Rezension: Jürgen Osterhammel – Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 9)

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Jürgen Osterhammel – Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Als nächstes beschäftigt sich Osterhammel mit Energieregimen: das 19. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Energie gewesen. Die Erzeugung von Energie habe die Zeitgenossen in ihren Bann geschlagen. Erstmals war es möglich, die Grenzen der biologischen Energieerzeugung deutlich zu überschreiten. Dies ging allerdings deutlich langsamer vonstatten, als populäre Darstellungen der industriellen Revolution dies häufig suggerieren (eine Art Leitmotiv dieses Kapitels). Die Verbreitung der Kohle als Energiemittel etwa vollzog sich sehr langsam; erst ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war hier eine deutliche Zunahme sichtbar. Für das 19 Jahrhundert galt dasselbe auch für Erdöl. Stattdessen blieb Holz ein wichtiger Energieträger und die Kraft des Tieres eine wichtige Quelle von Energieerzeugung.

Entscheidend für die Verbreitung der furchtbar ineffizienten Dampfmaschine etwa war der Status des Kohlebergbaus (Bret Deveraux hat dies ja sehr gut beschrieben). Länder wie Japan, die kaum Kohlebergbau betrieben, Hulten die Industrialisierung daher erst später, dafür aber dank effizienterer Maschinen im Zeitraffer nach. Gerade in Japan setzte man vor allem auf Wasserkraft, was mir deutlich zu zeigen scheint, dass es unterschiedliche Wege zur Industrialisierung gibt. Auch Russland schimpfte lange Zeit sehr wenig Kohle, weil man hier staatlicherseits die Bedeutung der Montanindustrie verkannte. China hatte ein ständiges Problem mit dem Energiemangel, obwohl es nicht an natürlichen Ressourcen bezüglich Kohle gemangelt hätte: Hier war es das politische Chaos, das Transport und Ausbeutung nicht erlaubte.

Durch diese Entwicklung entstand, was Osterhammel einen „Energiegraben“ nennt: der Westen konnte in zunehmendem Maße auf fossil erzeugte Energie zurückgreifen, während der Osten auf biologisch erzeugte Energie beschränkt blieb. Dieses Phänomen sei nicht nur in der Rückschau erkennbar, sondern von den Zeitgenossen bereits so wahrgenommen worden und habe zu einer Änderung der Wahrnehmung der Welt geführt: der Westen galt als energisch, energiegeladen und jung, der Osten als rückschrittlich, schlaff und stagnierend. Was der Zugang zu Energie wurde somit auch rassistisch erklärt und begründet.

Osterhammel skizziert im folgenden einige Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung. Er verweist darauf, dass die Industrialisierungsniveaus in Europa sehr stark divergierten. In Lateinamerika so gab es zwar große Rohstoffexporte, aber keine eigene Schwerindustrie. Die aufstrebende Textilindustrie blieb fragmentiert und ohne Skalengewinne. In China blockierte der Staat die Industrialisierung und damit auch die Modernisierung lange und konnte, nachdem er ihre Notwendigkeit erkannt hatte, bis in die 1980er Jahre keine vernünftige Politik setzen. Indien habe eine quantitativ beeindruckende Baumwollindustrie aufgebaut, sonst allerdings nur wenig industrielle Entwicklung erreichen können. Dieses Scheitern bleibe schwer erklärbar, der einzelne unternehmerische Erfolge durchaus existierten und simple Kolonialismus kritische Erklärungsmuster nicht tragfähig seien.

Japan habe eine gute Verwaltung, inneren Frieden und einheitliche Binnenstrukturen aufweisen können, die Unzweifelhafte industrielle Entwicklung begünstigten. gleiches gelte aber für Teile Indiens und Chinas genauso, weswegen das zwar möglicherweise notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingungen darstellen würden. tragfähiger sei daher die Idee der Industrialisierung als ein nationales politisches Projekt. Japan etwa habe keine Abhängigkeit von ausländischem Kapital aufgewiesen, aber klare politische Rahmensetzungen geschaffen, eine leistungsstarke Finanzverwaltung mit effektiver Besteuerung aufgebaut und eine ausgeglichene Handelsbilanz ohne zu starken Exportfokus erreicht. Gleichzeitig habe im Land eine Industrious Revolution stattgefunden, die durch eine kulturell bedingte Zurückhaltung beim Luxuskonsum durch die Eliten begleitet worden sei.

Die Idee der Industrious Revolution er hält laut Osterhammel durch die Formel weitere Durchschlagskraft, dass der Staat der Wirtschaft auch in früheren Zeiten eigentlich nie im Weg stand, vor dieser Wandlung im Erwerbsstreben allerdings niemals dynamisches Wachstum erreicht worden sei.

Das leitet hervorragend zu Kapitel 12, „Arbeit„, über. Gearbeitet haben Menschen stets. das ist natürlich eine Binse, muss allerdings im Zusammenhang mit der industriellen Revolution durchaus noch einmal betont werden. was eine Trennung des 20. Jahrhunderts (und nicht des 19.!) gewesen sei, sei allerdings die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Diese sei ohnehin nur in wenigen Regionen der Welt jemals so klar erreicht worden wie im Westen.

Im 19. Jahrhundert bestand ein Großteil der Arbeit immer noch aus landwirtschaftlicher Arbeit. das Phänomen des „Bauern“ allerdings war ein extrem vielschichtiges. Die Theorie der Agrargeschichte oszilliere laut Osterhammel über die Jahrzehnte immer wieder zwischen einem gemeinschaftlich organisierten ideal der agrarischen Gemeinschaft, das praktisch keine Berührungspunkte zum Kapitalismus besitzt, und der Vorstellung des Bauern als Agrarunternehmer, der ihnen Kategorien von Angebot und Nachfrage denke.

Wichtig für das Verständnis der Agrargemeinschaften sei das Dorf. dies sei umso relevanter, je mehr das Dorf eine staatlich anerkannte Verwaltungseinheit gewesen sei. in Japan etwa war dies in großem Ausmaß der Fall, in China hingegen überhaupt nicht. Damit korrespondierten unterschiedliche Vorstellungen von Privatbesitz. So war in China fast alles Land in Privatbesitz, in Japan dagegen häufig im Besitz der Dorfgemeinschaft. Osterhammel streift auch kurz andere Formen bäuerlicher Arbeit. Da wären etwa die Plantagen (sehr kapitalistisch organisiert, da sie einen hohen Kapitalbedarf hatten), die auch ohne koloniale Strukturen vorkamen, wie man am Beispiel Ägypten sehr gut beobachten könne. eine andere Form waren die Haciendas, wie sie etwa in Lateinamerika noch häufig zu finden waren. diese Unterschieden sich von Plantagen durch ihre eher Normen- und kreditgebundene Natur aus gegenseitigen Schuldverhältnissen, die das vorhandene Kapital deutlich begrenzte (allerdings auch die Ausbeutung) und so ein eher rückständiges Wirtschaftsmodell darstellte.

Im Handwerk sei die vorindustrielle Arbeitsweise weiterhin beherrschend gewesen. Als ein dominantes Beispiel nennt Osterhammel hier die Schmiede: sie seien oft über lokal tätig gewesen und mit der bemerkenswerten Ausnahme Chinas sehr angesehen. Ein anderes Phänomen waren die Werften, in denen als erstes Frühformen organisierter Arbeit zu beobachten sind, weil hier permanent Fachkräfte tätig waren.

Das Phänomen Fabrik sei dagegen kein rein städtisches gewesen, auch wenn das Klischee anderes vermuten lasse. Stattdessen in stünden Städte häufig um Fabriken herum oder aber die Fabriken waren auf dem flachen Land zu finden und von der restlichen Gesellschaft weitgehend abgeschottet. Ohnehin sei die Fabrikarbeit viel stärker ein Übergangsphänomen gewesen, als die vereinfachenden Darstellungen dies häufig vermuten ließen. Menschen arbeiteten phasenweise in eher temporär aufgestellten Fabriken. Die Neuartigkeit der Erfahrung der Fabrikarbeit oder so durch improvisierte Mischformen abgemildert.

Die prototypisch zitierten Stahlwerke habe es nur in sehr wenigen Ländern und dort auch nur in sehr geringer Zahl gegeben. Die meisten Menschen arbeiteten in anderen Branchen und im 19. Jahrhundert generell nicht in Fabriken. Dies sei, genauso wie die Konzentration auf die großen und ikonischen Stahlwerke, ein Klischee. Wesentlich relevanter für die Alltagserfahrungen der Menschen waren die Großbaustellen bis 19. Jahrhunderts. Hier wurden Massen ungelernte Wanderarbeiter in großer Zahl zu furchtbaren Arbeitsbedingungen beschäftigt. Die beiden größten Projekte solcher Großbaustellen waren der Eisenbahn- und der Kanalbau. Beide waren für die Infrastruktur der Industrialisierung unerlässlich. Für die Arbeiter*innen War diese Arbeit eine Tortur, die Allzuhäufig mit Verstümmelung oder Tod endete und die keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten bot.

Eine weitere Arbeitsform, die im 19. Jahrhundert noch signifikante Mengen von Menschen beschäftigte, war die Schifffahrt. Zwar fand langsam ein Wandel zur weniger Personalintensiven Dampfschifffahrt statt, aber trotzdem blieb die Menge der benötigten Matrosen weiterhin hoch. Die Arbeit auf den Schiffen gehörte zu den härtesten, eintönigsten und gefährlichsten, die sich denken ließ. Entsprechend unbeliebt war sie. ganz besonders furchtbar muss die Arbeit auf den Walfängern gewesen sein. Hier kamen zu den üblichen Schwernissen der Segelschifffahrt noch die lange Zeit auf dem Meer und die permanent brennenden Öfen hinzu.

Gleichzeitig war das 19. Jahrhundert der Beginn der großen Büroarbeit. War der Sekretär früher ein hochrangiger Posten, gut bezahlt und mit exklusivem Zugang zu den Mächtigen und nur von wenigen Spezialisten ausgeübt, wurde er nun zu einem schlecht bezahlten Job des Stehkragenproletariats, der wie so häufig zunehmend von Frauen ausgeübt wurde. Generell waren die meisten Jobs in der Verwaltung eher schlecht bezahlt und unterschieden sich von den Industriejobs hauptsächlich dadurch, dass man nicht körperlich gefährdet war und nicht schmutzig wurde.

Ein weiteres Arbeitsmerkmal des 19. Jahrhunderts waren die Dienstbotenverhältnisse. während die Zahl der Dienstboten in der Oberschicht, die bis dato alle möglichen Arten von Dienstboten vom Küchengehilfen bis zum Kapellmeister beschäftigt und so ihren Status kenntlich gemacht hatte, langsam abnahm (was manche Jobs praktisch völlig zerstörte), nahm die Zahl der Dienstboten dafür in der sich neu bildenden Mittelschicht dramatisch zu. Gleichwohl ging dabei etwas Differenzierung zwischen den verschiedenen Dienstverhältnissen verloren, da selbst in den reicheren Mittelschichtenhaushalten wenig Bedarf für Orchester bestand.

Der letzte Aspekt, dem sich Osterhammel detailliert widmet, ist der Unterschied zwischen freier und unfreier Arbeit. Sklaverei existierte in verschiedenen Formen in großen Teilen der Welt des 19. Jahrhunderts, wurde in seinem Verlauf aber nach und nach durch eine rechtliche Revolution abgelöst, die mit Ausnahme Haitis allerdings von keiner soziale Revolution begleitet wurde. Das garantierte, dass die befreiten Sklaven eine marginalisierte und chancenlose Unterschicht blieben.

Das 19. Jahrhundert war auch das Ende der Leibeigenschaft: zu seinem Beginn existierte sie noch in großen Teilen Europas und Asiens, zu seinem Ende war sie offiziell weitgehend abgeschafft, wenngleich etwa in Russland die feudalen Schuldverhältnisse immer noch in abgeänderter Form fortbestanden und zu weitreichendem Unmut Anlass gaben.

Generell postuliert Osterhammel, dass „freie Arbeit“, wie sie von liberalen Vordenkern propagiert wurde, in verschiedensten Mischformen von unfreier Arbeit begleitet wurde. So etwa war die Indentur ein Phänomen, das durch die liberale Ideologie einerseits und rassistische Status Notwendigkeiten andererseits im frühen 19. Jahrhundert weitgehend abgeschafft wurde, bin gleich verschiedenste Zwangsverhältnisse ob auf dem Land mit der Gesindeordnung oder in den Fabriken durch praktisch unbeschnittene Vorrechte der Unternehmer fortbestanden. Osterhammel erklärt auch klar, dass unfreie Arbeit nicht ineffektiver war als freie Arbeit. Es gab also keinen ökonomischen Impetus zu ihrer Abschaffung, sondern nur einen moralischen. Dies erklärt auch, warum sie sich so lange hielt und selbst bis heute weiter existiert. Apple etwa kennt und nutzt diese Formen ja durchaus auch noch für die Produktion der modernen Smartphones.

Weiter geht’s in Teil 10.

{ 6 comments… add one }
  • Tim 4. September 2023, 09:53

    Damit korrespondierten unterschiedliche Vorstellungen von Privatbesitz. So war in China fast alles Land in Privatbesitz, in Japan dagegen häufig im Besitz der Dorfgemeinschaft.

    Das ist ein sehr interessantes Detail. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es eine etablierte Strategie, mit der ein Land zu Wohlstand kommen kann: Es muss auf gesichertes Privateigentum, effiziente Bürokratie und Bildung setzen.

    Dass gerade das industriell so erfolgreiche Japan noch im 19. Jahrhundert auf ein vormodernes Eigentumskonzept setzte, finde ich etwas überraschend.

    • schejtan 4. September 2023, 11:25

      In Singapur sind 90% des Landes in Staatsbesitz. Und quasi alle Immobilien, wobei die fuer 99-jaehrige Leaseholds an Privatpersonen „verkauft“ werden.

      • Tim 4. September 2023, 12:30

        Ah, es ging ja ausdrücklich nur um Landbesitz. Hatte ich im Eifer des Gefechts überlesen.

      • Thorsten Haupts 4. September 2023, 12:44

        Ja. Das ist auch der Grund, warum ich für Landbesitz eine Ausnahme vom Privateigentumsplädoyer machen würde – Land ist nicht vermehrbar, also kann es auch keine offene Konkurrenz geben. Ich finde das Modell mit staatlichem Landbesitz und Long Time Leases ziemlich überzeugend.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 5. September 2023, 07:07

      Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen, würde ich sagen.

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