Adam Tooze – The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order 1916-1931 (Deutsch) (Hörbuch)
Teil 1 findet sich hier.
Abschnitt 2, „Winning a Democratic Victory„, verlässt dann die Ostfront und wendet den Blick nach Westen, wo die Versuche einen Frieden zu schaffen oder zu erzwingen, eher dem Ziel unterlagen, einen demokratischen Frieden zustandezubringen.
In Kapitel 9, „Energizing the Entente„, zeigt Tooze, was damit gemeint ist. Angesichts der Krisen des Jahres 1916/17 entschieden sich Gr0ßbritannien und Frankreich für den genau entgegengesetzten Weg, den Deutschland ging (und wie er in Abschnitt 1 skizziert wurde): auch bei der Entente übernahmen Politiker das Ruder, die fest entschlossen waren, den Kampf bis zum siegreichen Ende zu führen und keine Kompromisse einzugehen (Clemenceau in Frankreich, Lloyd George in Großbritannien). Aber anders als in Deutschland ging dies mit dem Versprechen einer zukünftigen Demokratisierung einher. Der Krieg wurde dadurch zu einer Gleichheitsmaschine, die eine Ausweitung von Bürgerrechten und Partizipationsmöglichkeiten schuf.
Nicht, dass dies nicht interne Konflikte verhinderte. Von den ruchlos niedergeschlagenen Meutereien in der französischen Armee zur legendär harschen Disziplin der britischen Truppen auf der einen Seite und dem Osteraufstand in Irland auf der anderen Seite, der die britische Armee auch noch in eine Art Kolonialkrieg auf dem eigenen Territorium zwang, weil Sinn Fein die erwartbare Niederlage und erwartbare britische Überreaktion für die Dynamisierung ihrer Sache nutzen wollte, bis hin zu den Spannungen in Indien, wo die Einführung der „Home Rule“ immer offener verlangt wurde, mangelte es der Entente nicht an Krisen. Die Reaktion darauf aber war genau die gegenteilige wie im Kaiserreich: eine Ausweitung demokratischer Partizipationsrechte. Nicht in dem Umfang, der wünschenswert gewesen wäre, und im Falle Irlands und Indiens nicht ausreichend, um die Legitimitätskrise abzuwenden, aber merklich und von einem patriotischen Konsens getragen.
Auch der Nahe Osten spielt in diesem Bereich eine Rolle. Das Sykes-Picot-Abkommen teilte die Region unter Großbritannien und Frankreich auf, und auch mit Russland waren Übernahmen verabredet gewesen. Doch die im vorherigen Abschnitt besprochene Politik der Sowjets sorgte dafür, dass Russland offen erklärte, kein osmanisches Territorium annektieren zu wollen (einmal mehr die liberalen Prinzipien eines Friedens), was die Entente mit ihren imperialistischen Plänen im Nahen Osten in Verlegenheit brachte und zu einer angepassten Rhetorik und Plänen zwang, die nicht mehr eine direkte Übernahme ins eigene Imperium darstellen konnten. Die Konstruktionen der Völkerbundmandate und die Probleme, die sich daraus entwickeln würden, waren hier also bereits angelegt.
Ein anderer Bereich wird im zehnten Kapitel, „The Arsenals of Democracy„, beleuchtet: die wirtschaftliche Situation. Im ersten Abschnitt hatte Tooze bereits die immer größere Abhängigkeit der Entente von amerikanischen Krediten beleuchtet. Die Finanzen stehen auch in diesem Kapitel im Zentrum, wenngleich er zuerst den Mythos wegräumt, dass die USA im ersten Weltkrieg wie im zweiten das Kriegsgerät der Alliierten produziert hätten: die amerikanischen Truppen waren einzig als Körper wichtig; bewaffnet wurden sie von Frankreich und Großbritannien. Amerika lieferte Rohmaterial, das in Europa veredelt wurde. Viel wichtiger ist Tooze der Finanzrahmen: der Kriegseintritt der USA sorgte für eine Koordination der Finanzen, die das Pfund Sterling entscheidend absicherte (obwohl die Amerikaner dies nicht wollten, weil sie eigentlich den Dollar zur Leitwährung machen wollten; dies würde eine mittel- statt kurzfristige Entwicklung sein). Aber die Strategie der Entente, sich auf einen „knock-out blow“ festzulegen statt eine langsamere weitere Abnutzung und möglicherweise doch noch einen Verhandlungsfrieden, erzwang die völlige Abhängigkeit von den USA – eine durchaus umstrittene Festlegung.
Kapitel 11, „Armistice: Setting the Wilsonian Script„, befasst sich mit der Politik des Waffenstillstands. Im Oktober appellierte die deutsche Regierung bekanntlich direkt an Wilson, auf Basis der 14 Punkte einen Frieden zu schließen. Tooze zeigt auf, wie problematisch das für alle Beteiligten war: die Deutschen riskierten, die Briten und Franzosen zu brüskieren und damit die langfristige Tragfähigkeit eines Friedens zu untergraben, während die Amerikaner riskierten, die Entente zu spalten. Entsprechend scharf war die Opposition gegen einen Waffenstillstand (den man gerne teleologisch als gesicherte Sache ansieht) gegenüber einer bedingungslosen Kapitulation. Tooze betont, wie viel Glück die Deutschen damit hatten, dass Wilson das Angebot annahm und das Risiko einging, womit er Amerika de facto aus dem Bündnis herausnahm und in die Arbiterrolle zurückbrachte, die er (siehe Abschnitt 1) in den ersten Jahren des Krieges angestrebt hatte. Glück deswegen, weil im Oktober Staat und Armee des Kaiserreichs zusammenbrachen; die Alliierten hätten vermutlich recht leichtes Spiel gehabt.
So rettete der Waffenstillstand die Souveränität Deutschlands und machten Versailles zu einem sehr großzügigen Frieden, was den Alliierten wohl bewusst war, weswegen das spätere deutsche Jammern auch so viel Unmut in Paris und London weckte und eine schwere Hypothek für die Weimarer Außenpolitik darstellte. Das allerdings machte Wilson nicht zu einem Freund der Deutschen. Er sah sie als Mittel zum Zweck, um einen zu großen Aufstieg der Entente-Mächte zu verhindern. Wilson glaubte nicht an eine deutsche Demokratie, genauso wenig, wie er an demokratische Rechte für Schwarze in den USA glaubte, weil er der Überzeugung war, dass sich Demokratie über Jahrzehnte langsam und geleitet herausbilden musste. Dieses Missverständnis würde für viel Enttäuschung in Deutschland sorgen, wo hochfliegende und absurde Hoffnungen in Wilson gesetzt wurden. Als Seitenbemerkung rettete der deutsche Zusammenbruch auch die Sowjetunion, weil Lenin dadurch der Notwendigkeit eines Bündnisses mit Ludendorff enthoben wurde und plötzlich die Weißen und nicht die Roten die von äußeren Mächten unterstützte Macht waren – noch dazu unzureichend unterstützt, weil der Waffenstillstand jede Unterstützung einer Intervention in Russland nahm. Für die Bolschewisten war dies die Wende im beginnenden Bürgerkrieg.
Das zwölfte Kapitel, „Democracy Under Pressurce„, betrachtet die Lage in Deutschland und vor allem in Großbritannien. Für Deutschland hat Tooze wenig Bemerkenswertes im Angebot; seine kurze Skizze der deutschen Revolution ist für Lesende aus dem Ausland sicherlich relevant, aber letztlich nur eine konzise Darstellung der Ereignisse, die den Forschungsstand wiedergibt. Interessanter ist der wesentlich detailliertere Blick auf die britische Innenpolitik, wo die Ausweitung des Wahlrechts nicht wie erwartet in einem Labour-Sieg endete, sondern in den populistischen „khaki election“ eine liberalkonservative Regierung unter Lloyd George im Amt bestätigte. Er erwies sich aber als umsichtiger Staatsmann, der alle Beteiligten zu einem großen Kompromiss an den Tisch brachte, was durch die spiegelbildliche Verantwortung und Umsichtigkeit bei Labour und vor allem den Gewerkschaften erleichtert wurde. Zwar wurden die Staatsausgaben deutlich gekappt (anders als Labour das gerne gesehen hätte), aber Raum für präzedenzlose wohlfahrtsstaatliche Ausgaben gemacht, die „zum ersten Mal in der Geschichte der Wohlfahrt den Vorrang vor der Verteidigung des Empires“ gaben. Gleichzeitig stiegen die Steuern drastisch an und reduzierten deutlich die Ungleichheit (wenngleich, erneut, in geringerem Umfang als von Labour gefordert). Damit gelang den Briten eine weitgehend reibungslose Demobilisierung und Befriedung innerer Konflikte. Der Preis dafür war aber eine aggressiv-populistische Reparationsrhetorik, die die Friedensverhandlungen nachhaltig belasten sollte.
Mit eben diesen beschäftigt sich Abschnitt 3, „The Unfinished Peace„.
In Kapitel 13, „A Patchwork World Order„, zeigt Tooze auf, dass Wilson als wahrer Sieger nicht vorhatte, dies die Agenda bestimmen zu lassen. Der erste Tagesordnungspunkt der Konferenz war der Völkerbund, nicht die Friedensfrage mit Deutschland. Wenn es nach Wilson gegangen wäre, hätte sein „peace without victory“ auch in Versailles Bestand gehabt. Stattdessen entstand ein Tauziehen um die Gestaltung des Völkerbundes, das Tooze mit Bravour nachzeichnet. Die Amerikaner wollten sich nicht zu formal binden, aber gleichzeitig eine schlagkräftige Institution, die den Frieden sichern konnte. Die Franzosen hatten eine geradezu radikale Vision eines demokratischen Bündnisses von USA, UK und Frankreich zur Sicherung, mussten aber erkennen, dass die Angelsachsen kein Interesse hatten und torpedierten daher die Abrüstungsvereinbarungen, um gegenüber Deutschland nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die Briten ihrerseits wollten das Empire nicht gegenüber den USA preisgeben und nicht in die Streitigkeiten des Kontinents verwickelt werden.
Dazu kamen zahlreiche Rang- und Verfahrensfragen. Wer war Großmacht, wer nicht? Wer hatte welche Rechte? Sollten nur Demokratien Mitglied werden? Wie würden die definiert? Was war mit Deutschland? Wie sollte der Friede erzwungen werden? Eine stehende Armee bekam der Völkerbund nicht, einen Beistandsautomatismus auch nicht. Stattdessen appellierte Wilson dazu, den USA zu vertrauen, dass sie schon zu Hilfe eilen würden, wenn ein kleiner Staat angegriffen würde; ein äußert zweifelhaftes Versprechen, milde ausgedrückt. Letztlich gelang es den Briten, ein wichtiges Ziel zu erreichen und einen offenen Konflikt und Wettrüsten mit den USA zu verhindern, indem sie ihre Zustimmung zum Völkerbund davon abhängig machten, dass die USA sich auf verbindliche Rüstungskontrolle zur See einließen. Da der Völkerbund die Royal Navy zum Erzwingen der vorgesehenen Sanktion der Blockade brauchen würde, war Wilson hier auf Lloyd Georges Unterstützung angewiesen.
Das vierzehnte Kapitel, „The Truth About the Treaty„, wendet sich den Franzosen zu. Überraschenderweise kommt Tooze zu dem Schluss, dass sie effektiv die Idee des liberalen Friedens zu Beginn der Verhandlungen am konsequentesten vertraten. Sie akzeptierten nämlich von Beginn an die Souveränität und Nationalstaatlichkeit Deutschlands, eine Prämisse, die selbstverständlich sicherlich nicht war. Ihr Interesse war es, einen schlagkräftigen Völkerbund auf Basis eines französisch-angelsächsischen „Bündnis der Demokratien“ zu gründen, der ihre Sicherheit garantieren würde. Die beiden Nationen hinter dem Spiegelstrich hatten daran jedoch kein Interesse, vor allem die Amerikaner nicht, weswegen die Franzosen versuchten mussten, diese einzubinden. So bestanden sie etwa darauf, dass die Waffenstillstandsbedingungen von allen Seiten garantiert wurden und dass die Besetzung des Rheinlands auch britische und amerikanische Truppen beinhaltete. Die Franzosen hofften, möglichst starke Verpflichtungen zu erreichen.
Die Souveränität eines „Friedens unter Gleichen“, die sie Deutschland zugestanden, konnte dort freilich nicht goutiert werden. Die nationalistischen Impulse gewannen bereits die Überhand, aber viel größer war das Problem, dass Deutschlands Gleichrangigkeit sich auch auf die slawischen Länder erstreckte: für den deutschen Stolz war es unvorstellbar, gleich wie Polen behandelt zu werden, obwohl die Ausschüsse der Friedensverhandelnden eine große Sachkenntnis und Rücksicht auf alle Beteiligten bei der Ziehung der Grenzen walten ließen, inklusive Volksabstimmungen. Da für die Deutschen aber inakzeptabel war, dass überhaupt je ein Deutscher von Polen regiert werden würde, war hier ohne massive und mit unermesslichen Leiden verbundenen Bevölkerungsverschiebungen nichts zu erreichen – wie sie dann 1945 folgen würden.
Tooze betont, dass Deutschland damit aus den Weltmächten ausschied und in eine letztlich den USA untergeordnete Stellung platziert wurde. Dieses Schicksal abzuwenden war ein zentrales Interesse von sowohl Franzosen als auch Briten, aber Toozes beißende Schlussworte, dass das Schicksal Deutschlands durch den Versailler Vertrag letztlich allen europäischen Staaten blühte, beleuchtet den Vertrag einmal mehr aus einer anderen Warte und betont wieder die zentrale Rolle der Vereinigten Staaten, die sich gleichwohl so weit wie möglich herauszuhalten versuchten.
Diese Tendenz wird in Kapitel 15, „Reparations„, noch wesentlich klarer. Die Amerikaner hatten kein Interesse an Reparationen durch Deutschland, sondern der Bezahlung der Schulden. Sie wollten ein allgemein ausgeglichenes, zurechtgestutztes Europa, von dem sie isoliert und unabhängig waren. Genau das wollten Großbritannien und Frankreich vermeiden. Die Franzosen verlangten in Toozes Erzählung gar keine so hohen Reparationen (zwischen 90 und 120 Milliarden, je nachdem, wer noch welche bekam; die 1921 festgelegte Endsumme lag bei 130 Milliarden). Stattdessen seien es die Briten gewesen, die die Reparationen erhöht hätten. Dass nämlich die zerstörten Regionen in Frankreich und Belgien wieder aufgebaut werden müssten und dies durch deutsche Gelder geschehen müsste, sei auch in Deutschland grundsätzlich unstrittig gewesen. Doch die Briten wollten ihre eigenen Verluste, weniger sichtbar, aber substanziell durch die zerstörten Kapitalstöcke und damit der Machtbasis des Empire, ebenfalls ersetzt sehen.
Dies wiederum suchten die Amerikaner zu verhindern, die ja gerade ein Interesse daran hatten, dass die europäischen Staaten ohne US-Hilfe schwach und getrennt bleiben würden. Sie verhinderten kategorisch jede Einigung zwischen ihren Schuldnern und verhandelten stets bilateral. Die besonders von den Briten geforderten Moratorien lehnten sie komplett ab. Tooze beschäftigt sich hier noch explizit mit Keynes‘ Rolle als Kritiker des Friedens, an dessen Argumentation er wenig gute Haare lässt. Er erklärt Keynes zu einem der Hauptverantwortlichen für die Radikalisierung des Reparationsdiskurses und die Ereignisse von 1923.
Das sechzehnte Kapitel, „Compliance in Europe„, wendet den Blick zuerst nach Italien. Nachdem der amerikanische Kriegseintritt dort 1917/18 zu riesigen Propagandaerfolgen führte, hoffte Wilson nun, die italienische Bevölkerung gegen deren eigene Regierung von einem Bestehen auf dem Londoner Abkommen abzuhalten, das so den liberalen Prinzipien des Friedens widersprach. Tooze betont, welch grundsätzliches Problem die italienische Frage mit ihrem Beharren auf den vertraglichen Festsetzungen als alternatives Legitimationskonzept bedeutete. Ultimativ war das Land aber zu unbedeutend, um gegen die geeinte Front der Entente bestehen zu können und kam an und für sich mit guten Grenzen aus dem Krieg, die gleichwohl die nationalistischen Gefühle nicht befriedigten. In den Wahlen verloren die Liberalen (aber auch die Rechtsextremisten!) massiv; Gewinner waren die Sozialisten. Das war für Italien tragisch, weil diese sich an der UdSSR orientierten und an die baldige Revolution glaubten, wodurch sie in Toozes Erzählung den elektoral besiegten Faschisten eine Wiedergeburt als Kämpfer gegen den Sozialismus ermöglichten.
In Deutschland demgegenüber sah sich die neue Regierung dem Erwartungsmanagement ausgesetzt. Besonders die SPD war gespalten. Tooze zeigt deutlich auf, wie etwa Scheidemann sich und einen Flügel seiner Partei rhetorisch in eine Sackgasse manövrierte. Viel lobende Worte hat er Erzberger, dessen Realismus und Pragmatismus am Ende als korrekt interpretiert wurde, selbst von Nationalisten wie Stresemann oder Brockdorff-Rantzau. Seine Nachforschungen überraschten Tooze insofern, als dass die deutsche Regierung sehr viel Energie in die Frage investierte, ob man nicht unterschreiben und sich den Alliierten preisgeben sollte. Tooze verwirft das als verheerend und betont einmal mehr, wie viel Glück die Deutschen mit dem Waffenstillstand hatten, weil es ihren Staat überhaupt gerettet hatte. Freilich sah man das im Land anders; die Regierung setzte sich an die Spitze eines „choreographierten“ Aufruhrs gegen den Vertrag. Nicht, dass es viel geholfen hätte: bei den Wahlen 1920 wurde die Regierung dezimiert. Dazu kam, dass die Überlegung einer Fortsetzung des Krieges einen Putschistenkern schuf, der mit Kapp 1920 und später immer wieder die Weimarer Republik herausforderte.
So rettete der Waffenstillstand die Souveränität Deutschlands und machten Versailles zu einem sehr großzügigen Frieden …
Oh prima, ich akzeptiere diese in der Historie ziemlich einmalige Position mal zum Nennwert. Dann war der Frieden von 1870/71 noch deutlich grosszügiger und Frankreich hätte sich mit dem Verlust des Elsass einfach abfinden sollen, womit einer der Hauptgründe für WW I entfallen wäre? Das eröffnet völlig neue Perspektiven!
Gruss,
Thorsten Haupts
1870/71 und 1918 scheinen mir wahrlich nicht vergleichbar. Aber du liest das Buch ja selbst, vielleicht überzeugt dich die Argumentation ungekürzt mehr. Bin gespannt.
Die Zerstoerungen waren in WK I ungleich viel groesser.
Einige interessante regional- und sprachgeschichtliche Infos:
Frankreich verlor nicht nur das Elsass sondern auch einen Teil Lothringens, eine grosse Stadt ist hier Metz. Im Elsass wurde bis zum WK II noch ueberwiegend Deutsch gesprochen, in Lothringen schon im 19. Jhdt weit ueberwiegend Franzoesisch, es war halt eine industrialisierte Region mit viel Zuwanderung. Letzteres fuehrte dann nach 1870/1 wiederum auch zu vielen deutschsprachigen Migranten. Im gesprochenen Deutsch dominierte 1870 bis 1918 im Elsass der Dialekt und in Deutsch-Lothringen Hochdeutsch. Aus aktueller franzoesischer Geschichtsschreibung hoere und lese ich immer wieder, dass sich die elsaessischen Deutsch-Sprecher eher Frankreich als Deutschland zugehoerig fuehlten.
In Frankreich konnten sich Forderungen nach dem Rhein als Ost-Grenze nie durchsetzen, weil sich die Bevoelkerung der Pfalz, des Rheinlandes und des Saarlandes eine starke deutsche Identitaet hatten.
Pff, das lag mehr daran, dass sie es nicht geschafft haben, weniger an der deutschen Identität.
Im Saarland wohl doch, in zwei Volksabstimmungen mit klarem Ergebnis. Mit den Lothringern als Franzosen kommen die gut klar. In Metz spricht kaum mehr wer Deutsch.
Volksabstimmungen Saarland: Die eine war 1935, ich weiß nicht, wie weit du die zählen willst. Die andere 1955 betraf nur das Saarstatut, das abgelehnt wurde. Über einen Beitritt zur BRD wurde nicht abgestimmt.
Regionale Details sind in jedem Fall stark.
In Südtirol wird sehr viel Deutsch gesprochen, aber im Elsaß heute eben nicht mehr.
https://www.deutschlandfunk.de/elsaesser-verlernen-ihre-sprache-100.html
Die haben freiwillig ihre deutschen Wurzeln abgelegt und in Südtirol nicht so. Im Saarland haben die sich 1935 und 1955 sehr deutlich für die Zugehörigkeit zu Deutschland / Bundesrepublik ausgesprochen.
Klar, aber eine Volksabstimmung im Elsass hätte auch was anderes ergeben als die Grenzen von 1871.
Tooze stellt weitgehend anerkannte Sichtweisen auf den Kopf: Versailles als „großzügigen Frieden“ und Keynes als „Hauptverantwortlichen für den Reparationsdiskurs“.
Bin sehr gespannt auf die Reaktion von Kommentatoren, die sich besser auskennen als ich.
Ne, sorry, das war blöd formuliert von mir mit Keynes. Er sagt dezidiert nicht, dass er hauptverantwortlich für den Diskurs ist, sondern nimmt ihn und sein Buch als Repräsentant einer bestimmten Haltung. Und Keynes fungierte für die deutsche Regierung als Kronzeuge. Er gibt ihm schon einen großen Einfluss, aber bei weitem nicht ausschlaggebend.
Versailles war ein großzügiger Friede, verglichen mit 1945 (der auch unerwartet großzügig war, dank des Kalten Kriegs). Das ist übrigens keine Sicht der Dinge, die Tooze exklusiv hätte.
Du teilst sie offenbar und ich frage mich, warum. Keynes ist mir in Erinnerung als scharfer Kritiker des Vertrags, vor allem wegen der Reparationen und deren politischen Folgen. Was sich ja leider als prophetisch erwies. Kronzeugen können auch richtig liegen.
Tooze argumentiert, dass Keynes übers Ziel hinausschoss. Was ja auch stimmt; die Republik konnte die Reparationen ja durchaus tragen.
Versailles war nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts kein großzügiger Frieden!
Frankreich wurde durch den Sieg in WK I ökonomisch viel stärker geschwächt als durch die Niederlage 1870/1. England wurde ökonomisch auch stark geschwächt.
Völlig korrekt, aber der erste Weltkrieg war auch kein Krieg nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts. Und Tooze verwirft auch den Vergleich mit Talleyrand und Frankreich 1814/15. Er argumentiert, dass dieser Frieden ja mit einem restaurierten Bourbonenregime und nicht mit dem revolutionären Frankreich geschlossen wurde.
Ich werd´s ja selber noch nachlesen, trotzdem:
Völlig korrekt, aber der erste Weltkrieg war auch kein Krieg nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts.
Wenn dem so ist, fehlt also am Ende des Ersten Weltkrieges absolut jeder Masstab, um einen Frieden als „grosszügig“ zu beurteilen! Dann ist das „grosszügig“ nur die persönliche Wertung des Autors ohne historische Belege. Und der werde ich jederzeit widersprechen.
Gruss,
Thorsten Haupts
Bin gespannt was du dann nach der Lektüre sagst.
Ich auch. Etablierte historische Sichtweisen in Frage gestellt zu sehen, ist spannend. Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, es geschieht um seiner selbst willen. Um Aufmerksamkeit zu kriegen?
Klar, die Gefahr besteht immer. Und Revisionismus schießt gerne übers Ziel hinaus. Aber dann werden andere widersprechen.