Boris Johnson und Sebastian Kurz bekommen angesichts der Apokalypse hitzefrei und nutzen die Zeit zum Serienmarathon – Vermischtes 19.07.2022

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die „Fundstücke“ werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die „Resterampe“, in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) No, America is not collapsing

The most important fact about the economy right now is that pretty much everyone has a job. Once we control for the Baby Boomer retirement by looking only at the “prime age” population between 25 and 54, we see that the percent of Americans with a job is very high in historical terms: And people have more income, too. Real (inflation-adjusted) disposable personal income spiked when the government doled out giant Covid relief bills in 2020 and 2021, and has since come down. But it’s above where it was before the pandemic hit. And now lots of Americans have savings from the relief bills as well (in fact, them spending these savings is one thing fueling inflation). […] Next, crime. Yes, violence is way up. But if we look specifically at murder — the most consistently reported crime — it’s only about halfway back to the levels of the 80s and 90s, which we now look back on as a golden age of American harmony and stability. […] In other words, while America is still an unusually (and unacceptably) violent society for a rich country, it does not look like a society spiraling into a state of social collapse. […] Do you think a “failing empire” or Rome 2.0 or whatever your favorite historical analogy is could have executed such a quick and skillful strategy to parry, weaken, and ultimately defeat one of its biggest rivals? Unlikely. In fact, the U.S. success with regards to Ukraine is just one indication that American state capacity is a lot higher than people give it credit for being: […] To be blunt, I grew up listening to conservatives wring their hands about how “unelected judges” had preempted the will of the people and “legislated from the bench” by legalizing abortion. Now the shoe is on the other foot, and liberals are the ones complaining that a legal decision they don’t like represents the death of democracy. The conservatives were wrong then, and the liberals are wrong now. Yes, it’s impossible for SCOTUS to entirely keep political bias out of its jurisprudence, and yes the Republican parliamentary trick that stopped Obama from appointing Merrick Garland was nasty, illegitimate, and eroded the healthy norms that we had built up around Supreme Court appointments. But SCOTUS is not an inherently undemocratic institution; democracy does not mean that every law has to be interpreted at every moment such that the policy outcome is consistent with opinion polls. (Noah Smith)

Ich stimme Smith grundsätzlich zu. Komma, aber. Wie im Podcast auch besprochen ist die Gefahr grundsätzlich höher, als er sie hier darstellt. Denn ja, der SCOTUS ist nicht inhärent illegitim, auch nicht mit seiner konservativen Mehrheit, aber wie in Deutschland auch ist der oberste Gerichtshof wesentlich zu übergriffig. Das ist völlig unabhängig vom politischen Inhalt der Entscheidungen, ich finde etwa das BVerfG-Urteil zum Klimaschutz, so sehr ich es inhaltlich begrüße, bestenfalls grenzwertig.

Unbestritten Recht hat Smith mit der absurden Lust an der Apokalypse. Die ist aber ein amerikanisches Spezifikum. Fragt man die Bevölkerung etwa, ob sie annimmt, das Ende der Welt zu erleben sagen in Frankreich 6% der Befragten „ja“, in den USA aber 22%. Das kommt glaube ich von den vielen religiösen Gruppen, die hatten ja im 18. und 19. Jahrhundert auch immer schon Endzeitstimmung, und das hat sich nahtlos in säkularere Kontexte transferiert – und in das blühende Sektenwesen, man denke nur an Waco.

2) Eine „Welt“-Schlagzeile sorgt für Empörung am Balkan

Catchy. So muss ein Titel sein. Also einprägsam, ein Blickfang. Das lernt man gleich zu Beginn des Publizistik-Studiums. Die Wichtigkeit des Titels in der medialen Berichterstattung bekommt der Journalist tagtäglich vom Vorgesetzten und Kollegen eingetrichtert. Denn vom Titel hängt vieles ab, in erster Linie, ob der Leser in die Geschichte „hereinkippt“ bzw. ob der Titel ihn dazu verführt, auch den darunter stehenden Text zu lesen. […] „Jugoslawien war Kinderkram im Vergleich zur Ukraine“ lautet der Name der Reportage des Ukraine-Korrespondenten. […] Aus seiner Sicht sei eine unerfreuliche Entwicklung erkennbar. „Seit Beginn des Ukraine-Krieges lässt sich in einigen journalistischen Kreisen im deutschsprachigen Raum die Tendenz erkennen, diesen Konflikt als ersten großen europäischen Krieg nach 1945 darzustellen. Da werden zahlreiche Konflikte in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ignoriert, besonders der Jugoslawien- und Bosnienkrieg“, erinnert Memić. Vor allem der Bosnienkrieg habe gewaltige Ausmaße angenommen, sagt er. „Dies alles schlichtweg zu ignorieren, ist ein Affront gegenüber zahlreichen Opfern der Jugoslawienkriege, die in großer Zahl auch in Deutschland wohnen.“ […] „Die Menschen vom Balkan wissen, dass sie von Westeuropa oft nicht als ‚wahre Europäer‘ betrachtet werden, obwohl viele von ihnen in diesen Kriegen in den 1990er Jahren für genau diese europäischen Werte wie die Ukrainer jetzt gekämpft haben. Aber es gibt mittlerweile eine Generation an balkanstämmigen Menschen, die sie immer wieder daran erinnern wird. Selbst wenn es auch direkt und provokativ sein muss“, sagt Memić. (Mirad Odobašić, Kurier.at)

Der Ukrainekrieg wirft gerade ein echtes Brennglas auf die Missachtung des Balkans in der europäischen Öffentlichkeit. Dieses ganze „zum ersten Mal seit 1945 Krieg in Europa“ ist völliger Unfug, besonders deswegen, weil das genau gleiche Argument in den 1990er Jahren in den Medien zu hören war. Bereits damals wurde der Balkan aber bestenfalls geografisch zu Europa gerechnet, und in der aktuellen Betrachtung wirkt es gerne so, als würden viele Leute ihn nicht einmal da zu verorten. Es ist das wilde Balkanistan. Dass mit Kroatien und Slowenien mittlerweile zwei ehemals jugoslawische Staaten EU-Mitglieder sind, scheint abgesehen von Urlaubsreisen noch nicht wirklich angekommen zu sein. Ich muss zugeben, auch keinen Bezug zum Balkan zu haben und mich wenig auszukennen, was angesichts der vielen Deutschen mit Wurzeln in der Region und dem Erfolg der Integration dieser Gruppe umso mehr verwundert. Aber die Region kommt auch in der Schule praktisch nicht vor – wäre vielleicht mal an der Zeit, das zu ändern.

3) Neurowissenschaftlerin zur HU: Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt

Wissenschaftlich ist es, wenn man Regeln, zu denen wir immer mehr Ausnahmen entdecken, überdenkt. Ohne die Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, bringt Forschung die Gesellschaft nicht voran, sondern spiegelt nur ihre Ressentiments. Vor etwas mehr als hundert Jahren hätte es zu jedem Vortrag über Geschlechterunterschiede gehört, dass Frauengehirne weniger leistungsfähig sind. Auch damals gab es Leute, die diese Vorstellung gegen jeden Beweis des Gegenteils mit aller Macht verteidigten. Auch damals war es wichtig, dass sich andere Forschende dem entschlossen entgegenstellten. Das war damals und ist heute keine Cancel Culture, das ist wissenschaftlicher Fortschritt. Wie unbelehrbar die Wissenschaft lange Zeit am binären Geschlechterbegriff festgehalten hat, sieht man daran, wie die Biologie ihre von uns festgelegten Grenzen überschreitet. Noch bis 2021 war es erlaubt, Kleinkinder, Neugeborene, deren körperliches Erscheinungsbild in keine der zwei Schubladen passt, mit diesem Ziel zu operieren. Sie passend zu machen. Zum Teil ohne medizinische Not und ohne den Kindern selbst etwas davon zu erzählen. Oder gar abzuwarten, was sie dazu sagen. Statt der Natur Raum zu geben, wollten wir schnelle Klarheit und sorgten damit bei den Betroffenen vor allen Dingen für viel Leid. Denn Geschlecht ist eben nichts, in das man reinwächst, wie in die Winterjacke der Geschwister. Das anzuerkennen ist das genaue Gegenteil davon, Geschlechterunterschiede zu verwischen. Es bedeutet, sie ernst zu nehmen. Wenn wir unsere Schubladen weiten, schaffen wir damit einer ganzen Menge Leuten Raum zum Atmen und uns allen mehr Freiheit von ihren Zuweisungen. Vielleicht sind wir dann auch etwas weniger überrascht, wenn sich mal wieder herausstellt, dass Menschen sich nicht danach unterteilen lassen, ob sie entweder a) viel reden oder b) gut einparken. Oder dass grundsätzlich jedes Geschlecht von Brustkrebs betroffen werden kann, genauso wie von Barthärchen oder Depression. Es könnte alles so viel einfacher sein, wenn wir’s nur kompliziert machen. Wussten Sie übrigens, dass es in Indien und Bangladesch ohnehin drei Geschlechter gibt? Die Label, die wir auf biologische Prozesse kleben, sind eben nicht vorgeschrieben. Sie sind Kultur. Und die kann sich wandeln. (Franca Parianen, Berliner Zeitung)

Es ist gut, diese vulgärbiologistischen Argumente, die häufig im Genderdiskurs verwendet werden, von fachlicher Stelle beantwortet zu sehen. Allerdings tue ich mich immer etwas schwer mit den „der Natur ihren Lauf lassen“-Argumenten, denn an der Natur ist nichts inhärent Gutes. Eine Krebserkrankung ist meist auch sehr natürlich, und trotzdem würden wir da nicht „der Natur ihren Lauf lassen“ wollen. Dass ein Kind gegebenenfalls mit nicht klar feststellbarem Geschlecht gebohren wird, muss nicht wie früher als Makel empfunden werden; genauso wenig aber erwächst daraus zwingend die gegenteilige Vorstellung, dass das irgendwie alles supi und pralle ist. Die Grenze da zu ziehen ist schwer und mir mangels Sachkenntnis auch überhaupt nicht möglich; ich verwahre mich nur gegen die Pauschalisierung.

4) „Irgendjemand muss es ja sagen“

„Die Anfänge dieser Entwicklung liegen sehr weit zurück. Das sind historische Vorgänge, die irgendwann einmal kumulieren und aus meiner Sicht in der Regierung Kurz I ihren Höhepunkt erreichten. Drei Ereignisse der letzten Jahre sehe ich als symptomatisch:  

  • Den Überfall auf das Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2018. In einem zentralen Bereich der staatlichen Tätigkeit haben damals sowohl die Sicherheitsbehörden als auch die Staatsanwaltschaft und die kontrollierende Strafjustiz versagt. Der Ausgangspunkt für viele weitere Krisen.
  • Das zweite Vorkommnis  war für mich die politisch durchgesetzte gestaffelte Familienbeihilfe. Dass eine Regierung, die über hochbezahlte, erstklassige Juristen im Verfassungsdienst  und im Völkerrechtsbüro verfügt, die alle unisono sagten, die gestaffelte Familienbeihilfe –  (in Österreich arbeitende Menschen aus ärmeren Ländern sollten weniger Familienbeihilfe bekommen, Anm. d. Red.) werde EU-rechtlich nicht halten, trotzdem einen Experten engagiert, der ein willfähriges Gutachten schreibt, nach dem der Allerärmste noch zu reich erscheint, das halte ich für einen gröberen Missstand.
  • Das dritte, vielleicht schlimmste, ist die Steuersache des Herrn Siegfried Wolf. Dass ein österreichischer Wirtschaftstreibender zur Behandlung seiner Steuersache sich mit einer Abteilungsleiterin des Finanzministeriums in einer Raststätte trifft, ist unerhört.

Man kann der österreichischen Verwaltung vieles vorwerfen – Das haben wir immer schon so gemacht, da könnt ein Jeder kommen – aber zwei Dinge standen immer außer Streit: es gab keine systemische Korruption, und eine hohe Fachkompetenz war gewährleistet. Doch in der Regierung von Kurz I waren die Kabinette aufgebläht, mit oft wenig qualifizierten Personen, die gleichzeitig Gruppenleiter im Ministerium wurden, besetzt. Höhepunkt war die Installierung von Generalsekretären, die von der Politik gegen den Beamtenapparat in  Stellung gebracht wurden. Ein Mitglied der Bundesregierung hat mir einmal gesagt, dass damit der Minister im Schmutz herumwühlen und die parteipolitischen Agenden durchkriegen kann. Eine solche Vermischung ist gefährlich, weil sie problematische Charaktere anlockt, und wenn sie das vorher noch nicht sind, werden sie dadurch verdorben. Es ist kein Zufall, dass von den Generalsekretären des Kabinetts Kurz einige einen ganz unrühmlichen Abschied genommen haben. Die Art, wie unter Kurz I regiert wurde, war ein erster Weg in eine andere Staatsform.“ (Clemens Jabloner, zitiert nach profil.at)

Genauso wie in Großbritannien mit Boris Johnson (siehe Fundstück 7) ist es absolut faszinierend, wie lange sich Kurz halten konnte, obwohl eigentlich sattsam bekannt war, was er für ein Mensch ist und was sein System war. Mir ist völlig unklar, warum diese Beschwichtigungen und Beschönigungen in diesen Fällen so hartnäckig sind, als würde ein gesellschaftlicher Konsens verletzt werden, wenn man ausspricht, dass der Kaiser keine Kleider trägt – oder in diesem Fall, dass die ÖVP ein unglaublich korrupter Haufen ist, der gerne mal rechtsstaatlich Fünfe grade sein ließ. Da verwundert auch nicht, wie lange diese Regime sich immer halten, weil es ja immer gut ging – warum also sollte das nicht so weitergehen? Man will gar nicht wissen, wie viel von der Scheiße unaufgedeckt bleibt, ob in Österreich oder anderswo.

5) Der Nö-Kanzler

Als Scholz kürzlich in einem Interview gefragt wurde, ob auch er Energiespartipps habe, antwortete er, gewohnt charmant: „Nö“. Auf Nachfrage sagte er, die Vorschläge von Habeck stammten ja eher „aus dem persönlichen Bereich“ und als die Interviewerin beflissen vorschlug, besser wieder über „ernsthafte Themen“ zu sprechen, lobte der Kanzler: „Sehr gut“. Ohne hermeneutische Bösartigkeit kann man das ungefähr so verstehen: Habeck kann seine ulkigen Lifestyle-Tipps ja gerne unter die Leute bringen. Aber um die echte Politik (Strukturen, Institutionen, Sie wissen schon) kümmert sich natürlich der Kanzler. Es ist schon erstaunlich: Im Kanzleramt kursieren die düstersten Szenarien, was die Folgen eines russischen Gasembargos angeht. Und trotzdem weigert sich Olaf Scholz, die Bevölkerung auch nur zum allersanftesten Mitmachen aufzufordern. So sendet die Regierung in den elementarsten Fragen widersprüchliche Signale: Befinden wir uns tatsächlich einer Phase der „nationalen Kraftanstrengung“ oder ist das nur die Privatmeinung des Wirtschaftsministers? Müssen jetzt alle mit anpacken oder bleibt alles wie es ist? Offensichtlich verfügt die Bundesregierung über keine gemeinsame Analyse, kein geteiltes Verständnis davon, wo das Land steht, wie man mit den Menschen spricht, was man ihnen zutrauen und zumuten kann. Am Vorabend der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ist dies ein wirklich beunruhigender Befund. (Robert Pausch, ZEIT)

Wir müssen da gar nicht über Energiesparen als Thema reden, tatsächlich gilt wohl, dass es „keine gemeinsame Analyse und kein geteiltes Verständnis“ der Lage gibt – weder in der Ampel noch sonstwo. Ob Ukrainekrieg oder Klimakrise, wie man dem Ganzen begegnen soll und wie man es bewertet unterscheidet sich je nach Akteur ziemlich drastisch, und auch deswegen sind wir immer auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner unterwegs.

Habecks Unternehmungen in Ehren, aber Aufrufe zum Energiesparen sind nicht viel mehr als Symbolpolitik. Die ist wichtig, keine Frage, aber die Vorstellung, dass dieses Problem durch private Initiative und einige freiwillige Verhaltensänderunderungen lösbar wäre, ist absurd. Nicht, dass Scholz dagegen immun wäre: Er forderte etwa von den Energieunternehmen, freiwillig die Energiepreise zu senken – eine völlig absurde Forderung, die wie bei Habeck auch ein völliges Abdanken der Politik bedeutet.

Es ist nicht die Aufgabe von Privatunternehmen, für sozial verträgliche Preise zu sorgen. Unternehmen machen Profite, und zwar so viel sie können. Wenn die Politik der Überzeugung ist, dass es dabei zu unerträglichen Verwerfungen kommt, ist es die Aufgabe der Politik, gegenzusteuern. Dieses kollektive Abgeben von Verantwortung an die Bevölkerung einerseits (Habeck) oder gar die Wirtschaft (Scholz) ist einfach Bullshit. Aber da die Ampel „keine gemeinsame Analyse und kein geteiltes Verständnis der Lage“ hat, bleibt es beim Aufruf, doch bitte etwas kürzer zu duschen. Und der wird dann auch noch gleich konterkariert. Es ist eine Illusion, dass wir uns das leisten könnten. Aber die Rechnung dafür werden andere präsentiert bekommen.

6) Bad, Worse, and Worst of All

DeSantis may well aspire to be something like an American Viktor Orban, bringing the Hungarian strongman’s blustering, highly competent style of conservative cultural populism to the United States. That’s certainly not good. But there are worse things than Orbanism in the world. […] Trump challenged many of those nostrums, attacking the party’s elite consensus on foreign policy, immigration, and trade, and promising to fight much harder on culture-war issues. That was an important shift, and it did manage to move the policy matrix on the right further away from the centrist-liberal default that more or less prevailed in American politics from the start of the Cold War through the Obama administration. But that doesn’t mean it’s fundamentally illegitimate or a regime-level threat to liberal democratic government in the United States to make that change. What is a regime-level threat to liberal democratic government in the United States is the sitting president running for a second term in office, losing that election, and then refusing to step down. That’s what Trump did in the two months leading up to the insurrectionary violence of January 6, 2021, and we’ve seen nothing like it in Hungary or any other country contending with right-wing populism. That doesn’t mean we won’t see something like it elsewhere as more right-populists in office around the world run for re-election and lose. But we haven’t seen it elsewhere yet, and that makes the situation in the United States uniquely dire—because of Trump. (Damon Linker, Eyes on the Right)

Ich stimme Linkers Analyse weitgehend zu, aber was ich merkwürdig finde, ist seine Einschätzung von Victor Orban: auch der zerstört freie Wahlen. Solche gibt es nämlich in Ungarn de facto nicht mehr. Natürlich ist Orban kein Diktator; von einem ungarischen Putin ist er weit entfernt. Aber er ist halt auch kein Demokrat, kein ungarischer Scholz. Und dasselbe gilt für deSantis: ja, vermutlich würde mit ihm keine sofortige Katastrophe eintreten, kein Putsch, wie er in apokalyptischen Fiebervisionen der progressiven Aktivist*innenbasis gerade herbeifantasiert wird. Aber dass die Demokratie das überleben könnte, halte ich auch nicht eben für ausgemacht.

7) The Idiot Who Ruined Britain

The truth is this. Modern British history will be divided into BB and AB — Before Boris, and After Boris. What do I mean by that? Boris has been the most consequential Prime Minister in modern British history — disastrously so. Boris has pushed through the farthest right wing agenda in memory — he’s made the stuff that even the hardest of hardened ultra conservatives barely dared to dream about come true. All of it. Boris has made radical transformations to Britain which are so far right that they make Margaret Thatcher look like a lightweight, a nobody of history, a veritable socialist. […] To put that in perspective, I’m going to make a comparison. Boris has been worse for Britain than Trump was for America. […] But Boris did manage to break up with Britain’s biggest trading partner. He outdid Trump. […] Trump didn’t destroy Obamacare. But Boris has destroyed the NHS. […] But Boris really did manage to end the BBC. […] Boris has been the most consequential Prime Minister in modern British history. He’s made the ultra-hard-right’s wildest, most outlandish dreams come true — all of them. Just like — snap — that. With sheer bluster and clownish charm and what passes for charisma in a broken country. Whether he stays now or goes? That’s very much besides the point. The mission, my friends, has been accomplished. And Britain will never be the same again. (Umair Haque, Eand)

Wo wir gerade bei Apokalypsestimmung sind haben wir diesen Artikel zu Boris Johnson. Klar sind seine Policies ein Desaster, und ja, der Mann ist ein verdammter Idiot, der wesentlich zu lange in Machtpositionen war, einfach nur weil er aus dem richtigen Stall kommt und die richtigen Connections hat. Aber Johnson hat nicht eigenhändig den Brexit herbeigeführt, und die Zerstörung von BBC und NHS sind konservative Projekte seit Thatcher. Und es sind keine, die irreversibel wären.

Aber auch hier ist auffällig, genauso wie beim System Kurz oder bei Trump, wie sich Personen wie Johnson überhaupt in ihre Positionen bewegen und dann dort halten konnten. Es ist geradezu absurd, bedenkt man, dass das alles vorher bekannt war. Seine nicht sonderlich ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten, seine charakterlichen Schwächen, sein geradezu pathologisches Lügen, all das war vorher bereits hinreichend bekannt. Abgehalten hat es niemand, weil der Mann Schlagzeilen produziert hat. Er war unterhaltsam, also hat man ihn gelassen. In diesen Momenten bin ich froh darüber, dass in Deutschland der Unterhaltungswert bei Politiker*innen so gering ist und wir darauf keinen großen Wert legen.

8) „Betreuung muss gewährleistet sein“: Hitzefrei gibt’s für Schüler immer seltener

Den Tag im Schwimmbecken oder im Badesee statt in der Schule zu verbringen, scheint aber immer mehr aus der Mode zu kommen – denn Hitzefrei wird trotz Klimawandels mit vielerorts steigenden Temperaturen und mehr heißen Tagen zur Rarität. «Bei unseren Ganztagsklassen muss die Betreuung bis 14.00 Uhr gewährleistet sein», betont die Sekretärin der Parkschule in Stadtbergen bei Augsburg, Vanessa Krischke. Pro Jahrgangsstufe eins bis neun gebe es an dieser Schule jeweils eine Ganztagsklasse. Die Organisation der Betreuung und des täglichen Mittagessens erschwere das spontane Freigeben. «Wir können die Kinder nicht einfach nach Hause schicken», betonte Krischke. Die Schülerinnen und Schüler treffen sich oftmals nach dem Unterricht noch in Arbeitsgemeinschaften. Hitzefrei wird demzufolge kaum noch gegeben – und wenn, dann meist nur kurz vor den Ferien. «Hitzefrei für alle Schüler einer Schule gibt es nicht mehr», heißt es von der Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Simone Fleischmann. […] Einheitliche Regelungen zum Hitzefrei wurden erstmals vor rund 130 Jahren vom Preußischen Kultusminister Julius Robert Bosse aufgestellt. Wenn das Thermometer um 10 Uhr vormittags und im Schatten 25 Grad zeige, dürfe der Schulunterricht in keinem Falle über vier aufeinanderfolgende Stunden ausgedehnt werden, erklärte er damals in einem Ministerialerlass. Doch Anspruch auf Hitzefrei hat kein Kind. Die heutigen Regelungen dazu sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich: In Nordrhein-Westfalen beispielsweise heißt es im Gesetz: «Anhaltspunkt ist eine Raumtemperatur von mehr als 27 Grad Celsius, bei weniger als 25 Grad ist Hitzefrei nicht zulässig.» (Felix Müschen, News4Teachers)

Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind oft hitzefrei hatte. In der Oberstufe gibt es das dann ja gar nicht mehr, aber als ich an die Schule zurückkehrte, kann ich mich an kein einziges Mal erinnern, dass es das gegeben hätte. Tatsächlich habe ich just heute zum ersten Mal in mittlerweile zehn Jahren Schuldienst erlebt, dass es wieder hitzefrei gibt – weil wir 26 Grad um 11 Uhr morgens erreicht haben, dem Klimawandel sei Dank. Der Grund dafür ist genau der von Müschen genannte: da die Schulen mittlerweile die Betreuung der Kinder übernehmen müssen, ist hitzefrei völlig unpraktikabel geworden. Trotz Klimakrise. Und da die Schulen ja von der Infrastruktur her völlig unvorbereitet sind, solche Temperaturen auszuhalten, dürfte das in Zukunft wieder häufiger werden – während die Oberstufe mitsamt Lehrkräften in Zuständen vegetiert, die im Arbeitsschutzrecht eigentlich ausgeschlossen werden. Rechtsfreier Raum Klassenzimmer.

9) Is the United States Exceptional?

The result of all of this is the bizarre situation that the world’s foremost land power is also the world’s foremost naval power, which is also the world’s foremost diplomatic power, which is also the world’s foremost economic power, entrenched in the high ground of most of the world’s international institutions. One may of course argue that this situation is changing, albeit slowly, but at the moment the contrast is startling: the sphere of Russian influence does quite reach Kyiv (about 150 miles from the Russian border) and the sphere of Chinese influence does not quite reach Taipei (about the same distance, but over water), but American influence evidently reaches both despite the former being 4,300 miles and the latter 6,500 miles away from American shores. That has never happened before; it may well never happen again. We have seen regional hegemons similarly dominant in their local neighborhoods (the Roman Empire, the Han Dynasty, Achaemenid Persia, etc.) and to lack peers locally, but the United States is the first and only country to have done this on a global scale and to lack true peer competitors anywhere. Even as the ‘monopolar moment’ seems to be coming to an end, the United States’ position as ‘first among equals’ among the ‘great powers’ is historically unparalleled; no state has ever been so clearly without peers influence and power except for maybe – wait for it – the Mongols. […] The interesting question then is not if the United States is a great country but if it will be a good country, if all of that vastness in wealth, technology, influence and power will be put towards some worthy aim, both judged against our ideals and against the historical behavior of other great powers. It’s a question that only Americans can really answer, in our doing. I strive and hope that we answer well. (Bret Deveraux, A Collection of Unmitigated Pedantries)

Deverauxs Artikel ist sehr lesenswert, weil er in großer Ausführlichkeit darstellt, wie einzigartig die geopolitische Situation der USA ist (und das, was normalerweise als Exzeptionalismus verhandelt wird, weitgehend ausklammert). Ich finde die Perspektive spannend, wenn man das Römische Reich effektiv als Lokalmacht betrachtet. Denn zwar ist es aus europäischer Sicht ein beinahe allumfassendes Imperium, das die „bekannte Welt“ (auch so ein extrem eurozentrischer Begriff) umfasste, aber es hatte genügend Rivalen, von den Persern bis hin zu solchen, die es gar nicht kannte, wie China. Die heutigen USA, auch das diskutiert Deveraux im Artikel, sind auch deswegen so besonders, weil fast alle potentiellen Konkurrenten seine Verbündeten sind. Deswegen ist es doppelt bescheuert, dass sie die NATO aufgeben könnten.

10) Die Neunziger haben den Anti-Helden versaut

Dafür, dass sich die Serie große Mühe gibt, die Gegenspieler*innen so widerlich darzustellen wie möglich, haben diese Figuren erstaunlich viele Fans. Zu tun hat das, glaube ich, unter anderem mit dem Anti-Held-Hype der Neunzigerjahre, der den Archetypen ein wenig umgedeutet hat und der Tatsache, dass uns genau diese Art von Figuren Jahrzehnte lang als Sympathieträger verkauft wurden. […] Ennis Figuren sind in der Regel selbstmitleidige Männer, die oft Traumatisches erlebt haben und außerhalb des moralisch Guten agieren. Eigentlich keine Sympathieträger, aber wenn man sich selbst für ein Opfer seiner Umstände hält und ein wenig den satirischen Subtext ignoriert, dann können sie für manche wohl durchaus sympathisch wirken. Das erklärt eventuell auch, dass The Boys-Charaktere wie Homelander und Blue Hawk tatsächlich Fans finden konnten. Wir haben mindestens vierzig Jahre gelernt, regelbrechende Männer mit Trauma als Helden zu akzeptieren und ein stückweit sogar zu lieben. Sie werden als falsch verstanden, interessant und neu wahrgenommen. Vor dem Hintergrund, dass es im Grunde seit Jahrzehnten der gleiche Archetyp ist, scheint das allerdings ein wenig ironisch. (Jonas Lübkert, Fan Theory of Everything)

Mit Jonas Lübkert habe ich eine Folge der Bohrleute zur Repräsentation in TV-Serien aufgenommen, falls die jemand rausgegangen ist. Das hier diskutierte Thema, die Anti-Helden und ihre ebenso anziehende wie schädliche Wirkung, haben wir in der Folge aus Zeitgründen gar nicht mehr machen können; wer des Englischen mächtig ist, findet aber meine Betrachtung zu diesem Thema im Kontext der Serie „The Biys“ im Boiled-Leather-Audio-Hour-Podcast. Ich bin immer wieder abwechselnd amüsiert und entsetzt davon, wenn Leute nicht verstehen, wer die Antagonisten und Bösewichter einer Geschichte sind. Disney ist da ja auch super darin, wenn sie etwa die Sturmtruppen als cool darstellen.

Resterampe

a) Die Vorstellung, dass die Bloßstellung der Rechtsradikalen der Grund für deren Aufstieg sei, ist so unendlich bescheuert und die Verantwortung auf die völlig falschen Gruppen abstellend, das geht auf keine Kuhhaut.

b) Großartiges Zitat zur amerikanischen Verfassungs-Jurisprudenz.

c) Guter Punkt zum Problem der Bewertung der Coronamaßnahmen: die Daten, die wir brauchen, wollen wir nicht, dass sie irgendjemand hat.

d) Gute Frage: Warum werden Leistung und Leistungsfähigkeit bei der Notengebung getrennt?

e) Wen das interessiert: Arbeitszeitstudie für Lehrkräfte aus Niedersachsen.

f) Der Mythos vom komplett self-made Milliardär.

g) Die interne Bannliste Amazons macht echt Angst für die Zukunft. Die Bedrohung für die Freiheit durch die Großkonzerne ist zwar grundsätzlich kleiner als durch den Staat, bleibt aber in meinen Augen unterdiskutiert.

h) Ich lass das mal zum Thema „Lehrermangel“ da, lieber Herr Kretschmann.

i) Sehr gute Sammlung des aktuellen Wissensstands zu Long Covid.

j) Berlin verbeamtet wieder Lehrkräfte. Fast so, als ob der Lehrkräftemangel im Land daher kommt, dass es sie um ca. 1500€ im Monat schlechter stellt als die meisten anderen Bundesländer. Witzig, wie Wirtschaft manchmal funktioniert.

k) Bob Blume fordert ein Systemupdate für die Schule und stellt dafür einige Thesen auf.

l) Doppelstandards bei Autos und Fahrrädern, mal wieder.

m) Interessante Bundestagswahlumfrage.

n) Ich bin ja absolut kein Freund von Protesten im Privatbereich von Amtsträger*innen, aber das hier ist einfach so verdient und brillant.

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  • Dobkeratops 19. Juli 2022, 11:20

    7) In diesen Momenten bin ich froh darüber, dass in Deutschland der Unterhaltungswert bei Politiker*innen so gering ist und wir darauf keinen großen Wert legen.

    Das würde ich so nicht uneingeschränkt stehen lassen wollen. Auch ein Gerhard Schröder hat jede Menge politisches Kapital aus seiner Unterhaltsamkeit geschlagen. („Ho‘ mir mal ’ne Flasche Bier, hö hö.“, „Frauen und Gedöns“, etc.)

    Ich glaube die Deutschen sind da kein bisschen weniger anfällig und ich bin deshalb froh, dass Dieter Bohlen keine politischen Ambitionen zeigt.

    • Stefan Sasse 19. Juli 2022, 17:26

      Anfällig sind wir vermutlich auch, aber unsere politische Kultur fördert es zumindest nicht und erlaubt das Gegenteil.

  • Dennis 19. Juli 2022, 14:05

    5)
    Versteh ich nicht. Was is jetzt dann dein angedachter Lösungspfad? Eine rein metaphysische Politik, von der „unten“ keiner was merkt, weil Linkspartei, AfD, Querdenker und all so was ständig in Lauerstellung sind, „Unmut“ auf ihre Mühlen zu kanalisieren? Die Stimmung darf nie kippen, Party bis in alle Ewigkeit. Oder so richtig knackig durchgreifen ?

    Zitat:
    „Dieses kollektive Abgeben von Verantwortung an die Bevölkerung einerseits (Habeck) oder gar die Wirtschaft (Scholz) ist einfach Bullshit. “

    Das heißt, solange die da oben nicht den Knüppel rausholen, also z.B. den Energie-Hahn abdrehen, gilt: Verschwendung ist gut. Am besten, man erfährt über Misshelligkeiten, wie Knappheit der Ressourcen, überhaupt nichts.

    War da nicht mal was vom „Mündigen Bürger“ , zum Beispiel anno 1970 in Willy Brandts „Bericht zur Lage der Nation“:

    „Der Respekt vor dem mündigen Bürger verlangt, dass man ihm Schwierigkeiten nicht vorenthält.“

    6)
    Das Problem liegt möglicherweise in der irrtümlichen Annahme begründet, dass die DEMOKRATISCHE Funktionalität eines Systems „Phänomene“ wie Orban oder z.B. Trump et al. unmöglich macht und dass die erfolgreiche Präsenz solcher Figuren auf einen Demokratiemangel beruhen muss.

    Der Irrtum an dieser Stelle IMHO: Die Begriffe „freiheitlich“ „liberal“ oder auch „rechtsstaatlich“ und all so was (zusammenfasend gerne „progressiv“) sind mit „demokratisch“ keineswegs deckungsgleich. Illiberal, freiheitsfeindlich und demokratisch können zusammen passen. warum auch nicht ?

    7)
    Zitat:
    „Aber auch hier ist auffällig, genauso wie beim System Kurz oder bei Trump, wie sich Personen wie Johnson überhaupt in ihre Positionen bewegen und dann dort halten konnten.“

    Ganz einfach: Der Boris hat die früheren Positionen der Labour-Traditionalisten in Sachen Europapolitik übernommen (ihm selbst ist der ganze Fragenkomplex vermutlich ziemlich wurscht) und damit beim entsprechenden Publikum (ehemals Labours Kernwählerschaft, auf welche die eigentlich nicht verzichten können, aber dennoch verzichtet haben) Erfolge erzielt, sprich: Den so genannten Red Wall zerschossen. Allgemeiner gesagt: Wenn die traditionellen linken Parteien vom „basket of deplorables“ (Hillary C.) nicht mehr gewählt werden wollen, kümmern sich andere.

    https://i.pinimg.com/236x/56/26/fb/5626fb8f125c3c1072a97585dffc566e.jpg

    Aber immerhin: Das Get-Brexit-done-Ding mit Boris war ja einmalig, zumal es bei Labour mittlerweile offenbar „dämmert“. Jedenfalls beteuert Starmer, dass der Brexit-Status nicht wieder angefasst wird und alles, was irgendwie nach rejoin riecht, auch häppchenweise ( Zollunion, nur Binnenmarkt) nicht in Frage kommt.

    https://www.bbc.com/news/uk-politics-62045237

    Nur mit den Londoner Lifestyle-Linken und ohne den Red Wall sind Wahlen für Labour nicht gewinnbar.

    m) Ähmmm……es handelt sich zum Forsa-Befunde. Wußte gar nicht, dass die bei dir als „interessant“ gelten^^. Ab gut, die anderen Umfrager glaskugeln z.Zt. ja so ähnlich.

    • Stefan Sasse 19. Juli 2022, 17:32

      5) Nein, das sage ich sicher nicht. Die ganzen Verzichtsappelle haben durchaus ihren Sinn – aber halt nur flankierend zu Maßnahmen, die strukturell was ändern. Im Vakuum taugen sie nicht.

      6) Korrekt, das ist keine neue Erkenntnis 😀

      7) Wie je jemand auf die Idee kommen konnte, Brexit rückgängig machen zu wollen, erschließt sich mir auch nicht.

    • bevanite 23. Juli 2022, 15:15

      zu 7)

      Da haben Sie aber ein bisschen viele Phrasen eingebaut, die bei genauer Betrachtung nicht ganz stimmen. Die Red Wall wurde nicht „zerschossen“ – allenfalls sieht man ein paar Kugeleinschüsse. Die großen Metropolregionen Liverpool, Manchester, Leeds, Sheffield oder Birmingham waren auch 2019 so rot wie die Jahrzehnte zuvor. Die gedrehten Wahlkreise waren vor allem semi-urbane Gegenden an der Nordost-Küste. Für Labour war der Verlust einer wichtigeren „red wall“ entscheidender: nämlich fast das komplette Schottland 2015.

      „Allgemeiner gesagt: Wenn die traditionellen linken Parteien vom „basket of deplorables“ (Hillary C.) nicht mehr gewählt werden wollen, kümmern sich andere.“

      Wie diese Aussage selbst heute noch verdreht wird, ist mir ein Rätsel. Konkret ging es Clinton damals nicht um GOP-WählerInnen generell, sondern um eine bestimmte Gruppe von Rassisten. Ich finde es wichtig, sich von solchen Leuten eindeutig zu distanzieren und fand es gut, dass sie die „Eier“ hatte, dies so klar zu tun (ich selber hätte sogar noch viel deutlichere Worte benutzt) – gerade als Kandidatin einer Partei, deren Südstaatel-Flügel einst das größte Bollwerk gegen „desegregation“ waren.

      „Aber immerhin: Das Get-Brexit-done-Ding mit Boris war ja einmalig, zumal es bei Labour mittlerweile offenbar „dämmert“. Jedenfalls beteuert Starmer, dass der Brexit-Status nicht wieder angefasst wird und alles, was irgendwie nach rejoin riecht, auch häppchenweise ( Zollunion, nur Binnenmarkt) nicht in Frage kommt.“

      Da das Referenum äußerst knapp war und die Folgen des Brexit immer offensichtlicher werden, ist das „rejoin“ keineswegs vom Tisch. Das ist eine Lücke, mit der sich die Liberal Democrats gerade wieder ins Spiel bringen und mit der Plaid Cymru und die SNP ihre Position halten werden. In ein paar Jahren wird man im UK möglicherweise neidisch auf den gälischen Nachbarn im Westen blicken.

      „Nur mit den Londoner Lifestyle-Linken und ohne den Red Wall sind Wahlen für Labour nicht gewinnbar.“

      Siehe oben, die Kernregionen sind weiterhin in Labour-Hand und werden es auch weiterhin bleiben, da sich die potentiellen NachfolgerInnen von Johnson so radikalisiert haben, dass ein selbst erklärter Ayn Rand- und Thatcher-Fan wie Sunak von der Parteibasis nun als „socialist“ diffamiert wird. Liz Truss galt zu Cameron-Zeiten als Zentristin und redet in Sachen Steuersenkungen und „identity“ nun so unrealistisch wie die durchgeknalltesten US-Republikaner. Die roten Wahlkreise in London sind übrigens tendenziell eher die ärmeren Gegenden, während der Speckgürtel eher blau gefärbt ist – soviel zu den „Lifestyle-Linken“. Und überhaupt, wer genau sind eigentlich Letztere? Und haben diese nicht auch dafür gesorgt, dass z.B. Orte wie Canterbury erstmals an Labour gingen? Ich bleibe dabei, die wahre „red wall“ war Schottland und die wird man nicht mit einer sturen Anti-EU-Haltung zurückholen.

  • Stefan Pietsch 19. Juli 2022, 16:26

    3) Neurowissenschaftlerin zur HU: Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt

    Dass ein Kind gegebenenfalls mit nicht klar feststellbarem Geschlecht geboren wird, muss nicht wie früher als Makel empfunden werden

    Das Geschlecht ist fast immer klar feststellbar. Auch hier die Vermischung zwischen biologischer und sozialer Prägung: Das Geschlecht ist (fast) immer eindeutig, die emotionale Zugehörigkeit nicht.

    4) „Irgendjemand muss es ja sagen“

    oder in diesem Fall, dass die ÖVP ein unglaublich korrupter Haufen ist, der gerne mal rechtsstaatlich Fünfe grade sein ließ.

    Das ist die SPÖ auch und in Österreich bezweifelt das niemand. Aber die Konservativen, natürlich…

    5) Der Nö-Kanzler

    Wie wär’s mal mit Beispielen, wo die westliche Politik klug auf Krisen reagiert. Die Italiener leisten sich gerade eine Regierungskrise, wo keiner weiß, worum es geht. Frankreich sieht nach den Parlamentswahlen ziemlich hilflos aus. Spanien ist mit Umverteilen beschäftigt. Unser großer Bruder USA hat aus Verzweiflung einen Greis zum Präsidenten gewählt, weil nur (halb-) rüstige Rentner zur Verfügung standen. Aus Afghanistan von mittelalterlich gesinnten Gotteskriegern geprügelt, ist der Präsident schon vor den Midterms eine politische Lame Duck. Und Brüssel macht, was die da halt so immer machen.

    Es ist leicht auf Scholz und die Ampel zu prügeln. Aber das Problem ist nicht die Politik, sondern eine immer heterogenere, gleichzeitig anspruchsvoller werdende Gesellschaft.

    7) The Idiot Who Ruined Britain

    Es ist in Vergessenheit geraten, aber Johnson wie Kurz erreichten überwältigende Wahlsiege. Und es ist gar nicht so lange her, das galt Sebastian Kurz als der einzig kanzlerfähige Politiker in Österreich. Wenn Menschen gefallen sind, lässt sich leicht auf sie prügeln. Ich finde das miesen Stil.

    • Stefan Sasse 19. Juli 2022, 17:33

      4) Ja, aber soweit ich das überblicke ist die ÖVP noch mal eine ganz ordentliche Spur schlimmer.
      5) Das Argument würdest du aber für Merkel nicht gelten lassen. Klar, es könnte viel schlimmer sein, aber auch viel besser.
      7) Die waren halt immer schon scheiße. Ich prügle ja nicht als Wetterfahne auf die ein, ich fand sie schon immer furchtbar.

      • Stefan Pietsch 19. Juli 2022, 17:53

        4) Die SPÖ hat mit Abstand am längsten regiert. Und sie hat die österreichische Gesellschaft durchdrungen.

        5) Der Unterschied ist: Scholz ist erst seit wenigen Monaten Kanzler und steht einer komplizierten Koalition vor, während sich Merkel immer das Einfache ausgesucht hat.

        7) Ich kritisiere Politiker, wenn sie regieren. Es ist ziemlich witzlos, das nach dem Machtverlust zu tun.

        • Stefan Sasse 19. Juli 2022, 19:03

          4) Ändert wenig dran, dass die ÖVP korrupter ist. Aber kannst beide in einen Sack und draufhauen, triffst nur Richtige.

          5) Klar, ich würde da auch keine Äquivalenz herstellen wollen. Ich bin sehr froh, dass wir von der Ampel regiert werden. Aber warum sollte ich sie deswegen nicht kritisieren?

          7) Ich kritisiere sie auch danach. Oder ist Merkel für dich plötzlich off-limits? Oder Obama? Das wäre mir neu. Gilt spezieller Schutz für besonders schlimme konservative Politiker oder wie? ^^

          • Stefan Pietsch 19. Juli 2022, 19:41

            4) Wie auch immer Du das misst. Objektivität wurde im Pädagogikstudium nur in den Sommermonaten behandelt, oder? 🙂

            5) Froh ist etwas anderes. Ich respektiere die politischen Gegebenheiten und tue mich schwer, pauschal auf Entscheider (zu denen Politiker gehören) einzuprügeln.

            7) Ich sage zu Ex-Politikern wenig. Obama habe ich auch nicht aktiv kritisiert, nur wenn jemand hier im Blog – irgendjemand 🙂 – wieder mal in Lobeshymnen ausbrechen musste. Ich lobe auch nicht ständig Bill Clinton. Natürlich befriedigt es mich auf sadistische Weise, dass mein seit vielen Jahren feststehendes Urteil über Merkel jeden Tag nachträglich bestätigt wird. Nur ändert das halt auch nichts mehr. Wenn es Merkels Amtszeit nur um 1 oder 2 Jahre verkürzt hätte, würde ich auch jede Rechthaberei liebend gerne verzichten.

            Aber wenn Du aufmerksam beobachten würdest, könnte Dir auffallen, dass meine Zurückhaltung bezüglich Ex nicht parteigebunden ist.

            • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 10:17

              4) Weiß ich nicht, ich hab nie Pädagogik studiert.

              5) …es sei denn, du kannst sie nicht leiden.

              7) Sorry, aber da malst du einfach ein viel zu rosiges Bild von dir.

              • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 16:01

                5) Du meinst, Scholz sei ein bevorzugter Politiker von mir? Oder Manuela Schwesig? Oder Robert Habeck?

                7) Als Manuela Schwesig sich wegen einer Krebserkrankung aus der Politik abmeldete, habe ich gesagt, dass ich bis zu ihrer Rückkehr kein kritisches Wort über sie schreiben würde. Mir fällt auch sonst kein Ex-Politiker ein, wo ich anders gehandelt hätte. Vielleicht Dir?

          • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 11:22

            @ Stefan Sasse 19. Juli 2022, 19:03

            7) Ich kritisiere sie auch danach.

            Ich auch; aber der andere Stefan hat Recht: Ist witzlos. Wenn ich heute noch z.B. auf Merkel herumhacke, ist es aus Wut und Ohnmacht wegen solcher Dinge.

            Gilt spezieller Schutz für besonders schlimme konservative Politiker oder wie?

            Alberne Frage, oder?

            • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:43

              Witzlos ist das keinesfalls. Schließlich geht es einerseits darum, was man daraus lernen kann, und andererseits darum, dass die entsprechenden Personalien nicht weiter an der Macht sind. Schließlich willst du ja vermutlich nicht, dass die CDU in 5 Jahren erklärt, MErkel sei super gewesen und wir müssen es genauso wieder machen. Aber wenn du das blocken willst, musst du sie zwangsläufig kritisieren – auch und gerade nach Ende ihrer Amtszeit.

              • Erwin Gabriel 23. Juli 2022, 08:51

                @ Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:43

                Schließlich willst du ja vermutlich nicht, dass die CDU in 5 Jahren erklärt, Merkel sei super gewesen und wir müssen es genauso wieder machen. Aber wenn du das blocken willst, musst du sie zwangsläufig kritisieren – auch und gerade nach Ende ihrer Amtszeit.

                Da hast Du mich erwischt, dagegen kann ich nichts mehr sagen.

                Nein, ich will nicht, das Merkel nachträglich verklärt wird, und bin froh, dass meine von mir als irrational empfundenen ständigen Ausbrüche gegen die Ex-Kanzlerin Sinn machen 🙂

        • sol1 20. Juli 2022, 01:06

          „Die SPÖ hat mit Abstand am längsten regiert.“

          Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die SPÖ 41 Jahre den Kanzler gestellt und die ÖVP 36 Jahre – „mit Abstand“ ist stark übertrieben.

          „Und sie hat die österreichische Gesellschaft durchdrungen.“

          Auch diese Behauptung steht auf wackligen Füßen. In vier der neun Bundesländer regiert die ÖVP seit dem Zweiten Weltkrieg ununterbrochen, in zwei weiteren fast ohne Unterbrechung.

          • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 15:56

            Dann stellen wir das mal richtig. Die SPÖ hat von 1970 bis 2017 mit dem Intermezzo der Regierung Schüssel (7 Jahre) 40 Jahre ununterbrochen regiert. Wenn da keine Korruption entstanden ist, wo dann?

            Aber klar, die Konservativen sind immer schlimmer, per default.

            • sol1 20. Juli 2022, 21:01

              So korrupt wie die Regierung Schüssel war allerdings keine einzige SPÖ-geführte Regierung – und wie bei der Regierung Kurz war die FPÖ im Mittelpunkt der meisten Skandale.

              • Stefan Pietsch 21. Juli 2022, 10:32

                Interessante Position, dass eine Partei, die ein Land 40 Jahre führt, sich natürlich die Institutionen nicht zur Beute macht, wenn sie links ist. Aber Konservativen gelingt das viel besser, selbst wenn sie nur ein paar Jahre an der Macht sind.

                • sol1 21. Juli 2022, 21:04

                  Du übersiehst, daß die SPÖ ja meistens mit der ÖVP regierte, was zwar einerseits dazu führte, daß beide Parteien einen gewissen Filz entwickelten, aber andererseits immer auch vom Koalitionspartner in Schach gehalten wurden.

                  Den Unterschied machte da die FPÖ, die schon unter Haider eine Gaunerbande war und unter Strache eine noch viel schlimmere.

                  • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 10:46

                    Das ist zwar richtig, aber die SPÖ war meist der dominierende Teil. Dazu ist die Geschichte die, dass die SPÖ über die Jahrzehnte mit wechselnden Partnern regierte – allein, mit der ÖVP und der Vor-Haider-FPÖ. Es waren lange Zeit nicht gleiche Partner, sondern Koch und Kellner.

                    Bekannt ist ja, das österreichische Bundeskanzler wohlwollende Berichterstattung kauften. Nein, an dieser Stelle ist nicht von Sebastian Kurz die Rede, sondern von der Inseratenaffäre. Z.B. Und solche Sachen gab es in der SPÖ immer:
                    https://www.wochenblick.at/oesterreich/naechster-spoe-skandal-gusenbauers-milliardaers-netzwerk/

                    • sol1 24. Juli 2022, 18:54

                      Eine bessere Quelle als dieses Braunquatsch-Protal hast du nicht gefunden?

                      Lustigerweise gab es auch bei denen Inseratenkorruption:

                      /// Das österreichische Verkehrsministerium – seinerzeit geführt von Norbert Hofer (FPÖ) – schaltete mehrfach Annoncen im Wochenblick über Maßnahmen des Ministeriums, was von der SPÖ kritisiert wurde.[26] Als Inseratschaltungen in rechten Medien nach dem Ende der FPÖ-Regierungsbeteiligung wieder in den medialen Fokus gerieten, kritisierte der damalige FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker deren Thematisierung als „neuerlich zum Scheitern verurteilten Anpatzversuch“, die Summen seien zudem „nicht überbordend“ gewesen.[27] ///

                      https://de.wikipedia.org/wiki/Wochenblick

                • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 08:05

                  Oh, die Institution zur Beute machen können die problemlos. Man sehe mal die NRW-SPD an, beispielsweise. Gib den Grünen in BaWü noch 20 Jahre, dann werden die das auch hinbekommen haben. Das ist nicht die Frage. Krasser ist eher das Ausmaß direkter Korruption durch Verwicklungen mit Kräften von außerhalb und der Versuch der Ausschaltung der Medien.

                  • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 11:01

                    Jauw. Z.B. öffentlich-rechtliche Medienanstalten.

                    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:40

                      Wie meinen?

                    • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 18:57

                      Die Dominanz linker Gesellen in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ist beeindruckend.

                    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 20:58

                      Ebenso wie die rechter Gesellen in Justiz, Polizei, Bundeswehr und Unternehmensführungen.

                    • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 22:54

                      Da bist Du ideologisch aber etwas verblendet. 😉 Viele Arbeitsrichter:innen sind doch wie ihre Kolleg:innen im Sozialrecht durchaus arbeitnehmerfreundlich unterwegs. Andere nicht. Das lässt sich kein bisschen pauschalisieren. Ich konnte jedenfalls nie kategorisieren.

                      Ich habe nirgends so wenig über Politik diskutiert wie auf der „C“ (Chief)-Ebene. Aber es hat natürlich Gründe, warum bei den Sozialverbänden kaum FDP-Anhänger vertreten sind. Nur, welche Gründe hat die Grün-Links-Orientierung von öffentlich-rechtlichen Medien?

    • Kning4711 20. Juli 2022, 10:19

      Wann hat Italien denn nicht eine Regierungskrise 🙂 Aber Spass beiseite – die 5 Sterne Bewegung ist stark in den Umfragen eingebrochen und nun versucht sie Opposition in der Regierung.
      Draghi hat auf solche Eskapaden keine Lust und provoziert die Krise um bessere Bedingungen fürs Regieren zu bekommen. Hätten wir in Europa nicht eine derartige Krise, es bliebe Petitesse.
      Defacto ist es in Deutschland doch nicht anders – der Unterschied ist, dass in Italien jeder weiss, dass Krise ist und in D die Ampel versucht die Meinungsverschiedenheiten wegzuignorieren. Die echte Bewährungsprobe steht dem Bündnis aber noch bevor und ich hoffe sehr, dass sich die Koaltionäre am Riemen reißen.

      • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 16:08

        Ich beobachte die Situation in Italien durchaus, zumal ich das Land und seine Menschen sehr mag. Mario Draghi wollte sich aus der operativen Politik ins Präsidentenamt verabschieden, was bekanntlich nicht geklappt hat. Ob er nochmal zur Verfügung steht? Ich bezweifle es.

        Aber die letzten 10 Jahre haben eher Beweis geliefert, dass Deutschland und Italien kaum in einer Gemeinschaft zusammen existieren können. Italien treibt die Spaltung Europas voran und über kurz oder lang – nach der Ampel-Regierung – könnte es zum großen Knall kommen.

        In Italien ignorieren Politik wie Bürger jede Krise. In Deutschland sehen wir sofort die Apokalypse. Eine echte Bewährungsprobe wird der Haushalt 2023. Da knallen die unterschiedlichen Weltanschauungen aufeinander.

    • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 11:16

      @ Stefan Pietsch 19. Juli 2022, 16:26

      3) Neurowissenschaftlerin zur HU: Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt

      Das Geschlecht ist (fast) immer eindeutig, die emotionale Zugehörigkeit nicht.

      Zustimmung

      5) Der Nö-Kanzler

      Wie wär’s mal mit Beispielen, wo die westliche Politik klug auf Krisen reagiert. Die Italiener leisten sich gerade eine Regierungskrise, wo keiner weiß, worum es geht. Frankreich sieht nach den Parlamentswahlen ziemlich hilflos aus. Spanien ist mit Umverteilen beschäftigt. Unser großer Bruder USA hat aus Verzweiflung einen Greis zum Präsidenten gewählt, weil nur (halb-) rüstige Rentner zur Verfügung standen.

      Hhm …

      Ich habe auch eine andere Erwartungshaltung an den Kanzler (vermutlich geprägt durch die Befürchtung, dass hier nicht nur im Stil, sondern auch in der Handlungsarmut ein Merkel-Nachfolger heranwächst. Aber Du hast Recht; die vergleichbaren Beispiele (z.B. Lettland & Co. außen vor) sind noch schlechter.

      Es ist leicht auf Scholz und die Ampel zu prügeln. Aber das Problem ist nicht die Politik, sondern eine immer heterogenere, gleichzeitig anspruchsvoller werdende Gesellschaft.

      Kann nicht widersprechen.

      7) The Idiot Who Ruined Britain

      Es ist in Vergessenheit geraten, aber Johnson wie Kurz erreichten überwältigende Wahlsiege. Und es ist gar nicht so lange her, das galt Sebastian Kurz als der einzig kanzlerfähige Politiker in Österreich.

      Auch richtig

      Wenn Menschen gefallen sind, lässt sich leicht auf sie prügeln. Ich finde das miesen Stil.

      Nun, auf die wird nicht eingeprügelt, weil sie „gefallen“ sind, sondern weil bekannt wurde, welche Scheiße die gebaut haben.

      • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 12:45

        5)
        Ich habe auch eine andere Erwartungshaltung an den Kanzler (vermutlich geprägt durch die Befürchtung, dass hier nicht nur im Stil, sondern auch in der Handlungsarmut ein Merkel-Nachfolger heranwächst.

        Das ist ja nicht falsch, aber auch Ergebnis gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Angela Merkel war wegen ihre ruhigen Stils die vielleicht beliebteste Kanzlerin der Nachkriegsgeschichte. Was wäre also falsch, den Stil zu kopieren? Ich denke da anders, aber aus anderen Gründen. Und ich mag eher den Politiker mit Ecken und Kanten.

        Die Macht des Bundeskanzlers erwächst aus seiner verfassungsrechtlichen Stellung. Die aber ist maßgeblich von seiner parlamentarischen Mehrheit abhängig. Diese erwuchs immer aus der Größe seiner eigenen Regierungsfraktion. Koalitionspartner wurden als Ergänzung benötigt, nicht zur eigentlichen Begründung des Machtanspruchs. Merkel domestizierte ihre Partei mit ihrer Popularität und wendete eine neue Machttaktik an: Sie überließ ihrem Koalitionspartner von der SPD die Bestimmung der Richtlinien der Politik und kassierte den Bonus. Ihre Partei schäumte, konnte aber aufgrund ihrer Stellung nichts dagegen tun.

        Die SPD hat ein schwaches Wahlergebnis eingefahren, das 2013 gerade noch zu einer Juniorpartnerschaft der Union reichte. Die Koalitionspartner sind in Summe stärker als die Partei des Kanzlers. Dazu können diese beiden auch noch problemlos mit der konservativen Konkurrenz. Nutzt der Bundeskanzler in der Konstellation seine Richtlinienkompetenz, bekommt er schneller den Zusatz „Alt-“ verpasst als Saskia Esken „Reichensteuer“ buchstabieren kann.

        In Italien wollte Mario Draghi nur mit einer All-Parteien-Koalition regieren. In Frankreich ist Macron noch Präsident, obwohl die Mehrheit der Wähler extremistisch wählt. Spanien schafft gerade noch so und mit Unterstützung des Wahlrechts einigermaßen stabile Mehrheiten. Das sind alles keine starken Regierungschefs, sondern solche, die lavieren müssen.

        7)
        Sebastian Kurz war etwas überraschend. Sonst aber keiner. Und es ist gerade die Aufgabe mündiger Bürger und unabhängiger Medien, Regierende kritisch zu begleiten. Und nicht eine historische Bewertung vorzunehmen. Da zeigen sich eher die eigenen Versäumnisse. Die der Bürger und die der Medien.

        Niemand, der ein Mindestmaß an Neutralität besitzt, hatte den geringsten Zweifel über den windigen Charakter von Boris Johnson. Und kaum ein seriöser, unabhängiger Experte hat Merkels zentrale politische Entscheidungen uneingeschränkt richtig gefunden, Finanzkrise vielleicht ausgenommen. Überall steht das Label: man kann das machen. Aber nicht so.

        • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 15:41

          @ Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 12:45

          Angela Merkel war wegen ihre ruhigen Stils die vielleicht beliebteste Kanzlerin der Nachkriegsgeschichte. Was wäre also falsch, den Stil zu kopieren?

          Die unaufgeregte Art Merkels fand ich auch gut, da habe ich auch nie etwas anderes gesagt. Aber sie hat halt fleißig Themen mit großer Wucht vor die Wand fahren lassen, hat versucht, Probleme auszusitzen etc.

          Kommt mir bei Scholz (etwa in Sachen Ukraine) auch so vor: Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass. Wie es so schön heißt: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Das ist halt, was ich wahrnehme. Kein Problem damit, dass er nicht für alles Antworten hat, die sich in der Regierung durchsetzen lassen. Aber dann sollte er nicht so tun, als wüsste er die Antworten, und wolle sie nur nicht nennen.

          Das sind alles keine starken Regierungschefs, sondern solche, die lavieren müssen.

          Ja. Aber nach „lavieren“ kommt „Populismus“, dann hast Du Leute wie Orban, Berlusconi, Johnson etc. Wird hier natürlich länger dauern, da wir Deutschen alles gründlicher machen. Das dann wohl auch.

          Und kaum ein seriöser, unabhängiger Experte hat Merkels zentrale politische Entscheidungen uneingeschränkt richtig gefunden, Finanzkrise vielleicht ausgenommen.

          Das war eher der Peer. Zu der Zeit war ich noch nicht gegen Merkel, da hatte sie noch keinen Schaden angerichtet, und für Unterlassungssünden war es noch zu früh für ein Urteil. Aber mir ist durchaus aufgefallen, dass sie zur Zeit der Finanzkrise eher neben sich (und neben Peer Steinbrück) stand, und praktisch Null Ahnung von der Materie hatte. Sie ließ in machen; das ist eine der wenigen Entscheidungen, die ich ihr positiv anrechne.

          Überall steht das Label: man kann das machen. Aber nicht so.

          Nicht überall. Auf manchen Labels steht „Kann man liegenlassen. Sollte man aber nicht, unter keinen Umständen.“

          Aber ich verstehe Deinen Punkt. Ich habe auch gesagt, dass ich mir diese Regierung angesichts der vielen Versäumnisse der Vorgängerin, der fiesen Hinterlassenschaft, der komplizierten Konstellation und der aktuellen Krisen etwas länger anschauen werde. Ich bin ja auch noch recht zurückhaltend.

          Es grüßt
          E.G.

          • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 17:00

            Mein Problem mit Merkel waren immer ihre Charakterzüge: Sie ist chaotisch und sie hat, anders als sämtliche Spitzenpolitiker in der Nachkriegsgeschichte, keine Fachkompetenz in irgendeinem Sachbereich. Auch das zeigt: Ihr waren die Themen eigentlich immer egal. Nur habe ich das schon 2007 geschrieben.

            Scholz ist sehr viel stärker in den Themen, was man als Beobachter feststellen kann, was aber auch aus den Koalitionsverhandlungen gesickert ist. Allerdings ist auch Scholz kein großer Organisator, was die Parallelität mit Merkel zeigt.

            Scholz ist wahrscheinlich der machtloseste Bundeskanzler der letzten 50 Jahre. Nur will das keiner hören. Aber der Wähler hat ihn dazu gemacht. Der Wähler verleiht Macht und er entzieht Macht. Natürlich würde ich mir eindeutige Wahlergebnisse wünschen, doch die verhindert der langsam wachsende Trend zum Populismus. Und dann bekommen wir halt Politiker, die zum System passen. Ich glaube daher nicht, dass die Ampel eine großartige Regierung werden wird. Das glaubte ich aber von Anfang an nicht. Und die Krisen machen die Dinge schwerer und nicht einfacher.

            Man kann aus der Kernenergie aussteigen. Aber nicht so. Man kann die Erneuerbaren fördern. Aber nicht so. Man kann Migration fördern und mehr Flüchtlinge aufnehmen. Aber nicht so. Man kann die Energiepolitik stärker auf Gas ausrichten. Aber nicht so. Man kann in der Pandemie eine vorsichtige Politik fahren. Aber nicht so.

  • sol1 19. Juli 2022, 19:48

    7) „Seine nicht sonderlich ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten…“

    Diese Fähigkeiten hat er durchaus.

    „Schon 1982 schrieb der Lehrer des damals 18-Jährigen in einem Brief an dessen Vater: »Boris ist ziemlich beeindruckend, wenn Erfolge mit purer Intelligenz und ohne harte Arbeit erzielbar sind.«“

    (Der Spiegel. Nr. 28/2022, S. 14)

    Die Vermutung liegt nahe, daß auf die Leute, die Boris Johnson und Sebastian Kurz hochgeschrieben haben, dieselbe Beschreibung zutrifft.

  • CitizenK 20. Juli 2022, 09:29

    e, h und k
    Gewalt gegen Lehrer verbal und zunehmend auch körperlich, ist ein weiteres und kaum wahrgenommes Problem. Heute in der FAZ.

    • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 10:19

      Glücklicherweise kann ich da keinerlei anekdotische Evidenz beisteuern, aber ich arbeite auch nicht eben an einer Brennpunktschule und bin da ziemlich privilegiert.

      • CitizenK 20. Juli 2022, 13:48

        Ich auch nicht. Gehört aber zum Gesamtbild (Lockerer Halbtagsjob mit langen Ferien „morgens recht und mittags frei“)

        Es sind auch nicht nur die Lehrer. Es werden auch Feuerwehrleute und Rettungssanitäter (!) angegriffen. Was ist das los? Wo kommt das her?

        • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 15:14

          Egoismus, wäre meine These.

          • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 16:14

            Quatsch. Schlechte Erziehung oder die Unfähigkeit, Werte zu vermitteln.

            Die Verrohung sieht man seit Jahren im Freizeitbereich. Wenn wir heute über Angriffe auf Lehrer lamentieren – herzlich Willkommen in der realen Welt! Im Amateurfußball werden seit Jahren Schiedsrichter gejagt, im Profifußball junge Spieler von den Zuschauern schikaniert (Trikot ausziehen, Spielführerbinde ablegen etc.) und gemobbt (Koan Neuer). Dort, in der Freizeit kann man sehen, was in der Gesellschaft passiert. Aber das interessiert ja nur, wenn man selbst betroffen ist (Lehrer) oder ein passendes Stichwort eingeworfen werden kann (Egoismus).

            • Kning4711 20. Juli 2022, 17:15

              Es fehlt eine konsequente und gleichzeitig schnelle Strafverfolgung. Aufgrund von chronischem Personalmangel in der Justiz, kann man sich viel erlauben, ohne Konsequenzen zu fürchten. Damit verkommt der Justizapparat zum Papiertiger. Kein Wunder, dass kaum noch jemand an Regeln hält…

              • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 17:47

                Nein und nein. Die Sportjustiz arbeitet außerordentlich schnell, binnen 1-2 Wochen ist meist ein Urteil gesprochen. Im Vergleich zu den großen europäischen Rechtsstaaten Frankreich, Spanien und Italien arbeitet die Rechtsprechung in Deutschland vergleichsweise schnell. In Zivilverfahren steht oft innerhalb eines halben Jahres ein Urteil, bei Strafverfahren meist binnen Jahresfrist.

                Nur: es interessiert oft nicht. Im Fußball lassen sich Übeltäter nicht einmal von schwersten Strafen wie lebenslangen Sperren abhalten. Die Taten erfolgen oft instinktiv, weil die eigenen Kontrollen aussetzen. Und Selbstkontrolle ist eben eine Frage der Erziehung.

            • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 18:10

              Ja, früher, da war alles noch besser.

              • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 19:19

                Das ist wohl ein Kommentar, maximal daneben.

                Zur Erinnerung: CitizenK hatsich empört über die zunehmende Gewalt gegen Lehrer und fragte, woran das liegen könne (vielleicht Geld, für Linke eigentlich eine naheliegende Erklärung). Kning4711 bot als These, eine Ursache für die zunehmende Gewaltbereitschaft und Rechtsbrüche sei möglicherweise die Mängel in der Strafverfolgung.

                Ich habe substanziert dargelegt, dass gerade im Freizeitbereich Strafen und eine schnelle Verurteilung die Leute nicht abhalten, auszurasten. Die Ursache ist offensichtlich immer weniger Selbstkontrolle. Und Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung – hättest Du Pädagogik studiert, würstest Du das möglicherweise – ist eine Frage von Erziehung.

                Ich war in den Achtzigerjahren Fußballschiedsrichter im Amateurbereich. Pöbeleien und hetzerische Eltern bei Jugendspielen gab es auch damals. Aber selbst in unseren Schiedsrichtertreffen waren Handgreiflichkeiten gegen den Schiri kein dominierendes Thema, wie es das heute ist.

                Die einfachste Reaktion ist da natürlich, den Umstand wegzupöbeln. Substanziert ist das jedoch nicht.

                • CitizenK 20. Juli 2022, 20:22

                  „CitizenK hat…“
                  …das erwähnt und dabei deutlich gemacht, dass die Angriffe auf Lehrer (jedenfalls noch) ein kleineres Problem sind als die auf Feuerwehrleute und Rettungsdienste.

                  Was genau hat dazu geführt, dass die Fähigkeit zu erziehen und Werte zu vermitteln abgenommen hat? Erziehung ist ja ein anderes Wort für Vermittlung von Werten, ob durch Vorbild oder durch Druck oder Sanktionen.

                  Jedenfalls gab es einen Wertewandel: Durchsetzungsfähigkeit statt Rücksichtnahme. Wettbewerb statt Solidarität. Selbstverwirklichung statt Achtung vor Traditionen oder Autoritätspersonen. Ausgelöst durch die 68er – oder den Neoliberalismus?

                  Vielleicht haben wir aber auch, alles in allem genommen, durch weniger Zwang und mehr persönliche Freiheit doch mehr gewonnen als verloren und sollten die beklagten Erscheinungen als Nebenwirkungen ansehen?

                  Im Bereich der Jugendkriminalität und des jugendlichen Vandalismus jedenfalls hat Kning4711 vollkommen recht: Gerichtstermine und Sanktionen viele Monate später haben wenig Wirkung – das bestätigen alle Praktiker.

                  • Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 20:56

                    Klar, ohne Ideologie scheint es nicht zu gehen. Stefan hat das ohnehin mega drauf.

                    Die Idee, dass sich die Umstände verändern, aber unser Verhalten immer gleich bleibt, ist abenteuerlich. Sicher, Stefan und Sie sehen das bei aus Ihrer Sicht positiven Entwicklungen schon.

                    Wissen Sie, dass wir heute viel weniger Kinder haben als in den Siebzigerjahren? Ich meine ich hatte das mal ausgerechnet, nur noch ein Fünftel. Da gibt es schon mal weniger Anschauungs- und Experimentiermaterial. Denn, das stellen die meisten erstmals fest, wenn sie Eltern werden: Erziehen zu können ist nicht angeboren. Manche lernen das sogar berufsmäßig – und sind dann nicht selten selbst miserable Eltern. Und wussten Sie, dass während meiner Kindheit die Großeltern öfters Erziehungsaufgaben übernommen haben und als Mentoren ihrer Kinder zur Verfügung standen? Wie soll sich Wissen auch verbreiten, wenn es nicht weitergegeben wird? Ich könnte jetzt auch noch den Verlust christlicher Erziehung anführen, aber lasse das an dieser Stelle. Sie sehen, wenn Sie nur beobachten, finden Sie durchaus plausible Erklärungen in der gesellschaftlichen Entwicklung.

                    Heute versuchen viel mehr Eltern als früher die besten Freunde ihrer Kinder zu sein und überlassen schon Zweijährigen Entscheidungen, mit denen sie überfordert sein müssen. Beste Freunde und Erziehung ist aber ein Widerspruch. Wer Freund sein will, fällt als Erzieher aus.

                    Auch der internationale Vergleich hilft. hier sehe ich immer wieder kleine Kinder in Zügen und sogar Apotheken herumtollen, während die Mütter dabei stehen und das lustig finden. In Luxemburg oder Frankreich oder auch New York erlebt man das weniger bis gar nicht. Auch hier macht die Zahl an Kindern die gute Erziehung: wenn ein Balg in der Apotheke rumtollt, ist das zwar nervig, aber ertragbar. Machen das aber fünf oder sieben (siehe oben), haben auch Erwachsene Chaos pur.

                    Als ich wegen Fahrens ohne Führerschein verurteilt wurde, hatte ich längst meinen Führerschein. Der erzieherische Effekt auf mich durch das Gericht war überschaubar. Ich wusste ja, warum ich es getan hatte und empfand keine Reue. Aber die Strafe hatte eine ganz andere Wirkung auf mich, nämlich Einblick in die Arbeit von Pflegern zu bekommen.

                    • Erwin Gabriel 21. Juli 2022, 17:24

                      @ Stefan Pietsch 20. Juli 2022, 20:56

                      Klar, ohne Ideologie scheint es nicht zu gehen. Stefan hat das ohnehin mega drauf.

                      Du stellst Dich immer als jemand dar, der sachlich argumentiert. Dann tu das auch. Sprüche wie diese bringen nichts. Jeder argumentiert aus seiner Weltsicht heraus, da bist Du nicht besser oder schlechter als andere.

                      Wenn ein Argument nichts taugt, zerleg es, gerne. Aber so … ist nie zielführend, und Verschwendung Deines Intellekts.

                    • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 10:36

                      Ich wechsle, ich habe nicht immer das gleiche Vorgehen. Das für mich Befremdliche ist jedoch, dass auf sachliche Kommentare wie Artikel Polemik kommt. Bei Argumenten haben andere anscheinend keine mehr.

                    • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 15:47

                      @ Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 10:36

                      Das für mich Befremdliche ist jedoch, dass auf sachliche Kommentare wie Artikel Polemik kommt. Bei Argumenten haben andere anscheinend keine mehr.

                      Na ja, auch Deine sachlichen Artikel sind oft etwas überpointiert formuliert. Ansonsten muss man ja nicht alles nachmachen, was man selbst nicht leiden kann 🙂

                  • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 21:02

                    Ich halte die Diskussion für wenig zielführend. Es ist unklar, wie groß das Ausmaß ist, wer betroffen ist und wo die Ursachen liegen. Klar kann ich meine Lieblingskritik drüberlegen – Erziehung, Geld, Neoliberaslismus, Linke, whatever – aber ohne eine gewisse Empirie ist das doch nur Reproduktion von Vorurteilen.

                    • Stefan Pietsch 21. Juli 2022, 07:46

                      Natürlich kann man auch die Augen zumachen. Hey, Gewalt gab es immer!

                      Angeblich dann doch nicht:
                      https://www.welt.de/vermischtes/article240023985/Schwimmbad-Schlaegereien-Gezielter-Angriff-auf-Berliner-Freibad-Mitarbeiter.html

                      Die Zündschnur ist kürzer geworden. Warum nur?

                    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 08:00

                      Mein Punkt bleibt: gibt es mehr Gewalt, oder lesen wir mehr darüber weil sie seltener wurde? Beides möglich.

                    • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 10:59

                      Darum ging es eigentlich nicht. Die Bundeskriminalstatistik ist ein Sammelsurium aller Straftaten in Deutschland. Daraus abzuleiten, ob die Kriminalität zu- oder abgenommen habe, ist schwierig.

                      Ich habe ein sehr übersichtliches Beispiel genannt. Es gibt einige andere, wie z.B. die Aggressivität in Schwimmbädern. Auch in den Siebzigerjahren gab es Boulevardmedien und die waren nicht zimperlich. Um dies zu erklären, gibt es zwei mögliche Ansätze: Die Gewalt und Rücksichtslosigkeit hat gar nicht zugenommen, die Leute sind nur empfindlicher (im Grunde Deine Position). Oder es hat zugenommen, dann braucht es Erklärungen in der Veränderung der Gesellschaft.

                      Bis Anfang / Mitte der Zehnerjahre hatten wir einen signifikanten Rückgang von Gewalttaten und antisemitischen Delikten. Hier spiegelte sich die demographische Entwicklung der Gesellschaft wieder, das Alter lässt Menschen weniger kriminiell werden. Gewalt ist männlich und jung. So erklärte übrigens Paul Krugman in seinem Buch „Nach Bush“ die Gewaltexzesse von Schwarzen in den Sechzigerjahren.

                      Was wir aus der Sozialforschung auch wissen: je heterogener eine Gesellschaft in ihrer ethnischen Zusammensetzung ist, desto gewaltbereiter und unsolidarischer ist sie. Durch Migration wurde Deutschland in den letzten 10-15 Jahren heterogener und die Anzahl junger Männer hat zugenommen.

                      Da sind also neben den bereits genannten eine Reihe von Gründen, die eine Zunahme von Gewalt wahrscheinlich erscheinen lassen. Und nicht das Gegenteil.

                    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:39

                      Ja, das ist sicher nicht falsch. Aber der Trend insgesamt zeigt nach unten.

                  • Erwin Gabriel 21. Juli 2022, 17:53

                    @ CitizenK 20. Juli 2022, 20:22

                    Jedenfalls gab es einen Wertewandel: Durchsetzungsfähigkeit statt Rücksichtnahme. Wettbewerb statt Solidarität. Selbstverwirklichung statt Achtung vor Traditionen oder Autoritätspersonen. Ausgelöst durch die 68er – oder den Neoliberalismus?

                    Von all den Punkten kann ich nur einen akzeptieren: Selbstverwirklichung. Jede Serie, jeder Film, jede Werbung (und fast alle Musik, die sich an Jugendliche wendet) tragen die Botschaft „mach Dein Ding, egal, was die anderen sagen)“.

                    Problemauslöser sind meiner Meinung nach
                    – 68er: Viele Eltern erzogen ihre Kinder so, wie sie selber gerne erzogen werden wollten (also gar nicht), und verwechselten „gewaltfrei“ mit „grenzenlos“.
                    – Weniger Kinder: Ich bin mit vier Geschwistern aufgewachsen; ich habe schnell gelernt, dass es nicht immer nach meiner Nase gehen kann. Als Einzelkind hat man diesen „Wettbewerb“ natürlich nicht, und die Eltern richten sich mehr nach einem Kind aus, als sie sich nach vier oder fünf Kindern ausrichten könnten. Sie gehen, da bin ich klar bei Stefan Pietsch, zu oft den bequemen Weg statt den richtigen.
                    • Da spielt rein: Schule. Von Vater/Mutter/Kind vs. Lehrer (statt wie früher Schüler vs. vereinigte Erziehungsberechtigte) bis stärkere Einflussnahme durch andere Kulturen (was meine Jüngste an Kraftausdrücken und Beleidigungen mitbrachte, als sie in eine Stadtteilschule wechselte – unglaublich)
                    • Medien, wie gesagt.
                    • Wehleidigkeit; was heutzutage als Zumutung empfunden wird, entzieht sich häufig meinem Verständnis.

                    Und wer glaubt, dass die Gesellschaft früher solidarischer war, hat sie offenbar nicht erlebt. Man hat eindeutigere Lager gehabt, das sicherlich (Strauß und Kohl gegen Schmidt und Wehner z.B., Spießer gegen Langhaarige, „NAZI“ gegen „geh doch rüber in die Zone“) – das waren klare Grenzen.
                    In der Schule wurde genauso gemobbt wie heute, und um eine von sieben Lehrstellen zu bekommen, habe ich als 16jähriger zwei Tage lang gegen 50 andere Schüler antreten müssen (heute würde man Assessment-Center dazu sagen). Wettbewerb gab’s in der Babyboomer-Hochzeit mehr als genug.

                    Das sind natürlich nur sehr subjektive Eindrücke, verallgemeinender vorgetragen, als es Sinn macht. Es gibt auch heute für die Jugend viel Stress, Herausforderungen etc. aber der Zwang Druck früherer Jahrzehnte, sich angepasst an die Umgebung zu verhalten, hat meiner Wahrnehmung nach deutlich nachgelassen. Und das halte ich für ein zweischneidiges Schwert.

                    • CitizenK 21. Juli 2022, 21:07

                      Ist es, ja.

                      Nach welchen Kriterien kann man die Solidarität einer Gesellschaft beurteilen?

                      Hat Vandalismus zugenommen? Die Gewalt unter jungen Leuten? Oft kommt es auch im beschaulichen Heidelberg vor, dass aus nichtigem Anlass oder ganz ohne ins Gesicht geschlagen wird. Brutal auf am Boden liegende Kontrahenten eingetreten wird. Kann man das mit den Wirtshausraufereien von früher vergleichen? Ging es auf den Autobahnen damals auch schon so aggressiv zu?

                      Nach meiner Beobachtung spielen Kinder Erwachsenen – Lehrern ! – nicht mehr die Streiche wie früher. Die waren oft grenzwertig. Da war viel Wut. Vielleicht ist es doch auch gut, wenn Erzieher sich als Freund verstehen.

                    • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 10:37

                      @ CitizenK 21. Juli 2022, 21:07

                      Nach welchen Kriterien kann man die Solidarität einer Gesellschaft beurteilen?

                      Es gab früher definitiv mehr Hilfe unter Nachbarn und Kollegen; inzwischen lebt man mehr für sich, und ein Großteil der „Solidarität“ ist staatlich verordnet. Mit dem Ergebnis, dass man sich weniger um den anderen kümmert, weil „der Staat“ zuständig ist. Auch dadurch gibt es Gewinner und Verlierer.

                      Hat Vandalismus zugenommen? Die Gewalt unter jungen Leuten? Ging es auf den Autobahnen damals auch schon so aggressiv zu?

                      Das ist, denke ich, die falsche Frage. Das sich was verändert hat, ist offensichtlich. Die physische Gewalt „im Wirtshaus“ hat sicherlich abgenommen, da die Zahl der „physisch anspruchsvollen“ Jobs sich verringert hat, und wo es die gibt, sind es nur noch selten Deutsche, so dass Gruppenzugehörigkeiten (Türken vs. Russen vs. Rumänen etc.) eher eine Rolle spielen; die gehen aber nicht in Kneipen, und wenn, dann nicht in die gleiche.

                      Die Aggression auf den Straßen hat sich verändert; einerseits hat jeder mehr PS unterm Hintern und kann sich theoretisch auf einem Niveau fortbewegen, was vielleicht das Auto, aber nicht mehr der Fahrer bewältigt; richtige Raser erlebe ich aber eher in der Stadt; zu 95 % männlich, zu 80 % mit Migrationshintergrund (soweit es mit auffällt). Und ein Großteil der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen bzw. in der Schule läuft inzwischen über Social Media.

                    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:37

                      Ich denke, die Gewalt hat insgesamt auch abgenommen. Was das angeht, bin ich ziemlich bei Steven Pinker.

                    • Thorsten Haupts 22. Juli 2022, 14:54

                      Yup!

                    • bevanite 23. Juli 2022, 16:06

                      Ist es im Jahr 2022 wirklich immer noch angebracht, „die 68er“ für schlechte Erziehung verantwortlich zu machen? Ich weiß, dass das Mitte der Nuller mal ein Riesentrend war, aber inzwischen müssen wir uns doch eingestehen, dass der Drops gelutscht ist. Die 68er sind inzwischen alle in Rente, die nachfolgende Generation war die vielleicht egoistischste und verzogenste Generation in der Geschichte der Bundesrepublik („Generation Golf“) und diese wurden wiederum eher von der Nachkriegsgeneration erzogen. In der DDR gab es „68er“ nicht, ihr Äquivalent wären die DDR-BürgerrechtlerInnen und dennoch war die Gewalt in Ostdeutschland in den frühen Neunzigern am höchsten. Die Erfahrungen im Westen der Republik kann ich nur aus Erzählungen beurteilen, aber was ich hörte, waren es dort weniger die Kinder der „68er“, die Stress machten. Ich würde sagen, dieses Argument ist hinreichend widerlegt.

                      Wenn wir heute von Gewalt sprechen, dürfte die anonyme Internet-Diskussionskultur deutlich prägender sein.

                    • Stefan Sasse 23. Juli 2022, 19:59

                      68 war schon immer ein Mythos, aber so langsam wird er echt albern, ja.

                    • Stefan Pietsch 24. Juli 2022, 14:27

                      Nein, war es nicht. Aus eigener Anschauung kann ich behaupten: die Forderungen nach antiautoritärer Erziehung waren schon populär. Das ebbte erst in den Achtzigerjahren ab. Da kamen aber bereits die Konsequenzen zum Vorschein, die „Null-Bock-Generation“ war geboren. Das waren die Folgen von 68 in der Erziehung.

                    • Stefan Sasse 24. Juli 2022, 14:34

                      Eigene Anschauung trügt sehr oft bei diesen Themen.

                    • Stefan Pietsch 24. Juli 2022, 16:08

                      Ich habe die Begriffe in meinem Erwachsenenleben kaum noch gehört. Trotzdem sind sie mir stark gegenwärtig, weil es eben kein Seitenthema meiner Kindheit war. Ich glaube kaum, dass da die eigene Anschauung trügt.

                      Als jemand, der unbedingt Abitur machen und studieren wollte, war mir allerdings schon mit 16 die Null-Bock-Einstellung fremd.

  • cimourdain 20. Juli 2022, 09:56

    3) (Warnung: Rant) Stellen wir uns mal vor, Astronomen (eine Wissenschaft, die statt hochproduktiver Pöbeleien auf Twitter nur Bilder von Jahrmilliarden entfernten Galaxien produziert) würden auch so vorgehen. Dann gäbe es die einen, die im Hertzsprung-Russell-Diagramm nur die Hauptreihensterne als richtige Sterne anerkennen und für die Rote Riesen und Weiße Zwerge ein Irrtum der Natur sind. Die anderen würden die Hauptreihe als ein reines Sozialkonstrukt in einem Magnitudenfluidum betrachten und Vorträge über die Sternentwicklung verbieten lassen, weil diese ‚alternative Sterne‘ diskriminieren. Und die beiderseitigen Claqeure bezeichnen das als einzig wahre Wissenschaft, weil es ihnen in ihr gesellschaftspolitisches Konzept passt. So geht Wissenschaft.
    Die Wirklichkeit ist ziemlich einfach: Es gibt einen Normalfall (geschlechtliche Zuordenbarkeit), aber es gibt (selten, ca. 1-2 Promille) biologische Ausnahmen und es gibt (häufiger, aber immer noch selten 1-2% ) psychologisch-soziale Ausnahmen. Wer den einen Teil oder den anderen leugnet, betreibt einfach nur politisches Wunschdenken.
    Nachtrag zu den Hidschra, die im Link erwähnt werden (…dass es in Indien ein drittes Geschlecht gibt). Ehrlichkeit würde gebieten, auch deren Lebensumstände zu berücksichtigen: Es handelt sich i.d.R. um (biologisch männliche) Personen die als Jugendliche wegen femininen Auftretens verstoßen wurden und sich in ‚Schulen‘ zusammenschließen. Im guten Fall verdienen Sie ihren Unterhalt als Tänzer*innen, aber oft durch Betteln oder Prostitution. Viele – früher der überwiegende Teil – unterziehen sich einer ‚geschlechtsangleichenden‘ Operation in Form einer Kastration und/oder Penektomie.

    • Erwin Gabriel 21. Juli 2022, 17:56

      @ cimourdain 20. Juli 2022, 09:56

      Die Wirklichkeit ist ziemlich einfach: Es gibt einen Normalfall (geschlechtliche Zuordenbarkeit), aber es gibt (selten, ca. 1-2 Promille) biologische Ausnahmen und es gibt (häufiger, aber immer noch selten 1-2% ) psychologisch-soziale Ausnahmen. Wer den einen Teil oder den anderen leugnet, betreibt einfach nur politisches Wunschdenken.

      Große Zustimmung.

  • cimourdain 20. Juli 2022, 09:58

    2) Osteuropa wird in der Wahrnehmung vernachlässigt und nur hervorgeholt, um politisch opportune ‚Rosinenpickerei‘ zu betreiben (was du als Brennglas beschönigst). Aber bei den Nachfolgestaaten Jugoslawiens (btw. umfasst der Balkan auch Rumänien, Bulgarien, Albanien) ist tatsächlich ein deutlicher Unterschied in der Entwicklung auf vielen Ebenen (Demokratie, Korruption, Wohlstand) zwischen den EU-Staaten Slowenien und Kroatien einerseits und Bosnien/Herzegowina oder Kosovo andererseits. Allerdings darf man sich nicht zu viel vormachen, beim Demokaratieindex liegt z.B. Kroatien gleichauf mit dem von dir gerne (z.B. F6) kritisierten Ungarn.

    4) Was noch problematischer als die Postenschiebereien in der Verwaltung waren, waren doch die Versuche der Regierung Kurz, die Medien zu kontrollieren (ORF, Krone, Kurier). [Das stellt eine Parallele zu Johnson und der BBC (F7) dar] Eine österreichische Spezialität stellte dabei die ‚Anzeigenkorruption‘ dar: Die Regierung (Ministerien) gibt Millionenbeträge für Anzeigen in Zeitungen aus und hat damit indirekt Kontrolle über die Berichterstattung (Welche Zeitung möchte sich so ein Zubrot entgehen lassen).

    5) milde Verschwörungstheorie: Die Doppelstrategie Habeck/Scholz ist eine Vorbereitung um im Fall einer eintretenden Energiekrise gleich zwei Sündenböcke zur Hand zu haben und so die Verantwortung von der Regierung abzuwälzen. So kann man gegenüber der Wirtschaft die Bevölkerung verantwortlich machen und umgekehrt.

    10) Hier hat sich Lübkert ziemlich verrannt:
    Bei ‚the Boys‘ handelt es sich um eine Dekonstruktion des Superheldengenres. Dabei ist der Gag, das die ‚Sieben‘ zwar als Schurken auftreten, aber den Habitus von Helden der Golden-Age Comics annehmen. Homelander nimmt da natürlich Anleihen an die patriotische Variante. Er rechtfertigt seine Verbrechen eben nicht damit, dass er ein traumatisierter Edgelord ist, sondern damit, dass sein Cape die amerikanische Flagge ist. Und genau dafür hat er auch seine Fans IRL, die diesen Anspruch ‚Amerika darf alles‘ verinnerlicht haben. Also mach nicht dreißig Jahre alte Comics für eine Entwicklung verantwortlich, die auf die US-Politik der letzten 20 Jahre zurückgeht.
    Nachtrag1: kleine Sottise zum Thema Antihelden und Bohrleute 35: Früher hatten die Superhelden gleichförmige Identität, aber diverse Persönlichkeiten, heute haben sie diverse Identitäten, aber gleichförmige Persönlichkeit.
    Nachtrag 2: Vieles an ‚the Boys‘ erinnert an ‚Watchmen‘ (eine Besprechung dazu würde mich im übrigen freuen). Ich hatte mal mit jemanden gesprochen, der ein totaler Fan von Rohrschach war. Auch an ihm war die zynische Dekonstruktion, die hinter der Figur steht, komplett vorübergegangen. Das ist wahrhaft nichts neues.

    l) Die Grundaussage ‚Es wird mit zweierlei Maß bewertet‘ ist zwar richtig, aber weiter unten im Thread wird das erweitert zu ‚Es wird mit zweierlei Maß gemessen‘ indem einzelne Fragen miteinander verglichen werden. Das halte ich für Unsinn, der ADAC hat in beiden Fällen Fragen aus der Führerscheinprüfung genommen. Da waren einfachere und schwerere dabei. Da dann einzelne für einen ‚Vergleich‘ heranzuziehen ist ebenso unredlich wie die WELT-Schlagzeilen.

    • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 10:23

      2) Danke für den Kontext! Aber diese Unterschiede werden ja üblicherweise nicht gemacht. Wenn man den Balkan überhaupt bemerkt, dann meist als, nun, „den Balkan“.

      4) Exakt. Ich sag’s ja, kein Vergleich.

      5) Das ist keine Verschwörung, das ist politische Taktik. 😀 Aber genau die kritisiere ich.

      10) Da verrennst eher du dich: das zu verstehen ist nicht sonderlich schwer; was Lübkert kritisiert ist, dass es Leute gibt, die Homelander unironisch als den Guten sehen und feiern. Also Leute, die genau das nicht verstehen. Das sind wahrscheinlich die gleichen Leute, die Starship Troopers schauen und denken, die Mobile Infanterie seien die Guten. Meine eigene Kritik an The Boys ist eine andere: ich finde die eigentlichen Protagonisten zum Kotzen. Ich hab darüber ausführlich im Podcast mit DancingSean geredet: https://boiledleatheraudiohour.tumblr.com/post/667318736206872576/blah-141-a-heap-of-toxic-nerddom-with
      Nachtrag 1: Marvel hat da ziemlich ein Erfolgsrezept vereinheitlicht, ja, aber es ist nicht so, als wären die früher durch gigantische Varianz aufgefallen 😀
      Nachtrag 2: The Boys wäre gerne Watchmen, aber der Vergleich ist beleidigend für Moore und Gibbons.

      l) Danke!

      • cimourdain 21. Juli 2022, 10:07

        10) a) über Geschmack möchte ich gar nicht streiten. Der Mangel an Sympathieträgern ist ein valides Argument und im Vergleich mit einem Klassiker zieht ein bestenfalls leicht überdurchschnittliches Produkt den Kürzeren. Abgehakt
        b) Aber Lübkert geht es ja nicht um Geschmack, sondern um die Fanbase. Da findet er im Internet tatsächlich 2(!) Fälle, wo jemand unironisch Sympathie für Schurken zeigt. Das ist angesichts von „Thanos did nothing wrong“ und Serienmörder-Fanclubs übersichtlich und vor allem nichts neues (meine Rohrschach-Anekdote).
        c) Stelle ich die These auf, dass der von ihm angeführte 90-er Jahre Antiheld mehr Klischee denn Wirklichkeit ist. Die typischen Beispiele (Punisher, Wolverine, Judge Dredd, Blade, ‚Dark Knight‘ Batman) stammen aus früheren Dekaden. Der Topos war schon zu Beginn der 90er so totgeritten, dass es zwei Parodien (Deadpool, Lobo) gab.
        d) Das unterfüttert er mit der sexistischen Kulturkampf Vorstellung „Wir haben mindestens vierzig Jahre gelernt, regelbrechende Männer mit Trauma als Helden zu akzeptieren und ein stückweit sogar zu lieben.“. Der bewusste Verzicht auf geschlechtsunabhängige Formulierung zeigt, dass entsprechende Frauengestalten (z.B. ‚Birds of Prey‘) zeigt, dass es ihm um das Feindbild des (weissen) Mannes geht. Und auf diese ‚Guter Kulturkampf Blödsinn als Gegengift zu Bösem Kulturkampf Blödsinn‘ bin ich derzeit richtig allergisch – siehe meinen Kommentar zu 3) weiter oben.
        e) Deswegen ist meine Gegenthese, dass es die Methodik der Satire, der Wirklichkeit einen so extremen Zerrspiegel vorzuhalten, dass die Hässlichkeit dahinter zutage tritt, ins Leere verpufft, weil wir uns so an Doppelstandards und Akzeptanz selbst extremen Verhaltens von der ‚richtigen‘ Seite gewöhnt haben, dass die intendierte Schockwirkung ausbleibt.

        • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 08:04

          b) Das Phänomen ist schon wesentlich breiter als zwei Leute und seit Langem bekannt.
          c) Wirklich populär waren die in den 90ern. Und meine Erinnerung geht auch in die Richtung, wobei die natürlich unzuverlässig ist.
          d) Korrekt, das ist effektiv ein Problem von Männerfiguren, weil Birds of Prey in eine ganz andere Richtung geht.
          e) Sehe ich nicht.

  • Thorsten Haupts 20. Juli 2022, 13:56

    Zu 4) Ich finde es ja faszinierend, was heute als „Skandal“ gehandelt wird. Und erinnere gerne daran, dass wir Deutschen mit Vorliebe absolut integere Politiker wählen, die durch die Bank politische Vollschwachmaten sind. Ich vermute ja, das eine hängt mit dem anderen zusammen (ja tatsächlich), aber ich bin auch nur ein alter Reaktionär, der einen fähigen, bösen, opportunistischen und korrupten Politiker (FJS als Bsp.) jederzeit einem persönlich absolut integeren Verwaltungsbeamten (Steinmeiner als Bsp.) vorzieht.

    Zu d)
    Absolut bescheuerte Frage. Note sollen Leistungsstand einer Person (möglichst vergleichbar) zum Zeitpunkt X widergeben, nicht deren persönliche Anstrengung. Die Noten sollen einem Aussenstehenden vermitteln, was jemand kann, und nicht, wieviele Stunden er/sie dafür arbeiten musste.

    Zu n)
    Jou, Schülerhumor 15jähriger. Erhält man feixend aufrecht, solange es die Gegenseite trifft.

    Völlig persönliche Nachbemerkung: Die meisten hier verlinkten oder kommentierten Beiträge sind – erstmalig bei dd – ziemlich müde, unoriginell und intellektuell zweitklassig. Durch die Bank – war die Lesewoche so schwach an Material :-)?

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 15:15

      4) Ich nehme gerne beides in Kombination.

      d) „Sollen“ sie, völlig korrekt, tun sie abe nicht.

      Persönlich: Manchmal gibt es heißeres Zeug als andere Male 🙂

    • CitizenK 20. Juli 2022, 15:24

      „einen fähigen, bösen, opportunistischen und korrupten Politiker (FJS als Bsp.)… vorziehen“

      Und gleichzeitig willst Du, dass Straftäter nicht folgenlos davonkommen? Das passt nicht zusammen.

      Hab die Synonyme für „Reaktionär“ nachgeschaut. Wie man darauf stolz sein kann, erschließt sich mir nicht.

      • Stefan Sasse 20. Juli 2022, 15:55

        Ich meine, Stalin war auch fähig. Das Argument führt zu ziemlich schlimmen Orten.

        • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 10:44

          @ Stefan Sasse 20. Juli 2022, 15:55

          Ich meine, Stalin war auch fähig. Das Argument führt zu ziemlich schlimmen Orten.

          Ist ja nicht schwarz-weiß; den perfekten Politiker gibt es nicht. Strauß ist sicherlich für das, was wir hier in Deutschland gewohnt sind, eher grenzwertig gewesen, aber eben noch klar innerhalb der Grenzen. Wenn Du auf Berlusconi schaust, erkennst Du vielleicht den Unterschied.

          Selbst wenn ich froh bin, dass Strauß nie Kanzler wurde, muss ich doch zugestehen, dass es maßgeblich seine Vorstellung und sein handeln war, dass Bayern aus einem landwirtschaftlich geprägten Bundesland zu dem Industriestandort wurde, der es jetzt ist. Dass „Laptop und Lederhose“ Jahrzehntelang das Bild von Deutschland prägten, hat dem ganzen Land gut getan und viel Wohlstand für alle gebracht.

          • CitizenK 22. Juli 2022, 11:12

            Und das ist alles Strauss‘ Verdienst?

            Wenn das stimmt, dann stimmt etwas nicht mit dem Mantra, dass die Politik die Wirtschaft vor allem …. in Ruhe lassen soll.

            • Thorsten Haupts 22. Juli 2022, 14:52

              Ach, Strauss hatte damit nichts zu tun? Na, dann is es ja wurscht, wenn Politiker korrupt sind, ned wahr?

            • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 16:10

              @ CitizenK 22. Juli 2022, 11:12

              Und das ist alles Strauss‘ Verdienst?

              Meiner Meinung nach: Weitgehend, ja.

              Wenn das stimmt, dann stimmt etwas nicht mit dem Mantra, dass die Politik die Wirtschaft vor allem …. in Ruhe lassen soll.

              Ist offenbar kein Mantra, mit dem Du Dich besonders gut auskennst. 🙂

              Strauss hat den Unternehmen nicht reingequatscht; er hat ihnen Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten geboten, die sie gerne angenommen haben. Er war ein begnadeter Marketing-Spezialist, der maßgeblich das Image Deutschlands im Rest der Welt bestimmt haben (es haben sich viele, die damals das erste Mal nach Deutschland kamen, gewundert, dass nicht alle wie in Bayern sind).

              Als er 1978 sein Amt als Ministerpräsident antrat, erhielt Bayern über den Länderfinanzausgleich noch 153 Millionen Euro. Als er starb, war Bayern auf Zuschüsse nicht mehr angewiesen, sondern zahlte (damals noch bescheidene 33 Millionen; mit der Einbindung der neuen Bundesländer stieg der Beitrag rasch auf über eine Milliarde Euro).

              • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:44

                Ich bin sicher kein FSJ-Fan, aber ich denke, seine Verdienste kann man ihm nicht nehmen.

              • bevanite 23. Juli 2022, 16:09

                Gilt nicht sein Vorgänger Alfons Goppel als derjenige, der Bayern vom Agrarland in die Moderne führte? Unter Strauß begann doch dann schon der Filz und die Korruption…

                • Erwin Gabriel 23. Juli 2022, 17:16

                  @ bevanite 23. Juli 2022, 16:09

                  Gilt nicht sein Vorgänger Alfons Goppel als derjenige, der Bayern vom Agrarland in die Moderne führte? Unter Strauß begann doch dann schon der Filz und die Korruption…

                  Microsoft kam 1983 nach Deutschland, wählte München (Ismaning), und hat viele mitgezogen.

                  Und Korruption gab es auch schon vorher.

                  Ein bisschen überzogen formuliert: Solange Bayern rein landwirtschaftlich geprägt war, hat jeder die Folklore im Urlaub genossen, der Rest war egal.
                  Mit der wirtschaftlichen Entwicklung kamen andere aus Restdeutschland, um dort zu leben und zu arbeiten. Die haben dann von den eigenartigen Gebräuchen der Einheimischen berichtet, was vorher niemanden so richtig interessiert hatte 🙂

                  Viel von dem, was wir

                • Stefan Pietsch 23. Juli 2022, 17:31

                  Ja, furchtbar die Korruption in Bayern. Überall anders ist es besser. Da ist dann schon erstaunlich, dass 44% der Deutschen am liebsten in München leben würden. Und 11% ziehen Bayern als Bundesland vor. Wahrscheinlich wegen der Korruption. Alle Korrupten wollen dorthin, wo die Korruption blüht.

                  Echt jetzt?

                  • Erwin Gabriel 24. Juli 2022, 16:31

                    @ Stefan Pietsch 23. Juli 2022, 17:31

                    Ja, furchtbar die Korruption in Bayern.

                    Korruption ist eigentlich das falsche Wort; Klüngel wäre besser. Und der ist natürlich landes- und partei-unabhängig; in NRW waren es lange die Sozialdemokraten, im Osten die Linken. Und in Bayern halt die CSU.

                    Und ich kenne niemanden, der nicht selbst die Abkürzung nimmt, wenn er könnte – Ausbildungsplätze, Eintrittskarten, what ever.

                    • Stefan Pietsch 24. Juli 2022, 17:10

                      Die Sache ist die, dass hier einige Korruption als etwas dargestellt haben, was Menschen mit einer bestimmten Ideologie (liberal-konservativ) besonders befällt. Zum anderen hatte die CSU erstaunliche Selbstreinigungskräfte, sonst könnte sie sich nicht so ewig lange an der Macht halten.

                    • Stefan Sasse 24. Juli 2022, 17:48

                      Nö, die haben nur viel mehr Gelegenheit dazu. Die wenigsten Unternehmen bestechen Linke.

                    • Stefan Pietsch 24. Juli 2022, 18:30

                      Wenn die Bundesaußenministerin eine jahrzehntelange Aktivistin zur zweitwichtigsten Diplomatin macht, ist das natürlich keine Korruption.

                      Wenn die Grünen sich die Forderung des Lobbyverbandes der Windenergiebetreiber, der Bundesverband WindEnergie (BWE), zu eigen machen und die beiden Hauptforderungen übernehmen (2% Fläche für Windkraft, geringere Abstände), dann ist das natürlich keine Korruption. Linke Lobbyisten haben einfach Recht.

                      Auch bei vielen der angemarkerten konservativen Fälle ist nicht direkt Geld geflossen, aber sie bekommen das Label „Korruption“ umgehängt. Das ist der Unterschied. Übrigens: Die Grünen haben im letzten Wahlkampf mit die höchsten Einzelspenden bekommen. Aber das macht ja eigentlich keinen Sinn, oder?

          • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:38

            Ich würde nie behaupten, FJS und Berlusconi wären gleichwertig oder FJS wäre kein Demokrat. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass „fähig“, „führungsstark“ etc. alles keine Tugenden sind, die man im Vakuum betrachten sollte.

            • Thorsten Haupts 22. Juli 2022, 19:19

              Ist ja völlig richtig. Nur macht dann der Vergleich von FJS (der gerichtlich nie angeklagt oder verurteilt wurde) mit Stalin wenig Sinn. Und nur „for the records“ – Stalin war kein fähiger Herrscher.

              • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 20:59

                Ich vergleich auch nicht FJS mit Stalin, sondern sage, dass das Argument offensichtliche Probleme hat.

      • Thorsten Haupts 20. Juli 2022, 17:58

        Das haben Sie wirklich nachgeschlagen? Finde ich irrsinnig komisch :-).

  • cimourdain 21. Juli 2022, 08:33

    9) „…bis hin zu solchen, die es gar nicht kannte, wie China.“ ist ein Irrtum. Ab der Sicherung der östlichen Seidenstraße durch Han Wudi gab es Kontakte, Handel (Seide), sogar den Austausch von Botschaftern zwischen Seres (Chinesen) und Daqin (Rom).
    https://en.wikipedia.org/wiki/Sino-Roman_relations

    • Thorsten Haupts 21. Juli 2022, 10:10

      Na ja, kannte. Wenn man ein paar lose Handelskontakte und viele Gerüchte (auf beiden Seiten) zählt, klar. Der im Wiki-Artikel genannte, angebliche, Austausch von Botschaftern hat sich über römische Spuren (Archäologie und Schriften) nie nachweisen lassen.

      • cimourdain 21. Juli 2022, 17:07

        Sie haben da natürlich recht. Die Kontakte waren dünn und sehr indirekt. Ich finde nur die Tatsache, dass es sie gab, bemerkenswert genug, darauf hinzuweisen.
        Aber generell habe ich das Gefühl, dass es in Rom kaum Interesse an den Ländern gab, die weder in der Einflusszone noch eine Bedrohung waren. Hibernia, Aksum, Skythien waren alles Länder, mit denen es Kontakte gab, aber fast keine römischen Quellen dazu. Ich kann mir fast einen Wanderprediger (Johannis Olivus) vorstellen, der auf dem Forum mit einer Karte steht, auf die er zeigt. „Et nunc … Aksum. Haec terram parum scitis, hic esse creditis … sed hoc est!“

    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 08:01

      Ich weiß, aber es gibt mWn entweder niemand oder so gut wie niemand aus den jeweiligen Reichen, der je das andere besuchte, Marco Polo style. Die wussten, da existiert was, aber mehr auch nicht.

  • Erwin Gabriel 21. Juli 2022, 15:23

    f) Der Mythos vom komplett self-made Milliardär.

    Ja, ja, und Linke erkennt man an den langen Haaren und am Revoluzzer-Bart (siehe Karl Marx). Ist ja nett fürs Klischee, aber sonst nur eine andere Form von Sozialneid.

    Mal im Ernst:
    • Bill Gates hat bereits als pubertierender Teenager ein automatisiertes Verkehrszählsystem entwickelt, das den Kommunen viel Geld sparte. Da er noch nicht geschäftsfähig war, mussten für die Verträge seine Eltern einspringen. Da war von IBM noch nichts zu hören. Gates hat eine Programmiersprache namens Basic geschaffen, die auch auf anderen Computersystemen lief.
    • Lass Jeff Bezos mit einer Million Euro zusammengepumpten Geld angefangen haben – es gibt so viele kleine oder gescheiterte Start-ups, die deutlich mehr zur Verfügung hatten und scheiterten.
    • Warren Buffet ist bei weitem nicht der einzige Sohn einflussreicher Eltern. Wie viele von denen haben auch nur annähernd Ähnliches erreicht?
    • Elon Musk hat also einen reichen Vater? Wow. Sein erstes Unternehmen, dass er im Alter von 24 Jahren gründete, hatte ein Startkapital von 2.000 Dollar; vier Jahre später war sein Anteil einen zweistelligen Millionenbetrag wert. Mit dem Geld gründete er einen Internet-Finanzdienstleister, schloss sich mit Konkurrenten zusammen, verkaufte Paypal für 2002 an eBay. Sein Anteil am Verkaufspreis von 1,5 Mrd. Dollar lag bei knapp 12 %. Mit dem Geld gründete er ein Raumfahrtunternehmen, dass binnen 15 Jahren zum kommerziell erfolgreichsten Unternehmen der Branche wurde. Zwei Jahre später folgte die Gründung von Tesla.
    • Bezeichnenderweise steht Steve Jobs nicht in der Liste. Als uneheliches Kind zur Adoption freigegeben, gelang ihm die Gründung von Apple. Dort ausgebootet, gründete er u.a. Pixar, die später Disney aufkauften.

    Du kannst über die Leute denken, wie Du willst –, dass was sie „groß“ gemacht hat (oder eben finanziell erfolgreich – wie Du willst) ist nicht die Starthilfe der Eltern. So viele Kinder kriegen deutlich mehr, und scheitern trotzdem.

    • CitizenK 21. Juli 2022, 18:18

      Man könnte noch Tesla selbst nennen, der mittellos aus dem Balkan (!) in die USA kam oder Dietmar Hopp und die anderen SAP-Gründer.
      Ich sehe das so: Das sind außergewöhnliche Persönlichkeiten. Für die Durchschnittlichen spielt es schon eine Rolle, ob sie Starthilfe durch Eltern oder Gönner kriegen oder nicht.

      • Erwin Gabriel 23. Juli 2022, 21:07

        @ CitizenK 21. Juli 2022, 18:18

        Für die Durchschnittlichen spielt es schon eine Rolle, ob sie Starthilfe durch Eltern oder Gönner kriegen oder nicht.

        Ich bin ja bei Dir, wenn man die ‚Starthilfe‘ nicht ausschließlich als rein finanzielle Leistung begreift. Bereits um sich in unseren Teilen der Welt selbstständig zu machen, muss man lesen, schreiben und rechnen können.
        Dazu kommt, dass sich viele Kinder eine Menge von den Eltern abschauen. Die meisten Kinder erfolgreicher Schauspieler werden Schauspieler, die meisten Kinder erfolgreicher Musiker werden Musiker. Wo es daheim um Leistung und Wirtschaft geht, tut sich der betreffende Nachwuchs später in der Regel leichter. Und wer in einem Hartz-IV-Elternhaus aufwächst, mag sich später leichter in dieses Schicksal fügen, da es seinem ’normalen‘ Umfeld entspricht. So jemand könnte mit einer Million vermutlich wenig anfangen (außer das Geld zu verbrauchen).

        Die entscheidenden Schlüssel sind Bildung, sind Vorbilder, und die Gesellschaft. Bei Bildung entscheidet viel zu sehr da Elternhaus, was prekäre Verhältnisse allzu oft festschreibt. Hier gibt es zu wenig Stipendien, um talentierte jugendliche aus ärmeren Schichten zu fördern, und unsere deutsche Gesellschaft übt auch keinen Druck in Richtung Eigeninitiative aus.
        In den USA ist die Devise „streng Dich an, dann kannst Du es schaffen“, hier eher „wenn was schiefgeht, hilft der Staat“.

        Geld ist für verschiedene prozesstechnische Abläufe wichtig, wird ansonsten stark überschätzt, was die Wirkung auf die Entwicklung unternehmerischen Denkens angeht. Ich habe auch noch nie von einem Lotto-Millionär gehört, der erfolgreicher Unternehmer wurde.

        Was die ‚verkackte‘ Situation unseres Bildungssystems angeht, hat Sasse Stefan schon Durchblick. Was die Entwicklung zum Unternehmer angeht, teile ich aber Stefan Pietschs Meinung, dass Geld allein niemanden erfolgreich macht.

        • Stefan Sasse 24. Juli 2022, 13:42

          Bin völlig bei dir, mit einer Ausnahme: ich sehe nicht, dass hierzulande eine Vorstellung von „wenn es schiefgeht, hilft der Staat“ gelehrt würde. Ich habe noch von niemandem eine aktive Begeisterung für staatliche Hilfssysteme gehört. Gibt es sicherlich, kein Zweifel, aber das als universelle Einstellung zu verkaufen, geht viel zu weit. Allein das Stima, das am Annehmen von Sozialleistungen haftet, spricht dagegen.

          • Stefan Pietsch 24. Juli 2022, 14:24

            Dazu unterrichtest Du an den falschen Schulen und in den falschen Klassen. Auf den Hauptschulen gibt es sehr wohl die offenen Reden, man werde auf Hartz-IV machen. Untersuchungen zeigen zudem, dass H4-Eltern ihren Kindern weit weniger das vermitteln, was nunmal essentiell ist: (Selbst-) Disziplin, organisierte Zeitabläufe (angefangen bei regelmäßigen gemeinsamen Mahlzeiten), ehrgeizige Zielsetzungen. Das kann keine öffentliche Einrichtung leisten, das muss das Elternhaus bringen. Und wenn es das Elternhaus nicht bringt, haben die Kinder keine Chance.

            Ich empfehle auch, ab und zu mal Talksendungen zu sehen, in denen 08/15-Leute zu Wort kommen. Unisono findet man dort Aussagen, der Staat müsse unter die Arme greifen, dies und das tun. Was einem erstaunlicherweise nicht begegnet: Menschen, die sagen, der Staat nimmt mir zu viel. Das Irrwitzige ist, die Leute betrachten ihre Lohnabrechnung von der untersten Zeile: ist die Summe zu klein, fordern sie, dass die Topline aufgebessert wird. Erstaunlicherweise betrachtet kaum jemand den Mittelteil, obwohl dieser fast nirgends so groß ist wie in Deutschland.

            Niemand hinterfragt, ob der Staat sich nur seinen „gerechten“ Anteil nimmt, oder doch ein bisschen zu viel. Und das sagt ja auch jeder Linke hier im Blog: Der Staat braucht mehr Geld. Aber das heißt in der Konsequenz: die Bürger brauchen weniger Geld, schließlich ist es ein Null-Summen-Spiel.

            • Stefan Sasse 24. Juli 2022, 14:33

              Ich möchte dir jetzt nicht deine reichhaltige Hauptschulerfahrung absprechen oder gar die These vertreten, dass Talkshows vor allem solche Leute einladen, die maximal provozierende Thesen in den Raum stellen. Aber gerade deswegen schreibe ich bewusst von „universelle Einstellung“ und gebe zu, dass es so Leute sicher gibt.

              • Stefan Pietsch 24. Juli 2022, 16:14

                Ach, ist die Einstellung, der Staat möge bitte das eigene Portemonnaie auffüllen, provozierend? In Reportagen über die Einkommenssituation in bestimmten Berufen begegnet einem das auch ausschließlich. Wie gesagt, der Blick auf „das Dazwischen“ ist den meisten fremd, das ist auch meine berufliche Erfahrung.

                Und wenn ein gebildeter Mann bei Maybrit Illner sich darüber empört, dass der ihm gegenübersitzende Bundeskanzler sich weigert, ihm Tipps zum Sparen zu geben (wie das lobenswerterweise ja Robert Habeck getan habe), dann weiß ich, wie es um den Zustand der Menschen in diesem Land bestellt ist.

    • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 08:07

      Ich würde das auch nie behaupten. Diese Leute haben allesamt Großes geschaffen. Was ich sage ist: sie brauchten eine gewisse Grundlage, und die hatten sie mWn alle. Notwendige, nicht hinreichende Bedingung. Mit dieser Grundlage haben sie zighundertmal mehr gemacht als praktisch alle anderen, das ist unbenommen.

      • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 11:06

        Nein, brauchen Sie nicht. Zumindest nicht in Finanzkapital. Jan Koum, der Gründer von WhatsApp, arbeitete als Reinungskraft, seine Mutter als Babysitter. Heute ist er Milliardär. Das Finanzkapital hat bei den großen Erfindungen unserer Zeit eine sehr untergeordnete Rolle gespielt, einfach, weil mit der Globalisierung die Gewinnung von Risikokapital für Gründer nicht das Problem ist. Eine Million aufzutreiben ist nicht das Problem. Das Problem sind Know-how und Innovation.

        • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:40

          Um im Bild zu bleiben: um DOS in der Garage zu entwickeln, brauchst du eine Garage.

          • Stefan Pietsch 22. Juli 2022, 18:58

            … die sich für 20 $ im Monat mieten lässt. Ansonsten können amerikanische Eltern damit dienen.

            Wenn Du die Latte so niedrig hängst, bleibt am Ende nur der „Beweis“, dass Kinder aus Sozialhilfehaushalten nicht Unternehmer werden können.

          • Erwin Gabriel 23. Juli 2022, 08:56

            @ Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:40

            Um im Bild zu bleiben: um DOS in der Garage zu entwickeln, brauchst du eine Garage.

            Ja; aber um DOS am Schreibtisch zu entwickeln, nicht. Damit wäre jedes Kind, dass in einem haus wohnt, so von den Eltern gepampert, dass ein genie draus werden könnte 🙂

      • Erwin Gabriel 22. Juli 2022, 11:06

        @ Stefan Sasse 22. Juli 2022, 08:07

        Was ich sage ist: sie brauchten eine gewisse Grundlage, und die hatten sie mWn alle. Notwendige, nicht hinreichende Bedingung.

        Ich widerspreche. Ist widerlegt durch Steve Jobs, der als Waisenkind nichts von all dem mitbrachte – kein Geld, keine Beziehungen, nur Ideen.

        Was Du sagst, ist, dass Usain Bolt nicht der schnellste Mensch der Welt geworden wäre, hätte ihm seine Mutter kein Nutella-Brot geschmiert. Und diese Annahme halte ich für falsch.

        Mit dieser Grundlage haben sie zighundertmal mehr gemacht als praktisch alle anderen, das ist unbenommen.

        Ja, unbenommen. Aber wenn „die Grundlage“ bei so vielen gegeben ist, und nur eine Handvoll startet durch, ist die Grundlage nicht das Entscheidende, sondern derjenige, der durchstartet.

        Die viel wichtigere Grundlage war meiner Meinung nach, in einem Umfeld aufzuwachsen, dass Sicherheit garantiert, Bildung gibt, und Unternehmertum fördert. Es ist schon bezeichnend, wie wenig solcher Menschen es gibt, die aus der eigenen Persönlichkeit heraus solche Leistungen erbringen – aus dem Nicht-Westen fallen mir auf Anhieb nur Morita Akio (Sony) oder Jack Ma (Ali Baba) ein.

        Und selbst wenn man den Bogen ein wenig weiter spannt und sich nicht nur auf diese Giganten beschränkt, haben es doch die aller-, allermeisten in den USA geschafft; ich kenne keinen Namen aus Afrika, keinen aus Südamerika (bzw. dort nur im Bereich Drogen), extrem wenige aus Europa, jedenfalls nicht aus der Neuzeit (den Goldrausch in Russland nach dem Fall des eisernen Vorhangs rechne ich hier nicht ein).

        Bildung und gesellschaftliche Möglichkeiten sind deutlich entscheidender, und die durch die Eltern vermittelten Werte halte ich auch für DEUTLICH wichtiger als deren finanziellen Beigaben, die oft genug nur aus dem Namen bestehen.

        • Stefan Sasse 22. Juli 2022, 18:41

          Bin sofort bei dir, was die Wichtigkeit des Umfelds anbelangt. Deswegen ist es auch so wichtig, dass da entsprechend dran gearbeitet wird.

  • CitizenK 23. Juli 2022, 17:38

    „noch angebracht, „die 68er“ für schlechte Erziehung verantwortlich zu machen?“

    Sicher nicht, schon gar nicht für gewalttätiges Verhalten, im Gegenteil. War auch eher ironisch gemeint, weil das von konservativer Seite immer wieder behauptet wurde und auch noch wird. Die 68er waren ja ausdrücklich gegen Gewalt.
    Immer wieder wird ja zitiert, man brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Ambivalent: Soll ich mich einmischen, wenn ein Kind sich z. B. in der Straßenbahn schlecht benimmt? Früher war das normal, heute eher nicht. Wir wollten auch nicht, dass Leute mit ganz anderen Vorstellungen bei unseren Kindern einmischen.

  • CitizenK 23. Juli 2022, 17:44

    „Bayern“ sind ja auch die Wähler. Und die sind verantwortlich für Seehofer, Dobrindt und Scheuer. Merkel werfe ich vor, dass sie die hat machen lassen.

    • Erwin Gabriel 23. Juli 2022, 21:13

      @ CitizenK 23. Juli 2022, 17:44

      Nach Berlin gehen die, die in Bayern nicht ans Ruder sollen. 🙂

      Aber CDU / SPD / Grüne / Linke / FDP hatten und haben genug eigene Luschen, die trotzdem was wurden. Muss man nicht auf die CSU beschränken, ist allgemein gültiges Prinzip.

  • CitizenK 24. Juli 2022, 15:38

    Einen nicht unerheblichen Teil ihrer Freiheiten verdanken die Anti-Linken diesen 68ern. Eine Protestbewegung wie gegen die Pandemie-Maßnahmen wäre bis dahin undenkbar gewesen.

    Bis dahin: Unterordnung, kein In-Frage-Stellen von Autoritäten, Ausgrenzung (bis hin zum Suizid) von „ledigen Müttern“. Meine Vermieter in der Studienzeit drohten mit Rauswurf, wenn meine Freundin um 22 Uhr nicht weg sei.

    Null-Bock kann auch heißen: Selbstbestimmung über sein Leben, eigentlich ein liberales Anliegen. Arbeiten um zu leben statt leben um zu arbeiten.

    • Erwin Gabriel 24. Juli 2022, 16:40

      @ CitizenK 24. Juli 2022, 15:38

      Wir sollten weiterreden, wenn Dir die rosa Farbe ausgegangen ist 🙂

      Einen nicht unerheblichen Teil ihrer Freiheiten verdanken die Anti-Linken diesen 68ern. Eine Protestbewegung wie gegen die Pandemie-Maßnahmen wäre bis dahin undenkbar gewesen.

      Warum Du mal wieder alles auf einen Links-Rechts-Konflikt ziehen musst, verstehe ich nicht.

      Bis dahin: Unterordnung, kein In-Frage-Stellen von Autoritäten, Ausgrenzung (bis hin zum Suizid) von „ledigen Müttern“. Meine Vermieter in der Studienzeit drohten mit Rauswurf, wenn meine Freundin um 22 Uhr nicht weg sei.

      War nicht alles gut, war nicht alles schlecht.

      ich habe nichts gegen gewaltfrei. Aber die Regel, dass die eigene Freiheit da aufhört, wo die des anderen anfängt, haben zu wenige verinnerlicht. Das gilt natürlich für Nicht-Masken-Träger genauso wie auf krakelende Punks auf Sylt. Bei solchen Personen wurden entweder grenzen nicht vermittelt, oder sie werden absichtsvoll ignoriert.

      Null-Bock kann auch heißen: Selbstbestimmung über sein Leben, eigentlich ein liberales Anliegen. Arbeiten um zu leben statt leben um zu arbeiten.

      Nix dagegen. Meine Einwände richten sich eher gegen „Nicht arbeiten, um zu leben, sondern die Gemeinschaft zahlen lassen“. Das ist zwar auch Selbstbestimmung, aber wie in den oben genannten Fällen zu Lasten anderer.

      • CitizenK 24. Juli 2022, 20:57

        „Selbstbestimmung… zu Lasten anderer“

        habe ich ganz gewiss nicht gemeint. Das weißt Du auch.

        Rosa Farbe? Die Absurditäten der Studentenbewegung habe ich durchaus im Blick. Hier habe ich lediglich einige positive Aspekte genannt, nachdem hier negative thematisiert worden waren. Fritz Teufels „…wenn’s der Wahrheitsfindung dient“ war für mich ein Aha-Moment. Die Träger des Banners „…. Muff von tausend Jahren“ waren, soviel ich weiß, vom RCDS.

        • Dennis 25. Juli 2022, 13:55

          Nee, das waren zwei Sozialdemokraten, Behlmer und Albers; Albers bereits verstorben.

          https://de.wikipedia.org/wiki/Gert_Hinnerk_Behlmer

          „Marsch durch die Institutionen“ wäre als Vorwurf ganz unangebracht, denn mit der Fa. Dutschke, Mao anbeten und all diesen Quatsch hatten die nichts am Hut, mussten sich also auch nicht nachträglich von irgendwas distanzieren.

          Und klar, „die 68er“ in irgendeiner Art Taxonomie fein-säuberlich in Schubladen zu verpacken, ist nicht so einfach^.

          Je nach ideologischem Geschmack sind das mal diese und mal jene. In der netteren Art werden alle Liberalisierungstendenzen des Zeitalters unter „68“ verbucht, dann wird das so ne Art sozial-liberaler Willly-Brandt-Freundeskreis oder auch Dahrendorf-Club.

          Das ist indessen schon sehr großzügig gedacht. Im engeren, weniger freundlichen Sinn sind wir dann bei den enthusiastischen Befürwortern von Maos Kulturrevolution, was vielen damals involvierten älteren Herrschaften heute peinlich ist. Zum Beispiel Claus Leggewie:

          „Man muss sich einfach vorstellen, dass man die chinesische Kulturrevolution als etwas Weltbewegendes fand. Eines Tages fing ich an, an die Tafel Zitate von Mao Tse-tung zu schreiben. Da standen dann so schwachsinnige Sätze wie ,Die Basis ist die Grundlage des Fundaments‘ – das steht da, glaube ich, wirklich drin. Oder: ,Gewalt ist unter allen Umständen gerechtfertigt‘, solche Dinge. Ich hab‘ das damals wie eine Bibel gelesen, hab‘ gesagt, das isses.“

          Andere wiederum tummeln sich heute bei den Rechtsextremen. Alles schön bunt.

          Zu damaliger Zeit hatten übrigens noch über 90 % der entsprechenden Jahrgänge kein Abitur. „Studenten“ waren also eh eine seltene Spezies und ganz überwiegend Männer. Die sexistischen Anwandlungen in der damals in den einschlägigen Kreisen beliebten Zeitschrift „konkret“ – in Verbindung mit Revolutionsblabla – sprechen Bände.

          • CitizenK 25. Juli 2022, 14:15

            Danke für die Korrektur.

          • CitizenK 25. Juli 2022, 14:20

            Danke für die Info. Bei „konkret“ sind sie übrigens noch nicht klüger geworden. Für die ist die NATO schuld am Krieg in der Ukraine.

          • Stefan Sasse 25. Juli 2022, 15:43

            Zu damaliger Zeit hatten übrigens noch über 90 % der entsprechenden Jahrgänge kein Abitur. „Studenten“ waren also eh eine seltene Spezies und ganz überwiegend Männer. Die sexistischen Anwandlungen in der damals in den einschlägigen Kreisen beliebten Zeitschrift „konkret“ – in Verbindung mit Revolutionsblabla – sprechen Bände.

            Oh Gott ja.

            Mein Schluss bezüglich 68 ist immer mehr, dass das eine wahnsinnige Selbstüberhöhung ist: sowohl der Veteran*innen der Bewegung, als auch von ihren Gegner*innen. Identitätspolitik, plain and simple. It grows in the telling, quasi.

          • bevanite 25. Juli 2022, 18:14

            Für die gesellschaftliche Liberalisierung war auch die Pop- und Subkultur der Sechziger Jahre viel entscheidener – der „Summer of Love“ 1967 kam nicht nur zeitlich vor den Pariser Mai-Protesten im kommenden Jahr, sonder war auch das prägendere und nachhaltigere Ereignis.

            Und ja, die sehr verschiedenen politischen Werdegänge einiger prominenten 68er zeigen auch, dass wir es da mit einer politisch eher diffusen Szene zu tun hatten. Einige Ex-68er oder K-Gruppen-Veteranen wie Bernd Rabehl, Henryk M. Broder oder Jürgen Elsässer haben sich aber meinem Eindruck nach strukturell nie vom Maoismus gelöst, sodass man in ihrem Fall von „rechten Maoisten“ sprechen müsste. Sie haben die politische Farbe getauscht, aber nicht ihre manichäische Unerbittlichkeit und Identifizierung ihrer Feinde.

    • Thorsten Haupts 24. Juli 2022, 16:49

      Wem auch immer das zu verdanken ist – für mich steht fest, dass Kinder früher von der erwachsenen Gesamtgesellschaft erzogen wurden, heute (bestenfalls) noch von ihren Eltern. Und da Konservative nicht für so weitreichende gesellschaftliche Revolutionen bekannt waren, müssen dafür wohl andere verantwortlich gewesen sein.

      Preisfrage: Wer könnte das gewesen sein?

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Stefan Sasse 24. Juli 2022, 17:47

        Die Vorstellung, dass andere mir nicht in die Erziehung meiner Kinder reinzureden haben, sondern dass ich das alleine und freiheitlich entscheide, ist nun wahrlich nicht genuin links…

        • Thorsten Haupts 24. Juli 2022, 19:00

          Die Vorstellung, man fürfe sich danebenbenehmende Kinder nicht mehr darauf aufmerksam machen, es sei denn, als Eltern, ist jedenfalls sicher nicht konservativ.

          • Stefan Sasse 25. Juli 2022, 08:36

            Ne, das kommt eher aus der liberalen Ecke. Aber ernsthaft, vielleicht ist es einfach generell nicht so sonderlich zielführend, Dinge zu identifizieren, die wir noch mögen, und sie dann dem Gegner umzuhängen. Ich bin jedenfalls SEHR dafür, dass die Erziehung von Kindern eben nicht nur Sache der Eltern ist, und ich bin weder konservativ noch liberal. Vielleicht ist das einfach was, das sich der politischen Gesäßgeografie entzieht?

      • CitizenK 24. Juli 2022, 21:05

        „Konservativ sein“ hieß damals doch „an der Spitze des Fortschritts marschieren“ (FJS)

        Im Ernst: Als „die Kinder noch von der Gesamtgesellschaft erzogen“ wurden, waren die Vorstellungen über die richtige Erziehung noch weitgehend homogen. Ohrfeigen auch von Fremden waren nicht ungewöhnlich und von vielen Eltern auch akzeptiert. Dahin wollen auch Konservative nicht zurück, soviel ich weiß.

  • Thorsten Haupts 25. Juli 2022, 05:11

    Mit „im Ernst“ beginnen und dann Ohrfeigen als Gegenargument auffahren. Hmmm.

  • CitizenK 25. Juli 2022, 08:01

    Ja, im Ernst. Ich habe das noch selbst erlebt und erfahren, am eigenen Leib, wegen Nichtigkeiten. „Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet“. Ich bin sehr froh, dass dieses Verständnis von kollektiver Erziehung nicht konserviert wurde. Da ertrage ich lieber nervige Kinder. Dem Impuls, diese oder ihre Eltern auf ihr Daneben-Benehmen „aufmerksam zu machen“, folge ich meist nicht mehr: „Halten Sie sich da raus“, „das geht Sie gar nichts an“, „kümmern Sie sich um ihren eigenen Sch…“. Führt meist zu nichts. Man sollte es trotzdem tun, ich weiß.

    • Stefan Sasse 25. Juli 2022, 08:37

      Ist auch schwierig, weil diese Einmischungen oft anderen Erziehungsverständnissen folgen. Wie du schon richtig gesagt hast, der Pluralismus macht das nicht sonderlich leicht. Und wie ich schrieb: Pluralismus ist, gottlob, nicht links noch konservativ noch liberal.

  • Stefan Pietsch 25. Juli 2022, 18:11

    Gestern gab es eine Geschichtsstunde über Kindererziehung von der Antike bis heute. Es gab in früheren Zeiten sehr grausame Formen. Wahrscheinlich können wir den Verzicht auf solche brutale Arten der Erziehung bis hin zur selektiven Kindstötung auch den 68ern zugute rechnen. Konservative trauern sicher bis heute, dass man mit Kindern auch sprechen muss, um ihnen Nähe zu vermitteln.

    Tatsächlich hängt die Frage, Gewaltanwendung in der Erziehung, nicht an Gesellschaftsbildern, sondern persönlichen Charakter.

    • Stefan Sasse 25. Juli 2022, 19:56

      So ein Quatsch. Gesellschaftliche Erwartungen und Prägungen sind das entscheidende.

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