Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 2: Aus der Krise

Dies ist der zweite Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA. 

Das Jahr 1933 war eine Wasserscheide für Amerika wie Europa. In beiden Ländern bricht die bisher bestehende politische Ordnung unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und den inadäquaten Antworten, die die traditionellen Eliten geben, zusammen. In Deutschland brachte das Chaos der Krise eine Reihe rechtsradikaler Präsidialkanzler an die Macht, in deren Windschatten sich das Land in atemberaubender Geschwindigkeit radikalisierte. 1932 fand das katholisch-bürgerliche Zentrum, das 13 Jahre zuvor die Republik mitbegründet hatte, wenig daran, offen ihre Abschaffung und Ersetzung durch eine Diktatur zu fordern. Ein Jahr später würde sein Vorsitzender, Prälat Kaas, die entscheidenden Stimmen seiner Fraktion zur Annahme des Ermächtigungsgesetzes beisteuern.

In allen Ländern Europas und Amerikas wurde die Wirtschaftskrise in den folgenden Jahren überwunden, mal schneller, mal langsamer, mal mit einem klaren Kurs für eine Erholung, gar Wachstum, in viel mehr Fällen jedoch auf dem nun niedrigeren Niveau stagnierend. Hitlers Ansatz war radikal: Eine Reihe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schuf eine zwar wenig effiziente, aber öffentlichkeitswirksame  Fiktion zielgerichteten staatlichen Handelns, während die eigentliche wirtschaftliche Aktivität sich in atemberaubenden Maße vom zivilen auf den Rüstungssektor verlagerte. Der deutsche Lebensstandard 1937 war niedriger als 1929, aber er war stabil. Die Gewerkschaften waren völlig entmachtet, und die Großkonzerne, die sich schnell mit den Nazis gutgestellt hatten, profitierten wenigstens auf dem Papier von der überhitzten Rüstungsindustrie. Finanziert wurde diese auf Pump, indem mit dem komplizierten Konstrukt der Mefo-Wechsel die Aufrüstungskosten externalisiert und verschleiert wurden. Die Instabilität dieses Konstrukts erforderten die Plünderung fremder Staatskassen, erst durch „Anschluss“, dann durch Krieg. Die Performance der deutschen Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg zeigt denn auch überdeutlich, wie wenig nachhaltig und belastbar die Wirtschaftspolitik der Nazis war – auch wenn sie scheinbare Ähnlichkeiten zu einer keynesianischen Investitionspolitik aufweist, halten diese einer genaueren Betrachtung nicht stand. Wer an einer detaillierteren Sicht auf die Nazi-Kriegswirtschaft interessiert ist, dem empfehle ich meine Texte auf dem Geschichtsblog zum Thema (hier und hier) und Adam Toozes bahnbrechendes Werk „Die Ökonomie der Zerstörung„.

Ein englisches Sprichwort fordert, niemals eine gute Krise zu verschwenden („never let a good crisis go to waste„). Die Weltwirtschaftskrise öffnete ein kurzes Fenster für grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. In Deutschland ergriffen die Nazis es und nutzten es dazu, eine mörderische Diktatur zu etablieren und die Welt mit Krieg zu überziehen. Für unsere Betrachtung hier relevanter ist der Blick auf die Krisenstrategien der liberalen Demokratien.

Während Frankreich und Großbritannien lange, viel zu lange, an den gescheiterten Strategien der Neoklassiker festhielten (was sich vor allem in ihrem beharrlichen Festhalten am Goldstandard ausdrückte, der ihre Wirtschaften fesselte) und vor allem Frankreich später von innenpolitischen Konflikten (Querfront) und so teuren wie nutzlosen Rüstungsprogrammen (Maginot-Linie) gelähmt wurden, zog in den USA 1933 ein Präsident ins Weiße Haus ein, der so gar nicht dazu angetan schien, als Champion der unteren Klassen aufzutreten. Franklin Delano Roosevelt entsprang dem, was in den USA als Adelsschicht gelten darf. Seine Familie war wohlhabend, heiratete stets unter sich, gehörte zum Standardinventar der kultivierten Neu-Englischen Oberschicht und bewohnte große manors. Roosevelt selbst jedoch war, auf seine Art, ein Radikaler. Er hatte die Vision, die Macht des Staates zu nutzen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, denn er betrachtete die Weltwirtschaftskrise vorrangig als eine Krise der Zuversicht, also psychologisch, und nicht systemisch.

Das war natürlich Unsinn. Zwar spielte die Psychologie durchaus eine gewaltige Rolle – „We have nothing to fear but fear itself“ erwies sich als wirkungsmächtiges Mantra – aber sie konnte kaum die gewaltige Ungleichheit angehen, die die amerikanische Wirtschaft, wie auch die Europas, in ihrem Würgegriff hielt. Roosevelt war zwar ein Radikaler – aber er war kein Revolutionär. Klassenkampf lag ihm fern, und er gedachte, durch eine Reihe von Sofortmaßnahmen (deren Fehlen er Herbert Hoover zurecht vorwarf) den stotternden Motor amerikanischen Wirtschaftswachstums wieder zum Laufen zu bringen. Er nannte diese Maßnahmen den „New Deal“, eine Metapher, die aus dem Kartenspiel kommt und eine grundlegende Neuverteilung der Chancen suggeriert. Um diesen New Deal ranken sich Mythen, die mit dem realen Programm wenig zu tun haben. Besonders in linken Kreisen genießen Roosevelt und dieses Programm eine mythologisierte Verehrung, die wenig mit der historischen Realität zu tun hat.

Roosevelt fußte sein Programm auf einige mehr als wackelige Grundüberzeugungen.

Erstens: Die Privatwirtschaft lief unter ihrer Kapazität, weil der internationale Konkurrenzdruck und die hohen Staatsschulden eine dauernde Belastung darstellten.

Zweitens: Wird die Zuversicht der amerikanischen Konsumenten geweckt, wird ein sich selbst tragender Aufschwung entfacht.

Drittens: Das größte Problem vieler Amerikaner ist große Unsicherheit. Es benötigt daher ein staatliches Fürsorgesystem, das eine gewisse Grundsicherung ermöglicht. Diese wird über Steuererhöhungen finanziert und steht nur denen offen, die arbeiten.

Viertens: Die Wirtschaftsführer und Opposition sehen dies ähnlich wie er und werden kooperieren.

Fünftens: Die geplanten Maßnahmen sind allesamt juristisch unbedenklich.

Diese Grundannahmen führten dazu, dass Roosevelt im Wahlkampf 1932 seinen Konkurrenten Herbert Hoover von rechts attackierte: Er warf ihm vor, mit nutzlosen (weil schlecht durchgeführten, nicht weil grundsätzlich sinnlosen) Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Staatsschulden in die Höhe zu treiben und den Europäern gegenüber nicht hart genug aufzutreten, ja, einen Ausverkauf amerikanischer Interessen zu betreiben. Besonders ein Dorn im Auge waren ihm Hoovers Versuch, die USA in die Abrüstungskonferenz von Genf einzubinden (die von den Nazis permanent propagandistisch ausgeschlachtet wurde und das Potenzial hatte, der Militarisierung Deutschlands von Anfang an die Zähne zu ziehen, indem es in ein kollektives Sicherheitssystem eingebunen wurde) und seine Bereitschaft, die liberale Welthandelsordnung aufrecht zu erhalten.

Er forderte daher im Wahlkampf ein Kürzen des Bundeshaushalts, eine radikale Erhöhung der Außenzölle vor allem im Agrarbereich und einen Rückzug der USA aus der europäischen Politik, was eine Preisgabe der alten Kriegspartner Frankreich und Großbritanniens, aber auch der deutschen Transatlantiker, bedeutete. Zudem plädierte er für Steuererhöhungen und für die Schaffung eines grundsätzlichen Sicherheitsnetzes, dessen Natur unklar blieb. Es war, um es kurz zu machen, eine populistische Plattform, voller Inkonsistenzen und besonders im außenpolitischen Bereich bar jeder Sachkenntnis oder Interesses. Es war aber gleichzeitig ein Strauß von Themen, die bei den Wählern populär waren. Roosevelt gewann die Wahl, und bis dahin wäre es eine Geschichte der üblichen schmutzigen Wahlkampfstrategien, aber Roosevelt war von dem Unsinn tatsächlich überzeugt. Sein erster Haushalt 1933 kürzte die ohnehin schmalen Budgets Hoovers für Arbeitsbeschaffung und Ähnliches, die Genfer Abrüstungskonferenz hatte sich bereits im Lauf des Jahres 1932 politisch erledigt und hohe Zölle wurden verabschiedet.

Wie also sollte der New Deal dann funktionieren? Roosevelts Idee war, über das Instrument der frisch geschaffenen „National Recovery Agency“ NRA (nicht zu verwechseln mit der heutigen National Rifle Association NRA) sämtliche staatlichen Gelder nur noch an Firmen zu vergeben, die ein bestimmtes Set an Auflagen erfüllten. Diese sollten sich mit dem neugeschaffenen NRA-Symbol des blauen Adlers schmücken dürfen. Die Hoffnung war, dass dieser Druck auf Arbeitsbedingungen und Löhne die Unternehmen dazu bewegen würde, freiwillig dem Reglement zu folgen. Gleichzeitig würde die durch die NRA entstehende Aufbruchstimmung auch Arbeiter und Konsumenten mitnehmen. Zur selben Zeit würden die notleidenden Farmer besonders des Mittleren Westens durch die hohen Zölle vor Konkurrenz geschützt und prosperueren. Es war effektiv ein „Mehr mit Weniger“. Und es funktionierte in etwa so gut, wie es klingt.

Die größte Erfolgsgeschichte dieser Zeit war die Tennessee River Valley Authority. Diese neu geschaffene Behörde legte ein gewaltiges Infrastrukturprojekt in einer der wirtschaftlich schwächsten Regionen der USA, dem amerikanischen Süden, auf. Hier wurde ein Staudamm gebaut. Ähnliche Projekte, die Arbeit schaffen und, das war entscheidend, sich weitgehend selbst finanzieren sollten, gab es auch an anderen Orten, fast alle im Süden. Die dazu benötigten Gelder und Infrastruktur hatte bereits die Regierung Hoover zu verplanen begonnen; die konkrete Struktur und Vergabe der Gelder orientierte sich an den innerparteilichen Bedürfnissen der Democratic Party. Und bei diesen lohnt es sich, für einen Moment zu verweilen. Denn sie sind für den Fortgang unserer Geschichte von entscheidender Bedeutung.

Die Partei war damals mit einer breiten Koalition aufgestellt, mit einer Reihe verschiedener Flügel und Machtzentren, die miteinander wenig zu tun hatten und teils in direkter Konkurrenz standen.

Das jüngste Mitglied dieser Koalition waren die Schwarzen außerhalb der Südstaaten. Diese hatten mehrere Jahrzehnte verlässlich die Republicans gewählt, die als als Partei Lincolns historisch für ihre Rechte eingetreten waren. Durch den Ausverkauf ihrer Interessen am Ende der Reconstruction-Ära hatte jedoch ein langsamer Wandel zu den Democrats begonnen, die vor allem durch den Progressiven Theodore Roosevelt (einen entfernten Verwandten FDRs) zu der Partei gebracht wurden. 1933 wählten die Schwarzen erstmals in nennenswerten Größen die Partei.

Ein weiterer Eckstein der Koalition waren die Katholiken, etwa die Iren. Die Republicans waren eine ausgesprochen katholikenfeindliche Partei. Damit lagen sie im Mainstream, denn der Katholizismus wurde in weiten Teilen der protestantisch dominierten Gesellschaft als unamerikanisch empfunden, mit seinen autoritären Strukturen und einem Oberhaupt im europäischen Ausland. Mit Al Smith hatte die die Partei 1928 den ersten katholischen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt (und krachend verloren), aber viele Einwanderer, etwa die Iren, aber auch viele Osteuropäer, waren katholisch und wurden zu soliden Wählerblöcken der Democrats. Wie in Deutschland besaß die christlich-katholische Soziallehre eine gewisse Affinität zu sozialstaatlichen Programmen, die ein Bündnis mit sozialdemokratischen Ideen logisch erschienen ließen.

Eine dritte Säule der Partei war die konservative Landbevölkerung der Südstaaten, besonders die alten konföderierten Eliten. Sie wählten die Partei seit den 1830er Jahren und waren der verlässlichste Wählerblock. Strukturell waren sie in einer Art Honoratiorensystem organisiert: „Ehrbare Mitglieder der Gesellschaft“, also sozial hochstehende und wohlhabende Männer, machten die Nominierungsprozesse überwiegend unter sich aus und nutzten die arkanen Mechanismen der caucuses und anderer obskurer politischer Rituale, um sich abzusichern. Sie profitierten massiv davon, dass große Teile der Bevölkerung de facto kein Wahlrecht besaßen (allen voran die Schwarzen, aber auch viele andere Gruppen) und schoben sich im Kongress gegenseitig staatliche Unterstützungsgelder für ihre Distrikte zu, um ihre Anhänger bei Laune zu halten.

Der vierte Block waren die Progressiven. Ihre Hochzeit war in den 1900er und 1910er Jahren gewesen, als ihre politische Heimat bei den Republicans war. Sie hatten gegen die Macht der Großkonzerne opponiert und mehr Rechte für amerikanische Arbeiter gefordert, doch bei den Präsidentschaftswahlen 1912 hatte der im parteiinternen Machtkampf unterlegene Theodore Roosevelt seine Anhänger in die unabhängige „Bull Moose Party“ geführt, was direkt zum Sieg des rassistischen Südstaatlers Woodrow Wilson führte – und die Democrats zum ersten Mal seit 1861 wieder an die Macht brachte. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die Republicans mit ihrer 1912 entwickelten, arbeitgebeberfreundlichen Plattform das Weiße Haus und dominierten es mit Harding, Coolidge und Hoover bis in die Weltwirtschaftskrise. In diesen Jahren wanderten große Teile dieser Progressiven ins Lager der Democrats.

Entsprechend disparate Hoffnungen wurden auf den neuen Präsidenten projiziert. Die Schwarzen erhofften sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Gleichberechtigung. Die Einwanderer hofften ebenfalls auf Arbeitsplätze, ein Wohnungsbauprogramm und bessere Arbeitsbedingungen. Die konservativen Eliten des Südens wollten Bundesmittel in ihre Bezirke bringen, um den Süden wirtschaftlich zu stärken, und lehnten ansonsten Staatseingriffe rigoros ab. Die Progressiven dagegen hofften auf eine Stärkung der Gewerkschaften, einen robusten Sozialstaat und eine wirtschaftliche Interventionspolitik. Vereint wurden sie 1933 in ihrer Ansicht, dass die Krise kurzfristige, drastische Maßnahmen erforderte.

Annahme Nummer vier, dass die Opposition das ähnlich sehen würde, stimmte auch vorerst. Gerade die Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden auch von den Republicans unterstützt, blieben jedoch in ihrem Umfang extrem begrenzt. Die Arbeiter wurden sehr schlecht bezahlt, damit der Privatwirtschaft keine Konkurrenz gemacht wurde, und alle Projekte sollten so wenig Kosten wie möglich verursachen. Die Konservativen in der Partei strukturierten sie zudem besonders im Süden so, dass nur weiße Arbeiter davon profitierten.

Herzstück des New Deal aber war die NRA. Die Arbeitsweise dieser Institution zeigt deutlich die Strategie, mit der die New Dealer um Roosevelt vorzugehen hofften. Anstatt mit Gesetzen die systemische Grundlage des Wirtschaftssystems anzugehen, etablierten sie einen losen Handlungskatalog – von Mindestlöhnen über Höchstarbeitszeiten zu anderen Standards – dem Unternehmen folgen sollten. Die Unternehmen, die sich freiwillig auf diese Linie verpflichteten, durften mit dem Symbol des blauen Adlers werben. Um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, rief die Regierung mehr oder weniger offen zum Boykott von Firmen auf, die nicht mitmachten, und vergab Staatsaufträge nur an NRA-Firmen. Das Konstrukt funktionierte nie so, wie sich Roosevelt das erhofft hatte, und wurde 1935 vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt. Damit war das Herzstück des New Deal verloren.

Die Geschichte könnte damit zu Ende sein. Die ersten zwei Jahre der ersten Amtszeit Roosevelts waren vorüber. Viel Potenzial war verschwendet worden. Präsidenten bekommen selten eine Chance für so umfassende Reformen wie Roosevelt diese 1933 genoss, und wenn sie das Zeitfenster verpassen, kommt üblicherweise kein zweites. Präsidenten ist dies bewusst. Es ist kein Zufall, dass Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, Bill Clinton und Barrack Obama ihre großen Reformprogramme (Civil Rights Act/War on Poverty, Steuerreform, allgemeine Krankenversicherung, noch einmal allgemeine Krankenversicherung) alle in den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit unternahmen. Als der Wahlkampf für die Midterms 1934 alle Reformbestrebungen zu einem quietschenden Stopp brachte war das Ergebnis des New Deal sehr durchwachsen.

Zwar nehmen die hohen Zölle etwas Druck von den Landwirten, wie das intendiert war. Das half ihnen angesichts der Umweltkatastrophe der Dust Bowl, die ihre Höhfe zerstörte und eine gewaltige inneramerikanische Migrationswelle nach Westen erzwang, nicht allzu viel.

Ebenso hatten sie vermutlich leichte positive Auswirkungen auf die US-Industrie, deren Außenhandel zur damaligen Zeit vernachlässigbar war (ganz anders als heute, wo die Warenströme alle in hohem Maß internationalisiert sind). Das zurückrufen sämtlichen im Ausland gebundenen Kapitals brachte ebenfalls kurzfristig Geld ins Land. Der negative Effekt war eine Schwächung ebendieses Auslands, vor allem Frankreichs und Englands, die schwerwiegende Langzeiteffekte haben würde. Einerseits reagierten beide mit eigenen Zöllen und machten so eine Erholung des Welthandels vor 1941 unmöglich, was auch negative Auswirkungen für die Langzeitaussichten des US-Wachstums hatte. Und auf der anderen Seite schwächte es die liberale Welt gegenüber dem Aufstieg des Faschismus.

Die NRA selbst war ein Fehlschlag. Als die Organisation 1934 verboten wurde, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst und wäre vermutlich vom Kongress auch nicht mehr erneuert worden (sie hatte eine zweijährige Laufzeit). Mangels koordinierter Handlungen seitens der Bundespolitik hatten einige progressive Bundesstaaten wie New York versucht, eigene Wege zu gehen und Mindestlöhne und Mindest-Arbeitsbedingungen gesetzlich vorzuschreiben; diese Maßnahmen waren vom Supreme Court ebenfalls verboten worden. Das Herzstück einer möglichen sozialdemokratischen Reformagenda war damit praktisch völlig entkernt.

Eine Erfolgsgeschichte waren die Infrastrukturprojekte vom Tennessee-River-Valley-Staudamm bis zum New Yorker Flughafen La Guardia. Nur hatten sie ebenfalls keine systemischen Auswirkungen, denn deren Fehlen war ja gerade die Intention gewesen. Das Arbeitsbeschaffungsprogramm war nicht verstetigt, die Bezahlung und Arbeitsbedingungen bewusst schlecht, so dass sie auch keine Leuchtturmfunktion haben konnten. Damit eigneten auch sie sich nicht zur nachhaltigen Veränderung des eigentlichen Systems, das sich als so großes Problem erwiesen hatte.

Immerhin war die US-Wirtschaft wieder auf einem sehr langsamen Wachstumskurs. Die Talsohle war erreicht. Rund ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung war arbeitslos gewesen. Diese Zahl ging langsam, aber sicher zurück. Um 1939 herum würde aber immer noch ein Fünftel der US-Bevölkerung betroffen sein. Inwieweit diese generelle, langsame Erholung der US-Wirtschaft dem New Deal zuzuschreiben ist, bleibt dabei unklar. Geholfen hat er sicherlich, aber die Kritiker, die behaupten, dass dassselbe unter Hoover auch passiert wäre, ohne das Chaos der inkohärenten New-Deal-Maßnahmen, sind sicherlich nicht einfach abschmetterbar.

Bekanntlich aber endet die Geschichte hier nicht. Denn von allen Seiten, inklusive Roosevelt, etwas unerwartet gewannen die Democrats die Kongresswahlen 1934 durchschlagend. Und diese Wahlen veränderten alles.

Auf der einen Seite war da Roosevelt selbst. Zunehmend unzufrieden mit der Entwicklung seines New Deal und dem Widerstand der Konservativen in der eigenen Partei, der Opposition und vor allem in der Wirtschaft wurde er immer offener gegenüber progressiven Lösungen und immer schärfer im Ton. Seine beinahe schon klassenkämpferischen Allüren (als gewiefter Politiker gelang Roosevelt ein Seiltanz der Rhetorik, der ihn nie ganz ins eine oder andere Lager fallen ließ) passten zur Stimmung der Zeit. Denn die Unzufriedenheit mit dem bisherigen Verlauf des New Deal war besonders im Norden der USA groß, wo nun eine Reihe vorheriger republikanischer Amtsinhaber und konservativer Democrats ihre Sitze an eine neue Generation von progressiven Abgeordneten verlor. Das innerparteiliche Machtgleichgewicht veränderte sich dramatisch zugunsten der Progressiven. Anstatt – wie etwa im Falle Bill Clintons oder Barrack Obamas – die Tür für weitere Reformen zuzuschlagen, rissen die Midterms 1934 sie weit auf. Roosevelt und der New Deal erhielten eine zweite Chance.

Angesichts ihrer Erfahrungen 1933-1934 war klar, dass es große Maßnahmen brauchte, wenn sich etwas ändern sollte. Der Second New Deal brauchte etwas wie die NRA, nur funktionsfähig. Die unerwartete Natur des Siegs bei den Midterms und das unklare Machtgleichgewicht innerhalb der Democrats, die zwar eine deutliche Mehrheit der Sitze besaßen, aber keine innerparteilich einheitliche Linie fuhren, ließ die New Dealers ein wenig wie den Kaiser ohne Kleider dastehen. Die Berater rund um Roosevelt hatten viele Konzepte, und ein britischer Ökonom namens John Maynard Keynes bestürmte den Präsidenten bereits seit dessen Vorwahlkampf 1932, mit deficit spending die malade US-Wirtschaft anzukurbeln. Doch so weit ging Roosevelts Radikalismus nicht: die Staatsschulden durften nicht wesentlich steigen (sie blieben in der New-Deal-Reformära bei rund 3%, eine ungewöhnlich niedrige Zahl angesichts der Programmatik, die selbst Theo Waigels seal of approval bekommen hätte).

Wir müssen uns an dieser Stelle klar machen, dass die Präsidentschaft – und die Bundesverwaltung – damals noch nicht die herausragende Stellung im amerikanischen Verfassungsgefüge hatten, die sie heute genießen. Diese war ein Produkt des Zweiten Weltkriegs, wie wir bald sehen werden. Die wahre Macht lag immer noch im Kongress, wo die Old-Boys-Netzwerke gerade der konservativen Südstaaten-Democrats die Macht hatten. Roosevelts Versuche, Kompetenzen für die Bundesregierung zu beanspruchen, wurden denn auch zuverlässig vom Supreme Court niedergeschmettert, zu dem wir gleich noch mehr erfahren werden. Auch Versuche der Bundesstaaten, den Föderalismus für Experimente zu nutzen, wurden hier zunichte gemacht, was ungeheure Frustration seitens der Progressiven mit sich brachte und selbst bei den oppositionellen Republicans auf Kritik stieß.

Aber genau diese unklaren Verhältnisse, die die Schaffung eines konzertierten Plans bislang verhindert hatten, erlaubten es gut vernetzten und motivierten Abgeordneten, ihre eigenen Projekte zu starten. Die Person, die den Grundstein für das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in den USA legte, war denn auch nicht Roosevelt, sondern der Senator Robert F. Wagner. Wagner war 1927 das erste Mal in den Senat eingezogen und zusammen mit Henry Stegall (der die berühmte Bankenregulierung verantwortete, die unter Bill Clinton unverantwortlicherweise niedergerissen und unter Obama wenigstens teilweise wieder errichtet wurde) einer der führenden Autoren der Gesetzgebung des Second New Deal. Er war ein wonk, ein Experte auf seinem Gebiet, und lebte für die Chance, tiefgreifende Reformen einzuführen. Als einer der wenigen hatte er für die Eventualität eines Sieges bei den Midterms 1934 geplant. Und so konnte er in das entstandene politische Vakuum, in dem die Progressiven zwar plötzlich viel Macht, aber kein klares Programm hatten, seinen eigenen Entwurf einbringen: den National Labor Relations Act.

Kaum ein Gesetzesvorhaben war so entscheidend wie dieses. Das kurz als Wagner-Act bekannte Werk ist in seinem Umfang mit Obamacare vergleichbar: umfassend, tiefgreifend und hoch komplex. Wagner nutzte eine parlamentarische Dynamik, die so alt ist wie die amerikanische Republik selbst: Er machte seine Ideen zur Diskussionsgrundlage. Der verabschiedete National Labor Relations Act war natürlich nicht identisch mit seinem Entwurf, aber nahe genug dran. Was erreichte dieses Gesetzeswerk?

Die Zielsetzung des Wagner-Act lohnt sich zitiert zu weren: „encouraging the practice and procedure of collective bargaining and by protecting the exercise by workers of full freedom of association, self-organization, and designation of representatives of their own choosing, for the purpose of negotiating the terms and conditions of their employment or other mutual aid or protection“ („die Praxis und Abläufe der Tarifverhandlungen zu fördern und die Arbeiter dabei zu beschützen ihre vollen Freiheiten des Zusammenschlusses, der Organisierung in Körperschaften und der Bestellung von Vertretern die sie selbst gewählt haben um die Bedingungen und Verhältnisse ihres Arbeitsverhältnisses zu verhandeln oder sich gegenseitig zu schützen und zu helfen“) Kurz gesagt: Der Wagner-Act legalisierte Gewerkschaften und versprach ihnen die Hilfe des Staates bei der Durchsetzung ihrer Rechte.

Die Verabschiedung des Wagner-Acts 1935 führte zu einer Explosion der Gewerkschaftsmitgliedschaften. Millionen von Arbeitern traten den Gewerkschaften bei, die urplötzlich über riesige Mittel verfügten und die legale Handhabe besaßen, Tarifverhandlungen für die Arbeiter zu führen und Arbeitskämpfe als Durchsetzungsmittel zu verwenden. Unter dem Schlagwort „Boys, the president wants you to join a union“ (Jungs, der Präsident will dass ihr einer Gewerkschaft beitretet“) erreichten die Gewerkschaften bis 1937 monumentale Gewinne, wie sie nie zuvor (und nie danach) im amerikanischen Wirtschaftsleben möglich waren.

Wagner war außerdem federführend an zwei weiteren Gesetzeswerken beteiligt: dem Social Security Act von 1935, der den amerikanischen Sozialstaat mit einem staatlichen Renten- und Arbeitslosenversicherungssystems begründete, und dem Housing Act von 1937, der es der Bundesregierung ermöglichte, Sozialwohnungen für Arme zu bauen.

Natürlich war Wagner nicht allein. Auch andere Progressive und die Roosevelt-Administration selbst ergriffen die Gelegenheit, die sich ihnen bot, mit beiden Händen. Praktisch alle Programme, die klassischerweise unter „New Deal“ gefasst werden, stammen aus der Periode 1935 bis 1937. Im Wahlkampf 1936 gewann Roosevelt überzeugend eine weitere Amtszeit, und noch mehr Progressive gelangten in den Kongress. Sowohl die Bundesregierung als auch die Legislative konnten nun ihre Vorhaben durchsetzen.

Dazu brauchte es jedoch die Stimmen der konservativen Südstaaten-Democrats. Trotz aller Gewinne der Progressiven konnten diese im Verbund mit den Republicans – Parteilinien überschreitendes Abstimmungsverhalten dieser Art war bis weit in die 1980er Jahre hinein die Norm und kam erst mit Newt Gingrichs „Revolution“ von 1994 bei den Republicans aus der Mode – den New Deal blockieren. Die Abgeordneten des Tiefen Südens hatten ein grundlegendes Problem mit dem New Deal. Das war die Stärkung der Bundesgewalt, die sich historisch immer für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt hatte, gegen die die konservativen Democrats seit jeher eine verlässliche Bastion waren.

Um eine Mehrheit für seine Reformpolitik zu gewinnen, schloss Roosevelt daher einen Faustischen Pakt mit dieser Fraktion. Die Südstaatler würden die Reformpolitik mittragen und sie nicht blockieren (viele der Gesetze betrafen ohnehin nur den industrialisierten Norden und nicht den weitgehend agrarisch geprägten, rückständigen Süden). Auf der anderen Seite würde die Gesetzgebung so konstruiert werden, dass sie Schwarze weitgehend ausschloss. Die NAACP bezeichnete etwa den Social Security Act als „sieve with holes just big enough for the majority of Negroes to fall through“ („wie ein Sieb mit Löchern gerade groß genug, damit die Mehrheit der Schwarzen hindurch fiel“). Die Segnungen des New Deal schlossen damit rund ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung aus, überwiegend in den ohnehin armen und unterentwickelten Südstaaten.

Dieser Pakt mit dem Teufel bereitete den Weg für einen Sozialstaat der Weißen. Das ist, man verzeihe das Wortspiel, die dunkle Seite des New Deal, seine Erbsünde. In den 1960er Jahren würde diese Erbsünde mit voller Wucht zurückkommen, die New-Deal-Koalition sprengen und den Weg für die konservative Restauration freimachen. Aber dazu werden wir später kommen.

Das größte Hindernis für den New Deal dagegen blieb der Supreme Court, besonders dessen ultra-konservativer Kern aus vier Richtern, die gemeinsam den Spitznamen „Four Horsemen of the Apocalypse“ trugen (bei Liberalen, versteht sich). Diese Männer waren alle um die 70 Jahre alt und blockierten (mit wechselnden unterstützenden Mehrheiten bei den anderen, überwiegend ebenfalls konservativen Richtern) jegliche Versuche sowohl der Bundes- als auch der Staatenregierungen, aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Diese Totalopposition entsprang einem ideologischen Verständnis von der Beschränkung staatlicher Aufgaben allgemein, das noch aus der Gilded Age stammte, als die Großmonopolisten wie Rockefeller und Carnegie die Bühne bestimmten. Der Supreme Court befand sich mit dieser ideologisch extremen Linie jedoch weit außerhalb des amerikanischen Mainstream: selbst die oppositionelle republikanische Partei kritisierte die „Four Horsemen“ für ihre rigide Rechtsprechung, mit der sie selbst einzelstaatliche Maßnahmen wie New Yorks Mindestlohngesetz zu Fall brachten (eine Seitenbemerkung: die „loyale Opposition“ der Republicans bis 1964 ist ohnehin bemerkenswert, vor allem vor dem Spiegel der heutigen Zeit).

Dies führte dazu, dass die Kritik gegen die Blockadehaltung immer weiter anwuchs. In einer Entwicklung, über die die heutigen Republicans besser hart nachdenken sollten, unterstützten die „Four Horsemen“ zudem den Umschwung zum progressiveren und wesentlich weitreichenderen Second New Deal: da die unverbindlichen und wenig ambitionierten Vorgaben der NRA als verfassungswidrig erklärt wurden, gab es für Progressive wenig Anreiz zum Kompromiss, so dass durchgreifendere Maßnahmen wie der Wagner-Act plötzlich mehrheitsfähig wurden. Die Verbindung zur republikanischen Sabotage von Obamacare und dem Umschwung bei den Democrats zur Single-Payer-Plattform ist offensichtlich.

Diese Entwicklung blieb auch den „Four Horsemen“ nicht verborgen. Anstatt gegen den Mehrheitswillen der Amerikaner in Gesellschaft, Kongress und Weißem Haus anzukämpfen und sich zu einem Ersatzgesetzgeber zu entwickeln, die die Gewaltenteilung auseinanderriss – ein viel diskutiertes Problem dieser Zeit – entschlossen sie sich, nach einer Schamfrist, zum Rücktritt. Zwischen 1937 und 1941 traten nicht nur die „Four Horsemen“ sondern auch drei weitere Verfassungsrichter zurück, so dass Roosevelt – mit einer komfortablen Kongressmehrheit – insgesamt sieben neue, progressive Richter bestellen konnte, die den Supreme Court bis weit in die 1970er Jahre zu einer Bastion progressiver Ideen machen sollten.

Auch dies ist eine Langzeitfolge des New Deal. Der komplette Umschwung des Supreme Court war für fast drei Dekaden kein Thema, weil die Republicans, erkennend dass der New Deal grundsätzlich beliebt war sich hinter ihn stellend, keine Grundsatzopposition betrieben. Eisenhower formulierte das in seiner eigenen Präsidentschaft so: “Should any party attempt to abolish social security and eliminate labor laws and farm programs, you would not hear of that party again in our political history. There is a tiny splinter group of course, that believes you can do these things … Their number is negligible and they are stupid.” („Sollte irgendeine Partei versuchen, die Sozialversicherung aufzugeben und das Arbeitsrecht und die Landwirtschaftsprogramme abzuschaffen, dann würde man von dieser Partei in unserer politischen Geschichte nie wieder etwas hören. Es gibt natürlich eine kleine Splittergruppe, die glaubt, man könne so etwas tun […] Ihre Anzahl ist jedoch vernachlässigbar und sie sind dumm.“)

Eisenhower fiel es natürlich leicht, dies zu sagen. Die Hochphase des Reformprogramms endete 1937, und von da an befand sich das gesamte Vertragswerk praktisch ausschließlich in der Defensive. Trotzdem nahmen die Republicans ab Ende der 1930er Jahre eine Position ein, die der der CDU in Deutschland nicht unähnlich war: grundsätzlich pro Sozialstaat, aber immer mit Maß und Ziel und möglichst unternehmerfreundlicher Politik. Niemals ähnelten die USA so sehr einer europäischen Sozialdemokratie wie in diesen Jahren. Doch bereits ab 1937 entstand ein Backlash, der, beginnend an der Peripherie des Gesetzwerks, schließlich die Grundfesten des gesamten Systems erschüttern sollte. Doch das war den Zeitgenossen noch nicht ersichtlich. Vorerst traten die USA, mit dem Paukenschlag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, in ein drei Dekaden dauerndes Goldenes Zeitalter der Sozialdemokratie ein.

 

{ 17 comments… add one }
  • CitizenK 14. Juli 2018, 17:49

    Danke erstmal für die Infos. Hab den New Deal bisher auch nicht so differenziert gesehen.

  • Erwin Gabriel 15. Juli 2018, 14:22

    @ Stefan

    Wieder ein Tag, an dem ich klüger ins Bett gehe, als ich nirgends herausgekrabbelt bin.

    Herzlichen Dank, (auch für die lockere, gute Schreibe – bin neidisch 🙂 )

    E.G.

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