Unter den Materialien im Deutsch-Abitur 2024 war eine Rede von Olaf Scholz zum Nachhaltigkeitstag 2022, die mich nicht mehr loslässt, seit ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, sie für die Korrekturen bearbeiten zu dürfen. Ich fand in dieser Rede viele Elemente, die sowohl typisch für Scholz im Speziellen als auch für Deutschland im Allgemeinen sind. Sie scheint mir daher ziemlich geeignet, einen Blick auf die Mitte-Politik der Gegenwart und ihre spezifischen Mentalitäten zu werfen.
All das Wissen, all die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, all die Technologien, die wir entwickelt haben, waren ja nie dazu da, um die Vergangenheit zu konservieren, sondern um darauf aufzubauen und Ideen für ein besseres Morgen zu entwickeln. Genau das bedeutet, vereinfacht gesagt, Nachhaltigkeit: heute schon an morgen zu denken, an übermorgen, an nächstes Jahr oder an die Zeit in 10, 20, 30 Jahren. Und heute schon die richtigen Lösungen zu finden, damit die Art, wie wir jetzt leben, nicht zum Nachteil künftiger Generationen wird. […]
Scholz bedient hier ein klassisch sozialdemokratisches Zukunftsbild: Morgen wird besser als heute, daran arbeiten wir. Das war schon zu Bebels Zeiten so und hat sich als grundlegende Linie eigentlich nie wirklich geändert, wenngleich seit den frühen 2000er Jahren keine allzugroße Überzeugung mehr dahintersteht. Die SPD ist, auch wenn Scholz das hier bestreitet, mittlerweile viel mehr mit Konservieren beschäftigt. Da besteht auch der große Überlapp der CDU, wie ich in meiner Analyse zu den neuen politischen Lagern schon vor Jahren erklärt habe. Auf der anderen Seite versucht Scholz, den positiv besetzten Begriff der „Nachhaltigkeit“, der ohnehin praktisch inhaltsleer ist (eine reine Marketingphrase, zur Sinnlosigkeit breitgetreten) nun mit der eigenen Politik zu verknüpfen, indem er ihn einfach als deckungsgleich definiert. Das geht angesichts seiner Leerheit ziemlich leicht.
Es geht. Veränderung ist möglich, wenn wir Dinge umdenken und vor allem umsetzen.
Veränderung ist möglich, wenn man verändert. Die erste Regel des Tautologieclubs ist die erste Regel des Tautologieclubs.
Dafür sind aus meiner Sicht drei Sachen notwendig, die Sie alle hier auch schon erfolgreich machen. Das Erste ist, dass wir uns klare Ziele und auch Etappenziele setzen. Das machen wir mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 orientiert und die wir auch kontinuierlich weiterentwickeln – ganz konkret erst vorgestern im Bundeskabinett.
Im Ziele setzen sind wir großartig. Das machen wir seit den 1990er Jahren, vor allem im Bereich des Klimaschutzes. Da wird ein Ziel nach dem anderen gesetzt, gerne auch Etappenziele. Und dann werden diese Ziele „kontinuierlich weiterentwickelt“, sogar „ganz konkret“. Aber letztlich ist das alles nur Absichtserklärung, bedrucktes Papier. Vom ach so wichtigen „umsetzen“ ist hier wenig zu sehen.
Vor allem haben wir uns vorgenommen, dass Deutschland bis 2045 eines der weltweit ersten klimaneutralen Industrieländer wird und dass wir schon 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. Vergleichbar ist die Dimension dieser Aufgabe wohl nur mit der ersten industriellen Revolution, die in Deutschland vor über 200 Jahren auch hier an Rhein und Ruhr begann. So wie damals führt der Weg in eine Zukunft ohne fossile Brennstoffe über die Förderung von Innovation und über Investitionen in eine neue Infrastruktur. Genau daran arbeiten wir.
Die Struktur der Rede ist immerhin konsistent; hier kriegen wir nun das Ziel und „auch ein Etappenziel“. Der Hinweis auf die Größe der Aufgabe passt aber überhaupt nicht zum restlichen Turnus der Rede. Die Ziele 2045 und 2030 sind ja nicht neu, aber Scholz erweckt strukturell den Eindruck, als sei genau das der bahnbrechende Entwurf aus dem Bundeskabinett. Wenn es allerdings eine riesige Erfolgsmeldung ist, Ziele noch einmal neu zu formulieren – Entschuldigung, „kontinuierlich weiterzuentwickeln“ – dann ist das nicht gerade berühmt.
Russlands brutaler Angriffskrieg auf die Ukraine, Putins Einsatz von Energie als Waffe, all das bestärkt uns darin, dabei noch schneller, noch entschlossener, noch innovativer vorzugehen, um unabhängig zu werden von fossilen Brennstoffen. Und das geht. Wer hätte noch vor einigen Monaten gedacht, dass Russland seine Gaslieferungen vollständig einstellt und wir trotzdem voller Zuversicht sagen können: Wir kommen wohl durch diesen Winter.
Zuerst einmal das Positive: der Versuch, die Entkopplung von Russland als Erfolg zu verkaufen, ist völlig richtig und hätte von der Ampel (der gesamten Ampel!) wesentlich offensiver verkauft werden müssen. Als Positivbeispiel taugt das allerdings für das Thema nicht. Während die rasche Entkopplung von Russland ein wirtschaftspolitischer und -stragegischer Erfolg war, hilft sie für das Thema von Scholz‘ Rede und sein Ziel (und Etappenziel, nie das Etappenziel vergessen!) nicht. Denn ob das Erdgas, das wir verbrennen, aus Qatar oder Russland kommt, ist für das Klima völlig egal (oder über Kasachstan doch aus Russland, oder was auch immer die aktuellen Schattenwege sind). Die anaphergeladene Trias des „noch schneller, noch entschlossener, noch innovativer“ verpufft so auch. Denn aktuell sind wir weder schnell (das zu behaupten erfordert schon echte Chuzpe) noch entschlossen (bei was bitte?) noch innovativ (auf welchem Feld?). Es ist leere Autosuggestion, die kaum irgendeine rhetorische Kraft entfalten kann.
Wir haben die nötigen Gesetze auf den Weg gebracht, um Tempo zu machen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht mit Details und gesetzgeberischen Finessen von Frühling-, Sommer- und Herbstpaketen langweilen. Aber was ich schon sagen möchte, ist: Wir machen das jetzt. Die Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien haben wir vereinfacht und beschleunigt. Gesetzliche Hürden sind abgeräumt, neue, höhere Ausbauziele stehen fest, damit jeder planen kann.
Wieder steht die beschworene Größe der Aufgabe in einem absurden Gegensatz zur Kleinteiligkeit der stolz vorgetragenen „Erfolge“. Mich erinnert das an den Wahlkampf 2017, als Merkel und Schulz im TV-Duell über irgendwelche Details zu Einreiseverordnung 421/b Paragraph 2 stritten, während die AfD mit der grundsätzlichen Thematisierung des Migrationsthemas ihren Erfolg feierte. Ähnlich ist das auch hier: was ist denn nun das Konzept, um die „wohl nur mit der Industriellen Revolution“ vergleichbare Aufgabe anzugehen? Da wird ein Genehmigungsverfahren beschleunigt. Und neue Ziele wurden festgelegt, nie die Ziele vergessen! Dieser Gegensatz von Aufgabengröße und Maßnahmen ist so augenfällig, dass einem wuschig werden kann.
Wir stehen zu unseren Klimazielen ohne Wenn und Aber. […]
Muss man das überhaupt kommentieren? Wenns und Abers dominieren die komplette Politik, gerade auch die der SPD.
Das Zweite ist, dass wir Dinge gemeinsam anpacken, dass wir auch hier die Technologien nutzen, die es gibt und die uns helfen, uns besser zu vernetzen. Denn gerade bei einem so umfassenden Thema wie Nachhaltigkeit kommt man am besten voran, wenn ganz unterschiedliche Akteure und Disziplinen an einem Strang ziehen. […]
Ich sag es immer wieder, Scholz ist Merkel 2.0. Diese Rhetorik zeigt das mehr als deutlich: „gemeinsame Lösungen“ war immer Merkels Mantra. Gemeinsames Anpacken ist es bei Scholz, oder an einem Strang ziehen (metaphorisch zieht er wohl einen Schutzhelm auf, der alte Malocher!), aber das Prinzip bleibt dasselbe: das Beschwören von Gemeinsamkeit (von wem, mit wem?) verteilt die Verantwortung auf alles und jeden. Alle Politiker*innen, die Behörden, die Wirtschaft und nicht zuletzt die Bürger*innen, die hoffentlich alle regelmäßig den CO2-Fußabdruck berechnen und dann gemeinsam daran arbeiten, den zu reduzieren, indem sie ohne Wenn und Aber nachhaltig an Morgen denken. Was für eine leere Phrasendrescherei. Was unter Merkel noch als stark unterdurchschnittliche Politrhetorik fungieren konnte, aber immerhin das Lebensgefühl der Deutschen traf, ist heute nur noch daneben.
Auch wir als Bundesregierung sorgen für bessere Vernetzung auf ganz unterschiedlichen Ebenen. International haben wir beim G7-Gipfel, dem Gipfel der wirtschaftsstarken Demokratien, im Sommer in Elmau den Grundstein für einen weltweiten offenen Klimaclub gelegt. Auf der kürzlich zu Ende gegangenen Zusammenkunft, der Klimakonferenz in Scharm El-Scheich, sind weitere Unterstützer hinzugekommen. National haben wir im Herbst gemeinsam mit den Ländern ein Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit gestartet, das der Rat für nachhaltige Entwicklung jetzt aufbaut. Damit existiert nun endlich eine Plattform, die alle Nachhaltigkeitsinitiativen in Deutschland bündelt und miteinander verbindet, von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern über Vereine, Kommunen, Wohltätigkeitsorganisationen, insgesamt die Politik bis zu Wissenschaft, Sport und Wirtschaft. Wenn Sie so wollen, haben wir uns dabei einfach Sie und Ihre Arbeit hier zum Vorbild genommen.
Und wieder: wir müssen an einem Strang ziehen und anpacken, und dafür haben wir…mehr Teilnehmerländer an der G7? Ein Netzwerk aufgebaut, das vermutlich genauso irrelevant ist wie alle weiteren Netzwerke? Eine Plattform, die „Initiativen bündelt“? Läuft vermutlich auf Moodle, so wie ich den Laden kenne. Und dann nehmen wir uns ein Vorbild an der Zivilgesellschaft, wie auch immer das funktionieren soll. Klimaschutz ist, ich zitiere den Kanzler, „wohl nur mit der Industriellen Revolution vergleichbar“, und zur Lösung orientieren wir uns am Sportfest vom TV Hinterkuckucksheim?
Mein dritter und letzter Punkt, wie wir vom Umdenken auch zum Umsetzen kommen, ist: Wir müssen Nachhaltigkeit anders erzählen. Mich hat es jedenfalls nie überzeugt, Nachhaltigkeit automatisch mit Verzicht gleichzusetzen. […] Wachstum und Fortschritt sind in uns angelegt, aber nicht als ein Weniger, sondern vor allem als smarter und besser. Genau das bedeutet doch nachhaltiges Handeln. Deshalb ist Nachhaltigkeit auch der Schlüssel für Wachstum und Fortschritt, der Schlüssel für langfristigen Erfolg und für die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Absage an Degrowth-Konzepte ist von einem Sozialdemokraten wenig überraschend, aber in der Politik Konsens. Soweit gibt es wenig Neuigkeitswert. Auch hier werden aber wieder vor allem Schlagworte produziert: „smarter und besser“ müssen wir werden, „genau das“ ist Nachhaltigkeit. Und da dachte ich, Nachhaltigkeit wäre „an morgen denken“, aber wie gesagt, der Begriff ist eh völlig sinnentleert. Und diese Nachhaltigkeit, von der völlig unklar ist, was sie eigentlich genau ist, ist dann der Schlüssel für alles Mögliche; Wachstum und Fortschritt, langfristigen Erfolg und die Transformation. Das ist super, denn wenn ich nur „smarter und besser“ sein muss, gilt die oberste Merkel’sche Regel: nichts muss sich ändern. Und das ist genau der drängende Wunsch, die größte Motivation eines Landes, in dem jede noch so kleine Änderung als unzumutbar empfunden wird. Diese Volksseele streichelt Scholz mit seiner Botschaft. Die magische Kraft des Ziele setzens durch die Politik wird – wie auch immer – Fortschritt und Wachstum auslösen, diese produzieren langfristigen Erfolg, und der wiederum transformiert unsere Gesellschaft. Dahinter steht genau gar nichts. Es ist das Straße-Hinuntertreten der metaphorischen Dose.
Und noch einen Grund gibt es, warum Verzicht in einer klimaneutralen Welt uns dem Erreichen der Entwicklungsziele nicht wirklich näherbringt: Die Staaten Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik werden nicht auf ihr gutes Recht verzichten, Wohlstand zu erreichen, wie er für uns selbstverständlich ist. Ein solches Wachstum aber übersteht unser Planet nur, wenn wir Wachstum und Klimaschutz in Einklang bringen. Und auch das geht. Mehr noch: Mit unserer starken Maschinenbau-, unserer Chemie- und Elektroindustrie und unserem Know-how bei Mobilität und grünen Technologien, mit Ideengebern und Vorreitern wie den Preisträgern und Nominierten des heutigen Abends haben wir beste Chancen, hier in Deutschland die Technologien zu entwickeln und in die Breite zu tragen, die weltweit für die Transformation gebraucht werden. Davon profitieren dann letztlich auch alle.
Scholz spricht hier einen wunden Punkt an, denn die Länder außerhalb des Westens sind selbstverständlich nicht bereit, auf Entwicklung zu verzichten. Scholz hat noch wenige Sätze vorher erklärt, dass wir auf unserem Wohlstandsniveau das keinesfalls tun werden, warum also um Gottes Willen sollten die das denn dann tun? Aber was folgt, sind wieder nur Binsen. „Wachstum und Klimaschutz in Einklang bringen“ klingt super, nur…wie? Ziele und Etappenziele, klar, und alle gemeinsam an einem Strang ziehen.
Dass Deutschland davon profitieren kann, Technologie zu exportieren, ist auch keine bahnbrechende Erkenntnis. Wir „haben eine Chance“ die zu entwickeln und „in die Breite zu tragen“, nur wie das genau gehen soll, ist völlig unklar. Die strategische Schwäche Deutschlands, Wirtschaftspolitik überhaupt nicht als gestaltungsfähiges Feld zu begreifen, zeigt sich einmal mehr. Ob in der völlig unzureichenden Förderung von Startups oder der Sabotage der Energiewende ist, Deutschland wird, solange es das nicht als konkretes staatliches Projekt begreift (und ein Etappenziel formuliert!) niemals erreichen.
Das ist das Ziel, um das es gehen muss: gemeinsam mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, weltweit und zum Nutzen aller. […]
Umd zum Abschluss noch mehr Nachhaltigkeit und Gemeinsamkeit. Weltweit! Im Sportverein um die Ecke.
Und damit sind wir am Ende der Rede angelangt. Ein Musterbeispiel für die Scholz’sche wie die deutsche Mentalität.
Vielen Dank für den schönen, milden Rant. 🙂 Scholz ist das perfekte Abbild einer ratlosen, ermatteten Partei. Wenn die SPD sich nicht selbst bald als fokussierte Nischenpartei neu erfindet, kann sie endgültig weg.
Sehr gerne, danke 🙂
Unabhängig von der hübschen Kritik – der ich zustimme – ist für mich völlig offen, welchen Erkenntnisgewinn man aus der 08/15-Rede eines Politikers in einer Mediendemokratie ziehen will und kann? Ausnahmereden demokratischer Spitzenpolitiker kommen in jeder westlichen Demokratie vielleicht einmal pro jahrzehnt vor? Der ganze Rest an Reden (besser: öffentliche Ansprachen) dient nur dazu, die eigenen Anhänger nicht zu verärgern und den politischen Gegner nicht zu motivieren. Ja, das war in Deutschland tatsächlich mal anders, hat sich aber seit Beginn der neunziger als Standard eingebürgert.
… nichts muss sich ändern. Und das ist genau der drängende Wunsch, die größte Motivation eines Landes, in dem jede noch so kleine Änderung als unzumutbar empfunden wird.
Kleine Korrektur: Das gilt für die grosse Mehrheit der Menschen, weltweit und zeitalterunabhängig, in (halbwegs) guten Zeiten. Eine Menschheitskonstante. Das exakte Gegenteil wird übrigens in Krisenzeiten wahr, und Scholz hat offenbar das Skript für „Krisenkanzler“ noch nicht bekommen 🙂 .
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich war glaube ich hauptsächlich getriggert, dass ich mich wegen des Abis mit dem Mist beschäftigen musste 😀 Dabei fiel mir das eben alles auf und ich hab es in einen Post verwurschtelt. Dass politische Rhetorik praktisch belanglos ist, ist ein langer Trend. Vor allem Merkel war da massiv ein Qualitätsverlust (als Ära, nicht nur als Person).
Uiiii, mal ein Rant, bei uns älteren Herrschaften auch Jeremiade genannt. Und so was Ähnliches mit einem anderen ideologischen Ansatz dann auch aus der Perspektive von Herrn Pietsch. Pluralismus, gut so, aber immerhin hier mit der Gemeinsamkeit des Antiampelanischen.
Aber hier mein Metapluralismus^: Die Ampel ist vielleicht nitt so richtig schön, aber ein gewisses Verständnis für die extremen Schwierigkeiten beim Ampeln ist auch nicht falsch.
Hätte da ein paar Vorschläge auf Lager: Zum Beispiel, dass wir die erste Nachkriegsregierung haben, die unter weimaresken Bedingungen am Ruder ist. Keine Volksparteien mehr, 30 % (wurde bei der Bu-Wahl nicht erreicht) gelten bei den Unionisten heutzutage als riesiger Wahlsieg (früher hieß das mal Desaster), bei den Sozen, darf’s auch deutlich weniger sein , um bereits Freude aufkommen zu lassen. Erstmals in der Wahlgeschichte seit 1949 haben die ehemals „großen Volksparteien“ bei einer Bu-Wahl keine Stimmenmehrheit (knapp, und bei den Mandaten recht’s noch). Nach den Verhältnissen der Europawahl würde es auch bei der Mandatsmehrheit eng. Das war früher mal so ab 70 % aufwärts, locker bis zu 85, 90. Das sind erdbebenartige Wandlungen und von den guten, alten Gewohnheiten der Bonner und frühen Berliner Republik ist nicht mehr viel übrig. Anstelle der Volksparteien hat das Volk mittlerweile das Modell der postmodernen Privatpartei entdeckt und das verbindet sich mit einem durchaus anderen Politikverständnis, nämlich dem der individuellen Bedienung, was wiederum logisch zu Parteien im Dutzend führt.
All diese und weitere Novitäten haben eine häßliche Nebenwirkung: Die Mehrheitsbildung wird extrem schwierig, um nicht zu sagen nahezu unmöglich. Dabei wird die extremistische Versuchung immer interessanter und attraktiver, denn die neumodischen Privatparteien wiederum führen zu einem eigentlich paradoxalen Wunsch: Wir brauchen da mal jemanden, der richtig aufräumt und das „Volk“ vertritt. Gleichzeitig sind milieuübergreifende Volksparteien mega out. Passt alles nicht gut zusammen.
In dieser Gemengenlage ampelt es sich halt extrem schwierig. Der Scholz kriegt medial seine tägliche Tracht Prügel, schön. Vorschläge, wie man aus völlig heterogenen Einzelteilen Mehrheiten basteln soll, kommen allerdings eher selten. Ich hab da auch keine.
Völlig bei dir. Und ich bin jetzt wahrlich nicht jemand, der ständig auf die Ampel einschlägt; die haben es echt schwer. Ich behaupte eigentlich schon, da einen fairen Blick zu haben. Aber zu Begeisterungsstürmen reißt sie mich jetzt auch nicht eben.
Ich hab in meinem Leben viele wissenschaftliche Publikationen geschrieben. Meine Erfahrung ist: Wenn man tolle Ergebnisse und eindeutige Daten hat, dann schreibt sich das Paper von selbst. Wenn die Ergebnisse hingegen langweilig und die Daten unklar und interpretationsbedürftig sind, dann ist es furchtbar schwierig die Studie als Erfolgsstory zu verkaufen. Die Titel werden dann länger. Die Texte werden länger. Das wolkige Blabla nimmt zu. Statt der Resultate und ihrer Bedeutung für das hier und heute steht das mögliche Potential der Resultate im Kontext einer noch nicht stattgefundenen Zukunft im Vordergrund.
Mein Eindruck von Scholz’ Rede ist, dass sich diese Erfahrungen aus der Wissenschaft auf die Politik übertragen lassen …
Amüsant zu lesen und ich gebe dir in dem Grundproblem recht. Allerdings habe ich noch einige eigene Beobachtungen:
1) Was du schreibst, passt in meinen Augen zu einem großen Problem der SPD, das für mich auch bei der letzten Wahl gezeigt hat: Es ist schlichtweg unmöglich, ein starkes „elevator-pitch“ Argument FÜR die Partei zu formulieren. Sie dümpelt so im „Das beste was man über sie sagen kann, ist, dass es nicht viel katastrophal schlechtes gibt“ Bereich vor sich hin.
2) Der Kontext der Rede sollte zumindest berücksichtigt werden: Eine Festveranstaltung zur Vergabe des deutschen Nachhaltigkeitspreises die von der Bundesregierung ausgerichtet wird. Und die die breite Öffentlichkeit exakt null interessiert. Wikidoxxing ergibt die Preisträger 2022: viele mittelständische Unternehmen unter denen die Klöckner SE herausragt, ein paar Promis wie Albert von Monaco (Feudalherrscher) oder Michael Kelly (Folksänger); ein „richtiger“ Wissenschaftler war auch dabei ( Michael Braungart).
3) Deshalb auch das von dir als beliebig geschmähte Thema Nachhaltigkeit. Hätte Scholz über Gummistiefelwerfen reden sollen?
4) Auffällig ist, dass der größte Teil seiner Rede darin besteht, die Erfolge seiner Regierung (die eine zu dem Zeitpunkt eine mittelmäßig-durchwachsene Bilanz vorzuweisen hatte) zu präsentieren. Selbst in der Einleitung (Danksagung) hat er peinlicherweise sich selbst „geschickt“ hineingepackt.
5) Meta: Die Tatsache, dass eine ansonsten sprachlich, strukturell und inhaltlich uninteressante Selbstbeweihräucherungsrede des Regierungschefs als Prüfungsaufgabe hergenommen wird, hat ein „Geschmäckle“.
1) Total! Das geht seit mindestens 2013 zu. „SPD – Weniger scheiße als die anderen“, bester Wahlslogan…
2) Und wären seine anderen Reden besser, würde ich das sofort zugestehen 😀
3) Neeee, mein Problem ist ja weniger das Thema per se als die Leere des Begriffs. Er füllt den ja auch nicht mit was Konkretem. Aber hast wohl Recht, da kann er nicht so viel für.
4) Jepp.
5) Wieso? Die Prüfung erlaubt völlig die Positionierung DAGEGEN, so wie ich das auch gemacht habe. Er ist halt gerade Regierungschef. Vor ein paar Jahren wäre da eine Merkelrede gewesen. Das hat keinerlei Gschmäckle.