Rezension: Caroline Elkins – Legacy of Violence: A History of the British Empire (Teil 3)

Teil 1 findet sich hier, Teil 2 hier.

Caroline Elkins – Legacy of Violence: A History of the British Empire (Hörbuch)

Teil drei, „Trysts with Destiny“, beginnt mit der Rede Nerus, aus der das Zitat stammt: Indien habe „eine Affäre mit dem Schicksal“. Selbige „Affäre“ bestand aus der Unabhängigkeit, aber nicht eines Landes, sondern zweien: Indien und Pakistan. Der Mann, den Clement Attlee nach Kalkutta sandte, um das Land zu teilen, war ein arroganter Adeliger voll endlosem Selbstbewusstsein: Count Mountbatten. Er erhielt bis 1948, um die Macht ordnungsgemäß an zwei neue Staaten zu übergeben.

Im zehnten Kapitel, „Glass Houses“, verfolgt Elkins die Geschichte dieser Machtübergabe. Indien war das titelgebende „Glasshaus“, und an Steinewerfern (eine naheliegende Metapher, die Elkins nicht nutzt) mangelte es wahrlich nicht. Radikale Hindus terrorisierten sowohl Muslime als auch moderate Hindus (Ghandi sollte einem der ihren zum Opfer fallen), während sich die radikalen Muslime ihrerseits revanchierten. Die Sikh indessen saßen zwischen allen Stühlen. Auch wenn weiße Narrative diese Art ethnischer Gewalt gerne der Unterentwicklung der entsprechenden Regionen zuschreiben, so postuliert Elkins doch klar, dass die rassistischen Hierarchien der Briten sie über Jahrzehnte maßgeblich vorbereitet hatten. 

Der Plan der Briten, für Ordnung zu sorgen und das Land zu teilen, wäre daher schon unter normalen Umständen fast unmöglich. Doch sie waren keine neutralen Vermittler in Blauhelmen. Vielmehr hatten sich bereits im Krieg mit den Aufstandsbewegungen der Nationalisten in der Indischen Nationalarmee (INA) Märtyrer gebildet, die auch vor einem Bündnis mit Faschisten nicht zurückschreckten. Die plumpen Versuche der Briten, solche ehemaligen Kollaborateure im Stil Nürnbergs anzuklagen – völlig unsensibel auch noch an den Orten, die sie vorher für politisch-willkürliche Schauprozesse nutzten – riefen Welle um Welle politischer Gewalt hervor, der die Kolonialtruppen in eingeübter Weise begegneten. Die Region war ein Pulverfass.

Mountbatten entschied daher, dass die Würze in der Kürze liegt, gab unilateral einen Unabhängigkeitstag zehn Monate vor Ende der Deadline bekannt (die er mit dem Burnout der Kolonialbürokratie begründete) und machte sich daran, Grenzen festzulegen. Seine Priorität war das Erhalten des Anscheins, und so kam dem Uniformzeremoniell am Tag der Flaggenhissung mehr Aufmerksamkeit zu als dem Schutz von Millionen, die nun auf der Flucht waren – und von Todesschwadronen niedergemetzelt wurden.

Nirgendwo tauchten die methodischen Schwächen von Elkins‘ Werk so sehr auf wie in diesem Kapitel. Zwar wurden Vorkommnisse wie die von Churchill ausgelöste Hungersnot in Bengal 1943 immer wieder erwähnt und werden die inner-indischen Konflikte, die die Kolonialmacht selbst geschürt hatte, immer wieder gestreift. Aber letztlich bleibt der Blick bei aller vernichtenden Kritik am Empire stets der der Weißen, bleibt die Betrachtungsweise immer fest auf die Briten selbst gerichtet. Dem Verständnis steht das allzuoft im Wege.

Ähnlich sieht die Lage in Palästina, einem anderen Glashaus. Hier beginnt direkt nach dem offiziellen Ende des Weltkriegs der Guerillakrieg der radikalen Zionisten gegen die Mandatsmacht – und die britische Hoffnung, aus der Region billiges Öl zu beziehen und damit den Wiederaufbau zu befeuern. Die Briten führten einen wahren Eiertanz auf, um die moderate Jewish Agency nicht ins Lager der Radikalen zu treiben, was aber darauf hinauslief, den jüdischen Terroristen freie Hand zu lassen. Truman indessen begann, eine schützende amerikanische Hand über diese zu halten, was Elkins mit innenpolitischen Anreizen („wir haben hunderttausende jüdische, aber keine arabischen Wählenden“) und außenpolitischer Unerfahrenheit Trumans und Beeinflussung durch zionistisch gesinnte Berater erklärt, was durchaus stimmen mag, in der Kürze aber in gefährliche Nähe antisemitischer Stereotype gerät.

Ein großer Unterschied des Kampfs in Palästina gegenüber dem in Indien und anderswo im Empire war in jedem Fall die Öffentlichkeitsarbeit: die Zionisten waren sehr gut daran, ihre Botschaften in der liberalen Presse zu lancieren, und zum ersten Mal erlebte Großbritannien den Verlust der Meinungshoheit: ihre Gewalttaten wurden recherchiert, aufgedeckt und angeprangert. Der Widerspruch zwischen den propagierten Werten und den Behauptungen offizieller Stellen gegenüber dem Geschehen vor Ort machte dem Land massive Probleme – eine deutliche Parallele zu Vietnam und Irak später.

In Kapitel 11, „Exit Palestine, Enter Malaya“, endet dann das Drama in Palästina. Die Briten standen mit der Irgun einem Gegner gegenüber, der offen selbst das Macht- und Gewaltmonopol beanspruchte und das dank der Verankerung in der Gesellschaft auch vielerorts durchsetzen konnte. Die britischen Repressalien waren dagegen ungeheuer grob und verschlimmerten die Lage nur weiter, während die Öffentlichkeitsarbeit vor allem in den USA die Stimmung gegen die Mandatsmacht wandte. Die Briten hofften, das Dilemma zu lösen, indem sie die heiße Kartoffel der UNO übergaben. Doch die entschied für einen Teilungsplan – und nicht für die Araber, wie die Briten gehofft hatten.

Vor die Wahl gestellt, entweder mit massivem Einsatz und ebenso massiver Gewalt die Irgun zu unterdrücken oder das Land zu verlassen, entschieden sie sich für Letzteres. 1948 verließen die Briten das Land endgültig, während um sie herum bereits der Unabhängigkeitskrieg tobte – den Israel dank des jahrelangen britischen Trainings und der britischen Ausrüstung gewinnen würde, die ihm einen unermesslichen Startvorteil verschafften. Die bereits in Bengal und Irland geprägten Beamten nahmen ihre neuen Anti-Terrorerfahrungen in neue Schauplätze mit, vor allem an die Goldküste und nach Malaya, die nun die neuen Brennpunkte des imperialen Abwickelns wurden.

An der Goldküste traf die rassistische Grundeinstellung der Briten zum ersten Mal auf die kommunistische Ideologie. Die Beamten stellten zwar fest, dass „die Nigger keine Ahnung vom dialektischen Materialismus haben, sondern nur der Seite beitreten, die ihnen verspricht, dass Nigger sich selbst verwalten dürfen“, fand aber außer den üblichen Terrortaktiken keinen anderen Ansatz gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung.

Noch krasser war es in Malaya: nach drei Jahren erbitterter Dschungelkämpfe gegen die Japaner waren die Einheimischen überzeugt, dass die angebliche rassische Überlegenheit der Briten nichts als eine hohle Phrase war. Der Versuch des Empires, sie einfach zu demobilisieren und zum Status Quo zurückzukehren, trieb die ehemaligen Guerillas – ausgerüstet und ausgebildet von den Briten selbst – den Kommunisten in die Arme. Die „Palestinians“ (also die Truppen aus Palästina) begannen auch sofort mit ihrer Ankunft in Malaya, dort dieselben Terrortaktiken wie in Palästina anzuwenden – mit demselben Erfolg. Noch schwerwiegender wirkte sich das Verbot aller Parteien außer der des Sultans aus, der den Briten gegenüber loyal war; zehntausende wurden in den Untergrund getrieben, wo die kommunistische Guerilla sie aufsaugte.

Das zwölfte Kapitel, „Small Places, Close to Home“, beginnt mit der Frage an Eleanor Roosevelt anlässlich der Verabschiedung der UN-Menschenrechtscharta, wo die darin implizierten Veränderungen beginnen sollten. „In small places, close to home„, antwortete Roosevelt. Sie meinte die Familien, in denen etwa Frauen endlich die ihnen nun auch verbrieft zustehenden Rechte einfordern sollten. Auch Großbritannien gehörte zu den Unterzeichnerstaaten der Charta. Doch Ausnahmebestimmungen, die Elkins im Detail erläutert, erlaubten es dem Empire, analog zur damaligen Völkerbundsatzung für sich in Anspruch zu nehmen, dass die Charta nicht in den Kolonien gelte.

Die „small places, close to home“ in diesem Kapitel sind daher auch nicht die Durchsetzungsorte der Menschenrechte, sondern die detention camps, die die Briten überall in Malaya eröffneten (wie sie es zuvor auch schon in anderen Kolonien taten). Da die Briten den propagandistischen Kampf gegen die kommunistische Guerilla verloren – praktisch niemand sprach die Landessprachen, von den regionalen Dialekten ganz zu schweigen, und die Flugblätter, die unterschiedslos in den Dschungel geworfen wurden, enthielten so inspirierende Botschaften wie „cooperate with the police – big reward!„, während die Kommunisten die Sprache der Ansässigen sprachen und, vor allem, präsent waren – verlegten sie sich umso mehr auf Terrortaktike.

Deren Grundlage war einmal mehr eine dumpf-rassistische Kategorisierung. In Malaya lebte eine große chinesischstämmige Minderheit (wenngleich oft seit Generationen), und da die Volksrepublik 1949 als kommunistische Diktatur gegründet worden war, identifizierten die Briten die Chines*innen als „Kommunisten“. Ihre Häuser und Dörfer wurden niedergebrannt (was die Behörden gerne als „freiwilliges Verlassen der Slums“ verbrämten), die Menschen in Lager gesperrt und von dort illegal nach China deportiert (die britische Regierung bestach norwegische Handelskapitäne, die menschliche Fracht nach China zu bringen). Einmal von der Menschlichkeit abgesehen, mittellose Flüchtlinge ohne lokalen Bezug während des „Großen Sprungs nach vorn“ in Maos Diktatur abzuladen, nahm China aber viele der Menschen ohnehin nicht an, weil es sie nicht als Chines*innen akzeptierte – wenig überraschend, bedenkt man wie lange die Menschen schon nicht mehr in China gewesen waren. So entstanden Elendslager voller Menschen in katastrophalen Bedingungen.

Gleichwohl war die Strategie nicht ohne Erfolg. Die Terrorkampagne der Kommunisten mit ihrem Verbrennen von Gummibaumplantagen una Angriffen auf Kollaborateuren sorgte dafür, dass ein Großteil der Bevölkerung sich weniger kommunistischen Zielen hingezogen fühlte als vor allem den Krieg überleben wollte und die Köpfe einzog. Wie jedoch in vergleichbaren Konflikten hatten die Aufständischen den gewaltigen Heimvorteil: sie lebten hier, die Briten waren letztlich nur Gäste. Als die Kommunisten den Hohen Kommissar Henry Gurney 1951 ermodeten, war dies für die meisten Briten ein Wendepunkt: der Dienst in den Kolonien war, in den Worten Elkins‘, nicht mehr der „Boy’s Club“ von früher, sondern ein gefährlicher und aufreibender Dienst am Ende der Welt.

Kapitel 13, Systematized Violence“, beginnt mit den Wahlen 1951. Labours Mehrheit war deutlich geschrumpft, und die Partei trat mit einem Programm von Frieden im Empire an. Die Tories dagegen hämmerten Labour mit Anklagen über „Schwäche“ im Umgang mit den Aufständen, und Churchill verkündete überall, was er alles besser gemacht hätte. Er bekam seine Chance. Unter seiner Regierung erhöhte Großbritannien seinen Militäreinsatz in Malaya massiv. Bei der Unabhängigkeit 1956 waren über eine Million Chines*innen deportiert und die soziale Struktur des Landes durch forcierte Umsiedelungen massiv zerrüttet. Aber aus Londons Sicht durfte der Einsatz als Erfolg gelten: die Kommunisten waren nach Thailand vertrieben worden und spielten nur noch eine marginale Rolle, und die rigorose Betonung von rassischen Grenzen hatte eine tragfähige, auf ethnischem Nationalismus beruhende Regierungspartei entstehen lassen, die im Sinne Großbritanniens zu regieren bereit war. Dies war besonders wichtig, weil Malaya im Sterling-Währungsgebiet zu verbleiben hatte: es verdiente so viele Dollars im Außenhandel wie kein anderer Teil des Empire und war für die britische Zahlungsfähigkeit entscheidend.

Weiter geht’s in Teil 4.

{ 4 comments… add one }
  • Lemmy Caution 15. April 2023, 07:09

    Wenn man sich mit so einem Zeug beschäftigt, wird die Aussage des chinesischen Außenministers, dass er keine ihm Ratschläge gebende deutsche Außenministerin braucht, nicht richtiger aber verständlicher.

    Äußerung einer in Schwedin lebenden (und vermutlich geborenen) Chilenin in Sozialen Medien ->
    QUOTE
    Ich lebe in Stockholm und kämpfe jeden Tag; um zu argumentieren, warum es nicht angemessen ist, der NATO beizutreten, mit einem Volk, das nicht für sich selbst denkt.
    /QUOTE
    Ich habe übrigens Chat GPT gebeten, diese Übersetzung anzufertigen.
    Laut neuesten Umfragen befürworten 60% der Schweden einen NATO Beitritt, 19% sind dagegen.
    Dieses „Volk, das nicht für sich selber denkt“ wäre wohl auch für die britische Kolonialbürokratie ein überzeugendes Argument.

    • Stefan Sasse 15. April 2023, 10:55

      Häh? 😀

      • Lemmy Caution 15. April 2023, 12:35

        Welcher Teil ist unverständlich?
        1. Wir müssen die in China offenbar sehr präsente Phase der 100 Jahre Demütigung durch den Westen beachten, um die aktuelle Außenpolitik des Landes nachvollziehen.
        2. Die chileno-Schwedin spricht der überwältigenden Mehrheit der Schweden deren eigenen Fähigkeit zum rationalen Denken ab. Eine kolonialistischere Attitüde gibt es nicht.

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