterner Ton und seine von jedem progressiven Aktivismus freie Berichterstattung für das Subjekt gut geeignet. Es ist leicht vorstellbar, wie meine Rezension einen anklagenden, wütenden Text zu schreiben, der die Person Kochs dämonisiert (nicht schwierig, der Mann ist ein Dämon). Aber Leonard tut dies nicht, was vor allem dem Aspekt des Buchs hilft, der den Anspruch hat, die Geschichte von Koch Industries als Teil oder gar Spiegel der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte generell zu schreiben. Das gilt insbesondere auch für die Verbindungen zur politischen Geschichte; die Geschehnisse vor allem ab 2008 sind ohne Koch praktisch nicht verständlich.

Das funktioniert insofern, als dass Leonard die Elemente der Koch’schen Firmengeschichte sehr gut in den wirtschaftshistorischen Kontext einbettet. Es funktioniert insofern weniger gut, als dass Koch so anders ist als praktisch alle Unternehmer und Unternehmen, dass er immer als Phänomen sui generies dasteht. Dieses Spannungsfeld kann Leonard nie vollständig auflösen, was sicher auch daran liegt, dass es eine unmögliche Aufgabe darstellt.

Am meisten irritiert aber hat mich der hagiographische Tonfall. Praktisch sämtliche vorgestellten Personen – mit zwei oder drei Ausnahmen – sind glühende, beinahe fanatische Koch-Fans. Der Verdacht liegt nahe, dass Leonard bei seinen Recherchen zwar beispiellosen Zugang zu internen Informationen und dem inneren Zirkel bekommen hat, der Preis dafür aber eine Aufgabe der Distanz zum Gegenstand war. Während Leonards Analysen des Unternehmens selbst vom erwähnten objektiv-nüchternen Ansatz profitieren und die Dinge neutral darstellen, fehlt diese Distanz völlig, sobald es um die Personen geht, vor allem bei der Kochfamilie. Die Klischees von harter Arbeit, bescheidener Erziehung und Werten des „Heartlands“ im Vergleich zur Küstenelite sind unerträglich und werden in einer gleichförmigen Penetranz abgespult, die schon fast an Parodie grenzt, aber mit völliger Ernsthaftigkeit betrieben wird.

Das war für mich das größte Minus an dem Werk: trotz seiner beträchtlichen Länge und dem Fokus auf den Biografien bleiben die handelnden Personen Chiffren. Was wir sehen ist, was sie sehen wollen; eine künstliche Projektion nach außen, die nie durchdrungen wird und ihre artifizielle Natur nicht ablegen kann. Es ist wie als würde man Mark Zuckerberges Selbstdarstellung ernstnehmen, anstatt sich über seine Augusts-Allüren lustig zu machen.

Trotz diesen Schwächen kann ich das Buch nur empfehlen. Nicht nur erfährt man, wie eines der wichtigsten Unternehmen der USA entstand und wie es arbeitet, sondern auch, wie es die modernen USA prägte. Und das ist immer relevant.

Zeitschriften

Aus Politik und Zeitgeschichte – 1848/49

Das Jubiläum der Revolution von 1848/49 sorgt gerade für eine neue Hochzeit der Beschäftigung mit dem Thema, Die allerlei Neubewertungen und spannende neue Ansätze mit sich bringt. Ein Aufsatzband der APuZ kommt da wie gerufen, um einiges hinzuzufügen. Wer sich intensiv mit dem Thema beschäftigen will und es vor allem aus europäischer Perspektive betrachten, kommt derzeit um Christopher Clarks monumentalen Epos (hier rezensiert) nicht herum. Wir wollen sehen, was die Bundeszentrale für politische Bildung was in diesem Heft zusammenstellen konnte was und wie es sich in die größere Debatte einordnen lässt.

Im ersten Essay des Bandes von Claudia C. Gatzka, „1848/49 und der Ort des Revolutionären in der deutschen Geschichte„, begibt sich die Autorin auf eine Reise nach Frankfurt in die Paulskirche. Diese wurde anlässlich des Jubiläums neu hergerichtet und museal aufbereitet. Sie steht aber auch im Zentrum einer neuen Debatte, die sich unter anderem an der Forderung von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier entzündet hat, sie in ihren ursprünglichen Zustand zurück zu versetzen – was auch immer das genau heißen mag.

Gatzka jedenfalls beklagt eine Schlagseite des Diskurses über 1848, die sie als Übernahme der Narrative der Revolutionsgegner der damaligen Zeit identifiziert. Stets werde die Gewalt, die ihrer Ansicht nach die Wahl der Nationalversammlung überhaupt erst erzwungen hat und ohne die eine Revolution schlechterdings kaum vorstellbar ist, von den (letztlich undankbaren) liberalen und konservativen Reformern quasi ignoriert und geradezu peinlich berührt weggeschwiegen.

Die Autorin betont dabei, dass bei aller demokratischen Folklore klar sein muss, dass tatsächliche Demokraten damals eine ebenso kleine wie ungeliebte Minderheit waren, die direkt mit Unordnung, Unreife und Gewalt assoziiert wurden. Zugespitzt formuliert sie dies damit, dass die Toten des März 1848, die praktisch ausschließlich aus den unteren Schichten der Gesellschaft stammten, für die Elite, die ihr Opfer ausnutzte, dann quasi als Beweis für die politische Unreife des Volkes hergezogen wurden, das sich quasi habe totschießen lassen anstatt sich zur Wahl für die Nationalversammlung zu stellen – hier ist natürlich nur gab, weil der Druck der Straße sie erzwungen hatte.

Gatzka weist auch völlig zu Recht darauf hin, dass die Positionen von dem, was wir heute als links oder rechts betrachten, kaum auf 1848 anzuwenden sind. Gerade der offene Nationalismus, wir ihn heute selbstverständlich mit der politischen Rechten identifizieren, war damals ja dezidiert ein Projekt der politischen Linken. Auf diese Art führt der Essay schön in einige der Probleme der Betrachtung von 1848 ein: es kommt wieso häufig auf den Standpunkt an.

Mike Rapport, „Ursachen, Entwicklung und Erbe einer europäischen Revolution„, unternimmt in seinem Essay eine Kategorisierung der europäischen Revolutionen. Zuerst versucht er, in allgemeinen Begriffen die Ursachen der Revolutionen darzustellen. Grob gesagt geht es um nationalistische Konflikte, die Entstehung einer Zivilgesellschaft und die damit einhergehenden Ansprüche an die Regierungen, soziale Unruhen durch die sich verändernden Arbeitsumstände und die beginnende Emanzipation der Arbeiter und die Gegenreaktion des Bürgertums sowie die letzte europäische Hungersnot.

Danach postuliert er eine ideale Abfolge von Schritten, die Revolutionen von 1848/49 (und dem Anspruch nach letztlich alle folgenden ebenso) durchliefen. es beginnt mit den eigentlichen revolutionären Unruhen, die üblicherweise durch irgendwelche willkürlichen Elemente wie einen abgegebenen Schuss ausgelöst werden. Die eher nicht sonderlich revolutionsaffinen Liberalen werden durch die folgende Begeisterungswelle mitgetrieben. Darauf folgt eine Periode der Liberalisierung: aus Furcht ernennen die Monarchen liberale Minister und erfüllen einige Kernforderungen. Diese Epoche ist auch als Völkerfrühling bekannt.

Allein, sie dauerte nie lange. Stattdessen war sie stets von einer Phase der Polarisierung gefolgt, in der die überraschend erfolgreichen Revolutionäre sich untereinander bekämpften, weil sie sich nicht über die Richtung einig waren. Die folgende Reaktion des Adels war deswegen von Erfolg gekrönt, konnte er aber auch auf eine wesentlich bessere Ausgangslage durch höhere Organisation und klarere Ziele zurückgreifen. Am Ende stand die Zerstörung der Revolution.

Rapport beschließt sein Essay mit der Feststellung, dass ich von der radikalen Linken bis zur radikalen Rechten praktisch sämtliche Bewegungen auf die Ideale von 1848 berufen können. Die Revolution dient also als eine Art Spiegel, in dem alle erkennen, was Sie erkennen möchten.

Einen Überblick über die gesamte Forschung zum Thema 1848 gibt Theo Jung in „Fragen an 1848/49 – Ein Forschungsüberblick„. Er beginnt direkt mit den revolutionären Ereignissen selbst, die zu einer Zeit praktisch ausschließlich unter dem Eindruck ihres Scheiterns betrachtet wurden. Die ersten deutschen Betrachtungen der Revolution betonen, dass ja quasi nur nutzloses Geschwätz herausgekommen wäre. diese parlamentsfeindliche Ansicht einte links (Marx) wie rechts. Einige Veteranen der Revolution sahen dann mit der Reichsgründung das revolutionäre Projekt quasi nachträglich erfüllt; die prorussische Geschichtsschreibung versuchte ohnehin, es in den entsprechenden Kontext einzuordnen. Für Kritiker des kaiserlichen Obrigkeitsstaats wie Heinrich Mann waren die Liberalen von 1848 die zögerlichen Übeltäter, die eine große Chance hatten vergehen lassen und die Deutschland auf den unseligen Pfad gesetzt hatten – quasi ein Sonderweg, der 1848 begann.

Die Revolution von 1918/19 brachte dann ein neues Interesse an den revolutionären Ereignissen von 1848 hervor. Die Demokraten von Weimar versuchten, eine Traditionslinie zu 1848 zu bilden. Für die Gegner der Weimarer Republik, vor allem von rechts, bestätigt sich diese Traditionslinie allerdings vor allem darin, dass erneut ein „undeutsches“ Parlament vor die Entscheidungen aus „Blut und Eisen“ gesetzt worden war und nun nutzlose Reden schwang. Wie die Nationalsozialisten zum Thema standen, muss wohl nicht gesondert erwähnt werden.

Die deutsche Teilung brachte es mit sich, dass die Perspektiven auf 1848 stark divergierten. Jung spricht hier von einer Arbeitsteilung: während die Forschung in der DDR die Rolle des Heckerzugs, der Barrikadenkämpfer und der frühen Arbeiterbewegung betonte, stellte die Forschung der BRD Kontinuitätslinien zum Grundgesetz her. Von Seiten Westdeutschlands aus fand ab den 1970er Jahren mit dem Aufschwung der Gesellschaftsgeschichte zunehmend eine Synthese statt, die ihren Höhepunkt mit Hans Ulrich Wehler fand.

Das Jubiläum 1998 führte zu einer wahren Flut von Veröffentlichungen, die bisher unerreicht ist und das Thema für viele Nachwuchshistoriker*innen karrieretechnisch unattraktiv machte. Zwar wurden viele Forschungslücken in der Zwischenzeit geschlossen; große Überblickswerke allerdings fehlen. Jung schrieb diesen Artikel allerdings vor den Veröffentlichungen etwa Christopher Clarks, die er am Horizont dräuend erwähnt.

Die Rolle einer marginalisierten (politischen) Minderheit beschreibt Kerstin Wolff in „Frauen und die Revolution – 1848 als Frauenaufbruch„. Frauen spielten keine allzu große Rolle in der Revolution von 1848, besaßen sie doch weder das Aktive noch das passive Wahlrecht. Die Sitten der Zeit erlaubten ihnen auch kaum aktive politische Betätigung. Nichtsdestotrotz spielten sie eine aktivere Rolle als je zuvor in der deutschen politischen Geschichte. Besonders bekannt und berühmt ist ihre Teilnahme an den Barrikadenkämpfen, die unter den konservativeren Zeitgenossen (und das war die überwältigende Mehrheit) für scharfe Ablehnung und allerlei wilde Vorstellungen sorgte. Einige wenige Frauen bemühten sich auch um eine formelle Teilnahme am politischen Prozess und beklagten ihren Ausschluss aus demselben.

Die meisten jedoch kleideten ihr neues politisches Bewusstsein in geschlechterrollenverträgliche Formen. Dazu gehörte etwa das Abnehmen von Schwüren der neuen Bürgermilizen, dass diese sowohl Vaterland als auch Frauen mit ihrem Leben beschützen würden und das Überreichen der Fahnen. Auch das Herstellen schwarz-rot-goldener Wimpel und das stolze Tragen der nationalen Farben gehörten zu diesem Spektrum.

Zuletzt sollte nicht vergessen werden, dass die kleine Minderheit aktiverer Frauen ihre Arbeit fortsetzen würde. Louise Otto-Peters würde im Kaiserreich noch viel aktivistische Arbeit für die Sache der Frauen machen. Insgesamt aber bleibt die Rede vom Frauenaufbruch arg übertrieben: genauso wenig wie Olympe de Gouges einen Frauenaufbruch in der französischen Revolution bedeutete, tat Otto-Peters dies für die Revolution von 1848. Man muss vorsichtig damit sein, das absolut notwendige Anliegen der Sichtbarmachung von Frauen in der Geschichte zu überziehen, indem man versucht, den heutigen politischen Wunsch auf die Vergangenheit zurückzuprojizieren.

Jungs Theorie endete ja mit der Zerstörung der Revolution. Heike Bungert macht im Endeffekt dort weiter, indem sie nachforscht, wie es den politischen Flüchtlingen in die USA erging: in „Deutsche „Forty-Eighters“ in den USA“ schaut sie auf die Lebenswege einiger bekannterer solcher liberaler Flüchtlinge. Zwar sagt sie zu Beginn direkt, dass man sich hüten muss, eine zu hagiografische Erfolgsgeschichte zu schreiben, gleichwohl sorgt ihre Konzentration auf die bekanntesten Vertreter wie Carl Schurz oder Franz Sigl dafür, dass genau dieser Effekt eintritt. Allerdings gelingt ihr sehr gut die Balance zwischen den biographischen Überblicken einerseits und den strukturellen Erfolgen der Emigrant*innen im deutsch-amerikanischen Einwanderndenmilieu.

Diese strukturellen Erfolge finden sich hauptsächlich im Bildungsbereich. So waren die Emigrant*innen treibende Kräfte beim Ausbau des Kindergartenwesens, dass sie zwar nicht alleine aus der Taufe hoben, wie manchmal behauptet wird, aber zumindest maßgeblich mit prägten und ihm dass sie zumindest einige reformerische Ideen wie zum Beispiel die Fröbels mitbrachten. Ebenso relevant war ihre Rolle innerhalb der deutsch-amerikanischen Gemeinschaft selbst. Sie übernahmen viele Zeitungen und Kultureinrichtungen und sorgten so für einen großen Zusammenhalt dieser Gemeinschaft, was schon alleine deswegen wichtig war, weil viele von ihnen kein Englisch sprachen und wohl auch nie richtig lernten.

Ich finde diesen Aspekt besonders interessant. Die USA besaßen zu jener Zeit keinerlei Einschränkungen für Einwanderung aus Europa. Anforderungen an die Integration, wie wir sie heute als selbstverständlich sehen würden – gerade was den Erwerb der Landessprache angeht – existierten überhaupt nicht und wurden offensichtlich auch nicht so als notwendig betrachtet. Gleichzeitig waren zumindest die politischen Flüchtlinge allerdings hervorragende und wertvolle Ergänzungen der amerikanischen Gesellschaft, weil sie als Liberale natürlich erstklassig in die USA passten. Ich bin daher sehr unsicher, ob sich aus ihrer Geschichte irgendwelche Schlussfolgerungen für heute ableiten lassen – spannend ist die Frage dennoch trotzdem.

Der letzte Essay, „Demokratiestärkung durch Demokratiegeschichte? Beispiel 1848/49„, stammt von Michael Parak und beschäftigt sich mit der Frage, wie man mit der Erinnerung an 1848 erinnerungspolitisch umgehen soll. Er weist gleich zu Beginn darauf hin, dass unterschiedliche Demokratievorstellungen einerseits in unserer Gegenwart herrschen, andererseits aber sich Demokratievorstellungen generell über die Zeit geändert haben. Da 1848 vor allem aus dem Demokratiebildungsauftrag der Schulen gelesen wird, sieht er hier auch eine der großen Chancen des Themas, indem man die Ereignisse nutzt, um die Vielfältigkeit des Demokratiebegriffs herauszuarbeiten. Dadurch werde deutlich gemacht, dass Demokratie nie ein Endstatus ist, sondern vielmehr stets neu ausgehandelt werden muss.

Dazu biete 1848 relevante Lektionen über die Notwendigkeit, Demokratie zu erkämpfen und auch mit Rückschlägen fertig zu werden. Auch könne man viel über die Notwendigkeit und die Schwierigkeit sowie die Möglichkeiten zur Etablierung von Demokratie erlernen.

Er verortet 1848 in der Phase des Demokratie Etablierens, die gleichwohl gescheitert sei und so etwa Vergleichspunkte zum arabischen Frühling biete. Ich bin unsicher, inwieweit ich dem durchaus zustimmenswerten Ziel, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Verteidigung von Demokratie zu wecken und zu erhalten, die Verankerung in den Ereignissen von vor 175 Jahren anhängen möchte. Der Vergleich kann Instruktiv sein, aber auch einschnürend wirken, wenn man ihn allzu wörtlich nimmt. Die Bedeutung von marginalisierten Minderheiten lässt sich dagegen problemlos, wie der Autor vorschlägt, genauso wie ihre Emanzipation am Beispiel von 1848 erarbeiten. Die Essays dieses Bandes haben dafür ja Beispiele geliefert. Das abschließende Plädoyer, sich Handlungsspielräume bewusst zu machen und stets neu zu erkämpfen, kann ich jedenfalls nur unterstreichen.

Aus Politik und Zeitgeschichte – Deutsche Außenpolitik

Außenpolitik ist in Deutschland seit Beginn des Ukrainekrieges wieder ein wichtigeres Thema geworden, das in größeren Teilen der Öffentlichkeit Interesse findet. Der vorliegende Band von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ versucht sich daher in einer Bestandsaufnahme der deutschen Außenpolitik. Dass sich die Außenpolitik mittlerweile vom Außenministerium in Richtung der Fachministerien und vor allem des Kanzleramts verschoben hat, ohne dass es darüber zu einer Neustrukturierung des Auswärtigen Dienstes gekommen wäre, trägt zu der unübersichtlichen Lage deutscher Außenpolitik bei. wie aber ist im Jahr 2023 die Situation generell?

Der erste Essay des Bandes besteht in Wirklichkeit aus vier kleinen Essays, die sich alle mit verschiedenen Sichten auf „Partner Deutschland“ beschäftigen, die zur Stunde besonders relevant sind. Alyona Getmanchuk beschreibt in „Partner im Krieg, Partner für Frieden – Das Deutschlandbild in der Ukraine“ die Sicht aus Kiew. Das dortige Deutschlandbild sei vor dem Krieg überragend positiv gewesen; vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Rechtsstaat, Infrastruktur und Verwaltung – eigentlich alles außer dem Militär – habe man in Deutschland als Vorbild betrachtet. Inzwischen ist das Bild etwas komplexer geworden, weil deutsche Militärhilfe eine so große Bedeutung angenommen hat und man gleichzeitig über ihr geringes Ausmaß enttäuscht ist (egal, wie berechtigt diese Enttäuschung sein mag). Neben dieser Unterstützung im Krieg hofft man in Kiew natürlich besonders auf Hilfen ihm beim Wiederaufbau nach dem Krieg.

In „Im Zeichen historischer Traumata – Das Deutschlandbild in Polen“ beschreibt Jarosław Kuisz das schwierige Verhältnis mit Warschau. Die dortige Politik betrachtet Deutschland vor allem aus einem innenpolitischen Blickwinkel, und aus diesem heraus ist es immer lohnenswert, antideutsche Ressentiments zu schüren. Das ist völlig unabhängig von der außenpolitischen Bedeutung Deutschlands, die für Polen offensichtlich recht groß ist, wenngleich das Land unter anderem mit seinem Plan, größte konventionelle Militärmacht Europas zu werden, große Ambitionen verfolgt. die große Bedeutung Polens für Osteuropa lässt Kuisz fordern, das Land einerseits nicht zu vernachlässigen, ihnen andererseits aber auch befürchten, dass die Ressentiments und maximal fordernde Haltung Polens bei minimaler Kompromissbereitschaft für die Zukunft Probleme bereitstellen könnten.

Keine Betrachtung deutscher Außenpolitik kommt ohne Blick auf Frankreich aus. In „Das Ende des wohlwollenden Hegemons? Die Achse Paris-Berlin in Europa“ zeigt Eric-André Martin, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht mehr das ist was sie einmal war – wenn Sie das denn je war, denn die Rede vom „deutsch-französischen Motor“ gehört fix zur Folklore der Beziehungen zwischen Berlin und Paris. Dass die ständige Betonung der europäischen Souveränität durch Präsident Macron in Berlin auf wenig Gegenliebe stößt, ob nun unter Angela Merkel oder Olaf Scholz, und das Paris diese europäische Souveränität hauptsächlich in Begriffen der eigenen nationalen Interessen denkt, hilft genauso wenig wie der Wandel sowohl der Europäischen Union als auch des Rests der Welt, der die Bedeutung Frankreichs immer weiter in den Hintergrund gedrängt hat, eine Tatsache, der man sich im Elyseepalast hartnäckig verschließt.

Im Gegensatz dazu stehen die USA. Die Fragestellung „Bester Freund oder Freerider? Deutschlands Image in den USA“, die Peter Sparding aufwirft, hängt zu einem nicht unerheblichen Teil am aktuellen Bewohner des Weißen Hauses. Unter Donald Trump waren die deutsch-amerikanischen Verhältnisse eher angespannt (ebenso wie unter seinem Vorvorgänger, was gewisse Trends bei der Parteiaffiliation erkennen lässt), während Joe Biden als bekennender Transatlantiker ihr ein guter Freund für Deutschland ist und die zentrale Rolle des Landes für die amerikanische Außenpolitik betont. Im deutschen Selbstbild mag dies selbstverständlich sein; Sparding betont aber klar, dass dies vor allem am aktuellen diplomatischen Spitzenpersonal Washingtons hängt. Ein Wahlsieg Trumps 2024 würde die Lage drastisch verändern, und selbst unter einem anderen demokratischen Präsidenten wäre mit einer Fokusverschiebung nach Asien zu rechnen.

Alle vier dieser Mini-Aufsätze gib mir einen guten Überblick über die jeweilige Sicht auf Deutschland zu Beginn der 2020er Jahre, kommen aber kaum über gröbste Konturen hinaus. wer einen kompletten Neueinstieg in die Thematik macht, dürfte allerdings von den Fachbegrifflichkeiten und Andeutungen eher verwirrt sein; wer sich schon etwas mehr auskennt mehr Tiefe wünschen. Zumindest für mich ist klar, dass ich nicht Zielgruppe bin.

Angela Mehrer und Jana Puglierin betrachten dann Deutschland in Europa etwas näher. Die Autorinnen wagen dafür zuerst einen Rückblick in die Merkel-Ära. Unter der Kanzlerin spielte die Bundeswehr für die deutsche Außenpolitik keine große Rolle, um es milde auszudrücken. Stattdessen war Soft Power das Gebot der Stunde. Während ihr vermittelnder und oft kompromissbereiter Politikstil bei der Krisenbewältigung durchaus hilfreich war, schuf die deutsche Außenpolitik an anderer Stelle Irritationen, vor allem in Südeuropa in der Euro-Krisenpolitik und in Osteuropa bezüglich des Umgangs mit Russland. In beiden Fällen sind diese Irritationen mit Sicherheit nicht unbegründet gewesen.

Zu Beginn der Ampelkoalition hatte Olaf Scholz eine Kontinuität mit dieser Außenpolitik angekündigt, die mit Beginn des Ukrainekrieges schlagartig hinfällig geworden war. Die Marginalisierung des Auswärtigen Amtes, wo die grüne Amtsinhaberin andere Ansätze verfolgt hätte, geriet jetzt zu einem schweren Nachteil: die Krise überraschte die deutsche Außenpolitik und ließ sie ohne ernsthafte Alternative dastehen. Der radikale Kurswechsel der Zeitenwende kam abrupt und ohne Koordination mit den europäischen Partnern, ein Trend, den Scholz in Zukunft immer wieder bestätigen sollte und der Deutschland immer wieder isoliert dastehen ließ. Die vollmundige Ankündigung, eine stärker an deutschen Interessen ausgerichtete Europapolitik betreiben zu wollen, war nicht durch Substanz gedeckt und sorgte deswegen immer wieder für Verstimmungen in Europa.

Der Aufsatz enthält viele relevante Punkte zum Verhältnis Deutschlands mit Frankreich, China, den USA, Russland, der Europäischen Union als Ganzem und so weiter. Gleichzeitig allerdings kommt er über extrem konsensfähige Allgemeinplätze kaum hinaus.

Ein ähnliches Problem hat „Über die Zeitenwende hinaus. Für eine neue deutsche Sicherheitspolitik“ von Claudia Major und Christian Mölling. In der Bubble der Sicherheitsexpert*innen sind die Defizite deutsche Sicherheitspolitik, vor allem ihre mangelnde strategische Unterfütterung und das „Fahren auf Sicht“ schon lange Thema und unumstritten, weswegen der Essay vor allem eine Auflistung von Desideraten der Sicherheitspolitiker*innen darstellt – unabhängig davon, wie notwendig und berechtigt diese sein mögen (und ich denke: sehr).

Der Artikel steckt voller Stilblüten wie „Die äußere Zeitenwende erfordert also auch eine innere Zeitenwende, und nur eine erfolgreiche deutsche Zeitenwende ermöglicht eine erfolgreiche europäische Zeitenwende“ und enthält zahlreiche Wortwolken, die den unangenehmen Eindruck hinterlassen, das hier vor allem Bedeutungsschwere simuliert werden soll, was umso merkwürdiger ist, als dass das eigentlich gar nicht notwendig ist. Majors und Möllings Forderungen und Analysen sind absolut stichhaltig und können auch alleine stehen.

Thorsten Brenner indessen beschreibt in „Von „umfassender strategischer Partnerschaft“ zu Systemrivalität – Für eine Chinapolitik ohne Illusionen“ einen wesentlich umstritteneren Gegenstand: die deutsche Chinapolitik. Brenner argumentiert klar gegen den Strohmann, dass jemand eine vollständige Entkopplung von China fordern würde, setzt sich aber deutlich dafür ein, das Land eher als Rivalen zu betrachten. Er macht sich dabei die Formel zu eigen, dass China gleichzeitig „Partner, Konkurrent und Rivale“ sei und erteilt Vorstellungen davon, eine strategische Partnerschaft mit China eingehen zu können (etwa im Bereich Klimawandel) eine klare Absage. Xi Xinping habe daran kein Interesse, was man seit 2013 gut beobachten könne, und verstoße zudem mit seiner Politik allzu oft gegen zentrale Menschenrechte (Stichwort Uiguren) und Abmachungen (wie etwa der Zwei-System-Status Hongkongs). Auch seine Aspirationen bezüglich Militärmacht und Taiwans sowie die offene Konkurrenz zu den USA unterstützten diese Sicht.

Ich kann dem wenig hinzufügen. Für mich ist offensichtlich, dass China uns wertemäßig entgegengestellt ist und wir uns in einer gewissen Systemkonkurrenz befinden. Diese lässt sich nicht von den anderen Interessenkonflikten trennen, die eher in der „harten“ Sphäre traditioneller Außenpolitik liegen.

Das führt direkt zum nächsten Essay von Mareike Fröhlich und Anna Hausschild, „Feministische Außenpolitik – Hintergründe und Praxis“. Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten mit diesem Begriff ja bereits in einem Artikel festgehalten. Auch in diesem Essay wird nicht wirklich offensichtlich, was man unter einer „feministischen Außenpolitik“ genau zu verstehen hat, was sich von einer wertebasierten oder wertegeleiteten Außenpolitik in den allgemeinen Werten, für die Bundesrepublik steht, unterscheiden würde.

Grundsätzlich umfasst das Konzept der feministischen Außenpolitik durch seinen intersektionellen Ansatz die Vorstellung einer Transformation bestehender Machtstrukturen, die aus unserer Wertesicht unerwünschtes Verhalten begünstigen oder hervorrufen. In dieser Lesart sind Unterdrückung, Krieg und Gewalt Ausfluss patriarchalischer Systeme, die durch die Ermächtigung von unterdrückten Minderheiten und ein auf Gleichheit und Gleichberechtigung basierendes System am wirkungsvollsten bekämpft werden können. Grundsätzlich teile ich diese Ansicht, habe allerdings meine Probleme damit, das Ganze zu sehr auf der feministischen Schiene unterzubringen. Mir scheint hier die Gefahr immer sehr groß, in eine monothematische Erklärung von Problemen zu kommen, die üblicherweise, ja eigentlich immer, extrem komplex und multikausal sind. Die Begrifflichkeit hat zudem den Nachteil, extrem große Widerstände zu mobilisieren.

Die feministische Theorie der internationalen Beziehungen hat zudem den Nachteil, stark von Fraktionskämpfen durchzogen zu sein, wie man sie im linken Spektrum leider häufig findet. Der vergleichsweise „realistische“ Ansatz der 3R (Rechte, Repräsentanz und Ressourcen, gerne ergänzt durch ein viertes R namens Realität), wie er von allen Regierungen verfolgt wird, die sich der feministischen Außenpolitik verschrieben haben, gilt den Purist*innen natürlich als Ausverkauf. Die Sektion des Essays, die sich mit der praktischen Implementierung der feministischen Außenpolitik seit 2021 beschäftigt, zeigt das ganze Dilemma unklare Definitionen und vor allem der fehlenden Gesamtstrategie deutlich auf.

Es fehle an einer Gesamtstrategie thematisiert dann auch der letzte Essay von Sarah Brockmeier, „Review 2024? Für eine Zeitenwende im Auswärtigen Amt“, das die Strukturen innerhalb des Auswärtigen Amtes unter die Lupe nimmt. Die schlechte und noch auf uralten Traditionen beruhende Gestaltung der Laufbahnen – oder, besser ausgedrückt das Fehlen von solchen – sorgt dafür, das die Diplomat*innen große Schwierigkeiten bei der Karriereplanung und die Institutionalisierung von Fachwissen haben. Ein mindestens ebenso großes Problem ist das Fehlen einer zentralen Koordinationsstelle deutscher Außenpolitik, in der Strategie formuliert werden könnte. Der viel zitierte und geforderte Nationale Sicherheitsrat ist und bleibt eine Totgeburt. Der Reformbedarf des Auswärtigen Amtes ist allen beteiligten Parteien grundsätzlich klar, wird aber immer in dem Moment ignoriert, da man das Amt selbst besitzt und versucht, die wenig vorhandene Macht soweit wie möglich zu behalten. Brockmeier Formuliert Reformvorschläge, die zwar mit Sicherheit nicht umgesetzt werden werden, aber einen Ausweg aus diesem Dilemma Bahnen könnten: kurz gesagt geht es darum, die Machtverschiebung auf das Kanzleramt und die Fachministerien als gegeben zur Kenntnis zu nehmen und dem auswärtigen Amt eine Explizitere Koordinations- und Beratungsrolle zu geben. Sinnvoll wäre das sicher, denn neben der problematischen Mentalität sind viele der heutigen Herausforderungen deutscher Außenpolitik hausgemacht und in den Strukturen begründet.

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