Rezension: Adrian Daub – Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst (Teil 2)

Adrian Daub – Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst

Für Daub ist der Cancel-Culture-Diskurs letztlich ein literarisches Genre, ein Framing, das angesichts seiner Profession als Listeratur- und Sprachwissenschaftler naheliegt. Da er sich ständig um amerikanische Universitäten dreht, macht es mehr als Sinn, dass er in Kapitel 3 die Universität als literarischen Topos genauer unter die Lupe nimmt. Immerhin 40% aller Amerikaner*innen (!) haben Zeit auf einem Campus verbracht, wenngleich natürlich für viele die Erfahrung schon länger zurückliegt. Anders als in Deutschland ist der Campus ein weit verbreiteter Handlungsort der Popkultur, von Komödien bis zu Law&Order. In all diesen literarischen Verarbeitungen ist der Campus ein ewig gleicher, unveränderlicher, festen Klischees gehorchender Ort. Diese Unveränder- und Unspezifiziertheit macht den Campus kaum greifbar, dafür aber paradoxerweise umso präsenter und stets verallgemeinerbar.

Es ist auf diesem fruchtbaren Grund, aus dem das Genre der Campuskritik fröhlich spross. Es war der konservative Vordenker William Buckley, Idol aller Konservativen in den USA, der mit „God and Man in Yale“ in den späten 1950ern die Urform rechter Campus-Kritik herausbrachte. Das Problem war nicht etwa Atheismus oder progressive Gedankenhaltung, sondern „christlicher Individualismus“ und andere Denominationen als die klassisch protestantische. Aus heutiger Sicht inhaltlich völlig aus der Zeit gefallen, aber im Schema seither 1:1 reproduziert. Der Campus wurde zu einem fantastischen Ort, an dem alles mögliche passieren konnte. Ein Dauerbrenner ist die angebliche Verbannung der Klassiker; in jedem Jahrzehnt seit 1960 behaupteten Konservative, dass Shakespare und Konsorten nicht mehr, irgendwelche linken Intellektuellen dafür umso mehr gelehrt würden. Die Intellektuellen waren damals schon irrelevant und sind heute völlig unbekannt, während Shakespare weiterhin in den Lehrplänen verankert ist. Das hält aber niemanden davon ab, auch heutzutage anderslautende Behauptungen vorzubringen.

Der nächste große Schritt in diesem Genre war Ronald Reagan, der noch als Privatmann im Stil McCarthys angebliche Geheiminformationen über linke Verschwörungen am Campus publizierte und als Gouverneur von Kalifornien Wahlkämpfe damit gewann, Soldaten auf den Campus von Berkeley zu schicken. Als er Präsident wurde, war unter Republicans das Bashing von Universitäten bereits Routine. Der letzte Baustein dieses Genres besteht für Daub in den Neokonservativen, die unter Reagan und Bush ihre Blüte erlebten. Sie entstammten dem Milieu selbst, waren nie davon losgekommen und verabscheuten es doch aus tiefster Seele. Sie waren ideale Kronzeugen – und die ersten Autoren, die auch in Deutschland reproduziert worden. Doch wo ihre Werke im Original „im sokratischen Ideal“ provozieren sollten (vor allem Adam Blooms), wurden sie von deutschen Medien (vor allem der NZZ) als Fakt rezipiert – ein Muster, das sich im Diskurs bis heute beständig wiederholt und das auch in der Cancel-Culture-Debatte zu sehen ist. Kontextkollaps, indeed.

Diese Literarisierung verfolgt Daub in Kapitel 4 weiter, in dem er es als „Melodrama“ fasst. Exemplarisch erzählt er dazu die Geschichte von Stephan Thernstrom, einem Professor, dessen Geschichte 1991 in den USA ausführlich rezipiert wurde, ganz besonders aber in Deutschland Eindruck fand (so sehr, dass Jan Fleischhauer sie im Spiegel 2002 noch als Beweis für aktuelle (!) Zustände an US-Unis herauskramte, was einmal mehr die Mythologisierung der Thematik aufzeigt). Drei Studierende warfen ihm vor, in einer Vorlesung rassistische Topoi bedient zu haben. Thernstrom was so etwas wie der Patient Zero einer literarischen Figur, die seither ständig Hochkonjunktur hat: der unbescholtene Professor, der „aus heiterem Himmel“ von radikalen Studierenden in seiner Existenz bedroht wird.

Daub arbeitet heraus, welche Elemente dieses Narrativ besitzt. So findet sich die angebliche Konversion durch die Ereignisse (Thernstrom wurde ständig als Linker dargestellt, der von Hexenjäger*innen des eigenen Lagers zu den Konservativen getrieben wurde; dabei war er bereits in den 1980er Jahren eine einflussreiche konservative Stimme); die Behauptung, die Studierenden hätten vorher keinen Kontakt gesucht (glatte Lüge); die Universitäts als rückgratlose Umfaller (tatsächlich vermittelte sie in der Thematik); die Vorstellung, die Studierenden hätten den Angriff angefangen (tatsächlich hatte eine Zeitung recherchiert und die Geschichte dramatisiert); und so weiter. Daub weist auf tatsächlich fiktionale Werke solcherart attackierter Professoren hin, die um 2000 Konjunktur hatten und in denen sich bemerkenswerterweise nie jemand juristisch zur Wehr setzt; stattdessen wird die Kritik immer als existenzielle Krise empfunden.

Ein weiteres Puzzlestück sind die speech codes, die gerne als Beleg für repressive Campus-Kultur herhalten müssen. Das sei ein großes Missverständnis, denn solche Codes gab es an den Universitäten schon immer. Bis weit in die 1960er Jahre hinein etwa verboten die Universitäten den Studierenden von Übernachtungen in Motels über Sex bis zu Blasphemie alles Mögliche und warfen sie für Verstöße hinaus – Meinungsfreiheit suchte man an den Universitäten vergeblich; an den privaten sogar noch viel mehr. Es war die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die diese Regeln angriff – und die Universitäten reformierten sie. Diese Überarbeitungen wurden kodifiziert, und gerade diese Änderungen erschienen den bisher Privilegierten dann plötzlich als Eingriffe – in Wirklichkeit waren sie gegenüber der bisherigen Praxis krasse Liberalisierungen.

Am Beispiel des fiktiven Coleman Silk zeigt Daub zudem auf, welches Eigenleben diese Narrative oft entwickeln. Eine Geschichte in den 1960er Jahren wurde durch die Jahrzehnte immer wieder als aktuelles (!) Beispiel für Opfer von Political Correctness, Cancel Culture oder wie auch immer der Begriff gerade lautete, hergenommen. Selbst Joachim Gauck bezog sich in einer Rede darauf, entweder absichtlich oder (wahrscheinlicher) unwissentlich der Tatsache, dass es sich um einen sechzig Jahre alten Roman und nicht eine Tatsache handelte.

Solcherlei Anekdoten sind natürlich nicht grundsätzlich verwerflich. Nutzen und Schaden der politischen Anekdote bilden daher das Thema von Kapitel 5. Daub postuliert eingangs, dass Anekdoten sehr selektiv, aber absichtlich verwendet werden, um einen bestimmten Eindruck im Diskurs zu erzeugen. Diese Anekdoten verlieren dabei ihren ursprünglichen Kontext. Die erste richtig große Cancel-Culture-Anekdote sei der Fall Jordan Peterson gewesen, der 2016 mit drastischen Warnungen (faktisch falsch) ein kanadisches Antidiskriminierungsgesetz kritisierte und dafür selbst kritisiert wurde. Er präsentierte sich als Opfer, und binnen kürzester Zeit wurde er zur Vorzeigeanekdote für angebliches „was man nicht sagen darf“. Dass Peterson das ständig sagte und damit reich wurde, spielt dabei wie bei den meisten „Opfern“ dieser Art keine Rolle. Ich erinnere mich noch selbst daran, wie konservative Bekannte plötzlich 2017 anfingen, die Peterson-Geschichte zu erzählen. Der Wahrheitsgehalt von Anekdoten sei nicht so bedeutend wie ihre Plausibilität: sie müssten sich echt anfühlen, wie das angebliche Verbit „flip charts“ zu benutzen, um Philippinos nicht zu beleidigen.

Die Anekdoten funktionieren besonders dann, wenn sie sich aktuell anfühlen. Daub weist anhand einiger Beispiele nach, wie alt sie oftmals sind, besonders was Sprachverbote angeht – die Zigeneuerschnitzeldebatte ist etwa mindestens 20 Jahre alt, die Indianer-Debatte mindestens 30, halten aber beide immer als Beweis für eine angeblich neue Qualität der „Zensur“ heran. Diese Debatten sieht er vielmehr als normalen Teil demokratischen Miteinanders. Die vergangene Aufregung werde aber schnell vergessen und sei deswegen immer wieder „neu“. Oft sie der Ursprung der Anekdoten außerdem satirisch, was aber ebenso schnell vergessen werde. Daub postuliert hier auch, dass man sich fragen sollte, woher die obskuren Anekdoten eigentlich kommen: er zeigt Beispiele rechtskonservativer amerikanischer NGOs auf, die mit großem Aufwand solche Anekdoten verbreiten, aber ihre eigene Herkunft dabei verschleiern. Die Effektivität dieser Taktik ist offenkundig.

Auffällig sei auch die „Fokalisierung“ der Anekdoten: sie berichten stets nur aus einer Perspektive; die andere Seite bleibt meist gesichts- und namenlos (irgendwelche Aktivist*innen oder Studierende, die aber nie identifiziert werden). Auch die Plötzlichkeit des Cancelns („aus heiterem Himmel“) gehöre zum Genre.

In Kapitel 6, „Lokalisierung einer globalen Panik“, befasst sich Daub mit dem literarischen Ort Amerikas in der Debatte. Der Begriff „Cancel Culture“ alleine deute bereits auf etwas Fremdes hin; für Daub ist es bemerkenswert, dass er europäischen Zungen leichter falle als amerikanischen, weil mit „Kultur“ hierzulande völlig unterschiedliche Konnotationen verknüpft seien als jenseits des Großen Teichs. Auch sei auffällig, dass Cancel Culture immer im Hinblick auf andere Länder betrachtet wird: Macron etwa schimpft über den Einfluss aus Amerika, während hierzulande in Frankreich das Ganze schon als verwirklich sieht. Die NZZ arbeitet sich am „woken“ Deutschland ab, während die FAZ britische Verhältnisse besonders hervorhebt.

Interessant ist der Vergleich zu 1968, den Daub zieht. Die Amerikafixierung sei dieselbe, ebenso wie der Habitus: man nimmt an, dass amerikanisch konnotierte Werte wie Meinungsfreiheit von Amerika aus in Gefahr seien und nur durch deutsche Musterschüler*innen zu retten seien. Daub zeigt anhand Bestandteilen des französischen Diskurses auf, wie idiosynkratisch dieser ist: die Rede ist hier vom „Linksislamismus“ (also der angeblichen Zusammenarbeit der Linken mit Islamisten), die sich aus der langen Terrorgeschichte der letzten Zeit erklärt. Solche nationalen Eigenheiten werden dem Cancel-Culture-Diskurs übergestülpt, die Begrifflichkeiten dabei ihrer Bedeutung entkernt.

Am auffälligsten aber sei, so Daub, dass die Cancel-Culture-Kritik sich durch eine „Epidemie des Nichtlesens und Nichtzitierens“ auszeichne. Es bestehe eine geradezu virulente Weigerung, sich überhaupt mit den Konzepten auseinanderzusetzen. Die Kritik richte sich gegen Vogelscheuchen, die verwendeten Begriffe und Autor*innen haben mit den Originalen meist nur wenig zu tun. Dazu passt, dass der „Identitätspolitik“ (das andere große Feindbild) jegliche Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen wird. In den „Streit-“ und „Debattenressorts“ der bürgerlichen Presse werde zwar ÜBER die andere Seite der Debatte gesprochen, aber nicht mit ihr; ein Dauermonolog werde als Dialog getarnt.

Zu Beginn von Kapitel 7, „Poetik der Cancel-Culture-Texte“, arbeitet Daub die Unterschiede zwischen der Berichterstattung über Cancel Culture zwischen Deutschland und den USA auf. Kurioserweise ist das Phänomen in Deutschland viel mehr rezipiert als in seinem Ursprungsland. Auch das Genre ist ein anderes: in den USA gehören Artikel über Cancel Culture eher als große Essays und Titelthemen in den Politikbereich, während sie in Deutschland praktisch nie im Politikteil stehen und stattdessen ein fester Stilbestandteil des Feuilletons sind. In Deutschland kommt die Thematik auch ständig in Texten vor, die nicht hauptsächlich damit zu tun haben – von Interviews über Rezensionen. Zudem macht Daub erneut eine „Performanz der Unneugier“ aus, die er mit den Sozialen Netzwerken vergleicht. Ohnehin sei auffällig, dass die Online-Redaktionen aller Zeitungen (unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung) weniger über das Phänomen berichten als die Printjournale.

Er postuliert das als Frage der Diskurshoheit: das deutsche Feuilleton (eine Rubrik, die in den USA bezeichnenderweise gar nicht existiert) beansprucht diese für sich. Nur Diskussionen im Feuilleton sind satisfaktionsfähig; finden diese in den Sozialen Netzwerken statt (oder auf Campussen oder sonstwo), sind sie mit dem Ruch des Illegitimen behaftet. Da das Feuilleton aber nach wir vor eine stark abgeschottete Welt sei, kämen bestimmte Sichtweisen dort kaum vor. Gleichzeitig verweist Daub auf das Genre des Feuilletons, den Essay (in seiner deutschen Variante; meine Schüler*innen sind permanent davon verwirrt, dass „Essay“ im Deutsch- und Englischunterricht völlig unterschiedliche Dinge beschreibt). Dieser ist durch seine starke Subjektivität, lockeres Verhältis zu Fakten und Neigung zu sprachlicher Überdramatisierung geprägt, die ansonsten eher journalisitische Fremdkörper sind. Deswegen entfaltet der Cancel-Culture-Diskurs in Deutschland auch seine Eigenheiten.

Kapitel 8, „Aufmerksamkeit und Ökonomie“, beginnt mit der von mir auf dieser Seite auch schon oft gebrachten Feststellung (wenngleich von Daub empirisch unterfüttert), dass der Diskurs über das Gendern, Identitätspolitik und Cancel-Culture von rechts betrieben wird, während er in linkeren Kreisen bei weitem keine so große Rolle spielt. Daub spürt dabei Autoren wie Ulf Poschardt und Medien wie der NZZ nach, die diese Topoi besonders bedienen, und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Abomodell“ – sowohl, weil die Cancel-Culture-Geschichten nachweislich Abonnentenzahlen treiben als auch, weil sie eine große Gleichförmigkeit aufweisen. Beide Faktoren wies bereits der Political-Correctness-Diskurs auf, auf dem die Cancel-Culture-Debatte basiert.

Abschließend macht Daub anhand des YA-Genres deutlich, wo die Gefahren einer Cancel Culture tatsächlich liegen. Hier werden prekäre Autor*innen ohne jeden Schutz im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie zu pointierten Statements gedrängt, um „Profil“ zu erwerben, und im Falle eines Shitstorms ohne Weiteres fallengelassen. Die Zahl der Professor*innen an US-Unis mit tenure hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ebenso halbiert wie die festangestellter Journalist*innen. Aber es sind arrivierte, privilegierte und sichere Leute, die sich über Cancel Culture echauffieren und ihre Befindlichkeiten thematisieren, nicht die eigentlich Bedrohten. Sie spielen im Diskurs auch praktisch keine Rolle.

Daubs Darstellung des Phänomens Cancel Culture ist ebenso erschöpfend wie treffend. Ich will gar nicht viel weitere Worte verlieren und es stattdessen uneingeschränkt empfehlen.

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