Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 5: Der Dritte Weg

Dies ist der fünfte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Teil 4 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA. 

Für die Sozialdemokraten stellte sich die Lage in den 1980er Jahren düster dar. Die Ideen des New Deal waren tot, abgelöst von einer neuen, alten Ideenwelt: individuelle Verantwortung in einer flexiblen, von staatlicher Regulierung so weit wie möglich freien Wirtschaftswelt. Natürlich war dies keine vollständoge Rückkehr in die Gilded Age. Das sozialdemokratische Zeitalter ließ sich nicht so einfach ungeschehen machen, und vielfach wollten die Konservativen das auch gar nicht. Aus deren Perspektive ging es vielmehr um eine Kurskorrektur, um das Zurückschneiden eines außer Kontrolle geratenen Wohlfahrtsstaats. Für viele Sozialdemokraten bedeutete das freilich einen sozialen Raubbau und eine Zerstörung des Erreichten. Wie so oft hatten beide Seiten gute Gründe für ihre jeweilige Sichtweise.

Der Erfolg dieser neuen konservativen Sichtweise basierte auf deren Erschließung von Wählergruppen, die vormalig eher in der sozialdemokratischen Spalte der elektoralen Verrechnungstabelle zu finden gewesen waren: Arbeiter und Angestellte der Mittelschicht. Entscheidend waren in beiden Fällen zwei Faktoren: der kulturelle und der demographische Faktor.

Der kulturelle Faktor beruhte auf der bereits erwähnten geschickten Ausnutzung des Auseinanderdriftens der sozialdemokratischen Koalition. Die progressiven Fortschritte von Frauenrechten zu Minderheitenrechten, von Abtreibungslegalisierung zu Zerrüttungsprinzip bei Ehescheidungen, von Studentenbewegung zu affirmative action verunsicherten – und das ist der demographische Faktor – die Generation der Babyboomer, die nun selbst in die Lebensmitte kam.

Über allem schwebend und diese Entwicklungen verstärkend war das Aufkommen von alternativen Sichtweisen im linken Rand, aus dem sich die grünen Parteien entwickelten. Umweltschutz, Grenzen des Wachstums, generelle Kapitalismuskritik (auch der sozialdemokratisch gebändigten Spielart), radikaler Pazifismus und andere randseitigere Themen dominierten dieses Spektrum, und die sozialdemokratischen Parteien taten sich äußerst schwer damit, mit diesen Gruppen umzugehen. Häufig lag dies auch daran, dass die New Dealer immer noch in kollektiven Gewinnen dachten. Die Botschaft war klassisch links: da ihre Politik den 99% helfen würde, helfe sie automatisch auch allen diesen benachteiligten Gruppen. Verbunden war das oft mit dem Vorwurf an diese in Individualrechten denkenden Gruppen, sie wöllten die Linke spalten. Beides war so falsch nicht, denn selbstverständlich würden von einem allgemeinen Wohlstandszuwachs à la Keynes besonders die unteren Lohngruppen profitieren, in denen sich die benachteiligten Minderheiten ballten, und natürlich nutzten die Konservativen wo sie konnten die von ihnen so gut gesprochene Sprache der Individualrechte, um genau diesen Gegensatz zu verbreiten. Hilfreich war das allerdings oft genug nicht, da die New Dealer so arrogant, abgehoben und von der Lebensrealität dieser Menschen entfernt wirkten.

Gerade in der SPD herrschte dazu die Ansicht vor, dass diese Gruppen so etwas wie ungezogene Kinder waren, Fleisch vom eigenen Fleische, im Endeffekt eine Wiederauflage des SDS oder der Jusos aus den 1960er und 1970er Jahren, eine Art Studentenrevolte 2.0, nur dass sie sich dieses Mal mit Häkelkursen und Menschenketten vollzog. Diese Einschätzung war grundfalsch, aber sie sorgte für einen äußert unbeholfenen Umgang mit der neuen alternativ-bürgerlichen Bewegung, die sich hier etablierte, und für ein verlorenes Jahrzehnt fruchtloser Auseinandersetzungen. Die Konservativen waren wesentlich geschickter. In den USA, Großbritannien und Deutschland waren es konservative Regierungen, die Umweltministerien etablierten und den Umwelt- und Klimaschutz in ihre Programme integrierten. Dadurch holten sie sich die konservativen Klimasensiblen gerade unter der Bauernschaft zurück, die in Gefahr stand, in das grünalternative Milieu abzuwandern.

Hauptgegner der Sozialdemokraten aber blieben die Konservativen, die wesentlich kunstfertiger als die verkursteten und zunehmend veraltet wirkenden Sozialdemokraten in der Lage waren, die beherrschenden Themen der Zeit anzusprechen. Sie positionierten sich in der Neuauflage des Kalten Krieges deutlicher und martialischer gegen den Ostblock, konnten wirksamer mit den Reformern verhandeln, glaubwürdiger die grünen Ideen opponieren und sich als Bewahrer des Erreichten inszenieren. Die Lage für die Sozialdemokraten war verfahren, und ihre Lösungsansätze ebenso verwaschen wir wirkungslos. Die Labour-Party versuchte sich mit einer Rückbesinnung auf klassische sozialdemokratische Werte und Lösungen (mit klassenkämpferischen Tönen) aus der Affäre zu ziehen, was in dem desaströsen Wahlkampf von 1983 mündete („die längste Selbstmordabschiedsnote der Geschichte“). Die Democrats versuchten eher, die Reagan-Regierung auf außenpolitischer Basis und von rechts zu attackieren, was in den schweren Wahlniederlagen von 1984 und 1988 endete. Und die SPD warf der Kohl-Regierung überwiegend vor, sozial ungerecht zu sein, was so richtig wie ineffektiv war und zu soliden Mehrheiten für die schwarz-gelbe Regierung 1983 und 1987 führte.

Ironischerweise war es gerade die CDU, die das schwächste Glied dieser Kette war. Im Gegensatz zu Thatcher und Reagan, deren Politik tiefgreifende Änderungen in Politik und Gesellschaft bewirkte, blieb Kohls „geistig-moralische Wende“ zu einem guten Teil Rhetorik und Symbolpolitik. Um 1989 herum gärte es in der Partei, mitsamt Aufstandsversuchen, und der SPD-Hoffnungsträger Oskar Lafontaine marginalisierte die Grünen im Saarland unter die 5%-Hürde und eroberte die absolute Mehrheit. Trotz dieser Schwäche dauerte die sozialdemokratische Renaissance am Ende in Deutschland am längsten, denn die Wiedervereinigung gab Kohl den Rückenwind, seine Kanzlerschaft noch zweimal zu verlängern, bevor sie dann im viel beschworenen „Reformstau“ Ende der 1990er Jahre endgültig stotternd zu ihrem Ende kam.

Es waren jedoch die USA, in denen der Ausweg aus dem Jammertal gefunden wurde. Die conservatives waren, wie immer seit ihrer Formierung als stetig stärker werdender Flügel innerhalb der GOP, unzufrieden mit ihrer Parteiführung. Reagans Verhandlungspolitik mit den Sowjets erschien ihnen als Verrat, die innenpolitischen Kongresse mit den unverändert den Kongress dominierenden Democrats Verrat an den Idealen. Um 1986 war Reagan auf einem Tiefpunkt seiner Beliebtheit angekommen, und selbst 1988 schien es Beobachtern nicht gerade so, als ob hier ein konservativer Held von der Bühne abtrete, sondern ein mittelmäßiger Blender, der zwar viel bombastische Rhetorik, aber wenig Substanz zu bieten gehabt hatte. Dieses Bild würde sich ab den 1990er Jahren auch dank massiver Propaganda diverser gut finanzierter rechter Think-Tanks zu ändern, bis Reagan den heutigen Status eines Heiligen erlangen würde.

Aber 1988 sah es bei weitem nicht nach einer sicheren Sache für seinen Nachfolger aus, und George H. W. Bush, sein Vizepräsident, musste sich als conservative neu erfinden: er ging ostentativ zur Kirche (was er vorher nie getan hatte), präsentierte sich als außenpolitischer Hardliner (der er nicht war) und betrieb unter Leitung Lee Atwaters eine Abteilung für mehr als schmutzige Angriffe, die auch nicht wirklich in seinem Naturell lagen. Zusammen mit der legendären Inkompetenz des demokratischen Wahlkampfteams unter Herausforderung Michael Dukakis, der keine Lösung für die oben beschriebenen Probleme hatte und viele selbst zugefügte Verletzungen erlitt, errang Bush einen deutlichen Wahlsieg.

Schnell aber zeigte sich, dass die Unzufriedenheit der conservatives mit Lippenbekenntnissen nur kurzfristig zu übertünchen war. Bush regierte als ein pragmatischer und verantwortungsvoller Präsident, und als er sich einer Finanzierungslücke im Haushalt gegenübersah, erhöhte er – entgegen seinem „Read my lips, no new taxes„-Versprechen aus dem Wahlkampf – die Steuern. Auch ansonsten betrieb er eine moderat-rechte Politik, ähnlich Kohl in Deutschland. Im Wahlkampf 1992 sah er sich daher nicht nur einer starken innerparteilichen Herausforderung von rechts außen in Gestalt Pat Buchanans ausgesetzt, sondern auch einer konkurrierenden Präsidentschaftskandidatur von Ross Perot.

Ähnlich sah es für Thatcher aus: Die große Schwäche Labours half ihr, die ungeheure Spaltung der Gesellschaft zu überleben, die ihr Reformprogramm mit sich gebracht hatte. Aber innerparteiliche Konkurrenz war auch für sie ein Problem, das sie im Gegensatz zu Kohl und Bush am Ende nicht überlebte. In ihrem Fall waren es eher die moderaten Tories, die ihre zunehmend zum Problem werdende Polarisierung nicht mehr zu tragen bereit waren, so dass Thatcher eingangs der 1990er Jahre die Macht an den blassen John Major verlor, der die Macht in der Downing Street 10 noch bis 1997 gegen die ungeschickt agierende Labour Party verteidigen konnte.

Ich habe bereits angedeutet, dass die Lösung für die Sozialdemokraten sich am rechten Rand der Partei fand. Der erste Kandidat, der das Dilemma der Partei aufbrach – die zunehmende Unpopularität von Politik für die unteren Schichten, von Minderheitenschutz, von Bürgerrechtspolitik – war Bill Clinton. Der junge, charismatische Gouverneur von Arkansas setzte sich im Vorwahlkampf 1991/2 gegen seine innerparteilichen Konkurrenten durch und würde den Präsidentschaftswahlkampf 1992 überraschend klar gewinnen. Seine Strategie wird oftmals auf das berühmte „It’s the economy, stupid„-Schild aus seiner Wahlkampfzentrale verwässert, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich fand Clinton den Ausweg aus dem Dilemma, indem er sich als einen dritten Weg zwischen der unpopulären New-Deal-Sozialdemokratie und der Kulturkampf-Konservativen definierte. Die Strategie, die er dafür erfand, war die berühmte triangulation, die in der Folgezeit von praktisch allen sozialdemokratischen Parteien weltweit imitiert werden würde.

Bedenkt man, wie verhasst diese Strategie in heutigen linken Kreisen ist, und wie elektoral erfolgreich sie war, ist es unbedingt notwendig, sich damit zu befassen. Das Dreieck, auf das triangulation abzielt, ist das folgende. Die Drittwegler, wie ich diese neuen Sozialdemokraten in Abgrenzung zu den New Dealern nennen möchte, sahen den bisherigen politischen Konflikt auf einer Achse von links – Politik für die Armen – und rechts – Politik für die Reichen – und beschlossen, statt fruchtlos auf dieser Achse zu konkurrieren, einen dritten Punkt über dieser Achse zu bilden und sie dadurch aufzubrechen. Dies würde viele Wähler, die für die New Dealer verloren waren, wieder in die Arme der Sozialdemokratie bringen, da man sich einer neuen Sprache und neuer Politiken bedienen konnte, indem man beide Seiten der Achse gleichermaßen ansprach. Es war gewissermaßen der Heilige Gral aller Wahlkämpfer: gleichzeitig die eigene Stammwählerschaft bedienen und im Revier der Gegner wilder.

Die Voraussetzung dafür, dass dieses Manöver gelingen konnte, war relativ simpel. Für die Drittwegler war offensichtlich, warum die Konservativen seit den späten 1960er Jahren so große Erfolge gefeiert hatten. Sie hatten die Annahmen des New Deal, die ihn so erfolgreich gemacht hatten, als Konsens akzeptiert und mit ihren eigenen Ideen kombiniert. Konkret bedeutete das, den Sozialstaat als existierende Einrichtung zu übernehmen und ihn gleichzeitig für diejenigen zu reservieren, die ihn durch individuelle Leistungen „verdient“ hatten (auch wenn in der Sicht der extremsten conservatives diese Leistung vor allem darin bestand mit weißer Hautfarbe geboren zu sein).

Die Drittwegler taten nun das gleiche. Die Konzentration auf Individualismus und Rassismus, die die konservative Restauration befeuert hatte, musste irgendwie in die linke DNA übernommen werden, andernfalls waren Mehrheiten nicht zu gewinnen. Gleichzeitig konnte man natürlich die eigene progressive Basis nicht vertreiben. Die Strategie Clintons war brillant. Er wandte sich von der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums als zentraler linken Politikidee ab und akzeptierte das rechte Narrativ, wonach Reiche sich ihren Reichtum durch individuelle Leistung verdient hatten. Die Zumutung für klassische Sozialdemokraten war daher, ein gewisses Maß an Ungleichheit zu akzeptieren.

Das andere Element war das Spielen auf der Klaviatur der rechten identity politics, indem wohldosiert gegen die Feindbilder der konservativen Wähler gewettert wurde. Stilbildend dafür waren der „Sister Souljah“-moment,  als Clinton öffentlichkeitswirksam die Rapperin Sister Souljah kritisierte (und implizit, aber wohl verstanden, die gesamte von den gesetzten Babyboomern abgelehnte Gangster-Rapper-Kultur mit ihrer angeblichen Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen) und die persönlich überwachte Hinrichtung eines schwarzen Straftäters in Arkansas, für den Clinton publikumswirksam den Wahlkampf unterbrach (was natürlich Quatsch ist; die Inszenierung der Hinrichtung war selbst Wahlkampf). Damit verschaffte sich Clinton viel guten Willen bei moderat konservativen Wählern, die bei den letzten Wahlen Reagan und Bush gewählt hatten, aber keine conservatives waren.

Doch Clinton war, genauso wie die anderen Drittwegler, nicht einfach ein rot lackierter Konservativer. Diese post-hoc Typisierung der neuen Linken seit dem Machtverlust des Dritten Wegs ist eine nicht zutreffende Karikatur. Es hätte auch nicht für Mehrheiten gereicht, wie die SPD dieser Tage immer wieder aufs Neue herausfindet. Der Dritte Weg inkorporierte die herausstechende Charakteristik der Epoche – die Individualisierung und das Gefühl von Fortschrittsoptimismus – in dieses Narrativ und baute eine ganz eigene, überaus potente Mischung daraus.

Die konservative Revolution unter Thatcher, Reagan und in deutlich geringerem Maß Kohl hatte Individualismus als ein Charaktermerkmal begriffen. Der vollwertige Staatsbürger erreichte, vom Staat ungestört, mit eigener Hände Arbeit seinen Status und sicherte diesen dann selbstständig ab (Eigenverantwortung; in den USA bekam das „absichern“ durch die Waffenkultur noch eine ganze eigene, aggressive Komponente, die dem europäischen Konservatismus komplett abgeht). Doch in den 1980er Jahren zeigte sich mehr und mehr die Schwäche dieses Individualismus, der zunehmend als Egoismus begriffen wurde. Filme wie „Wall Street“ (1987) sind dafür stilbildend gewesen. Die offensichtliche Unfairness dieses Systems, die es Aufsteigern sehr schwer machte einzudringen, weil die Söhne der bisherigen Gewinner wesentlich bessere Startchancen hatten, war kaum mehr zu leugnen.

Und genau hier setzte der Dritte Weg an. Anstatt wie früher auf eine Politik der Umverteilung von Oben nach Unten zu setzen und den Sozialstaat als Ausgleichsinstrument zu nutzen, propagierten die Drittwegler einen Sozialstaat, der das Individuum in die Lage versetzte, mit den gleichen Startchancen um einen Platz an der Spitze der neuen Wachstumsgesellschaft zu kämpfen. Die Idee war also „Chancengerechtigkeit“ statt „Ergebnisgerechtigkeit“. Sie traf den Zeitgeist vollständig. Und in den 1990er Jahren, als neue Technologien wie Computer, Internet und Mobiltelefone zunehmend Verbreitung fanden, der Kapitalmarkt auch für Kleinanleger Rendite abwarf und die Wirtschaft generell rundlief, für jeden also ein Stück des Kuchens zu haben war, stieß die Botschaft auch auf dermaßen offene Ohren, dass Clintons Wiederwahl 1996 als so gesichert galt, dass der RNC aufhörte, in seinen eigenen Kandidaten zu investieren und sich auf die Kongresswahlen konzentrierte. Ähnlich den Sozialdemokraten in den 1980er Jahren hatte Bob Dole auch wenig außer einem „ich will es genauso machen, nur besser“ zu bieten, was nie eine Gewinnerbotschaft ist.

Die Drittwegler schafften es zudem, die Konkurrenz von links überwiegend wieder zu integrieren. Der Klima- und Umweltschutz etwa wurden zu einem sozialdemokratischen Kernanliegen, ebenso besserer Verbraucherschutz und in Deutschland ein punktueller Pazifismus. Zudem engagierten sich die Drittwegler, die nun endlich den Individualismus inkorportiert hatten, in einem ebenso individualisierten Minderheitenschutz und Frauenförderung. Die dritte Welle des Feminismus, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, passte in ihrer Konzentration auf die Karrieremöglichkeiten von Frauen aus der Mittelschicht perfekt zur neuen Botschaft.

Zudem gelang es dem Dritten Weg, die Ungleichheit in der Gesellschaft neu zu legitimieren. Er bediente sich dazu des liberalen Spielhandbuchs, indem er die Sprache der Meritokratie verwendete. Die Reichen an der Spitze der Gesellschaft waren nicht dort, weil sie die Verhältnisse und die ungerechte Verteilung der Produktionsmittel dorthingebracht hatten und dort hielten, sondern sie waren dort, weil sie schlichtweg die Besten waren. Jeder, der die entsprechenden Fähigkeiten und Talente mitbrachte, so die Botschaft, konnte grundsätzlich die Spitze erreichen.

Doch der Dritte Weg wäre niemals so erfolgreich gewesen wie er war hätte es sich nur um eine gut verpackte Botschaft für alt bekannte Politiken gehandelt. Auch wenn dies angesichts der späteren Konzentration auf Sozialstaatskürzungen besonders unter Schröder in Vergessenheit geraten ist, der Dritte Weg fußte auf einem breiten Fundament staatlicher Intervention. Diese kam nur nicht wie bei den New Dealern in Gestalt großer Behörden. Stattdessen kam sie in Form von Regulierungspolitik und zielgerichteten Opt-In-Programmen. In dieser Form der staatlichen Interventionspolitik war die moderate Linke schon immer besser gewesen als die moderate Rechte, ob beim New Deal oder beim dritten Weg (genauso wie die moderate Rechte immer glaubhafter den Wächter über ausgeglichene Haushalte und Law-and-Order-Falken geben konnte), weswegen die policies, die aus dem Dritten Weg hervorgingen, auch einige große Erfolge mit sich brachten.

Da wären einerseits die konkreten Verbesserungen bei Bürgerrechten. Während dies in Großbritannien und Deutschland eine reine Erfolgsgeschichte ist, sah Clinton in den USA die Notwendigkeit, seine rechte Flanke durch das restriktive (und dankenswerterweise von Obama beendete) „Don’t ask, don’t tell“-Gesetz, das sich gegen Homosexuelle im Militär richtete, abzudecken. Insgesamt jedoch wurde von allen Drittweglern viel getan, um die Situation von Gruppen zu verbessern, die den klassischen New Dealern immer durchs Netz gegangen waren: Frauen, Schwarze und Einwanderer, Homosexuelle, Kinder.

So reformierten alle Drittwegler das Familienrecht auf eine Weise, das Frauen größere Autonomie als bisher einräumte und die dominante Stellung des Mannes einschränkte (wenngleich nicht beseitigte). Dies wurde von den Konservativen nicht zu Unrecht als Angriff auf das klassische Familienmodell empfunden. Man denke nur daran, wie oft in rot-grünen Reformdebatten die Idee der Abschaffung des Ehegattensplittings auftaucht! Gleichzeitig gab es eine Reihe von Förderprogrammen für Frauen, von Quotenregelungen im Öffentlichen Dienst („werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt“), die Leuchtturmwirkung für die Privatwirtschaft hatten, entsprechenden Förderprogrammen, einer staatlichen Förderung von „Frauenanliegen“ (die Aufnahme von Gender Studies und Queer Theory etwa fällt in die Ära der Drittwegler) und so weiter. Wie in jedem Abschnitt der menschlichen Geschichte ist dies nicht frei von Widersprüchen abgelaufen. Schröder, Blair und Clinton waren alle drei nicht eben die emanzipiertesten Zeitgenossen (man denke an Clintons Affären oder Schröders „Familie, Frauen und Gedöns“). Aber die Drittwegler ermächtigten eine neue Generation von hungrigen Funktionären unterhalb der immer noch vergleichsweise klassisch geprägten Führungsriege, die mit neuen policy-Ansätzen aufwarteten und in den von Drittweglern geleiteten Ministerien die Chance auf Umsetzung erhielten.

Auch in der Politik für Minderheiten geschah unter den Drittweglern sehr viel. Die USA bildeten unter Clinton einmal mehr das Schlusslicht, wo der Präsident, gezwungen durch einen scharfen Rechtsruck innerhalb der Gesellschaft ab 1994, eine restriktive Reform des Sozialstaats durchwinkte, die sich vor allem gegen Schwarze richtete (die berühmt-berüchtigte wellfare reform von 1996, die sich 2016 zusammen mit der übermäßigen Härte gegen schwarze jugendliche Straftäter („superpredators„) als ein Mühlstein um den Hals Hillary Clintons erweisen sollte. Aber selbst in den USA verbesserte sich die Lage für ethnische Minderheiten deutlich.

Der Spitzenreiter aber ist hier Großbritannien, wo New Labour eine Reihe von Fördermaßnahmen vor allem für talentierte Kinder aus Einwandererschichten aufsetzte. Auch in Deutschland wurde viel für die Integration der Einwanderer getan, sowohl in kleinen Programmen als auch – vor allem – in Form einer neuen Mentalität. Diese gilt für alle Drittwegler. Wie auch beim Thema der Frauenrechte brachten die Drittwegler eine neue Generation von Beamten und Funktionären in die Ministerien, die eine ganz andere Sensibilität gegenüber dem Thema hatten und unabhängig von offiziellen Quotenregelungen den Aufstieg von ethnischen Minderheiten förderten. Zudem definierten die Drittwegler ihre jeweiligen Staaten allesamt als multikulturelle Einwanderergesellschaften, was erstmals eine offizielle Anerkennung dieser Gruppen als vollwertige Bürger mit sich brachte (und im Falle von Rot-Grün in der exzessiven Visa-Affäre des grün geleiteten Außenministeriums mündete).

Die gleiche Mechanik gilt selbstverständlich auch für Homosexuelle. Ich bleibe deswegen so stark auf dem Thema des Mentalitätswandels im Räderwerk des Staates verhaftet, weil es von ungeheurer Bedeutung ist und oftmals unterschätzt wird. Wer einen Staat regiert ist wichtig, selbst wenn eine Partei ihre großen policy-Ideen nicht umsetzen kann. Zwarblieb etwa Kohls Kanzlerschaft weit hinter der propagierten „geistig-moralischen Wende“ zurück. Für progressive Ideen und die von Progressiven vertretenen Gruppen waren es jedoch sechzehn verlorene Jahre, und in vielen Fällen dürften die konservativen Sensibilitäten Kohls und seiner untergeordneten Minister und Funktionäre für Progressive äußerst nachteilige Effekte gehabt haben, ebenso wie die Drittwegler an vielen Grundfesten konservativer Vorlieben rüttelten, ohne gleich prestigeträchtige Reformprogramme auf diesem Feld umzusetzen. Die Drittwegler sind schließlich nicht gerade für die Einwanderungs- und Familienpolitik bekannt, aber diese dürften zu den wirkmächtigsten Tätigkeitsfeldern gehören – und umgekehrt gilt dasselbe für Kohl und seine Konservativen. Deswegen ist ja auch – und damit soll dieser Exkurs abgeschlossen sein – die Präsidentschaft Trumps trotz dessen policy-Inkompetenz so eine Katastrophe für Progressive, und wäre eine Hillary-Clinton-Präsidentschaft trotz ihrer voraussichtlichen Machtlosigkeit angesichts eines konservativ dominierten Kongresses gut gewesen.

Die letzte Gruppe, die von den Drittweglern profitierte, waren Kinder. Unter den Drittweglern begann notwendigerweise der massive Ausbau von Ganztagskinderbetreuung und der damit einhergehenden Professionalisierung. Unter Drittweglern wurde Kindesmisshandlung unter Strafe gestellt (Rot-Grün etwa verbot 2001 das Schlagen von Kindern unter allen Umständen). Unter Drittweglern wurde das Schulsystem stärker geöffnet. Und so weiter. Dazu kamen im Geiste der Theorie des Dritten Weges – Chancengleichheit statt Ergebnisgleichheit – massive Förderprogramme wenigstens für talentierte Kinder aus benachteiligten Schichten, was vielen Migranten- und Unterschichtenkindern erstmals den Weg in höhere Bildungseinrichtungen öffnete.

Auch auf anderen Feldern leisteten die Drittwegler viel. Das prominenteste Gebiet war wahrscheinlich der Klimaschutz. Nach der bereits erwähnten Integration des Themas durch die Konservativen in den 1970er und 1980er Jahren war auf diesem Gebiet wenig passiert. Unter den Drittweglern erhielten Klimaaktivisten herausgehobene Positionen, ob durch die Beteiligung der Grünen an der Regierung in Deutschland, dem Vizepräsidentschaftsposten in den USA oder in den Ministerien Großbritanniens. Nirgendwo sonst bleibt die progressive Agenda so frustrierend verzettelt und unvollständig wie hier, aber die Drittwegler legten ein Fundament, auf dem jede künftige Energie- und Klimapolitik würde aufbauen müssen. Nicht ohne Grund gelang es den konservativen Nachfolgeregierungen der Drittwegler in keinem Staat – trotz wahrlich umfassender Versuche – die Energiewende, den Atomausstieg etc. wieder zurückzudrehen. Trotz aller Defizite wurden auf diesem Gebiet die wohl nachhaltigsten Erfolge überhaupt erzielt.

Doch all diese Tätigkeitsbereiche liefen nebenher. Das zentrale Projekt der Drittwegler war die Wirtschaft. „It’s the economy, stupid.“ In allen drei Ländern hatte sich am Ende der jeweiligen konservativen Regierungszeit ein Gefühl von Mehltau verbreitet. Wie die New Dealer am Ende ihrer jeweiligen Regierungszeiten waren den Konservativen die Ideen ausgegangen. Die großen Steuerreformen waren entweder vollzogen oder gescheitert. Geistig-moralische Wenden waren vollzogen oder ausgelaufen. Ein Gefühl von Verkrustung herrschte vor, nirgendwo mehr als in Deutschland, wo das Wort vom „Reformstau“ in aller Munde war und maßgeblich zum Sieg der Drittwegler beitrug. Sie präsentierten sich als das Neue („New Labour“ nannte die ganze Partei so!), mit ihrer frisch-pragmatischen Konzentration auf das Wirtschaftliche („Nicht links, nicht rechts, sondern vorn“ und was der Plattitüden mehr war).

Eine Konsequenz dieser Ausrichtung war eine generell progressive Ausrichtung gegenüber Neuem. Ob Computer, ob Internet, ob Digitalisierung als genereller Trend, ob Automatisierung und Globalisierung, überall vollbrachten die Drittwegler das Kunststück, Entwicklungen, die den New Dealern nur als tödliche Bedrohung greifbar waren, als Segnungen und genuin sozialdemokratische Herausforderungen zu begreifen. Die hervorgehende Ideologie war sehr kohärent und greifbar: Angesichts einer zunehmend globalisierten und vernetzten Welt mussten alle nationalen Lösungen (wie sie die New Dealer in den 1970er Jahren erfolglos versucht hatten) ins Leere greifen. Die Indifferenz der Konservativen, die diese in den 1980er Jahren zur Schau gestellt hatten, führte jedoch zu einer Spaltung der Gesellschaft in viele Verlierer und wenig Gewinner und einer Vererbung von Reichtum. Daher galt es, die Gesellschaft als Ganzes mit großzügiger Stütze durch den sozialdemokratisch definierten Staat möglichst fit für den Konkurrenzkampf dieser Welt zu machen. Die These des New-Deal-Sozialstaats wurde mit der Antithese von Globalisierung und Deregulierung zur Synthese des Dritten Weges verbunden. Es war ein äußerst wirkmächtiges Narrativ, dem die Konservativen nur hinterherhecheln konnten, indem sie sich zu den effektiveren Reformern stilisierten – mit insgesamt sehr wenig Erfolg, wie wir noch sehen werden. Das verwundert nicht; das Original wird vom Wähler immer der Kopie vorgezogen.

In allen drei Ländern bauten die Sozialdemokraten den Sozialstaat daher weniger ab als um. Kollektive Sozialleistungen wie die Arbeitslosenhilfe wurden gekürzt und starken Beschränkungen unterworfen. Alle Drittwegler liebten die Konditionalisierung der Sozialstaatshilfen. In den USA wurde das Prinzip am weitesten getrieben, wo selbst Drogentests und restriktive Essensmarken zum Programm gehörten, aber auch in Deutschland war die Idee sehr verbreitet. Die Sozialdemokraten deckten so wirkungsvoll ihre rechte Flanke ab und immunisierten sich gegen den Vorwurf, Staatsgelder zu verschenken. Das so entstehende gesellschaftliche Klima stigmatisierte Empfänger von klassischen Sozialleistungen und nahm teilweise geradezu kampagnenartige Züge an.

Diesen Kürzungen stand die Schaffung neuer Programme gegenüber. Diese wurden teils bewusst, teils unbewusst gar nicht als „Sozialstaat“ im engeren Sinne gefasst, sondern durch Vermischung mit privaten Mechanismen und verschiedenen Fördertöpfen als Individualleistungen begriffen, auf die man Ansprüche hatte oder erwerben konnte und die meist irgendwelche Voraussetzungen hatten. Diese Politik wurde besonders von den konservativen Nachfolgeregierungen begeistert aufgenommen; so schuf die Bush-Regierung mit Medicare D eine der größten Ausweitungen des amerikanischen, die Merkel-Regierung mit dem Eltern- und später dem Erziehungsgeld des deutschen Sozialstaats, ohne dass dies als genuin sozialstaatliche Maßnahmen begriffen oder verkauft wurde.

Gegen diese Politik regte sich jedoch massiver Widerstand, vor allem in Deutschland. Die Drittwegler führten auch alle das Projekt der konservativen Restauration fort, indem sie die im New-Deal-Zeitalter errungenen (kollektiven) Arbeitnehmerrechte beschnitten. Kündigungsschutz, Arbeitszeitgesetze und vieles mehr wurde „liberalisiert“ und „dereguliert“, was in den meisten Fällen schlichtweg auf eine ersatzlose Wegnahme von Arbeitnehmerrechten hinauslief. Zwar sahen die Programme der Drittwegler durchaus entsprechende Kompensationen vor – etwa Hartz I bis Hartz III – aber diese fanden häufig genug nicht mehr die entsprechenden Mehrheiten und Finanzierung und wurden dann nicht oder nur unzureichend Realität.

Als wesentlich schlimmer erwies sich besonders für New Labour und die SPD, dass diese Politik ihre eigene traditionelle Stammwählerschaft angriff, ohne ein loyales Gegenstück zu schaffen. Viele der grundsätzlich konservativen Wähler, die aus Frustration über die Stagnation unter Bush, Major und Kohl ihr Kreuz bei Clinton, Blair und Schröder gemacht hatten, kehrten schnell in den Schoß der bürgerlichen und konservativen Parteien zurück, als diese sich neu aufstellten und die (für sie) negativen Aspekte der Drittwegler, besonders die gesellschaftlich progressiven Aspekte, sichtbar wurden. Besonders dramatisch war die massive Schwächung der Gewerkschaften im Zuge des Dritten Weges, die für die klassischen Sozialdemokraten ein verlässliches Wählerreservoir gewesen waren.

Das als Folge der neuen Wirtschaftspolitik rapide entstehende Arbeitsprekariat aber besaß im Gegenzug zu den stagnierenden Industriearbeitern praktisch keine gewerkschaftliche Repräsentation. Es gehört zu den größten Fehlleistungender Drittwegler, dass sie es nicht schafften, ihrer Flexibilisierung und Deregulierung eine adäquates Repräsentationsprogramm für diese Schicht zur Verfügung zu stehen. Fairerweise muss man den Gewerkschaften hier ebenfalls eine ordentliche Teilschuld zusprechen, da diese gerade in Deutschland eine solche Politik verhinderten und sich stattdessen in die Chimäre verrannten, aus eigener Kraft dieses Problem lösen zu können (man versprach sich viel von der Gründung von ver.di 2001).

Nirgendwo konzentrierten sich all diese Faktoren so sehr wie in Deutschland. Aufgrund des historischen Zufalls der Wiedervereinigung und des äußerst schwachen Wahlkampfs 1994 war die SPD die letzte sozialdemokratische Partei, die sich dem Dritten Weg verschrieb, und wie zur Kompensation brannte sie mit umso größerer Intensität durch das Programm, als wüsste sie um die kurze Zeitspanne, die ihr beschieden sein würde. Schröder im Jahr 2005 war nach dem Mammutakt der Agenda2010 sichtbar erschöpft, genauso wie seine Partei. Es war für ihn und jeden Beobachter offensichtlich, dass es am linken Flügel gärte (vom Aufschwung der WASG und ihrer Anknüpfung an die PDS gar nicht zu reden). Das ist wenig verwunderlich. Das Reformprogramm, dem Rot-Grün Deutschland unterworfen hatte, war gigantisch gewesen und in kürzester Zeit durchgezogen worden, ganz ähnlich dem fieberhaften Reformieren der ersten Brandt-Legislatur. Der Kater hatte eingesetzt.

Es ist eine spannende kontrafaktische Frage, ob Rot-Grün überleben hätte können, wenn Schröder nicht den Schleudersitz betätigt und 2005 Neuwahlen ausgerufen hätte. Vielleicht hätte der beginnende Wirtschaftsauschwung mit dem „Sommermärchen“ 2006 gereicht, um den Drittweglern noch einmal zum Sieg zu verhelfen. Vielleicht – wahrscheinlich – auch nicht. Dass die Drittwegler in Deutschland so schnell die Gestaltungshoheit verloren, lag vor allem an der Schärfe des Programms und dem oben beschriebenen Fehlen mildernder Faktoren. Um 2003, als die Agenda2010 verabschiedet wurde, war das Reformfieber in Deutschland auf dem Höhepunkt. Dass die SPD es zumindest punktuell schaffte, die CDU von Friedrich Merz und dem Leipziger Programm rechts zu überholen (und sie dann im Wahlkampf 2005 weit links zu umfahren) war schon eine Leistung, und eine, die Tony Blair nicht passiert war. Auf der anderen Seite hatte Schröder den richtigen politischen Instinkt, Bushs Irakabenteuer abzulehnen, was wie wohl nichts anderes Merkels (und Stoibers) Aufstieg bremste.

Die Ermüdungserscheinungen jedenfalls teilte New Labour mit der SPD. Unter Gordon Brown hielt sich die Partei noch bis 2010 an der Macht, war jedoch zunehmend von ihren Altlasten, vor allem der Beteiligung am Irakkrieg und der Deregulierung geplagt. Mit der Machtübernahme der Tories unter David Cameron endete der Dritte Weg nach Deutschland auch in Großbritannien. Am längsten hielt er sich in seinem Ursprungsland, den USA. Nicht nur überlebte er, wohl auch wegen der gestohlenen Wahl 2000, die gesamte Präsidentschaft Bush. Das Triple-Desaster des Irakkriegs, des unterirdischen Katastrophemanagments im Hurrikan Katrina und dem desaströsen Versuch 2006, den Sozialstaat zu privatisieren, mobilisierte die Democrats, ohne dass diese die Präsidentschaft Clintons jemals aufbereitet hätten. Sowohl Obama als auch Hillary Clinton konnten sich 2007/8 daher problemlos als seine Erben inszenieren und darauf hoffen, damit politisch zu punkten.

Der Gewinner dieses Duells, Barrack Obama, wurde zum Höhepunkt und Schlussstein des Dritten Wegs. Wie kein anderer verkörperte er die Ideale dieser Ideologie. Er entstammte einer unterdrückten Minderheit, hatte aus eigener Kraft und Brillanz den Aufstieg geschafft und beschied der Mehrheitsgesellschaft, den Rassismus hinter sich gelassen zu haben. Im Amt verfolgte er pragmatische, empirisch unterfütterte Politiken, betonte stets die Eigenverantwortung und sorgte sich zugleich um systemische Ungerechtigkeit. In der Außenpolitik trat er firm, aber ohne die Kriegstreiberei der Neocons auf. Er war, in den Worten des Journalisten Christopher Hayes in dessen mehr als empfehlenswerten Buch zum Thema, „meritocracy’s crowning achievement„. Er war und ist auch ein überzeugter Jünger des Dritten Wegs. Mit seinem Abgang aus dem Weißen Haus im Januar 2017 fiel die letzte Bastion dieser Ausrichtung. Alle anderen sozialdemokratischen Parteien waren entweder marginalisiert worden (ob in Frankreich, Griechenland, Deutschland oder den Polen) oder begannen sich scharf nach links zu orientieren (wie in Großbritannien und den USA), freilich mit bislang unsicherem elektoralem Erfolg. Eine sozialdemokratische Partei, die weiterhin zum Dritten Weg steht UND Wahlen gewinnt, gibt es dagegen weltweit nicht.

Warum also endete der Dritte Weg in den 2000ern und (in den USA) in den 2010er Jahren? Ein Faktor ist ein Phänomen, das direkt durch die Politiken des Dritten Wegs (und natürlich ihrer Fortführung in den konservativen Nachfolgerregierungen) hervorgerufen wurde, für das der Soziologe Ulrich Beck den Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“ gefunden hat: Die komplette Unfähigkeit, einigermaßen zuverlässig in die Zukunft zu planen und in einem Stand permanenter Unsicherheit zu leben. Das mag zwar für die Gewinner dieser Entwicklung in schnoddrigem Tonfall als zentrales Element der modernen Wirtschaft gehandelt werden, für das der Einzelne halt gefälligst mannhaft die Verantwortung zu tragen habe.

Die SPD machte aber bald die Erfahrung, dass das keine besonders erfolgreiche Botschaft war. Die allermeisten Menschen hassen Unsicherheit, und die Tatsache, dass einige Gewinner der neuen Weltwirtschaft sich offensichtlich die Sicherheit kaufen konnten, die sie brauchten, und im Gegenzug prominent publizierte Sabbaticals in Ressorts und Klöstern nehmen konnten, war da eher Öl auf den Flammen. Alle Drittwegler hatten das Befürfnis der breiten Masse nach Sicherheit dramatisch unterschätzt, und auch heute noch ist beachtlich, wie vielen Beobachtern dieser einfache Sachverhalt immer noch nicht einleuchtet. Mein Blogkollege Stefan Pietsch etwa predigt auch gerne davon. Die Konservativen haben das viel besser verstanden als die Sozialdemokraten: ein entscheidender Teil des Erfolgs von Angela Merkel war die Sicherheit, die sie vermittelte.

Ein weiterer Faktor im Untergang des Dritten Wegs war die Tatsache, dass die Sozialdemokraten zumindest in Deutschland die zentrale Lektion der konservativen Erfolge in den 1980er Jahren nicht gelernt hatten: Rhetorik ist das eine, aktives Handeln das andere. Bei allem Gerede von Flexibilisierung und Sozialstaatskürzung haben die Konservativen nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihre Wähler nicht oder nicht hauptsächlich betroffen sein würden („white walfare state“); wenn sie diese Lektion vergaßen, wie Bush 2006 und Merkel 2005, bekamen sie sofort die elektorale Rechnung präsentiert.

Der entscheidenste Faktor aber war das offensichtlich gewordene Scheitern der ideologischen Basis: Die Meritokratie entpuppte sich als Scharade, die Chancengleichheit als schlechter Witz. Dabei hatte es eine zeitlang gut für diese Ideen ausgesehen. Aber genauso wie der klassische Neoliberalismus der 1920er Jahre keine Chance hatte, die Weltwirtschaftskrise zu überstehen hatte der Dritte Weg keine Chance, die Finanzkrise zu überstehen. Es zeigte sich erst in den Jahren nach 2007, aber die Finanzkrise zerstörte die gesamte Argumentation hinter dem Dritten Weg. Wenn offensichtliche Versager mit riesigen Abfindungen versehen wurden, während die Angestellten ihre Existenz verloren, wenn Anleger und Banken vom Staat gerettet wurden, aber hypothekenbeladene Hausbesitzer von der Polizei auf die Straße befördert wurden, wenn die Jobchancen nicht von den persönlichen Leistungen abhingen, sondern die Spekulation einer kleinen, reichen und dekadenten Minderheit ganze Lebensentwürfe plötzlich unmöglich machten, dann waren die Opfer, die der Dritte Weg von den Bürgern der globalisierten Welt verlangte – Eigenverantwortung, Unsicherheit, Flexibilität – nicht mehr im Verhältnis zu den Chancen, die sich dafür boten.

Es ist im Übrigen eine der vielen Ironien des Dritten Wegs gerade in Deutschland, dass die Sozialdemokraten die beste Reaktion auf die Krise boten: Anstatt wie die Konservativen 1929-1933 die Depression in eine weltweite Katastrophe ausarten zu lassen, nutzten Peer Steinbrück, Gordon Brown und Barrack Obama alle Mittel, die ihnen zur Verfügung standen und retteten den Kapitalismus für sich selbst. Gedankt wurde es ihnen bis heute nicht. Stattdessen verloren sie zusammen mit ihren Bewegungen ihre Legitimation und bald auch die Macht. Die SPD auf Raten: 2005 die Kanzlerschaft, 2009 die Regierungsbeteiligung (der folgende schwarz-gelbe Flop kann eigentlich nur als Satire verstanden werden). Labour mit einem letzten Aufbäumen: 2007 trat Blair zurück, aber Brown brachte nicht den erhofften Umschwung. Die Democrats mit einem Paukenschlag: nachdem der Dritte Weg seine Laufzeutverlängerung durch Hillary Clinton bis 2020 gesichert zu haben schien, gewann eine Karikatur all dessen, für das er stand – und shredderte die elektorale Legitimation, die den Drittweglern bis dahin den high ground gegenüber der innerparteilichen Kritik von links gesichert hatte.

2017 war der Dritte Weg damit zumindest vorerst gestorben. Die generelle Dynamik politischer Moden macht es aber wenig wahrscheinlich, dass er eine Renaissance erfahren wird. Zu sehr war er ein spezifisches Produkt seiner Zeit, basierte er auf Prämissen, die schlichtweg nicht mehr gegeben sind. Tatsächlich befindet sich die Sozialdemokratie in einer tiefen Krise, möglicherweise der tiefsten in ihrer Geschichte. Zum Abschluss unserer Geschichte wird diese Krise zu analysieren und mögliche Auswege – oder Enden – aufzuzeigen sein.

{ 4 comments… add one }
  • Ralf 29. Juli 2018, 23:58

    Die Strategie Clintons war brillant.

    Hmmm … Naja, wie Du ja schreibst, hat Clinton gekonnt die Klaviatur der Rassisten bedient und sich deren Sprache und Vorurteile zunutze gemacht, gipfelnd in der Hinrichtung eines Gefangenen aus Wahlkampfmotiven. Ist da „brilliant“ wirklich der richtige Terminus in diesem Kontext? Wer so machiavellistisch argumentiert und meint, dass der Zweck stets die Mittel heiligt, der muesste dann auch die Brandstiftung im Reichstag 1933, ausgefuehrt sehr wahrscheinlich durch die Nationalsozialisten, „brilliant“ finden. Immerhin half die Aktion nicht nur den Nationalsozialisten kurz darauf gewaehlt zu werden, sondern schuf auch noch eine politische Lage, in der deren laestige politische Gegner beseitigt werden konnten.

    „Ask, don’t tell“-Gesetz

    Da ist Dir ein „don’t“ abhanden gekommen …

    • Stefan Sasse 30. Juli 2018, 07:14

      Falls das nicht klar ist: selbstverständlich finde ich das zum Kotzen. Gerade dieses Spielen der Klaviatur rechter identity politics bei Clinton ist einer der Gründe, warum ich ihn beileibe nicht so positiv sehe wie viele andere im linken Spektrum. Was Clinton im Endeffekt gemacht hat ist halt, ein bisschen rechte Grausamkeit zu performen aber in der eigentlichen Politik was anderes zu machen. Das wurde von den Betroffenen damals ja durchaus so gesehen, anders hätte es kaum die Unterstützung durch die Schwarzen und die Rede vom „first black president“ gegeben. Es zeigt glaube ich vor allem, dass die 1990er einfach eine andere Zeit waren als die 2010er.

      Korrigiere ich, danke.

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