Rezension: Caroline Elkins – Legacy of Violence: A History of the British Empire (Teil 1)

Caroline Elkins – Legacy of Violence: A History of the British Empire (Hörbuch)

Als Niall Ferguson 2018 sein Buch „Empire. How Britain made the modern world“ (Hörbuch) veröffentlichte, bekam er genau den Skandal, den er hatte provozieren wollen. Seine These, wonach das Empire trotz eventueller kleinerere Schwächen ein Plus für die Welt wäre, weil es ohne die britischen Tropenhelmträger weder die indischen Großstädte noch die heutigen Kulturen gäbe, stieß auf harsche Kritik derjenigen, die am receiving end der britischen Imperialpolitik gesessen hatten und noch heute unter deren Folgen zu leiden haben. Fergusons Sicht wurde, um es milde auszudrücken, kein neuer Konsens, sondern blieb als Kuriosum einer Sicht, über die in den 1960er Jahren noch niemand eine Augenbraue hochgezogen hätte übrig, ein Anachronismus der heutigen Debatte. Nirgendwo wurde das so deutlich wie im Statuensturz im Gefolge der #BlackLivesMatter-Proteste, die auch die koloniale Vergangenheit der europäischen Staaten, ob im Vereinigten Königreich, Deutschland oder Belgien, auf die Agenda rückte. Caroline Elkins legt nun eine Art Gegenentwurf zu Ferguson vor, indem sie in „Legacy of Violence“ den Blick auf die Gewaltstrukturen und ihre Herrschaftsformen wirft.

In ihrer Einführung beschreibt sie neben den erwähnten Statuenstürzen und Fergusons Sicht auf die Dinge eine Art mission statement: Gewalt sei aus der kolonialen Praxis nicht wegzudenken, sie gehörte zum Empire strukturell dazu. Im Verlauf der Geschichte des Empires nahm sie dabei in der Herrschaftspraxis immer mehr zu, was sicher auch mit dem steigenden Vermögen des britischen Staats zusammenhing, solche Gewalt überhaupt anzuwenden. Die Unterworfenen wurden, sofern sie sich wehrten, als Terroristen gebrandmarkt, ihre Wünsche nach Unabhängigkeit delegitimiert. Daran änderte der Erste Weltkrieg wenig, denn der Völkerbund legte explizit fest, dass viele Völker europäischer Führung bedürften. Auch die UNO-Charta sah noch einen expliziten Platz für die imperiale Ordnung, wenngleich alle Gewalt der Welt nicht half, das Empire nach 1945 zusammenzuhalten.

Gleichzeitig ist die imperiale Ordnung auch eine rassistische Ordnung, in der klare Abstufungen zwischen Ethnien und Kulturen in ihrer Wertigkeit vorgenommen wurden, eine rassistische Ordnung zudem, die eng mit dem Kapitalismus verknüpft war und eine merkwürdige Symbiose eines „rassistischen Kapitalismus“ einging, der für die Wirtschaft der Kolonialbeziehungen lange Zeit bestimmend gewesen sei. Natürlich war das Empire nicht das einzig gewalttätige Kolonialreich, weswegen Elkins auch aufzeigen will, wie es sich in Relation zu anderen verhält. Aber es war das größte, ist das am meisten in die Identität der Nation eingewebte und deswegen relevanteste.

Der erste Teil des Buchs soll dazu dienen zu zeigen, inwiefern das UK eine „imperial nation“ war.

In Kapitel 1, „Liberal Imperialism“, beginnt mit einem angeblichen Massaker an britischen Soldaten in Kalkutta, das zwar nicht wahr, aber als Kriegsgrund gegen Bengal sehr geeignet war. Dieser lockere Umgang mit der Wahrheit war für die weitere Entwicklung des Empires stilbildend.  Die hier eingeführte Argumentationslinie betonte rassistische Unterschiede zwischen den „wilden“ Eingeborenen und den „zivilisierten“ britischen Soldaten, deren Behandlung in der Heimat zu Aufuhr führte. Für Elkins ist die Episode ein Teil der Genese des „liberalen Imperialismus“, jener Ideologie, mit der Großbritannien sein Weltreich fortan legitimierte: dass das zivilisierte UK, als Spitze freiheitlicher Entwicklung, weniger entwickelte Kulturen an die Hand nehmen und auf den steinigen Weg zu eben dieser Freiheit geleiten müsse. Im Selbstverständnis der Kolonialmacht arbeitete man also hart daran, sich selbst überflüssig zu machen – irgendwann in der Zukunft, an einem Zeitpunkt, der natürlich zeit der Existenz des Empire niemals kam.

Dazu gehörte eine aktivere Rolle des Staates im Empire. Die Rolle der großen privaten Gesellschaften wie der East India Company neigte sich dem Ende zu. Mit gehörigem Zynismus und Heuchelei nutzte der imperiale Staat das impeachment-Verfahren gegen General Hastings in den 1770er und 1780er Jahren durch den Kolonialkritiker Burke, um einerseits seine Ideologie zu präsentieren (indem es im Prozess die entsprechenden Normen postulierte) als auch der Entmachtung der Company, die nach der „Indian Mutiny“ in den 1850er Jahren ihren Abschluss finden würde.

Der Staat sprach zwar eine Sprache der Erziehung und der liberalen Werte, doch der zunehmende Einfluss der britischen Kolonialbürokratie ging mit einer stärkeren Repression einher. Der Kriegszustand (martial law) wurde immer wieder genutzt, um weitreichende Regelungen durchzusetzen und die Bevölkerung unter die Kontrolle einer winzigen weißen Minderheit zu zwingen. Diese Regeln fußten auf zwei Säulen: einerseits nackter Gewalt, die sich aus dem Kriegsrecht ableitete und die beim geringsten Anzeichen von Unruhen drakonisch angewendet wurde, und andererseits einer rassistischen Gliederung: volle Rechte besaßen nur Weiße, während die indigenen Völker als auf niedrigerer Entwicklungsstufe stehend klassifiziert und rechtlich bestenfalls wie Kinder behandelt wurden.

Dieses Kriegsrecht entwickelte sich in eine Art Parallelrecht für Briten, denn die Indian Mutiny zeigte den britischen Eliten, dass die „braunen“ Völker noch bei weitem nicht „bereit“ für die Segnungen der britischen Freiheit waren. Innerhalb des UK setzte sich ohnehin die Überzeugung durch, dass die „braunen“ Völker niemals gleichberechtigte Briten sein könnten. Die Briten zogen sich aus der örtlichen Verwaltung zurück – nachdem sie diese den vorherigen Unternehmen entzogen haben – und überließen es den örtlichen Eliten, die Bevölkerung nach britischen Maßgaben zu unterdrücken.

Über die Schriften John Stuart Mills und die imperiale Propaganda der viktorianischen Ära vervollständigt Elkins die sich herausbildende Ideologie des liberalen Imperialismus: sie wirkte immer mehr als eine verbindende Klammer, die gleichzeitig den britischen Unterschichten eine Identifikationsmöglichkeit gab, die ihnen Status gab, der in der ridigen Klassengesellschaft zuhause verwehrt blieb (ich finde die Parallele zum Rassensystem Dixielands frappant). Je liberaler Großbritannien selbst wurde, desto mehr rechtfertigte es die Unterdrückung in den Kolonien, indem es rassistische Kategorien aufmachte und auf die Verwaltung anwandte (und so etwa das indische Kastenwesen erst aus der Traufe hob). Diese Strukturen mussten dann mit Gewalt durchgesetzt werden.

Das zweite Kapitel, „Wars small and great“, beschäftigt sich mit eben dieser Gewalt. Beginnend mit dem Boer-Krieg, in dem die Briten ihr Kolonialreich gewaltsam nach Südafrika ausdehnten, zeigt sich die Ambivalenz ihres kolonialen Projekts: einerseits wandte man sich gegen den offenen Rassismus der Boer, andererseits zwang man dem Land ein ähnliches, wenngleich nicht gar so krasses System auf – und als der Krieg sich schier endlos zu ziehen schien und in einem Kompromissfrieden endete, ließ man ihnen für fast ein Jahrhundert freie Hand, ihr System innerhalb des Empire anzuwenden. Der Krieg selbst ist notorisch wegen der Verwendung von Konzentrationslagern – doch Elkins betont, dass die Briten solche Lager bereits zuvor verwendeten.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sperrten die Briten ihre Gegner – und wen sie dafür hielten – in große Lager. Diese wurden schnell zu Todesfallen, und das nicht nur wegen der Zustände selbst. In einer geradezu absurden Vorgehensweise reagierten die Briten auf Pandemien, indem sie die betroffene Bevölkerung in hygienisch unterentwickelte Lager steckten, und zwangen unternernährte und kranke Insassen zu harter körperlicher Arbeit, um sie zu „reformieren“. Die Ergebnisse überraschten niemanden, auch nicht die britischen Kolonialbehörden, die sich in ihren Vorurteilen gegenüber den „faulen Wilden“ bestätigt sahen.

Diese Entwicklung von Lagern und effektivem Massenmord war gegenläufig zur Kodifzierung von Konflikten: die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung wurden in dem gleichen Zeitraum in Vertragsform gegossen, in der die Briten in ihren Kolonien massive Gewalt ausübten. Darin wurde kein Widerspruch gesehen: Kriege waren die Angelegenheit von Staaten, und die Kolonien waren keine. Es handelte sich um „innere Angelegenheiten“. Auch die zur Schau gestellte Aversion der Briten gegen Eroberungskriege war problemlos mit ihrem Kolonialreich vereinbar: die Inder etwa hätten ihre Souveränität mit dem Untergang der Moghuln verwirkt, sie hätten sich also „selbst erobert“.

Diese rassistische Gewaltstruktur erstreckte sich auch nicht nur auf „braune“ Untertanen des Empire. In Irland wurde mit derselben Sprache kultureller Unterlegenheit ein Regime aufgebaut, das ab 1871 direkt auf dem Kriegsrecht fußte: die Regierung konnte nun Menschen verhaften und vor Kriegsgerichten aburteilen, und diese Entscheidungen waren explizit von jedem Berufungsverfahren ausgenommen. Die Irish Constablery Force entwickelte sich zu einer Art Terrorpolizei, und die inkompetent harsche Reaktion auf den Osteraufstand 1916 mit über 500 Toten, zahlreichen zerstörten Gebäuden und willkürlichen Justizmorden verschob die Sympathien auf der Insel erstmals ins republikanische Lager.

In Kapitel 3, „Legalized Lawlessness“, geht einmal mehr auf die Ambivalenz des liberalen Imperialismus ein. Einerseits versteht man sich als eine rechtsstaatliche Nation, hält die rule of law als größte britische Errungenschaft und als Endpunkt des imperialen Projekts hoch. Anders als andere Kolonialreiche hat man den Anspruch, die Kolonien zu diesem Zustand der Rechtsstaatlichkeit zu bringen. Andererseits aber befindet sich das Kolonialreich in einem Status der „legalen Rechtslosigkeit“ (Elkins). Dieser zeigt sich vor allem an der Unterdrückung von Protest.

Von Indien über Südafrika bis Irland zieht Elkins eine Kontinuitätslinie, in der die Kolonialbeamten – denen als „man on the spot“ riesiges Vorschussvertrauen und praktisch keine Aufsicht entgegengebracht wird – jeden Protest als offene Rebellion betrachten, die es niederzuschlagen gelte. Das Rebellieren, davon waren die Kolonialbeamten überzeugt, „lag den niederen Rassen im Blut“. Aber das Resultat – blutige Massaker, bei denen britische Truppen wahllos in Zivilisten schossen – vertrug sich nicht dem Image des aufgeklärten Kolonialismus, weswegen es zu Aufschreien im Empire führte.

Dabei kristallierte sich eine Art Muster heraus, das wir bereits aus Kapitel 1 kennen: die Massaker wurden als Einzelfall hingestellt, als bedauerliche Entgleisung einzelner Beamter, die aber grundsätzlich eine harte Pflicht zu tun versuchten. So dienten die Massaker selbst als Reaffirmationen britischer Überlegenheit und Kultur, indem den Tätern rhetorisch auf die Finger geklopft und offiziell festgestellt wurde, dass das restliche britische koloniale Projekt einwandfrei war.

Das vierte Kapitel, „I’m merely pro-British“, beginnt mit einem Blick in den Nahen Osten 1919ff. Dort ergaben sich für das Empire zwei grundsätzliche Neuerungen. Die eine war die Einführung von Flugzeugen. Diese erlaubten dem Empire, Gewalt wesentlich schneller und kostengünstiger als bisher auszuüben. Alleine im Irak warf die RAF bis 1924 über 100.000 Tonnen Bomben ab und führte zig Tieffliegerangriffe durch, denen zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Den Wünschen der Offiziere, Senfgas nutzen zu dürfen („noch effektiver als Schrapnellbomben“) wurde aus humanitären Erwägungen dann aber doch nicht entsprochen. Für mich waren die Ähnlichkeiten zur Drohnenkriegführung von heute frappant.

Die andere Entwicklung war die Herausbildung der militärischen Geheimdienste, vor allem MI5 und MI6, die die Kolonien infiltrierten und die Ordnung im britischen Sinne aufrechtzuerhalten versuchten. Ihr damals berühmtestes Mitglied, Lawrence („von Arabien“), war allerdings mehr ein PR-Gag: Elkins verweist darauf, dass das kriegsentscheidende die technologische Überlegenheit der Briten gewesen sei, nicht die Abenteuer Lawrences.

Eine wichtige Rolle spielte auch der Völkerbund: Großbritannien verhinderte Artikel zur Gleichstellung aller Nationalitäten und nutzte das Mandatssystem zur letzten großen Ausweitung des Empire. In der Theorie entstand nun zum ersten Mal eine Verbindlichkeit hinter der Behauptung des liberalen Imperialismus, nur eine Treuhandfunktion für „unterentwickelte“ Rassen zu übernehmen, weil die Mandate mit wesentlich robusterer völkerrechtlicher Sprache ausgestattet waren. In der Praxis machten die Briten aber keinerlei Unterschied zu ihrer bisherigen Herrschaftspraxis und dachten gar nicht daran, Unabhängigkeit zuzulassen. Für Elkins wurde der Völkerbund so Mittäter im kolonialen Gewaltsystem.

Kapitel 5, „Imperial Convergence“, befasst sich mit der anderen Seite der nahöstlichen Medaille: der jüdischen Einwanderung nach Palästina und dem Arabischen Aufstand 1935 (der war übrigens auch Thema dieses lesenswerten Buches). Die Briten hatten keine besondere Zuneigung gegenüber den Juden; harscher Antisemitismus war in der britischen Oberschicht Gang und Gäbe. Im Ersten Weltkrieg hatte man aber aus Opportunismus sowohl Juden als auch Arabern eine nationale Heimstatt versprochen – unvereinbare Versprechen, die Großbritannien nun zu unterdrücken hatte.

In den 1920er Jahren sieht Elkins die britischen Sympathien eher bei den Arabern. Obwohl die Briten etwa im Irak massive Gewalt anwendeten, um die arabische Bevölkerung ruhig zu halten, war das öffentliche Bild immer noch von Lawrence-von-Arabien-Romantik geprägt. Das änderte sich zuerst schleichend mit der Feindstellung des nun nationalsozialistischen, antisemitischen Deutschland, das sich der Sympathien der Araber zu versichern versuchte, und schlagartig mit dem Arabischen Aufstand, der nicht nur eine gewaltige Unruhe in die Region brachte, sondern auch von Paranoia gegenüber deutscher Einflussnahme durchzogen war (nicht zu Unrecht, wenngleich deren Möglichkeiten dramatisch überschätzend).

Weiter geht’s in Teil 2.

{ 9 comments… add one }
  • Thorsten Haupts 5. April 2023, 11:08

    Ich habe nicht den mindesten Zweifel daran, dass Kolonialismus/ Imperienbildung immer schmutzig und gewalttätig und meist in irgendeiner Form rassistisch war. Das gilt in der Menschheitsgeschichte seit Beginn schriftlicher Aufzeichnungen – für alle, ganz nebenbei, weltweit.

    Finde die Frage trotzdem berechtigt, wo die ehemaligen Kolonien heute ohne Kolonialismus wären. Die einzige technisch rückstaändige Region, die es aus eigener Kraft geschafft hat, sich in zwei Generationen aus dem späten Mittelalter in die Neuzeit zu katapultieren, war Japan – ein hochkultureller, effizient verwalteter, zentralisierter Nationalstaat, der diesem Ziel alles andere unterordnete.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 5. April 2023, 14:11

      Ich gehe mal davon aus, dass die Frage noch aufkommen wird. Bis dahin würde ich sie mal noch zurückstellen, aber das tl;dr:

      Wir wissen es natürlich nicht, aber ich halte die Prämisse, dass der Kolonialismus entwicklungsfördernd war, für extrem fragwürdig.

  • Sebastian 5. April 2023, 16:40

    Die Behauptung, das heutige Kastenwesen gehe im Grunde auf die Britten zurück, ist mir in jüngster Zeit öfters untergekommen und hat mich dabei so überrascht, dass ich Leute gefragt habe, die sich damit auskennen. Und die sagen: die Behauptung sei schlichtweg falsch und von der Hindufascho-Regierung im Modi in die Welt gesetzt – also Geschichtsumschreibung wie bei Putin oder Xi.

    • Stefan Sasse 5. April 2023, 18:46

      Erfunden haben die es nicht; sie haben es aber zur Herrschaftsgrundlage gemacht und damit institutionalisiert. Und das habe ich schon bei vielen Historiker*innen gelesen, so dass ich denen mehr vertraue als einem random Kommentar, sorry. 🙁

      • Sebastian 5. April 2023, 19:40

        So klingt das auch schon viel plausibler. Danke!

  • Thorsten Haupts 5. April 2023, 16:49

    Ja. Die über das Netz zugänglichen Quellen sagen übereinstimmend „ancient hitory“ – also ist die Behauptung, das Kastensystem sei von den Briten eingeführt worden, eine historische Lüge. Und für eine Historikerin ist das kein Ausweis ihrer Kompetenz.

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