Bohrleute 52: Patriotismus, kann man das essen?, mit Ariane Sophie

Aus einer Blogdiskussion hat sich die Frage entspannt, was Patriotismus eigentlich genau ist – heute wie damals. Wie könnte ein moderner, inklusiver deutscher Patriotismus aussehen, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist? Darüber diskutiere ich mit Ariane Sophie.

~

Shownotes:

Der Autor äußert in seinem Artikel nostalgische Gefühle gegenüber dem Patriotismus, der einst in Amerika verbreitet war, aber heute vermisst wird. Als er an einem Strand in Rhode Island entlangfuhr und das Lied „Take Me Home, Country Roads“ von John Denver hörte, fühlte er plötzlich eine tiefe Verbundenheit mit Amerika und vermisste das Gefühl des patriotischen Stolzes. Er erinnert sich auch an seine Erfahrungen während eines Aufenthalts in der Sowjetunion in den 1980er Jahren, wo er die Unterdrückung und Propaganda des kommunistischen Regimes erlebte. Damals fühlte er eine starke Verbundenheit mit anderen Amerikanern, als ob sie in einer feindlichen Umgebung aufeinandertreffen würden. Heute sieht er jedoch eine tiefe Spaltung und Feindseligkeit unter den Amerikanern, die sich in politischen Lagerkämpfen manifestiert. Er hofft, dass die Menschen an diesem 4. Juli ihre Differenzen für einen Tag beiseitelegen und sich als Amerikaner vereint fühlen können.

Das Theaterstück „Dear England“ im Londoner National Theatre spielt eine zentrale Rolle bei der Neubewertung der englischen Flagge, des St. George’s Cross. Es erzählt die Geschichte der Fußballnationalmannschaft Englands, insbesondere des Trainers Gareth Southgate, der 1996 durch das Verschießen eines Elfmeters bei der Europameisterschaft an nationaler Demütigung teilnahm. Obwohl England seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1966 keinen bedeutenden Titel mehr gewonnen hat, hat Southgate das Team zu einer Quelle nationaler Hoffnung gemacht. Er hat die Spieler von der Zielscheibe des Spotts zur Vorbildrolle erhoben und einen Patriotismus geschaffen, der über Rassenunterschiede hinweggeht und traditionelle Werte wie harte Arbeit, Opferbereitschaft und Mut verkörpert. Southgate hat eine Mannschaft geformt, die von einer breiten Bevölkerungsmasse unterstützt wird und die Vielfalt und Einheit des Landes repräsentiert. Trotz Kritik von verschiedenen Seiten hat er die Bedeutung des Kampfes gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit betont. „Dear England“ stellt die Frage, ob England seine Vergangenheit akzeptieren und sich mit Demut und harter Arbeit zu einer neuen Identität entwickeln kann, die sowohl Tradition als auch Fortschritt umfasst.

Der Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Patriotismus und Nationalismus in Deutschland, insbesondere im Zusammenhang mit Fußballveranstaltungen. Es wird darauf hingewiesen, dass viele Politiker und Journalisten den Patriotismus der deutschen Fußballfans während der Weltmeisterschaften 2006 und 2010 als harmlos und positiv betrachteten. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass der Begriff Patriotismus oft falsch verwendet wird und dass eine starke Identifikation mit dem eigenen Land negative Auswirkungen haben kann, insbesondere wenn sie mit Nationalismus einhergeht. Studien zeigen, dass Nationalismus mit Fremdenfeindlichkeit verbunden ist, während Patrioten tendenziell weniger fremdenfeindlich sind. Die Bedeutung von demokratischen Prinzipien für Patrioten spielt dabei eine wichtige Rolle. Es wird auch darauf hingewiesen, dass der „Party-Patriotismus“ während sportlicher Großveranstaltungen oft mit einem Mitläufer-Effekt einhergeht und nicht unbedingt eine echte Verbundenheit zum Land widerspiegelt. Die Forscher betonen, dass eine zu starke Identifikation mit dem eigenen Land die Gefahr von Ausgrenzung und negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft birgt. Sie warnen vor einer rückwärtsgewandten Orientierung und betonen die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit. Die Verwendung nationaler Symbole kann zur Normalisierung von Nationalismus beitragen und eine antimoderne Stimmung fördern. Es wird auch auf die Bedeutung des Selbstverständnisses von Staatsbürgerschaft in Deutschland hingewiesen, das immer noch stark von der Abstammung geprägt ist. Die multiethnische Zusammensetzung der deutschen Nationalmannschaft hat keine größere Toleranz in der Gesellschaft zur Folge. Es wird darauf hingewiesen, dass politische Erklärungen und Identitätskampagnen in Zeiten sozialer Unsicherheit problematisch sein können und zu Ausgrenzung führen können. Die Forscher betonen, dass das Anfeuern einer Mannschaft und das Hoffen auf ihren Sieg auch ohne nationale Insignien möglich ist und dass das Motto „Möge am Ende der Bessere gewinnen“ gelten sollte.

Es scheint, dass der Text einen Blick auf den deutschen Patriotismus während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wirft. Die WM wird als ein Ereignis dargestellt, das den Deutschen ein Gefühl der nationalen Einheit und des Patriotismus vermittelt hat. Es wird darauf hingewiesen, dass die Deutschen während des Turniers ihre Nationalfahnen mit Begeisterung geschwenkt haben, ohne dabei die negativen Assoziationen mit dem Nationalismus der Nazi-Zeit zu berühren. Die WM wurde als ein Moment der Freude, des Stolzes und der positiven Selbstwahrnehmung für Deutschland und sein Volk betrachtet. Es wird auch darauf hingewiesen, dass sich das Land seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Mauer in einem Prozess der Selbstfindung und Selbstakzeptanz befand. Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde als eine neue Konstituierung der Nation angesehen, und jüngere Generationen fühlten sich frei von den Lasten der Vergangenheit, aber dennoch bewusst über die Nazi-Zeit. Es wird betont, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine „geglückte Demokratie“ geworden ist und dass das Land international an Ansehen und Glaubwürdigkeit gewonnen hat. Die Fußball-Weltmeisterschaft wurde als ein Symbol für den positiven Wandel und die Normalisierung Deutschlands gesehen. Die Fans wurden als begeistert, fröhlich und unkompliziert beschrieben, und die WM wurde als ein Moment der Einheit und des Feierns der deutschen Geschichte und Kultur betrachtet. Die Veranstaltung wurde auch als Möglichkeit wahrgenommen, der Welt zu zeigen, dass Deutschland ein erfolgreiches und demokratisches Land ist. Trotzdem wird betont, dass der deutsche Patriotismus keine feste Ideologie ist und dass die Suche nach nationaler Identität und Zugehörigkeit weitergeht. Der Text betont, dass die Deutschen immer noch nach ihrem Platz in der Welt suchen und dass der Prozess der Selbstfindung noch nicht abgeschlossen ist. Es wird darauf hingewiesen, dass Deutschland ein Land des Werdens ist und dass die Deutschen weiterhin ihr Selbstverständnis definieren müssen. Dennoch wird die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als ein Moment des nationalen Stolzes und der positiven Selbstwahrnehmung in der deutschen Geschichte betrachtet.

Ralf Raths, Direktor des Deutschen Panzermuseums, hat ein Video auf YouTube veröffentlicht, in dem er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Woke & Wehrhaft“ trägt und den Hintergrund erläutert. Das T-Shirt zeigt ein verkürztes Zitat von Carlo-Antonio Masala, einem Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Das T-Shirt kann nun im Shop des Panzermuseums erworben werden. Raths reflektiert darüber, wie wichtig es ist, in der Bundeswehr die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu wahren und betont, dass ein Gefühl des Wohlbefindens und moralischer Werte entscheidend für effektiven und zuverlässigen Dienst sind.

Die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, die CDU/CSU, hat einen Vorschlag zur Stärkung des deutschen Patriotismus vorgelegt. Im Kern geht es darum, den „Tag des Grundgesetzes“ zu einem nationalen Gedenktag aufzuwerten und ein Bundesprogramm für Patriotismus einzuführen. Die CDU/CSU möchte die ganzjährige Sichtbarkeit nationaler Symbole im öffentlichen Raum erhöhen, die Nationalhymne häufiger bei öffentlichen Anlässen singen und die Verbindung zwischen Bundeswehr und Zivilgesellschaft stärken. Zudem soll der „Tag der Deutschen Einheit“ als verbindender nationaler Erlebnismoment gefeiert werden. Die Partei möchte auch Einwanderer ansprechen und ihre Identifikation mit dem deutschen Staat stärken. Damit will die CDU/CSU auch versuchen, den Nationalstolz von rechtsextremen Parteien wie der AfD zurückzugewinnen. Allerdings gibt es Bedenken, ob diese Maßnahmen ausreichen, um die Zustimmung der AfD-Wähler zurückzugewinnen. Die AfD hat in den Umfragen zuletzt stark zugelegt und ihre Zustimmungswerte waren noch nie so hoch. Kritiker argumentieren, dass Patriotismus nicht von oben verordnet werden kann und dass es wichtig ist, die historische Verantwortung nicht zu leugnen. Der Umgang mit deutschem Patriotismus ist in Deutschland aufgrund der Geschichte und der politischen Vereinnahmung durch rechtsextreme Gruppierungen komplex. Die Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold haben eine wechselhafte und politisch aufgeladene Geschichte. Erst vor zwei Jahrzehnten begannen die Deutschen unverkrampfter mit ihren Nationalfarben umzugehen, vor allem im Kontext von Sportveranstaltungen. Die CDU/CSU versucht nun, den Patriotismus von der extremen Rechten zurückzuerobern und den Verfassungspatriotismus zu stärken. Allerdings bleiben Zweifel, ob dies erfolgreich sein wird und ob Patriotismus überhaupt von der politischen Mitte verordnet werden kann.

Der Begriff „Patriotismus“ hat in den letzten Jahren an Ansehen verloren und wird oft mit nationalistischen oder populistischen Bewegungen in Verbindung gebracht. Die politische Instrumentalisierung durch solche Gruppen hat dazu geführt, dass viele Menschen zögern, sich selbst als Patrioten zu bezeichnen. Besonders in Deutschland ist der Begriff aufgrund der historischen Belastung durch den Nationalsozialismus und der Teilung des Landes sensibel. Patriotismus bedeutet jedoch nicht zwangsläufig Nationalismus oder Chauvinismus. Es geht vielmehr um eine positive Verbundenheit mit dem eigenen Land und dem Einsatz für das Gemeinwohl. Es beinhaltet die Verantwortung, Freiheit und Demokratie zu schützen, zur Einheit und zum Zusammenhalt beizutragen sowie die Würde aller Menschen zu respektieren. Patriotismus erfordert, die eigene Geschichte anzuerkennen, sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte. Es geht darum, aus der Vergangenheit zu lernen und sich für eine bessere Zukunft einzusetzen. Es ist wichtig, die Grundwerte des eigenen Landes zu achten und gleichzeitig offen für den Dialog und den Respekt vor anderen Kulturen zu sein. Soldaten spielen eine besondere Rolle im Verständnis des Patriotismus. Sie dienen dem demokratischen Staat und tragen dazu bei, Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten. Ihre Verantwortung erstreckt sich auch auf die internationale Ebene, um Frieden, Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu fördern. Patriotismus sollte differenziert und sachlich diskutiert werden. Es erfordert, sich aktiv in die Gestaltung des Staates einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Dabei sollten die Menschenwürde geschützt und der Zusammenhalt in der Gesellschaft geübt werden. Die nationale Identität basiert nicht nur auf der Verfassung, sondern auch auf gemeinsamer Sprache, Geschichte und Erinnerung. Patriotismus beinhaltet, die eigenen Wurzeln zu respektieren und gleichzeitig offen für die Integration von Menschen aus anderen Kulturen zu sein. Der Zusammenhalt der Gesellschaft sollte trotz Veränderungen bewahrt werden, indem man von einem festen Standpunkt aus aktiv daran arbeitet. Insgesamt geht es beim Patriotismus darum, das Beste für das eigene Land anzustreben und gleichzeitig den Respekt und die Achtung für andere Völker und Kulturen aufrechtzuerhalten. Es ist eine Balance zwischen Stolz auf die eigene Nation und dem Bemühen um ein friedliches und gerechtes Miteinander.

~

{ 62 comments… add one }
  • Erwin Gabriel 14. Juli 2023, 08:17

    Da diskutieren die beiden richtigen … 🙂

    • Stefan Sasse 14. Juli 2023, 13:12

      Du darfst gerne mitmachen. ^^

      • ERwin Gabriel 14. Juli 2023, 14:06

        @ Stefan Sasse 14. Juli 2023, 13:12

        Du darfst gerne mitmachen. ^^

        Dann würden die drei Richtigen miteinander diskutieren … 🙂

        Wie schon geschrieben wurde mir Patriotismus von Kindesbeinen an ausgetrieben.

  • schejtan 14. Juli 2023, 09:53

    Die Forscher betonen, dass das Anfeuern einer Mannschaft und das Hoffen auf ihren Sieg auch ohne nationale Insignien möglich ist und dass das Motto „Möge am Ende der Bessere gewinnen“ gelten sollte.

    Das zeigt mir vor allem, dass diese Forscher den gemeinen Fussballfan ungefaehr genauso gut verstehen, wie Fussball“journalisten“ und Menschen, die dachten, dass die Super League eine gute Idee sei.

    • Erwin Gabriel 14. Juli 2023, 14:02

      @ schejtan 14. Juli 2023, 09:53

      Das zeigt mir vor allem, dass diese Forscher den gemeinen Fussballfan ungefaehr genauso gut verstehen, wie Fussball“journalisten“ und Menschen, die dachten, dass die Super League eine gute Idee sei.

      Zustimmung

      • Thorsten Haupts 14. Juli 2023, 19:09

        Yup!

    • derwaechter 14. Juli 2023, 21:01

      Meiner Erinnerung nach waren nahezu alle Fußballjournalisten gegen die Idee. Das Medienecho war verheerend.

      Die deutsche Nationalmannschaft leidet gerade unter sehr wenig Begeisterung, während Vereinsfußball unpatriotisch weiter boomt. Und zwar überregional (z.B. Bayernfans in ganz Deutschland) und international (z.B. weltweite Anhängerschaft der ganzen Premier League oder Real, Barca ). Da sind patriotische Locals bestenfalls noch Kullisse.
      Interressant und noch weiter von patriotischen Gefühlen entfernt ist der zunehmende Trend eher Fan von Spielern als Vereinen zu sein (z.B. Ronaldo, Messi, Mpappe, Neymar)

      • schejtan 15. Juli 2023, 07:34

        In der Hinsicht schon, aber ansonsten reden Fussballjournalisten auch gerne von dem Fabelwesen des neutralen Fussballfans oder schreiben so einen Unsinn, wie dass sich Fans anderer Clubs darueber freuen sollen, wenn Bayern oder auch der BvB einen tollen Spieler holen, weil sie ihn dann in der Bundesliga spielen sehen koennen. Hoehepunkt war, dass alle Bundesligaclubs zusammenschmeissen sollten, damit Erling Haaland beim BvB bleibt…

        • Ariane 16. Juli 2023, 13:32

          wenn Bayern oder auch der BvB einen tollen Spieler holen, weil sie ihn dann in der Bundesliga spielen sehen koennen

          oder das tolle Argument, dass man sich freuen soll, wenn Leipzig im internationalen Wettbewerb weit kommt, weil das immerhin ein deutscher Club ist und irgendwie wichtig für dieses internationale Ranking (was vermutlich nicht mal Mathematikstudenten durchblicken)

          Und ja, ich bin auch eher Clubfußballgucker (Liebe kennt keine Liga!) als Nationalelf und ich ignoriere auch konsequent den ganzen Qualikram und guck eigentlich nur die Turniere. Dafür auch bei den Frauen^^

          Die Bremer Fußballkneipe Eisen hatte gerade ein Interview mit 11Freunde: https://11freunde.de/artikel/die-preisgestaltung-ist-eine-frechheit/8888174

          und ich glaube, im Fußball (also bei so krassen Fans, nach dem Motto ich guck quasi alles) gehts oft mehr ins Kleine, dann nimmt man halt auch seinen Heimatverein, der in der 2. Oberliga Nord spielt oder Osnabrück war hier natürlich auch ne große Nummer.

          • schejtan 16. Juli 2023, 20:42

            Die Argumentation ueber die Fuenfjahreswertung geht ja noch…hab auch schon Artikel/Kommentare gelesen, die quasi argumentiert haben dass sich die anderen Clubs zum Beispiel zu Gunsten der Bayern mit geringeren Fernseheinnahmen zufrieden geben sollen, damit die Bayern ne bessere Chance haben die CL zu gewinnen. Weil davon haben diese Clubs und ihre Fans genau was?

            Zum verlinkten Artikel: Wieso wird Interview mit dem Inhaber einer Bremer Fussballkneipe mit einem Foto aus einer Schalker Fankneipe bebildert? Klar, wir sind die besten Fans der Welt, ist aber schon komisch.

            • Ariane 17. Juli 2023, 07:37

              Klar, wir sind die besten Fans der Welt, ist aber schon komisch.

              Immerhin waren auf dem Symbolbild keine HSV-Fans 😀

      • Stefan Sasse 15. Juli 2023, 12:33

        worin manifestiert sich mangelnde begeisterung?

        • derwaechter 15. Juli 2023, 14:29

          Niedrige Einschaltquoten, wenige Zuschauer, schlechte Stimmung.
          Hängt natürlich auch mit den eher mäßigen Ergebnissen der letzten Zeit zusammen.
          Aber der Gegensatz zur sportlich auch nicht unbedingt auf top-niveau befindlichen Bundesliga, ist schon augenfällig.
          Dort spielt Lokalpatriotismus natürlich auch eine Rolle.

  • Ralf 14. Juli 2023, 21:28

    Hmmm … eine Stunde lang diskutiert. Und anschließend ist nicht viel mehr klar, als dass Du Dir mehr Patriotismus wünschst. Wem das dienen soll? Wo wir mal konkret in der deutschen Geschichte falsch abgebogen sind, weil Patriotismus fehlte? Keine Antworten. Was “deutsch sein”, also das, worauf der Patriot stolz sein soll, genau ist? Keine Antwort.

    Nur dass der Nazi kein “guter” Deutscher sein kann, wird klar. Und dass Migranten mit deutschem Pass im Deutschsein miteingeschlossen sein müssen, wird betont. Und dass man als guter Deutscher die Stärkung der Bundeswehr befürworten muss, ist klar. Und dass einem Diversität wichtig sein muss. Also mit anderen Worten: Ein guter deutscher Patriot ist so wie Du. Jetzt wundert mich Deine Haltung persönlich garnicht. Ich bin ja ebenfalls davon überzeugt, dass die Welt ein wunderbarerer Ort wäre, wenn mehr Menschen so wären wie ich. Aber warum sagst Du dann nicht einfach “ich wünsche mir mehr Menschen, die so sind wie ich”? Stattdessen gräbst Du den konfliktbeladenen Begriff des “Patriotismus” aus, verbiegst ihn dahingehend, dass der Patriot de facto zu Deinem Geistesbruder definiert wird. Und anschließend beklagst Du, dass es nicht mehr Patrioten gibt. Schon originell … 😉

    Und wer eine Stunde lang die Abwesenheit von Patriotismus beklagt, dem sollten doch eigentlich jede Menge positive Ereignisse einfallen, die mit Vaterlandsstolz untrennbar verbunden sind. Im Podcast wird da aber zunächst die Wahl von George W. Bush zum amerikanischen Präsidenten in den USA in 2004 genannt. Und der Brexit in Großbritannien. Das sind ja ermutigende Beispiele. Und ansonsten?

    Ein Bogen zur Geschichte wird gespannt. Der Gründungsmythos der Bundesrepublik: Das Wirtschaftswunder. Und das soll jetzt das verbindende Element der Deutschen sein? Das schließt gleich mal von vornherein ein Drittel der Deutschen in den neuen Bundesländern aus. Die haben nämlich kein Wirtschaftswunder erlebt. Ich im übrigen auch nicht. Ich wurde im Westen geboren, als Deutschland in die Rezession ging. Die Migranten mit deutschem Pass – nehmen wir den 1987 aus der Türkei hinzugezogenen Architekten, der in Karlsruhe lebt – haben mit dem Wirtschaftswunder ebenfalls nichts am Hut. Der Gründungsmythos als verbindendes Element der Deutschen scheitert also an der Realität. Ähnliches gilt für die Wiedervereinigung. Oder jedes andere “deutsche” Ereignis? Überhaupt ist es extrem willkürlich sich einfach irgendeinen beliebigen Punkt der Geschichte herauszupicken. Warum z.B. das Wirtschaftswunder? Warum nicht die Hyperinflation?

    Und überhaupt bleiben bei dem Podcast so viele Fragen offen. Ist “deutsch” eigentlich ein binärer Begriff, wie “schwanger”? Also entweder man ist deutsch oder nicht deutsch? Oder gibt es “deutsch” in qualitativen Abstufungen. Ist jemand wie Cem Özdemir, der in Deutschland aufgewachsen ist und besser Schwäbisch spricht als die meisten Stuttgarter deutscher als ein Migrant, der erst kürzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat und eher holprig deutsch spricht? Und ist der in Deutschland aufgewachsene Migrant, der fließend deutsch spricht und kulturell ununterscheidbar von “Biodeutschen” ist, aber keinen deutschen Pass besitzt, eigentlich weniger oder mehr deutsch als der Besitzer eines deutschen Passes, der sich nicht mit Deutschland identifiziert? Geht es beim Definieren des Deutschseins eigentlich primär um den Besitz des deutschen Reisepasses? Falls ja, auf welche anderen behördlich ausgestellten Dokumente ist der Patriot sonst noch stolz? Den Impfpass? Den internationalen Führerschein? Den Steuerbescheid?

    Das Kernproblem der Debatte ist, dass sich “deutsch” nicht objektiv definieren lässt. Es gibt die deutsche Sprache. Aber eben auch außerhalb von Deutschland. Es gibt die Staatsgrenzen. Aber die haben sich im Laufe der Geschichte, sogar der jüngeren Geschichte, laufend verschoben. Es gibt keine eingrenzbare deutsche Kultur. Nur ein Sammelsurium von regionalen Traditionen, die Gemeinsamkeiten überlappend mit Nachbarländern teilen. Es gibt eine freiheitlich-demokratische Grundordnung. Aber die ist nicht deutsch. Die wird auch andernorts geteilt. Es gibt das Grundgesetz. Aber das wird laufend geändert. Und es gibt eine Geschichte. Aber die wird zunehmend irrelevant, je jünger man ist. Und wenn man Zuwanderer mit fremden Wurzeln ist, dann ist die Geschichte von vornherein bedeutungslos. Und dann teilen die Deutschen noch nicht einmal eine Geschichte. Zu guter Letzt ist völlig unklar, wer die Deutschen eigentlich sind (z.B. gut integrierter Migrant ohne deutschem Pass? Schlecht integrierter Migrant mit deutschem Pass? Angehöriger der deutschen Minderheit in Russland? Im Ausland lebender Biodeutscher? Kind deutscher Eltern, das sich nicht mit Deutschland identifiziert?).

    Der Podcast beginnt mit der Behauptung, dass in 2006 ein neuer Patriotismus in Deutschland begann. Schon dieser Anfangsthese widerspreche ich. Was damals passierte, war schlicht ein viral gehender Trend. Einige Leute haben eine Deutschlandfahne rausgehangen. Und andere haben mitgemacht. Das haben wiederum andere gesehen und die haben sich dann ebenfalls beteiligt. Wenn eine gewisse kritische Masse erreicht ist, entwickelt sich der Trend zur Lawine. Dann schwenkt das ganze Land die Fahne. Und zum Schluss läuft sich der Trend tot. Und dann ist es zuende. Wie Ariane richtig bemerkte, sind die Fahnen dann wieder eingeholt worden und fertig. Solche viralen Phänomene gibt es laufend. Ein paar Jahre später haben sich weltweit Millionen Menschen im Zuge der ALS-Ice Bucket Challenge einen Kübel Eiswasser über den Kopf gegossen. Auch das fing mit einigen wenigen an. Dann wurden es immer mehr. Und weil man da nicht abseits stehen will und es sich gut anfühlt Teil einer größeren Bewegung zu sein, hat man mitgemacht. Bis sich der Trend tot gelaufen hat. Aus einem temporären Trend auf eine fundamentale strukturelle Veränderung der Gesellschaft zu schließen, bietet sich aus meiner Sicht nicht an …

    • Stefan Sasse 15. Juli 2023, 12:37

      moment: du musst überhaupt nicht für die stärkung des bundeswehr sein. du kannst problemlos argumentieren, dass es kein sondervermögen geben sollte, dass sie keine auslandseinsätze machen sollte, etc. was ich argumentierte war, dass man die ablehnung nicht auf die personen projiziert.

      über die probleme der neuen bundesländer in der klassischen westerzählung sprechen wir doch, ich weiß nicht, was da deine kritik ist?

      das herauspicken mache ja nicht ich. aber der positive bezugspunkt öffentlicher geschichtserinnerung ist unzweifelhaft das wirtschaftswunder. ich hab auch einen riesenartikel darüber geschrieben, dass ich das für blödsinn halte. auch hier: wer ist adressat dieser kritik?

      auch das thema mit dem pass sprechen wir ja an, nämlich in der ablehnung einer definition von deutsch als blutsherkunft. also: wen kritisierst du hier?

      was 2006 angeht: ich sage explizit, dass sich das auf ein fantasyland namens „schland“ bezog. mein punkt war die normalisierung deutscher fahnen, nicht ein komplett neuer patriotismus.

      • Ralf 15. Juli 2023, 20:57

        Meine Kritik bezieht sich darauf, dass Du in dem Podcast eine Stunde lang darüber klagst, dass es in Deutschland zu wenig Patriotismus gibt, ohne mit einem einzigen Wort zu erwähnen, weshalb mehr Patriotismus erstrebenswert wäre. Der einzige „positive“ (darüber kann man übrigens streiten) Aspekt, den Du nennst – neben einer Reihe von Negativfolgen von Patriotismus inklusive George W. Bush und Brexit – ist, dass in einem patriotischeren Deutschland mehr Menschen geil auf die Bundeswehr wären. Ansonsten fällt Dir in dem einstündigen Podcast meiner Erinnerung nach nichts ein. Deshalb ging ich auch davon aus, dass „Bundeswehr toll finden“ Bedingung für Deinen diversen Patriotismus sein muss. Denn wenn Deine ganzen neuen Patrioten Dein Pet-Projekt der Bundeswehr ablehnen, kommt Dir auch noch das letzte pro-Patriotismus-Argument abhanden. Aber ok, vielleicht habe ich Dich ja auch falsch verstanden. Deshalb meine Frage:

        (1) Was – ganz konkret – würde sich in Deinem persönlichen Leben zum Positiven wenden, wenn die Deutschen insgesamt mehr Vaterlandsstolz hätten?

        oder alternativ

        (2) In welcher Lage oder Situation wäre die deutsche Geschichte in bedeutender Weise anders verlaufen, so dass das Land eine ganz andere Richtung einschlagen hätte, wenn es nur mehr Patriotismus gegeben hätte?

        Mein weiterer Kritikpunkt ist, dass Du Dir im Podcast eine Stunde lang mehr Patrioten wünschst, die stolz darauf sind, deutsch zu sein, aber nirgendwo definierst, wer diese Patrioten eigentlich sind oder was dieses „deutsch“ eigentlich ist, auf das sie stolz sein sollen.

        Konkret sagst Du in dem Beitrag nur, dass Migranten mit deutschem Pass im Patriotenbegriff miteingeschlossen sein müssen. Deine besondere Betonung des deutschen Passes legte nahe, dass „deutsch“ für Dich ein binärer Begriff ist, der identisch ist mit „den deutschen Pass besitzend“. Dann braucht es aber eigentlich den Begriff des „Patrioten“ nicht, denn für Menschen, die den deutschen Pass besitzen, gibt es bereits einen Terminus: Staatsbürger. Wenn beim Patrioten dann noch „Stolz“ dazukommen soll, aber das einzige gegenüber dem Rest abgrenzende Kriterium das Besitzen des deutschen Passes ist, dann kann der „Stolz“ sich eigentlich auch nur auf diesen deutschen Pass beziehen. Der Pass ist aber lediglich ein behördlich ausgestelltes Dokument, das juristische Implikationen mit sich bringt, aber zu dem die wenigsten Menschen eine Liebesbeziehung entwickeln. Wozu also soll dann Dein Patriotismus gut sein?

        Der „Staatsbürger-Patriotismus“ zieht übrigens eine Kette weiterer Probleme nach sich. Migranten, die ohne deutschen Pass in der dritten Generation in Deutschland leben, voll integriert und ununterscheidbar von „Biodeutschen“ sind, werden damit zu Nicht-Patrioten erklärt, auch dann, wenn sie sich tief mit Deutschland identifizieren. Das Kind der schlecht integrierten Migrantenfamilie, die zwar den deutschen Pass besitzt, deren Identifikation mit Deutschland sich aber zunehmend auflöst, wird hingegen in die Gruppe der Patrioten eingeschlossen. Die Staatsbürgerschaft ist eben ein rein rechtlicher und politischer Wert. Da macht es Sinn so zu separieren. Da geht es nicht um Gesinnung oder Gefühle. Aber macht es beim Patriotismus Sinn, die die das Land lieben, aber nicht den deutschen Pass haben auszuschließen?

        Aber ok, vielleicht war Deine Betonung des deutschen Passes ja ein reines Versehen. Vielleicht wolltest Du ja gar niemanden ausschließen. Aber was ist dann das Aufnahmekriterium in die Gruppe der Patrioten? Ist es jedem selbst überlassen für sich persönlich zu beschließen, ob man Patriot ist oder nicht? Ohne objektive Kriterien? Falls das Dein Ansatz ist, fände ich es spannend zu erfahren, ob Deine Klage, dass es zu wenig Patriotismus gibt meint, dass es aus Deiner Sicht zu wenig Menschen gibt, die Du zwar nicht für Patrioten hältst, aber die sich selber für Patrioten halten. Oder ob Du meinst, dass es zu wenig Menschen gibt, die Du für Patrioten hältst? Überhaupt gäbe es viele interessante Gruppen, bei denen man dann nachfragen könnte, ob die eigentlich Patrioten sind bzw. sein können: (a) Aussiedler mit deutschen Wurzeln und deutschem Pass, aber ohne Bezug zum Land (außer dem Wunsch hier ein besseres Leben zu haben; (b) Auslandsdeutsche mit deutschem Pass, die nach 40 Jahren in Übersee kaum noch Kontakt in die Heimat haben; (c) voll-assimilierte EU-Ausländer in der dritten Generation in Deutschland, aber ohne deutschen Pass; (d) Weltbürger mit doppelter Staatsbürgerschaft und bestenfalls moderatem Bezug zu beiden Herkunftsländern etc..

        Überhaupt stellt sich die Frage, ob es im Interesse der gesellschaftlichen Debatte ist, dass beschreibende Begriffe zunehmend ohne objektive Definition auskommen müssen. In der Coronapandemie definierten sich etwa zahlreiche Leute – auch hier im Blog – zu „Experten“, weil sie zwei YouTube-Videos zum Thema angeschaut hatten. Klar ist, dass damit der Begriff des „Experten“ entwertet wird. Wenn jeder selbst entscheiden kann, ob er „Experte“ ist oder nicht, kann keine Einigung mehr erreicht werden in größeren Gruppen, ob man eigentlich noch dasselbe meint, wenn man von „Experten“ spricht. Jetzt also dasselbe Schicksal für den Begriff des „Patrioten“?

        Aber dass der Begriff des Patrioten und dessen, was er lieben soll, im Podcast nicht definiert wird, hat ja einen Grund. Es gibt nämlich nichts Objektives, was man an Deutschland lieben könnte. Dieser „positive Bezugspunkt öffentlicher Geschichtserinnerung“, von dem Du in Bezug auf das Wirtschaftswunder schreibst, existiert in der Gesellschaft nicht. Das ist ein Elitenthema, das einige Historiker, Philosophen und Wirtschaftsjournalisten spannend finden. Ich gehe jetzt z.B. langsam auf ein Alter von 50 Jahren zu. In dieser Zeit habe ich über das Thema „Wirtschaftswunder“ exakt null mal mit Freunden, Familienmitgliedern, Nachbarn, Arbeitskollegen, Mitschülern, Kommilitonen oder sonstigen Bekannten gesprochen. Null mal. Das Thema ist schlicht völlig irrelevant. Das „Wirtschaftswunder“ war bereits zuende, als ich geboren wurde. Für mich ist da vielleicht eher die Wiedervereinigung Bezugspunkt. Aber die Wiedervereinigung wird zumindest in Teilen Ostdeutschlands nicht sonderlich positiv gesehen. Und die junge Generation, die heute 20 Jahre alt ist, hat auch mit der Wiedervereinigung nichts am Hut. Der Migrant aus der Türkei hat dazu noch weniger Bezug – mit oder ohne deutschen Pass. Diese Ereignisse der Vergangenheit sind schlicht bedeutungslos im Leben der heutigen Menschen. So wie die Krönung Karls des Großen. So wie der Westfälische Friede. So wie die Revolution von 1848. So wie die Reichsgründung 1871. Das sind historische Tidbits, die man auswendig lernt, um das Abitur zu bestehen. Oder vielleicht noch, weil einem Allgemeinbildung ein bisschen wichtig ist. Aber diese Ereignisse haben keinerlei konkreten Anknüpfungspunkt zu unserer Alltagsrealität. Und in der breiten Bevölkerung sind sie weitgehend unbekannt. Frag doch mal auf der Straße eine Random-Person, was der „Westfälische Friede“ ist. Oder frag meinetwegen, dass sie Dir eine Zusammenfassung in fünf oder sechs Sätzen zum Wirtschaftswunder geben sollen (Kontext, Zeit, wichtigste Player, Kernzahlen etc.). Da wirst Du doch kaum Antworten drauf kriegen …

        Und ansonsten gibt es nichts, worauf man in Deutschland stolz sein kann. Noch nicht mal auf das Wirtschaftswunder. Oder was hast Du konkret zum Wirtschaftswunder beigetragen, dass Du da stolz drauf bist? Sprache, Grenzen, militärische Stärke, Grundgesetz, Geschichte, Kultur, Glaube sind allesamt entweder regional hoch heterogen in der Bevölkerung oder haben sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert. Einen objektiven Bezugspunkt zumindest einer Mehrheit der Deutschen, um den man sich versammeln könnte, gibt es nicht. Dieses „unsichtbare Band“, das uns alle verbindet, ist eine Fata Morgana. Ohne umfassende Gemeinsamkeit, ohne eindeutigen Leitstern hat der Patriot aber nichts, woran er sich festhalten könnte. Und das macht dann auch den Patriotismus als Ganzes zum Absurdum.

        • Stefan Sasse 16. Juli 2023, 13:27

          ganz konkret nenen ich bereits im podcast weimar: ein demokratischer Verfassungspatriotismus hätte viel geholfen. „demokratie ohne demokraten“ ist ja mittlerweile ein klischee!

          ich verstehe dein kaprizieren auf den pass nicht. das ist in den usa genau dasselbe, und willst du denen den patriotismus abstreiten?

          es wird dich in dem kontext vielleicht auch überraschen, aber die zahl der menschen, die die amerikanische unabhängigkeitserklärung erlebt haben, tendiert hart gegen null, ohne dass das ein hindernis für einen positiven bezugspunkt darstellen würde.

          dass man sonst auf nichts stolz sein könne sehe ich schlicht nicht.

          • Ralf 16. Juli 2023, 14:18

            Ok, konkretes Beispiel: Stolz auf die Verfassung.

            In den USA hast Du enorm viel Stolz auf die Verfassung und die Verfassung ist ein Kernelement des amerikanischen Patriotismus (merke: ich streite nicht ab, dass es Patriotismus gibt. Ich streite ab, dass Patriotismus sinnvoll ist oder sich rational begründen lässt). Wozu hat das konkret geführt? Die US-Verfassung ist als direkte Folge der patriotischen Überhöhung zum Goldenen Kalb geworden, um die nun die gesamte amerikanische Politik und Gesellschaft tanzt. “Was hätten die Gründungsväter gesagt?” ist – dank Patriotismus – zur zentralen Frage jeder politischen Entscheidung geworden. Nur dass es eben nicht mehr um die Verwaltung von Baumwollplantagen, den Bau von Segelschiffen und die Anschaffung von Musketen geht, sondern um Sturmgewehre, Schnellzüge, mRNA-Vakzine und Nuklearabkommen. Dank Patriotismus hat sich die amerikanische Gesellschaft an ein uraltes, aus der Zeit gefallenes Stück Papier gefesselt, das zu ändern jetzt als Sakrileg gilt. Eine nüchterne, sachorientierte – und damit per Definition nicht-patriotische (weil eben dieser ganze Gefühls- und Emotionsdusel wegfällt) Herangehensweise an juristische Fragen, wäre für die USA von unschätzbarem Wert, ist aber – dank Patriotismus – unerreichbar geworden.

            Aber – um auf Dein Weimar-Beispiel einzugehen: Schützt die Verknöcherung und Selbstfesselung in Form des amerikanischen Verfassungspatriotismus die USA wenigstens vor einem Abgleiten in die faschistische Diktatur? Da sollte Dir zu denken geben, dass die größten Fans der amerikanischen Verfassung die rechtsextremen Richter am Supreme Court, die Tea Party- und Trump-Flügel der bücherverbrennenden Republikaner und die rechtsterroristischen, bis an die Zähne bewaffneten privaten Milizen von Proud Boys bis Oath Keepers sind. Also mit der Aussicht: Viel Glück!

            • Stefan Sasse 16. Juli 2023, 17:52

              wir haben in deutschland auch einen gg-fetischismus. und ja, du nennst richtige, konkrete nachteile. was du ignorierst sind die vorteile, ÜBER DIE ARIANE UND ICH IM PODCAST EXPLIZIT SPRECHEN.

              • Ralf 16. Juli 2023, 19:07

                Dein Grundgesetz-Fetischismus ist eine Fata Morgana, die in Deiner Blase sichtbar ist, weil das für Dich beruflich relevant ist und weil Du Dich privat – wie hier im Blog – mit Leuten umgibst, die sich speziell für Demokratie und Politik interessieren. In einer normalen deutschen Durchschnittsfamilie ist das hingegen ein Nicht-Thema. Wenn die Regierung beschließt dort irgendwelche Rechte rein- oder rauszustreichen, führt das nicht zu intensiven Diskussionen an Millionen deutschen Wohnzimmertischen. Beim durchschnittlichen Fabrikarbeiter, der durchschnittlichen Krankenschwester, dem durchschnittlichen Handwerkslehrling, dem durchschnittlichen BWL-Studenten ist das Interesse am Grundgesetz ziemlich gering. Man weiß nicht so genau, was es ist, ist aber doch irgendwie happy, dass es da ist. Im Osten Deutschlands wählen übrigens gerade 30% der Menschen eine offen nationalsozialistische Partei. Ich vermute mal, bei denen kann der Fetischismus für das Grundgesetz auch nicht gerade übermäßig ausgeprägt sein …

                Über die vielen anderen Vorteile des Patriotismus musst Du dann im Podcast aber sehr leise gesprochen haben. Außer mehr Spaß an der Bundeswehr war da meiner Erinnerung nach nichts (ok, ein bisschen Fußball eventuell, aber Fußballfans hat es auch vor 2006 gegeben und definitiv mehr als heute). Und ohne Zwang einen neuen Militarismus zu beschwören, wohlwissend wo das hinführt, legt die Lunge an das Wertegerüst, auf dem unsere liberale Demokratie und unsere offene Gesellschaft fußt.

        • Ariane 16. Juli 2023, 13:56

          Also ich weiß ehrlich gesagt nicht, welchen Podcast du gehört hast, in unserem wurde definitiv nicht erzählt, dass nun bitte alle stolze, patriotische Deutsche sein sollen, die gefälligst die Bundeswehr zu bejubeln hätten. Alter! WTF! Mein zweiter Satz war „Patriotismus ist mir ein bisschen egal“

          Ich hab eher das Gefühl, dass die erste Diskussion im Blog beim Reizwort „Diversität“ kippte und bei dir jetzt bei „Patriotismus“ (das bei dir automatisch mit dem Wort stolz verknüpft scheint und ich meine, wir haben das nicht einmal genutzt, Vaterland btw auch nicht).

          Deswegen haben wir ja etwas ziellos und vor allem ergebnisoffen herumdiskutiert, weil da viele Reizwörter und Assoziationen einen unverkrampften Umgang verhindern. Denn was ist Patriotismus heruntergebrochen? Ein Gemeinschaftsgefühl auf ein Land bezogen.

          Deswegen kamen wir auch auf die Fußballnationalmannschaft (in Schland) und die Bundeswehr, weil es da auftritt. Wenn ich einfach meinen täglichen Einkauf mache, fühle ich mich weniger patriotisch. Aber ein positives, nationales Gemeinschaftsgefühl fände ich schon schön und zwar eines, das nicht von Rechtsliberalkonservativen definiert wird.

          • Ralf 16. Juli 2023, 14:34

            Denn was ist Patriotismus heruntergebrochen? Ein Gemeinschaftsgefühl auf ein Land bezogen.

            Das hab ich schon verstanden. Was ich versuche zu erklären ist, dass dieses Gemeinschaftsgefühl keine rationale Basis hat. Du nennst konkret z.B. “Fußballnationalmannschaft” und “Bundeswehr”. Es gibt aber keinen Grund, weshalb sich etwa ein Einwanderer mit der deutschen Elf oder der deutschen Armee identifizieren sollte. Fußball ist schon lange nicht mehr der praktisch einzige Sport, den die Deutschen schauen. Das war mal früher so, als ich klein war. Da hing die gesamte Nation am Samstag am Radio und verfolgte wie gebannt die Spiele. Am Abend war die Sportschau ein Muss. Alle Kinder meiner Grundschulklasse waren im Fußballverein. Alle sammelten Fußballbilder. Nichts davon ist heute noch so. Kaum ein Kind macht heute noch Clubsportarten. Der Stellenwert von Fußball in der Gesellschaft ist dramatisch eingebrochen. Das Anschauen von Spielen können sich ohnehin nur noch Besserverdienende leisten, die die entsprechenden privaten Sender bezahlen können. Stadionbesuche werden immer teurer. Die deutsche Nationalmannschaft – früher einmal Projektionsfläche für ein ganzes Volk – ist heute nur noch eins von vielen Teams, die in der WM-Vorrunde ausscheiden.

            Und die Fußballnationalmannschaft war, wie gesagt, wenigstens früher mal Identifikationsfaktor. Die Bundeswehr hingegen hatte immer schon ein eher negatives Image in Deutschland. Warum das in einem Land mit zunehmend mehr Zuwanderern und stärkerer Durchmischung der EU-Bevölkerungen anders werden sollte, müsste begründet werden …

            • Thorsten Haupts 16. Juli 2023, 16:05

              dieses Gemeinschaftsgefühl keine rationale Basis hat.

              Viele menschliche Emotionen haben keine rationale Basis. Gesellschaftlich wirksam sind sie trotzdem.

              Thorsten Haupts

              • Ralf 16. Juli 2023, 16:15

                Viele menschliche Emotionen haben keine rationale Basis. Gesellschaftlich wirksam sind sie trotzdem.

                Das ist unbestritten. Die Frage ist, ob diese Wirkung positiv/erwünscht/anzustreben ist.

                Und da Stefan im Podcast als Folgen von “Patriotismus” nur George W. Bush und der Brexit einfallen, was dann hier im Thread noch durch die Verfassung ergänzt wurde (siehe dazu mein Kommentar oben), stellen sich Zweifel ein …

                • Stefan Sasse 16. Juli 2023, 17:54

                  ich weiß echt nicht, welchen podcast du gehört hast…

                • Erwin Gabriel 17. Juli 2023, 08:16

                  @ Ralf 16. Juli 2023, 16:15

                  [Viele menschliche Emotionen haben keine rationale Basis. Gesellschaftlich wirksam sind sie trotzdem.]

                  Zustimmung

                  Das ist unbestritten. Die Frage ist, ob diese Wirkung positiv/erwünscht/anzustreben ist.

                  Die Frage führt in die Irre, wenn man die gemeinte / erhoffte Wirkung nicht beschreibt; grundsätzlich kann diese Wirkung eine positive oder negative sein.

                  Aus meiner vagen Wahrnehmung heraus ist Patriotismus eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl; ähnlich wie „Familie“, ähnlich wie „Arbeitgeber“, ähnlich wie „Sportverein“ – eine Klammer, über die sich Menschen identifizieren und einordnen können, über die sie sich Motivation holen können.

                  Mag sein, dass Deutschland als Klammer für Dich nicht funktioniert. Mag auch sein, dass Deine Familie oder Dein Arbeitgeber für Dich als Klammer nicht funktioniert. Aber bei denen, wo es das tut, ist es eine gute Sache.

                  • Ralf 17. Juli 2023, 08:42

                    Aber bei denen, wo es das tut, ist es eine gute Sache.

                    Keine Ahnung, auf welcher Basis Du da argumentierst. “Ist eine gute Sache”, weil es sich gut anfühlt? Ein hohes Maß an Zucker in der Nahrung fühlt sich ebenfalls gut an. Dein Arzt wird Dir aber erklären, dass Dich das umbringt.

                  • Ariane 17. Juli 2023, 09:07

                    Zustimmung.
                    Der Mensch ist ja keine Insel. Ich würde sogar behaupten, dass es unmöglich ist, durchs Leben zu gehen, ohne sich mit irgendetwas zu identifizieren.

                    • Ralf 17. Juli 2023, 09:56

                      Es behauptet übrigens niemand, dass man durch’s Leben gehen soll, ohne sich mit irgendetwas zu identifizieren. Ich behaupte man sollte sich mit Dingen identifizieren, zu denen man beigetragen hat. Dinge also, zu denen man eine echte, rational begründbare Verbindung hat. Sich beispielsweise mit seinem Ehrenamt oder mit seinen beruflichen Erfolgen oder mit dem Zusammenhalt in der eigenen Familie zu identifizieren ist gesellschaftlich alles gesünder, als einem überhöhten Begriff von Volk und Nation hinterherzulaufen. Menschen, die sich mit Ehrenamt, Beruf und/oder Familie identifizieren, haben in der Vergangenheit übrigens auch wesentlich weniger Kriege angefangen und Leid produziert als “Patrioten” …

            • Stefan Sasse 16. Juli 2023, 17:53

              deswegen definieren wir im podcast ja auch andere, allgemeingültige werte als identifikationsbezugspunkt…

              • Ralf 16. Juli 2023, 18:00

                Niemand hat was gegen Werte. Aber Werte taugen nicht als Grundlage für Patriotismus, denn sie laufen nicht entlang Ländergrenzen: Freiheit, Gleichheit, Demokratie sind nicht deutsch. Weder enden sie an den deutschen Grenzen, noch waren sie im Laufe der Geschichte auf dem gegenwärtigen deutschen Territorium überwiegend implementiert. Tatsächlich ist sogar das Gegenteil der Fall.

                • Stefan Sasse 17. Juli 2023, 09:54

                  ich halte erneut das beispiel der usa oder frankreichs gegen.

                  • Ralf 17. Juli 2023, 11:21

                    Was ist es denn konkret, was Du da in Frankreich und in den USA so toll findest? Mach das doch mal an irgendwas fest.

                    In Frankreich randalieren übrigens gerade landesweit Menschen in bürgerkriegsartigen Zuständen, eben weil diese patriotische Phrasen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit genau das sind -> leere Phrasen. Stattdessen regiert Hoffnungslosigkeit, Armut und Diskriminierung.

                    In den USA hingegen ist die Möglichkeit verlorengegangen über Fehler und Misentwicklungen zu diskutieren. Das wollen die Patrioten eben nicht hören. Ich hab mal in einem Frühstückscafé in Connecticut eine Bemerkung gemacht, dass der Irakkrieg völkerrechtswidrig war. Da fasste mich meine amerikanische Kollegin erschreckt am Arm und raunte “Shhh”. Dann schaute sie ängstlich links und rechts, wo uns keiner zu beachten schien, um beruhigt zu flüstern, dass das wohl nochmal gut gegangen sei. Es hätte mich wohl keiner gehört. So etwas dürfe man hier nicht sagen. Und das wohlgemerkt nicht in einem Diner in Rural Alabama, sondern im Herzen einer Hochburg der liberalen Demokraten. Das ist der Patriotismus, dem Du so nachtrauerst, also der real existierende Patriotismus. Amerikaner sind so von ihrem American Exceptionalism überzeugt, dass der, der das infrage stellt zum Feind erklärt wird. Wieso soll das für uns ein Vorbild sein? Wem nutzt die nationale Selbstüberhöhung?

                    • Stefan Sasse 17. Juli 2023, 12:53

                      das lief in deutschland offensichtlich besser als in frankreich. warum darauf nicht stolz sein?

                    • Ralf 17. Juli 2023, 13:28

                      Bin Deiner Meinung, dass das in Deutschland besser gelaufen ist. Darüber freue ich mich. Aber darauf bin ich nicht “stolz”. Und nein, das ist keine Wortklauberei.

                    • Stefan Sasse 17. Juli 2023, 18:13

                      kommt glaube ich drauf an, was man damit meint. mir schwellt sich jetzt auch nicht die brust, aber ich find’s gut und freue mich darüber und denke, dass es etwas ist, das wir zurecht an uns gut finden dürfen. ich würde die bezeichnung „stolz“ da durchaus nehmen.

            • Ariane 17. Juli 2023, 07:47

              Es gibt aber keinen Grund, weshalb sich etwa ein Einwanderer mit der deutschen Elf oder der deutschen Armee identifizieren sollte.

              Wieso das denn nicht? Miro Klose ist zum Beispiel nicht in Deutschland geboren und hat mich überhaupt erst zum Fußballfan gemacht. Lukas Podolski ist auch nicht in Deutschland geboren und total eng mit der Nationalelf und Köln verknüpft.
              Genauso wie in der Bundeswehr viele dabei sind, die (oder deren Eltern) nach Deutschland eingewandert sind.

              Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum sich denn nur gebürtige Deutsche mit Nationalelf, Bundeswehr oder diesem Land identifizieren sollen, können, dürfen. Genau darum geht es in unserem Podcast doch.

              • Ralf 17. Juli 2023, 11:39

                Wieso sollte sich ein zugewanderter Syrer mit der Nationalelf identifizieren, weil Lukas Podolski in Polen geboren wurde? Wieso sollte sich ein zugewanderter Pakistani überhaupt für Fußball interessieren? In Pakistan spielt man Cricket. Ich hab über ein Jahrzehnt in den USA gelebt und hab mich auch nicht angefangen für Baseball zu begeistern. Oder für die US-Armee.

          • Dennis 16. Juli 2023, 23:59

            Zitat Ariane:
            „Aber ein positives, nationales Gemeinschaftsgefühl fände ich schon schön und zwar eines, das nicht von Rechtsliberalkonservativen definiert wird.“

            Allerdings müssten Letztere dran teilnehmen, sonst isses kein Gemeinschaftsgefühl mehr. Es hieß doch im Podcast, exkludieren ist ne schlechte Idee.

            Anders gesagt: Damit das funktionieren kann, muss man das so entleeren, dass am Ende des Tages noch nicht mal heiße Luft, sondern gar keine Luft übrig bleibt. Was soll das denn ?

            Ferner heißt „nationales Gemeinschaftsgefühl“: 99 % (mindestens) der Teilnehmer:innen hab ich noch nie getroffen und weiß nicht wer das ist. Das Ganze ist also hoch-abstrakt und Abstrakta eigenen sich nu wirklich nicht für Gefühle, was wiederum nicht heißt, Letztere sind was Schlechtes; schlecht sind unpassende Gelegenheiten. Da sind wir wieder beim schon erwähnten Heinemann, der genau das im Sinn hatte. Andererseits heißt das wieder nicht, dass Abstrakta – wie z.B. die Rechtsordnung – was Schlechtes sind, aber halt rational um nicht zu sagen furz-trocken. Ins Schwärmen kommt man da eher nicht.

            Also – mein Vorschlag^ – lassen wir mal die Kirche im Dorf, also die Gefühle bei den persönlichen Beziehungen, und werden im Makrobereich sachlich und vernünftig. Denn wenn’s da gefühlig wird, ist das eher schädlich, IMHO; es sei denn, der Gegenstand ist lediglich Spiel und Spaß; das lass ich ja noch durchgehen 🙂

            • Ariane 17. Juli 2023, 08:03

              Ja ich bin da auch unsicher, bzw mehr bei „soll doch jeder machen, was er will“ Aber wie erwähnt, ich hab auch keine Lust, diese Diskussion immer diesen „Deutsche Leitkultur-Freaks“ zu überlassen und sowas wie, ist jemand mit deutschem Pass Deutscher oder muss er und seine Eltern hier geboren sein – kommt ständig als Diskussion hoch.

              Ferner heißt „nationales Gemeinschaftsgefühl“: 99 % (mindestens) der Teilnehmer:innen hab ich noch nie getroffen und weiß nicht wer das ist.
              Jein, so funktioniert das halt. Wenn ich mich als Nordlicht oder HSV-Fan identifiziere, kenne ich 99% dieser Leute ja auch nicht.

  • Dennis 15. Juli 2023, 11:12

    Ich sehe das eigentlich ganz praktisch, so wie der BuPrä zu meiner Zeit^, also Heinemann:

    Ich liebe meine Frau (Einschub meinerseits: Das könnte auch jemand anders sein^), aber nicht mein Land, pflegte er zu sagen. Dieser Spruch ist in Erinnerung geblieben, mit Recht.

    Also erläuternd: Der Staat ist etwas Praktisches und etwas Notwendiges, somit aus Vernunftgründen zu Bejahendes. Linke brauchen einen Staat genauso wie Rechte sowie die Lauen in der Mitte desgleichen; ohne diese Rahmenbedingung sind alle Politiken Glasperlenspiele.

    Wichtig ist, dass das Ding funktioniert. Wir brauchen keinen Feiertag des Pünktlichen Zuges, sondern pünktliche Züge. Das war übrigens die letztlich tödliche Krankheit des DDR-Patriotismus, der durch Honecker krampfhaft promoviert wurde nachdem die ursprüngliche raison d’État (deutsche Einheit nach kommunistischem Muster) aufgegeben worden war.

    https://c8.alamy.com/compde/r79f59/reiterstandbild-friedrichs-des-grossen-auf-der-strasse-unter-den-linden-in-berlin-deutschland-r79f59.jpg

    Dieses Ding mit dem ollen Fritze kam zunächst beim Ulbricht in eine Art Freiluft-Giftschrank und wurde im Zuge einer „Neubewertung“ mit großem Tamtam anno ’80 wieder prominent hingestellt. Es bestand das Bedürfnis, die DDR mit zusätzlichem Traditionsinventar zu unterfüttern, das indes mit innovativen Klimmzügen zurechtinterpretiert werden musste, damit das aktuell brauchbar ist. Letzteres ist allerdings der übliche Fall überall.

    Genutzt haben solche Shows nichts, weil man sich buchstäblich nichts dafür kaufen konnte. Das metaphysische patriotische Tamtam ist also eine Zutat, ne Art Dessert nachdem man sich satt gegessen hat. Dessert ohne satt essen wird nichts. Die scheinbar schlaue Idee, dass substanzloser metaphysischer Patriotismus auch alleine funktioniert und angenehmerweise wenig kostet, also bei den Massen eine Art Phantom-Sättigungsgefühl erzeugt, ist IMHO nicht haltbar, jedenfalls nicht dauerhaft.

    So auch bei der angesprochenen Fußball-WM. Erstmal müssen die Jungs anständig Fußball spielen können, dann kommt das Fahnenmeer (oder auch Fahnenmehr^) oben drauf. Bei Nieten auf dem Platz da unten wird das nichts. Bei Enttäuschung werden die Fahnen schnell verbrannt.

    Hab also meinerseits nichts gegen Schmuck-Patriotismus (obschon überflüssig) – falls es was Würdiges zum schmücken gibt^.

    • Stefan Sasse 15. Juli 2023, 12:38

      dieses heinemann-zitat ist in meinen augen genau die überkorrektur, von der wir im podcast sprechen.

      • Ariane 16. Juli 2023, 14:10

        Ich liebe meine Frau (Einschub meinerseits: Das könnte auch jemand anders sein^), aber nicht mein Land, pflegte er zu sagen. Dieser Spruch ist in Erinnerung geblieben, mit Recht.

        Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich bewusst zurückgehalten habe, den Spruch nicht zu zitieren 😀

        Ich bin da ja auch eher pragmatisch, aber eben auch nicht negativ. Insofern fand ich es schön, wenn 2006 spontan so eine Euphorie entsteht, gerade weil die mal gutgelaunt war. Aber das geht halt schief, wenn Bierhoff und die Marketingabteilung des DFB meinen, das professionell konservieren zu können. Und dann rumquengeln, wenn die Vorfreude nicht so groß ist.

        Das Mitte-Links-Dilemma: die merzsche, deutsche Leitkultur darf er gerne behalten, aber alles immer abzulehnen und scheiße finden, ist mir auch zu blöd. Deutschland ist schon ein tolles Land, um darin geboren zu sein und ich finde, das darf man ohne ein aber auch sagen.

  • cimourdain 15. Juli 2023, 18:39

    Bei aller Sympathie für die Diskussion dieses Themas seid ihr euch nach meinem Geschmack viel zu einig. Dadurch springt ihr von Thema zu Thema. Hier einige Fragen, die mehr Aufmerksamkeit bedürften:

    1a) Symbole: Patriotismus/Nationalismus hängt an Flagge, Hymne, ggf Königshaus, Feiertagen etc.. Ist das nötig oder Ausdruck des verdrücksten Nationalismus, den ihr nicht wollt? Ich erinnere mal an den Aufreger, ob die Nationalmannschaft die Hymne mitsingen soll.
    1b) Btw: Stefan hat gemeint, dass so etwas wie die Diskussion, ob der Nationalfeiertag auf einen Sonntag gelegt werden soll, in den USA nicht möglich wäre. Fakt ist, dass fast genau das passiert ist, als in den 60ern mehrere weltliche US-Feiertage auf Montage gelegt wurden, um ein langes Wochenende zu garantieren. Dafür wurden Washingtons und Lincolns Geburtstag zusammengelegt.

    2a) Militär: Systemlogisch, dass ihr fast direkt auf dieses Thema kommt. War doch historisch immer schon die Brücke Nationalismus – Militarismus Das Werbeprogramm mit dem junge Männer dazu gebracht wurden sich gegenseitig umzubringen, damit reiche Männer (heutzutage gerne auch Frauen) ihre Geschäfte machen.
    2b) Hier wäre mal ein konkretes Farbenbekenntnis interessant: Seid ihr dafür, dass es am Nationalfeiertag große Militärparaden wie es sie in anderen Ländern gibt ?
    2c) Oder wollt ihr einen Gedenktag für die lebenden Streitkräfte ? Für die toten Soldaten gibt es schon einen – den Volkstrauertag – den ich hier mit in die Diskussion einbringe.

    3a) Geht der woke Patriotismus überhaupt? Wie ist das verhältnis nationaler Identität zu der Vielzahl anderer Identitäten die den Menschen bestimmen?
    3b) Das diese Frage nicht rein akademisch ist, merkst du an der immer noch umstrittenen Frage der doppelten Staatsangehörigkeit. Und was ist umgekehrt mit denen, die hier ohne deutschen Pass leben (11 Millionen) ?
    3c) Die naheliegendste „Konkurrenzidentität“ ist natürlich die Klassenidentität: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Und das ist in dem Zusammenhang bemerkenswert, dass der ‚woken‘ Idee oft (in meinen Augen zurecht) vorgeworfen wird, die Klassenfrage zu übertünchen.
    3d) „Wir möchten ein Bekenntnis zur Diversität, aber ..naja Ostdeutsche sind ja schon eher problematisch.“ Den Widerspruch merkste hoffentlich selber.

    In diesem Sinne bin ich auf eine Fortsetzung wo etwas tiefer „gebohrt“ wird, gespannt.

    • Stefan Sasse 15. Juli 2023, 19:44

      1a) gar nicht. hymne und flagge sind doch total unproblematisch, diese hysterie die du nennst kritisieren wir ja gerade
      1b) lol, wusste ich nicht, danke für die info. ich wollte aber vor allem die prosaische natur des 3. oktober unterstreichen; den 4. juli würden die auch nicht verlegen wollen
      2b) nope, aber es haben auch nicht alle länder militärparaden. ist das nicht eher so ein frankreich-ding im westen?
      2c) ne, der volkstrauertag ist in meinen augen nicht als äquivalent für den memorial day nutzbar. aber mag mich täuschen.
      3a) klar! das muss jede*r für sich entscheiden.
      3b) path to citizenship und aussicht auf teilhabe. doppelpass haben wir ja besprochen
      3c) welche klassenidentität? das ist so was wie das europäische bewusstsein. viel beschworen, wenig erlebt
      3d) nein

      danke!

      • cimourdain 17. Juli 2023, 10:44

        1a) Das liegt aber doch nicht an Flagge (die richtige) oder Hymne (Strophe 3), sondern daran, dass hierzulande jeder Bulls**t (vgl Bundesjugendspiele) mit religiöser Inbrunst umstritten wird.
        2b) Ich weiß, dass es in Rom es eine Parade zum Festa della Repubblica (Anfang Juni) gibt. Von Moskau möchte ich nicht reden (schlechtes Vorbild) – obwohl das nachgerade ein Musterbeispiel für die Integrationskraft eines gemeinsamen Geschichtsmythos ist.
        2c) In den 80ern war der VTT noch eine hochemotionale Sache, wo alte Leute zu „Ich hatt‘ einen Kameraden geheult haben“. Ihr sprecht davon, dass anerkannt werden soll, dass auch unsere Soldaten einen gefährlichen Beruf ausüben. Zur Realität gehört dann eben auch die dreistellige Anzahl der Toten bei Auslandseinsätzen seit 1990. Wenn du das honorieren willst, ist das der „richtige“ Tag.
        3b) Mir geht es hier nicht um den bürokratischen Teil, sondern um „nichtbinäre“ Nationalidentität. Eine USA-Beobachtung um das zu erläutern: Viele „Herkunftsethnien“ feiern sich dort (und lassen sich feiern) mit viel Tamtam: St.-Patricks-Tag, Cinco de Myo, Columbus Day, (und für uns) Steubentag. Wäre ein türkischer „Kara-Mustafa-Tag“ bei uns denkbar?
        3c) Aufgabe für eine funktionale(!) Linke, die sich nicht bloß mit Kleinkrieg gegen ihren Erzfeind (andere Linke) beschäftigt.

        • Stefan Sasse 17. Juli 2023, 12:52

          1a) ach was, umstrittenen bullshit gibt es überall
          2b) warum also sollte das mit liberalismus unvereinbar sein?
          2c) da kenne ich mich zu wenig aus.
          3b) tatsächlich nicht, hätte aber nix dagegen
          3c) jepp, da sind die seit drei oder vier jahrzehnten asleep at the wheel

          • cimourdain 17. Juli 2023, 18:01

            2b) Ich ahbe bewusst ein demokratisches und ein autokratisches Beispiel gewählt – auch wenn ich übertriebene (wo auch immer du das ansiedelst) Militärpräsenz als Symptom für Diktatur sehe.

            3b) So sinnvoll die Fragestellung an sich ist, habe ich noch eine Warnung vor allzu naiver Diversitätsförderung untergebracht:
            Ich hätte dir diesen Herrn als Namenspatron unterjubeln können 😛 : https://de.wikipedia.org/wiki/Kara_Mustafa_Pascha

            • Stefan Sasse 17. Juli 2023, 18:14

              2b) ja, aber eine parade im jahr ist ja nicht eben übertrieben.
              3b) ich wollte nicht googeln 😀 ich glaube, sobald wir darüber ernsthaft sprechen, würde man auch über die benennung nachdenken. ich glaube nicht, dass man das nach einer konkreten türkischen person benennen würde.

    • Ariane 16. Juli 2023, 14:59

      Danke!

      Bei aller Sympathie für die Diskussion dieses Themas seid ihr euch nach meinem Geschmack viel zu einig.
      Das ist auch ein bisschen Absicht, wir sind ja keine Talkshow, wo man die konträrsten Köpfe Deutschlands zusammenholt, die sich ne Stunde drüber streiten, ob violett nun rosa oder lila ist.

      1a) die Verkrampftheit haben wir imo deutlich kritisiert und der BILD-Aufreger war ja nicht, ob die Hymne gesungen werden soll, sondern ob Deutschland in der Vorrunde rausfliegt, weil Boateng oder sonstwer nicht mitsingt und ob alle dazu verpflichtet werden sollen (nein, bitte nicht)

      2) Wie oben erwähnt, kommen Themen wie die Nationalelf oder das Militär automatisch da auf, weil da ein Gemeinschaftsgefühl mit der Nationalität verbunden ist. Und die Bundeswehr setzt sich ja schon länger mit diesem Thema auseinander.

      Deswegen sind wir auch ein bisschen gesprungen (Stefan hat mich mit dem Thema auch etwas überfallen, weil ich nicht so ganz häufig über Patriotismus nachdenke).
      Aber: in welchem Kontext wird denn sonst darüber geredet?
      a) Bundeswehr (die plagen sich schon länger damit herum, gerade weil alles kontaminiert ist und sie quasi den größten Druck haben, sowohl die militärische als auch nationale Tradition komplett neu aufzulegen)
      b) alle zwei bis vier Jahre bei einem großen Fußballturnier
      c) Wenn irgendein Rechtsliberalkonservativer mal wieder die deutsche Leitkultur oder „Deutschland, aber normal“ beschwört.

      Ich hab da auch keine Alternative, die ich aus dem Hut zaubern kann, aber ich persönlich finde das doch unterwältigend. Eins lehne ich rigoros ab, das zweite ist mir egal, das dritte finde ich zumindest vom Problem und Denkansatz interessant.

      Übrigens fände ich Militärparaden nicht so pralle. Denn auch die deutschen Traumata gehören genauso zu unserer Geschichte und kollektivem Gedächtnis wie das Wirtschaftswunder (oder allgemeiner: der Wiederaufbau)

      3)Geht der woke Patriotismus überhaupt?

      Ich glaube, man muss die Frage umdrehen. Die lautet eher, ob wir Patriotismus den Rechtliberalkonservativen überlassen oder ob es gelingen kann, ihn neu und inklusiver zu definieren, der nicht darüber geht, erstmal zu klären, wer denn nicht dazu gehört.
      Und ja, vielleicht ist das zu schwammig, Stefan und ich sind ja auch nicht über „Bekenntnis zur FDGO hinausgekommen“ 😉

      3d) „Wir möchten ein Bekenntnis zur Diversität, aber ..naja Ostdeutsche sind ja schon eher problematisch.“ Den Widerspruch merkste hoffentlich selber.

      Nein, das ist ein Missverständnis. Eine nationale Identität entspringt einem gemeinsamen Erfahrungsschatz, ob nun historisch (Wirtschaftswunder) oder persönlich (Lieblingsserien oder 2006 WM) und sowohl Ostdeutschland als auch nicht gebürtige Deutsche haben da andere Anknüpfungspunkte. Wir können nicht automatisch davon ausgehen, dass die genauso sind und auch da braucht man dann etwas Neues oder mehr Offenheit.

      Auch mit größter Mühe ist es mir leider nicht gelungen, den Twitterthread wieder auszugraben, der bezog sich darauf, dass Zugewanderte nicht wie Biodeutsche reagieren, wenn sie ein KZ besuchen bzw mit der Nazizeit und dem Holocaust konfrontiert werden (vielleicht hat Stefan ihn irgendwo verbraten) und da gab es unter den Lehrern (oder was das war) Entsetzen und „das geht nicht“.

      Und daraus ergab sich die Fragestellung, wie wir so biodeutsche Erfahrungsschätze wie Stefans und meinen (sprich von Geburt an in Westdeutschland aufgewachsen) so öffnen, dass daran auch Erfahrungsschätze anknüpfen können, die ganz anders sind. Und zwar ohne sie auszuschließen oder in richtig und falsch zu kategorisieren.

      • Stefan Sasse 16. Juli 2023, 17:53

        volle zustimmung

      • cimourdain 17. Juli 2023, 11:01

        1a) Siehe meine Antwort an Stefan oben
        2) Warum Sport und Militär und nicht (zum Beispiel) Bahn, Post oder DWD. Keine Trollfrage sondern führt etwas weiter (siehe meinen Folgekommentar zu „normal“ unten)
        3) Auch dazu schreibe ich lieber unten detailliert (weil ihr imho Türen einrennt, die viel weiter offen sind als gedacht)
        3d) Jetzt bist du gefährlich nahe an der Leitkulturidee (die selbstverständlich westdeutsch ist). Und vergiss bitte nicht, dass Ostdeutsche unter 60 den größeren Teil ihres Lebens in Ganzdeutschland verbracht haben – ebenso wie die meisten „Zugewanderten“ von denen die meisten von Geburt an hier leben.

  • CitizenK 17. Juli 2023, 06:40

    „Wenn ihr’s nicht fühlt‘ ihr werdet’s nicht erjagen“

    Dolf Sternbergers Verfassungspatriotismus kommt hiwegar nicht vor.

    „Zustimmung kann der staatlichen Ordnung demnach nicht schon aufgrund einer geschichtlich gewachsenen Schicksals- und Erlebnisgemeinschaft erwachsen. Vielmehr vermag allein die gemeinsame Wahrnehmung von Freiheits- und Partizipationsrechten wirkliches Identitätsgefühl zu stiften“
    https://www.apb-tutzing.de/news/2021-03-02/verfassungspatriotismus-dolf-sternberger

    • Dennis 17. Juli 2023, 08:58

      Schön und gut; ist aber doch stark konzentriert auf das Bildungsbürgertum, heute würde man „Blase“ sagen. Es handelt sich also um eine Sub-Gemeinschaft (wir verstehen uns, weil wir Abitur haben, Unis intim von innen kennen, uns in Bibliotheken rumtreiben und selbstverständlich umfangreich belesen sind).

      Man sieht also auch an dieser Stelle primär eine Abgrenzung zu denen da draußen, in diesem Fall zu den eher Doofen, wenngleich das offiziell nicht so gesagt wird.

      AUSGRENZUNG. Der häßliche Bruder des wie auch immer definierten Patriotismus, heimlich immer dabei (man übersetze einfach mal „definieren“), von uns „Aufgeklärten“, die irgendwie „liberal“ unterwegs sein wollen, aber nicht näher beschrieben. Gehört in die Porno-Ecke, die es nur offiziell nicht gibt.

  • CitizenK 17. Juli 2023, 10:02

    Ja, aber sollten wir nicht zunächst hier nach Konsens suchen? Das entspricht doch Arianes „Definition“: Gemeinschaftsgefühl, bezogen auf das Land, in dem wir leben.

    Früher hab ich gedacht wie Ralf. Aber bis auf Weiteres bleibt die Menschheit in Nationen organisiert. Der Weltbürger ist nicht in Sicht, noch nicht mal der Eoropabürger.

    Deshalb sollten die Deutschen ihr neurotisches Verhältnis zu ihrem Land überdenken. Schwankend zwischen Überlegenheitsgefühl und Unterlegenheitsgefühl, zwischen Arroganz und Minderwertigkeitskomplex.
    Suboptimal. Ein unverkrampfter Umgang wäre doch wünschenswert. Vielleicht gibt es ja einen besseren Begriff dafür?

  • cimourdain 17. Juli 2023, 11:38

    Ihr kritisiert das „Deutschland Normal“ Denken der Rechten unter der Maßgabe, das es ein Code für „Deutschland so wie ich bin“ ist. Es gibt aber noch eine andere Perspektive: Normal im Sinne von „funktionierend“. Es gab im „alten“ Deutschland neben dem „Wirtschafts-“ auch einen „Funktionieren-„ Patriotismus: Stolz zu sein, dass in Deutschland Züge und Post pünktlich sind, man ohne Bestechung eine Genehmigung bekommt und sich der Müll nicht neben der Straße stapelt. Auf solche Themen kommen die „Deutschland ist nicht mehr, was es mal war“ früher oder später immer zurück. Viel Nostalgie dabei, aber durchaus ein wichtiger Anknüpfungspunkt.

    Denn, wenn ihr die Diversität wirklich(!) ernst nehmt, sollte es eben nicht den „einen“ richtigen Patriotismus geben, der (wie ihr selbst sagt) auf gar keinen Fall von „oben“ (Ministerium, Thinktank, PR_Agentur) kommen soll. Also muss jeder selbst zu einer Identifikationsebene kommen. Ob das ein Flaggenbadetuch ist, die Verfassung im Bücherregal oder der Stolz auf die landschaftlichen oder kulturellen Schönheiten in der Nähe, sollte dann auch nicht wirklich wichtig sein.

    Und in dieser Hinsicht haben wir hierzulande imho in der Gesamtheit einen ziemlich gesunden und „modernen“ Patriotismus entwickelt. Es gibt keine ernsthaften politischen oder gar gewaltbereiten Separatistenbewegungen wie in vielen anderen europäischen Ländern. Wir haben kaum Emigranten in andere EU Staaten:
    https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/247576/binnenmigration-in-der-europaeischen-union/
    Also warum genau sollen wir dieses Fass eigentlich aufmachen?

  • destello 17. Juli 2023, 22:07

    Ich wollte hier noch einmal meine Meinung zur (deutschen) Staatsbürgerschaft für Migranten einbringen. Stefan setzt „die deutsche Staatsbürgerschaft haben“ mit „Deutscher sein“ (auch wenn es recthlich natürlich korrekt ist) bzw. „sich als Deutscher fühlen“ gleich und das ist nicht das Gleiche. Gerade nicht-EU-Migranten wollen die deutsche Staatsbürgerschaft haben, weil sie enorme Vorteile bietet, aber ich glaube die grosse Mehrheit, würde die Frage nach „Sind oder fühlen Sie sich als Deutsche(r)“ verneinen. Ich habe da mein Damaskus-Erlebnis gehabt als ich in England für ein Jahr studierte. Die Uni hatte sehr viele Studenten aus Commonwealth-Ländern, insbesondere Paktistan, Indien und Nigeria. Wenn ich sie fragte, woher sie kommen (bzw. allgemeiner „where are you from“?), dann sagte niemand „England“ oder „Great Britain“, sondern nannte ihr Ursprungsland, gleichgültig, ob sie da auch wirklich geboren wurden. Und wenn ich dann nachbohrte, wie sie in England studieren konnten, dann sagten sie verdruckst, sie hätten einen englischen Pass (nicht, dass sie Engländer wären!) oder oft sogar, „einen europäischen Pass“ – wobei das einen englischen Pass bedeutete. Bei meinen Kindern ist es das Gleiche; sie haben einen deutschen Pass, aber als Deutsche fühlen sie sich nicht, sondern nur als Mexikaner und das ist auch erwartbar, da meine Frau Mexikanerin ist, sie ihr ganzes Leben in Mexiko gelebt haben und unser Leben einfach komplett mexikanisch ist. Und das ist es worauf es ankommt, nicht auf den Pass.
    Den Patriotismus würde ich daher von der Staatsbürgerschaft unabhängig machen. Es ist wichtig, als was man sich fühlt und darauf muss man aufbauen. Deutschland tut sich da schwer, da für das Deutschsein deutsche Eltern massgeblich waren. Bei den USA war das schon immer anders und sie sind auch in der Lage, das Einwanderern fühlen zu lassen, so dass man sich weniger ausgeschlossen fühlt und meint, Teil der US-Geschichte zu sein, obwohl man selber oder die Eltern damit nichts zu tu gehabt hatten.

    • Stefan Sasse 18. Juli 2023, 07:30

      ich sehe was du meinst, aber ich wollte mit der betonung halt vermeiden, dass „deutsch“ so eine exklusive Kategorie wird. so wie du es beschreibst hab ich kein problem damit.

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.