Bohrleute 22: 16 Jahre Bundeskanzlerin Angela Merkel – Was bleibt?

Es ist soweit: die Bohrleute fällen das finale, endgültige, objektive und unumstößliche Urteil zu 16 Jahren Kanzlerinnenschaft Angela Merkel! – Nun, natürlich nicht. Angesichts der Bedeutung, die diese Kanzlerinnenschaft allein aufgrund ihrer Länge besitzt und wie kurz sie zurückliegt, kann jeder Versuch einer Bewertung nur eine Bestandsaufnahme sein, eine erste Annäherung. Das gilt doppelt für eine Person, die so enigmatisch ist wie Merkel. Letztlich sind wir uns deswegen vor allem in einem einig: Merkel war die schlechteste Kanzlerin, die Deutschland jemals hatte. Und sie war die beste Kanzlerin, die Deutschland je hatte. Da haben wir wohl alle einen Konsens, wenigstens.

Shownotes:

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{ 9 comments… add one }
  • Erwin Gabriel 8. Juni 2022, 09:41

    Ich bin mit dem einen oder anderen nicht einverstanden, und dort, wo ich es bin, ziehe ich gelegentlich andere Schlüsse.

    • War Angela Merkel eine bedeutende Kanzlerin? Sicherlich, da sie eine unglaublich lange Zeit an der Regierung war. Sicherlich nicht, wenn man geschaut hat, wie wenig bzw. wie wenig Positives sie in dieser Zeit erreicht hat.
    • War sie eine gute Politikerin? Die beste, die ich je gesehen habe – wenn Politik bedeutet, sich an der Macht zu halten.
    • Versäumnisse: Da hadere ich mit dem Begriff, da dort ein unterschwelliges „versehentlich“ bzw. „unaufmerksam“ mitschwingt. Unterlassene Hilfeleistung halte ich für treffender. Es waren aktive, bewusste Entscheidungen, nicht zu handeln.
    – Infrastruktur: Selbst wenn die „Versäumnisse“ zumindest im Verkehrswesen schon ganz sanft unter Helmut Kohl begannen und unter Schröder fortgesetzt wurden, so hat unsere Infrastruktur doch Zustände erreicht, die sich nicht mehr richten lassen. Die Autobahn Hamburg – Fehmarn, um mal ein unbedeutendes Beispiel zu nehmen, ist so marode, dass die Reparaturen über 20 Jahre dauern. Das bedeutet, dass (wenn man in Hamburg anfängt), sobald man nach 20 Jahren mit den Reparaturen in Fehmarn angekommen ist, in Hamburg wieder mit dem Ausbessern anfangen muss; und es gibt deutlich schlimmere Beispiele als dieses.
    • Bundeswehr: Bewusste Entscheidung, sich „im Vertrauen“ auf die NATO verteidigungsunfähig zu halten. Eine Bundeswehr, die so einsatzfähig ist wie Ende der 90er Jahre, werde ich nicht mehr erleben, und wenn ich 100 Jahre alt werden sollte.
    • Digitalisierung: Als vorletztes europäisches Land digitalen Polizeifunk einführen – nach uns nur noch Albanien – sagt alles.
    • Atom-Ausstieg: Hier lügt Merkel, wenn Sie den zweiten Ausstieg mit ihrem Verständnis als Physikerin begründet. Physikerin war sie auch, als sie als Umweltministerin beispielsweise die Castor-Transporte unter ihren Fittichen hatte. Und als Physikerin kann sie Unterschiede zwischen den japanischen und unseren AKWs verstehen, genauso wie die unterschiedliche geologische bzw. tektonische Situation von Japan und Deutschland. Aber es war Wahl in Baden-Württemberg …
    Ihr wissenschaftlicher Background spielte keine Rolle.
    • Russland: Wandel durch Handel war eine Wette auf die Zukunft, die verloren wurde. Im Nachhinein scheint der Weg Putins zu seiner jetzigen Politik klarer als vor zehn Jahren. Aber spätestens 2014 hätte man sich auch auf andere Optionen vorbereiten MÜSSEN, um nicht in derartige Abhängigkeiten zu geraten.
    • Flüchtlingskrise: Auch hier kam nichts überraschend; „jetzt sind sie nun mal da“ war bewusst angestrebte Alternativlosigkeit.
    • Beliebtheit: Ja, Merkel war die Mutter der Nation. Eine Mutter, die dem Kind Süßigkeiten gibt, wann immer die Laune sinkt, die nicht aufs Zähne putzen achtet, bei Hausaufgaben die Augen zudrückt und wohlwollend nickt, wenn das Kind nachts lange aufbleiben will. Mit 18 zieht es aus, und wenn es dann schlaff, träge und übergewichtig ist, das Abi verhauen hat die Zähne und der Charakter verdorben sind, schert es die „liebende“ Mutter nicht. Denn dann zieht das Kind aus und muss ohne Mutter auskommen.

    Und was ich mein Leben lang nicht verstehen werde, ist, wie man als derart intelligente Frau derart rücksichtslos nach der Macht greifen kann, um dann so wenig damit anzufangen.

    Du hörst hier seit Jahren Stefan Pietsch oder mich darüber herumnölen, dass Deutschland hinter anderen Ländern weit zurückfällt. Wir mögen in einigen Bereichen noch einen Vorsprung haben, aber der ist bald dahin, und mit dem Vorsprung auch der Friede im Land; es wird langsam aber sicher ungemütlich werden.

    Mit der Unternehmenswelt verglichen, ist Merkel eine CEO gewesen, die als größter Auto-Hersteller der Welt beginnt, Arbeitszeiten zu reduzieren, Gehälter zu erhöhen, Aktionäre und Betriebsräte gleichermaßen glücklich zu machen. Das dazu erforderliche Geld wurde der Entwicklungsabteilung entzogen; wer hätte auch dort damit rechnen können, dass Unternehmen wie Tesla in den Markt kommen.

    Die CEO geht in den „verdienten“ Ruhestand, während hinter ihr alles langsam zerbröselt. Waren das schöne Zeiten, als sie die Macht hatte; die horrenden Rechnungen müssen nun andere präsentieren.

    • Stefan Sasse 8. Juni 2022, 13:09

      1) Bedeutung: Bin ich bei dir.
      2) Gut: Ja.
      3) Versäumnisse: Sehe ich, kein Widerspruch.
      4) Bundeswehr/Polizei: Ja.
      5) Physikerin: Das war in meinen Augen nur politische Rhetorik.
      6) Russland: Definitiv.
      7) Flüchtlinge: Ja.
      8) Beliebtheit: Die Analogie scheitert in meinen Augen daran, dass bei uns nur Volljährige wählen dürfen. Und die haben eine Verantwortung. Darauf will ich auch raus: die Bevölkerung wollte es mehrheitlich so.

      • Erwin Gabriel 8. Juni 2022, 20:50

        @ Stefan Sasse 8. Juni 2022, 13:09

        8) Beliebtheit: Die Analogie scheitert in meinen Augen daran, dass bei uns nur Volljährige wählen dürfen. Und die haben eine Verantwortung. Darauf will ich auch raus: die Bevölkerung wollte es mehrheitlich so.

        Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Jeder hat stets zu allem eine Meinung, aber nicht von allem Ahnung – so, wie ich mich zum Thema Bauen/Infrastruktur besser auskenne als Du, Du mir aber beim Thema Bildung voraus bist. Wenn Du also daher kommst und mir erklärst, dass dieses oder jenes Bildungskonzept das Richtige sei, würde ich wohl folgen; warum sollte ich gegen Dich argumentieren, wenn Du es doch besser weißt. Falls Du Dich nun dazu entscheidest, in Sachen Bildung den bequemen und nicht den richtigen Weg einzuschlagen, habe ich nicht die Kompetenz, das zu erkennen, und folge weiter.

        Wenn eine Kanzlerin wie die Physikerin Dr. Angela Merkel nun auf ihre gelassene Art erklärt, dass dieses oder jenes richtig ist, werden viele ihr folgen (hab sie ja anfangs auch mal gewählt).

        Nun ist mein Interesse für Politik sicherlich im Vergleich zu meinen Mitmenschen überdurchschnittlich groß, ich verstehe halbwegs was von Infrastruktur und Digitalisierung, und ich komme gelegentlich herum. Und dann stelle ich fest, dass vieles, was erzählt wird, nicht stimmen kann. Die Alternativen, die ich zu unserer Politik sehe, habe ich mir, wenn Du so willst, selbst erarbeitet, und wie Du weißt, ist mein Vertrauen in Parteien und Mainstream-Medien nicht sehr groß (aus guten Grund).

        Ja, die Wähler:innen wollten Merkel als Kanzlerin, und sind ihr gefolgt. Das heißt nicht, dass sie in Kenntnis aller Umstände auch die Politik gewählt haben, sondern dass sie in Unkenntnis der Umstände einer Kanzlerin glaubten und vertrauten, die sie verarschte. Deswegen halte ich den Vergleich zur Rabenmutter aufrecht.

        • Stefan Sasse 9. Juni 2022, 17:22

          Verstehe was du meinst. Inhaltlich bin ich auch voll bei dir.

  • Thorsten Haupts 8. Juni 2022, 15:23

    … die Bevölkerung wollte es mehrheitlich so …

    Yup. Ich brauchte auch Jahrzehnte, um diese Sichtweise zu verinnerlichen. Politiker sind heute dieselben Leute, wie unsere Nachbarn – und es liegt an uns als Wähler (und ggf. Parteimitglieder), sie mit ihrer Politikverweigerung durchkommen zu lassen oder nicht.

    Da Demokratien intrinsisch notwendig alle Strategien belohnen, die die eigene Wählerschaft maximieren, ist die Verantwortung bei uns als Wählern. Und da gehört sie auch hin (wegen Macht = Verantwortung), also sind Klagen über schlechte Politiker in Demokratien schlimmer als sinnlos – sie sind Verantwortungsverweigerung aka Kindergarten.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 9. Juni 2022, 17:22

      Infantilisierung der Wählenden, ich sag’s immer wieder. Voll bei dir.

  • Erwin Gabriel 8. Juni 2022, 21:05

    @ Thorsten Haupts 8. Juni 2022, 15:23

    [… die Bevölkerung wollte es mehrheitlich so …]
    Yup. Ich brauchte auch Jahrzehnte, um diese Sichtweise zu verinnerlichen.

    Ich verstehe den Punkt ja durchaus, ich habe ihr auch keine Wahlfälschung vorgeworfen.

    Politiker sind heute dieselben Leute, wie unsere Nachbarn – und es liegt an uns als Wähler (und ggf. Parteimitglieder), sie mit ihrer Politikverweigerung durchkommen zu lassen oder nicht.

    Hm, sehe ich nicht ganz so. Ich gehe zum Arzt, weil ich dem vertraue, dass er mich besser heilen kann als ich mich selbst; ich nehme mir vor Gericht einen Anwalt, weil ich davon ausgehe, dass der sich mit den Gesetzen besser auskennt; ich bringe mein Auto in die Werkstatt, weil ich der Meinung bin, dass die mehr vom Motor verstehen als ich. Ich schätze Dein Wissen über Außen- und Wehrpolitik höher ein als meins, ich schätze Stefan Sasses Wissen über Bildungspolitik höher ein als meins, ich schätze Stefan Pietschs Wissen zum Thema Controlling und Wirtschaft höher ein als meins. Da ich nicht alles wissen kann, muss ich mich in bestimmten Bereichen auf Spezialisten verlassen.

    Handelt von den Spezialisten jemand gegen besseres Wissen, um sich das Leben leichter zu machen oder sich auf meine Kosten Vorteile zu verschaffen, fehlt mir in der Regel das Wissen, das zu bemerken. Ist das meine Schuld? Kann man so sehen. Kann man aber auch anders sehen.

    Ich sehe das anders. Die Kanzlerin hat gegen besseres Wissen Entscheidungen getroffen, die dem Land und der Bevölkerung schaden. Sie hat Probleme ignoriert in dem Wissen, dass sie größer werden etc. Sie hat dadurch vermeidbare Schäden angerichtet, die sich in Jahrzehnten nicht beseitigen lassen (falls überhaupt).

    Es gibt Leute, die diesen „Stil“ bewundern. Ich gehöre nicht dazu.

    • Stefan Sasse 9. Juni 2022, 17:23

      Auch ein sehr guter Punkt. Ihr zwei macht mich mich bei jedem Kommentar hinterfragen. Ich liebe diesen Blog 😀

    • Thorsten Haupts 14. Juni 2022, 13:40

      Hm, sehe ich nicht ganz so. Ich gehe zum Arzt, weil ich dem vertraue …

      Ich wähle re Experten den exakt gleichen Ansatz wie Sie, lieber Erwin Gabriel.

      Aber er gilt nicht für Politiker, weil er für Politiker nicht gelten kann. Erstens gibt es für Politiker keine spezialisierte Ausbildung wie für Ärzte, zweitens wäre sie sinnlos, wenn es sie gäbe – die bestmögliche Vertretung Ihrer oder meiner wesentlichen Interessen und deren Umsetzung in Politik kann man nicht lernen, sie ist eine Mischung aus Handwerk und Kunst auf der Basis möglichst weniger unverrückbarer Grundsätze und grosser Weitsicht.

      Weshalb ich die Fälle „(technischer) Experte“ und „gewählter Politiker“ für unvergleichbar halte. Weshalb für mich dem folgend kein Vertrauensvorschuss für gewählte Politiker existiert und existieren kann. Sie sind erst dann (und selbst dann nur zeitweise) Experten, wenn sie sich als solche im Amt bewiesen haben.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

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