Anders als in der Autoindustrie sah die Lage in krisengebeutelteren Branchen aus. Hierbei sieht er drei Problemkonstellationen. Zuerst die Bildung von Notgemeinschaften, die etwa tarifliche Untergrenzen freiwillig unterschritten oder die Produktion demokratisch weiterführten, obwohl die Unternehmensleitung das nicht mehr wollte, alles mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Die zweite Kategorie war der „mühsame Auszug aus dem Patriarchat“ (Kotthoff), das Erkämpfen von pluralistischen Beteiligungsrechten. Zum dritten beschreibt er das Auseinanderbrechen bestehender Sozialstrukturen bei zu starken personellen Einschnitten, das dann die Übernahme innovativer Methoden wegen des Misstrauens gegen das ortsfremde Managment nicht ermöglichte.
Raphael endet das Kapitel mit einer Betonung der Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen für den wirtschaftlichen Erfolg, die oft übersehen werde. Die Anerkennungskämpfe der Deindustrialisierungszeit brachten vor allem Gewinne für bisher marginalisierte Gruppen (vor allem Arbeitsmigrant*innen). Anders als von marxistischen Theorien prophezeit habe es auch keine weitgehende Zerstörung der Sozialordnungen durch die neuen Managmentmethoden gegeben, die zwar oft Druck und Innovation brachten, aber nicht zwangsläufig in neoliberaler Ausbeuterei mündeten. Gleiches gilt für technische Innovationen: sie „gaben den Entwicklungen betrieblicher Sozialordnungen keine Richtung vor“. Besonders erfolgreich seien die Bündnisse für Arbeit gewesen, die es in allen drei Ländern gab. Mit das erfolgreichste Modell war das der „Koevolution“, der betrieblichen Mitbestimmung.
Verschlechternde Betriebsordnungen findet Raphael vor allem in krisengebeutelten Betrieben, in denen die Unternehmensleitung autokratisch („Arbeitshäuser“, wir erinnern uns) die Ordnung aufrecht erhielten und ihre Vorstellungen durchsetzten. Hier standen sich Kapital und Arbeit scharf gegenüber und war die Stimmung schlecht. Insgesamt aber macht er, vielleicht überraschend, einen relativen Gewichtsgewinn pluralistisch-kooperativer Betriebsordnungen aus.
In Kapitel 8, „Industriedistrikte, „Problemviertel“ und Eigenheimquartiere: Sozialräume der Deindustrialisierung„, wirft er dann abschließend den Blick auf die Lebensbedingungen der Arbeitenden außerhalb der Betriebe. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung die Sozialräume nachhaltig geändert hat (was, anders als in den Industriebrachen der USA, in Europa zu weitgehender Umgestaltung und Orten der Erinnerungskultur geführt hat).
Besonders einschneidend sei die Schaffung neuer regionaler Disparitäten, besonders einschneidend im Nord-Süd-Gegensatz Großbritanniens. Auch der Gegensatz von Stadt und Land vertiefte sich. In Deutschland war die Lage ähnlich, wo 1990 zum Nord-Süd-Gefälle auch eines zwischen Westen und Osten hinzukam. Der deutsche Süden und Südwesten profitierten indes davon, dass Kohle und Stahl nie eine große Rolle gespielt hatten und die Transformation deswegen leichter zu verkraften war. Ähnliche Divergenzen finden sich auch in Frankreich. Besonders betroffen waren überall die monoindustriell geprägten Gebiete.
Raphael „zoomt“ nun näher an betimmte Industriedestrikte heran. Besonders erfolgreich waren etwa jene, die eine verwurzelte Hochqualitäts-Arbeitskultur besaßen. In anderen Regionen sorgte die Dominanz von Großkonzernen für eine klare Hierarchie mit zahlreichen abhängigen Zuliefererbetrieben. Gleichzeitig brachte die Transformationszeit eine Renaissance kleinerer und mittlerer Betriebe. Diese Neubildungen waren besonders in der BRD signifikant, während Großbritannien und Frankreich stärkere Deindustrialisierung statt Umbildungen erleben mussten. Oft waren die großen Automobilkonzerne die Fixpunkte dieser Entwicklung. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist auch der Wegzug der Angestellten und Facharbeiter aus den Städten in die Vorstädte (Suburbia).
Diese Entwicklung nimmt Raphael in einer zweiten Zoomstufe unter die Lupe. Er macht eine bestehen bleibende räumliche Trennung des Bürgertums, der Angestellten und den Arbeitenden aus; lediglich in Einzelfällen sei das Ideal sozialer Durchmischung erreicht worden. Gleichwohl änderten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitendenklasse massiv: die alten Elendsviertel verschwanden zugunsten der einheitlichen Betonkomplexe (die zwar unästhetisch, aber wesentlich komfortabler waren). Dieser Aufstieg in den Lebensbedingungen war direkt mit massivem sozialem Wohnungsbau verknüpft. Als dieser in den 1980er Jahren praktisch eingestellt wurde, endete auch der große Auszug des Proletariats in bessere Wohnverhältnisse. Stattdessen förderte der Staat, besonders unter konservativen Regierungen, den Erwerb von Wohneigentum.
Die Trends verliefen in den Ländern hierbei unterschiedlich: in Großbritannien etwa mit hohen Eigentumsquoten in engen Reihenhaussiedlungen, in der BRD mit Einzelhäusern und Doppelhaushälften bei höherem Mietanteil. Die Deindustrialisierung und das neue Leitbild des Wohneigentums veränderten die Wohnräume radikal. Einerseits entstanden die bürgerlichen Wohngebieten, andererseits die verwahrlosenden „Problemviertel“ der Unterschicht in den in der Boomphase errichteten Arbeitendenquartieren (paradigmatisch in den Pariser Banlieus verkörpert). Die soziale Durchmischung existierte zwar, allerdings nicht in den einstigen sozialdemokratischen Mustersiedlungen, sondern in den Randgebieten, in denen der Bausparvertrag regierte. Die alten Wohnviertel wurden ethnisiert, soziale Probleme und Migration untrennbar miteinander verbunden.
Die Migration war überhaupt ein wichtiger Aspekt. Der rund 15-17% betragende Anteil der Arbeitsmigrant*innen lebte oft lange in Provisorien und schaffte nur langsam, wenn überhaupt, den Aufstieg in bessere Quartiere. Die von den Regierungen erhoffte massenhafte Rückkehr blieb mangels Perspektiven aber auch oft unrealisiert. Je länger diese Zustände dauerten, desto weniger blieb ein Rückkehrwunsch erhalten (bei den türkischen Migrant*innen in Deutschland etwa sank er von 80% 1985 auf 20% 2005). Den Migrant*innen gelang auch nur selten der Weg in die Festanstellung. Diese Entwicklungen waren in Großbritannien sogar noch ausgeprägter und wurden von der Regierungspolitik aktiver befeuert; hier entstanden „Problemzonen der Dienstleistungsgesellschaft“.
Dieser Wandel der Sozialräume und die wachsende Bedeutung der Migrant*innen führte spiegelbildlich zu einem Verschwinden der klassischen Arbeiterkultur, ihrer Vereine, Organisationen und sozialen Netzwerke. Besonders in Krisenregionen lösten sich diese Milieus einfach auf. Die auf Werten ehrlicher Arbeit und Anstrengung beruhende „Malocher“-Kultur verlor vor allem in diesen Krisenregionen an Bedeutung – und gerade in diese zogen mangels Alternativen besonders viele Migrant*innen. In den kleinstädtischen Wohnquartieren blieben Sozialstrukturen eher bestehen, blieben aber regional bezogen und klassenübergreifend. Ebenfalls zerstörerisch auf diese Milieus und Wertestrukturen wirkten Managmentwechsel und Unternehmensreformen, die klassische Patriarchen durch gesichtsloses Managment ersetzte und betriebliche Sozialleistungen abschaffte.
Industrielle Sozialformen zogen sich so in die Randbereiche zurück, hörten aber nicht komplett zu existieren auf. Besonders, wo eine „untere Mittelschicht“ entstand (meist im Dienstleistungssektor beheimatet), blieben starke Strukturen erhalten oder bildeten sich neu. Die erhoffte Durchmischung blieb auch wegen der zunehmenden Bedeutung des Pendelns aus, das immer größere Ausmaße annahm. Das Verschwinden der monoindustriellen Gebiete sorgte auch für ein Verschwinden industrieller Ballungszentren, das nicht ausgeglichen wurde.
Im Schluss, „Die Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart?„, fasst Raphael wichtige Aspekte noch einmal zusammen. Erstens habe die Deindustrialisierung zum ersten Mal seit 1945 wieder klare Gewinner und Verlierer produziert; der „Fahrstuhleffekt“ des Booms hörte auf. Ab den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen sehr bescheiden, die Qualität der Arbeit aber nahm vielfach zu. Die britische Entscheidung zu radikaler Deindustrialisierung habe den sozialen Gegensatz im Land einerseits, aber auch den zwischen Insel und Kontinent andererseits bereits lange vor dem Brexit vertieft. Industrielle Arbeit sei dort am erfolgreichsten geblieben, wo technische Innovationen die Veränderungen herbeiführten. Die anhaltende Wirkung des Betriebs als positiver Bezugspunkt sei ein Beweis für die Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen, bei denen ein pluralisierend-kooperativer Trend zu beobachten sei. Andererseits war auch die Transformation von Betrieben in „Arbeitshäuser“ ein Teil dieser Realität.
Der „Abschied vom Malocher“ sei aber auch als sozialer Prozess zu begreifen, etwa durch die Verbreitung von Wohneigentum und den Abschied vom männlichen Ernährermodell. Der Anteil an Frauen an Fachkräften nahm langsam, aber beharrlich zu. Dazu komme eine Pluralisierung der Kultur durch die Einebnung der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur. Raphael schließt sein Buch mit der Feststellung, dass viel weitere Forschungsarbeit vonnöten sei und verteidigt seine Periodisierung 1970-2000 unter anderem mit dem Generationenargument (viele der ab 1970 Betroffenen gingen in Rente) und der Musealisierung der alten Industriekultur in den 2000er Jahren.
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Lutz Raphaels Werk scheint mir ein ähnliches Grundlagenwerk für die Epoche der Deindustrialisierung zu sein wie Osterhammels für das 19. Jahrhundert. Ich halte auch die Prämisse, dass in dieser Zeit eine Deindustrialisierung in Westeuropa (und Nordamerika) stattfand und dass diese einen entscheidenden Umbruch bedeutet, für kaum kontrovers. Die Begrifflichkeit klingt zwar drastisch, weil sie negativ aufgeladen ist; die gleichzeitige Transformation hin zur digitialisierten Dienstleistungsgesellschaft aber (die ja genau der Prozess ist, den der Ostblock genauso wie die Deindustrialisierung verpasste) ist ein elementarer Baustein um Verstehen unserer heutigen Welt. Ich empfehle Raphaels Buch daher vollumfänglich und bitte vorauseilend um Entschuldigung, wenn ich durch das Zusammenfassen vereinfachend oder irreführend war; das Werk ist ziemlich dicht geschrieben und nicht eben für das beiläufig-entspannende Lesen geeignet. Ich möchte die Rezension mit einigen eigenen Beobachtungen beschließen.
Der Punkt Raphaels, dass trotz des Verlusts des sozialistischen Klassenbewusstseins („Proletariat“) in der Wahrnehmung der unteren Schichten ein eher soziologisches bestehen blieb („Wir gegen die“), scheint mir gerade im Ignorieren dieser Wahrnehmung ein oft übersehenes Mosaiksteinchen in der Erklärung heutigen Elitenhasses zu sein, aus dem ja die AfD ihre Stärke bezieht. Vor allem sehe ich darin den häufigen Fehler, von der AfD (oder den Republicans oder Tories) als „neuer Arbeiterpartei“ zu sprechen; diese finden in jenen Milieus zwar durchaus Zuspruch, aber eben nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie es verstehen, diesen Gegensatz zu bedienen, den die Sozialdemokratie durch ihren Schulterschluss mit dem Kapital („Dritter Weg“), der paradoxerweise ja in den kooperativ-pluralistischen Betriebsordnungen gerade zum Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze gführt hat, erst freigegeben hat.
Ebenfalls unterschätzt scheint mir die Rolle der Frühverrentung als versteckte Subvention zur Erleichterung des sozialen Übergangs. Die Politik der Zeit verstand es, dass die Transformation nur dann möglich war, wenn der Übergang gleitend und abgefedert erfolgte (eine Erkenntnis, die der heutigen Politik mit dramatischen Folgen völlig abgeht). Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden; gleichzeitig aber halte ich das Fehlen eines Aufstiegs radikaler Parteien durch die gesamte Transformationszeit in nicht unerheblichem Maße auf genau diese Entwicklung zurückführbar. Das erfordert in meinen Augen eine wesentlich intensivere Beschäftigung.
Ebenfalls auffällig ist für mich das Wechselspiel zwischen der Expansion des Bildungssektors und der Transformation der Wirtschaft. Beide verstärkten sich wechselseitig. Die Wirtschaft erforderte einen immer besseren Ausbildungsstand, weil die Tätigkeiten individueller, verantwortlicher und komplexer wurden, während gleichzeitig das allgemeine Bildungsniveau immer weiter anstieg und einen Aufwärtsdruck erzeugte, der vermutlich auch maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die marxistischen Verarmungsprognosen nicht eintraten und eben nicht eine monokratische „Arbeitshaus“-Kultur entstand, sondern die Betriebsordnungen sich eher pluralisierten.
Bemerkenswert ist für mich zudem, auch wenn Raphael sich jeglicher Wertung enthält, dass das britische Modell im Vergleich nicht besonders gut aussieht. Die rapide Entmachtung der Gewerkschaften und forcierte Deindustrialisierung führte zu einem so großen Wohlstandsverlust, dass er von den Gewinner*innen der Transformation nicht wirklich aufgeholt werden kann. Demgegenüber ist es auffällig, welche positiven Effekte auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzerhalt das deutsche Mitbestimmungssystem besaß, weil es Exzesse beider Seiten – krassen Kahlschlag oder massive Streiks – vermied.
Auch ein wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf den heutigen Aufstieg der Rechtspopulisten, ist die Ambivalenz zwischen dem „Verlust“ schlechter Arbeit – also körperlich anstrengender, monotoner und gesundheitsschädlicher Arbeit – einerseits und der Identität als „Malocher“ andererseits. Die Deindustrialisierung und Frühverrentungswelle hatte für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mit Sicherheit positive Auswirkungen, auf die mentale Gesundheit aber nicht zwingend, weil die Identität als männlicher Alleinernährer und „Macher“ verschwand und dazu noch von Randgruppen wie Frauen und Migranten übernommen wurde.
Zentral für das Verständnis der gesamten Boom- und Transformationsära finde ich das Konzept des „Industriebürgers“. Es beschreibt ziemlich gut, welche Teilhabeerwartungen an das System gerichtet wurden und wo ein großer Teil der Zufriedenheit mit dem System diese Teilhabe und die damit verbundenen Leistungen erbrachten. Besonders relevant scheint mir die Sicherheit: in dem Moment, in dem die Vollbeschäftigung verschwand, wurde Sicherheit zum obersten Wert der Beschäftigten (völlig nachvollziehbar), was deren Handlungen und Herangehensweisen erklärt. Die Sicherung von Beschäftigung wurde dadurch zu einem Element, das die Effizienz maßgeblich mitbestimmte: wo dies besser gelang, wie in der BRD, und die Industriebürgerschaft größeren Schichten offen blieb, war die Effizienz auch höher als in Ländern, die das wie Großbritannien nicht ermöglichten.
Zuletzt halte ich Raphaels Betonung der Bedeutung der Betriebsordnungen für wichtig, weil diese gerne hinter Kennzahlen verschwinden. Zwar mag es durchaus sein, dass man die Belegschaft eines Standorts um zwei Drittel kürzen kann und auf dem Papier trotzdem die Produktion aufrechterhalten wird; gleichzeitig führt dies aber zu einem solchen Moralverlust, dass eben diese Produktion gefährdet ist und dass die Arbeitenden zu passiven bis sogar widerständigen Elementen werden, die zwar „Arbeitshaus“-Abläufe leisten können, aber die in der globalisierten Wirtschaft der Wissensgesellschaft zunehmend gefragten individuellen und kooperativen Strukturen nicht leisten können und wollen.
„Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden“
Das ging von den Betrieben aus, wurde aber dem Rentensystem aufgebürdet – wie vieles andere. Anekdotisch: Techniker, berufslebenslang bei einem schwäbischen Mittelständler, in die Frührente gedrängt. „Eigentlich ist das Betrug, ich könnte noch voll arbeiten, jetzt krieg ich Geld fürs Nichtstun“.
Und jetzt wird geklagt über den hohen Milliarden-Zuschuss an die Rentenversicherung. Würden die gesellschaftlichen Aufgaben der Renenversicherung sauber herausgerechnet und durch Steuern finanziert, stünde die besser da.
Genau, daher nenne ich es eine tickende Zeitbombe. Aber: ohne die tatkräftige Unterstützung der Politik wäre das nicht möglich gewesen. Vor allem Schwarz-Gelb, in dem Fall. War für alle Seiten super: die Unternehmen können das Personal abbauen, die Politik hat keine Arbeitslosenzahlen, die Schulden steigen auch nicht. Die Rechnung zahlen andere, später. Und dann kann man das auch noch benutzen, um gegen hohe Lohnnebenkosten zu agitieren. Win-Win-Win.
In den Neunzigerjahren waren Frühverrentungsprogramme sehr beliebt, die Politik hatte dafür die Tür ganz weit aufgestoßen. So bekam die Regierung die seit dem Mauerfall extrem hohen Arbeitslosenzahlen etwas gemildert. Unternehmen nutzten das Instrument natürlich, die sonst fälligen hohen Abfindungen aufgrund langer Betriebszugehörigkeiten – damals lag die durchschnittliche Verweildauer mit über 20 Jahren doppelt so hoch wie heute – deutlich zu drücken. Das war wirtschaftlich.
Aber das Instrument beruhte auf Freiwilligkeit. Und die Behauptung, Arbeitnehmer seien gegen ihren Willen in die Frühverrentung gedrückt worden, ist geradezu abenteuerlich. In einem Land, in dem die Beschäftigten im Schnitt mit 59 Jahren in den Ruhestand gehen wollen, ist die Behauptung grotesk, zu müssten zum früheren Rentenbezug gezwungen werden. Wie beliebt ein frühes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ist, kann jeder an den Antragszahlen für die Rente mit 63 ablesen.
Die Frühverrentungsprogramme liefen Ende der Neunzigerjahre aus. Danach unternahmen die Gewerkschaften, vor allem die IG Metall, mehrere Anläufe bei der Politik, diese wieder aufleben zu lassen. Bei der Regierung Schröder biss man damit jedoch auf Granit. Erst die der IG Metall in tiefer Verbundenheit ergebene Andrea Nahles führte wieder ein Frühverrentungsprogramm ein – unter dem Beifall von Ihnen.
Als regionaler Finanzchef war ich Anfang der Nullerjahre regelmäßig mit dem Wunsch von Beschäftigten nach Altersteilzeit beschäftigt. Da das Instrument ohne Teilfinanzierung über die Sozialkasse extrem teuer ist, lehnte ich sämtliche Begehren ab. Auch als ich eine Restrukturierung mit dem Abbau von rund 30 Prozent der Beschäftigung verantwortete und managte, wurden nur Abfindungen gezahlt. Es gab keine Frühverrentung. Danach versuchten einige Arbeitnehmer, für sich die Altersteilzeit (Frühverrentung) zu erzwingen, in dem sie mit gezielten Fehlzeiten und Minderleistungen Druck aufbauten.
Es war damals der gleiche Personenkreis, der heute exzessiv die Rente mit 63 nutzt: Der Mittelbau der Beschäftigten, relativ gut situiert, nicht sonderlich abgearbeitet. Die Arbeiter, bei meinem damaligen Unternehmen die hart buckelnden Lagerarbeiter, hatten kein Interesse an einem vorgezogenen Ruhestand. Den konnten sie sich nämlich gar nicht leisten. Außerdem sind solche Leute meist schon mit Mitte / Ende 40 körperlich verschlissen.
Das ist ohnehin Geschichte, bis auf die Rente mit 63, die die Haushalte mit 36 Milliarden Euro jährlich belastet. Aber die wollen SPD und Grüne einfach nicht abschaffen. Menschen, die vor 25 Jahren in Altersteilzeit gegangen sind, interessieren heute das System nicht mehr. Entweder sind sie ohnehin tot und beziehen keine Rente. Selbst wenn sie noch leben, befinden sie sich ohnehin im normalen Rentenalter, die Zahlungen aus dem System wären also ohnehin fällig. Denn das Problem mit Frühverrentungen ist, dass die Rentenzahlungen früher beginnen und damit ein längerer Rentenbezug entsteht.
Der Staat ist übrigens das 1a-Vorbild, was aber für die Beamten im Blog kein Problem zu sein scheint. Frühpensionierungen wurden in den Neunzigerjahren exzessiv vorgenommen (und dankend angenommen). Bis heute gehen Staatsbedienstete früher in den Ruhestand als Beschäftigte in der Privatwirtschaft.
Die Leute wurden vor die Alternative Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung gestellt, ich denke, so grotesk ist das nicht.
Die Fakten:
– Ältere Beschäftigte haben (und hatten) nach Kündigungsschutzgesetz in Verbindung mit ein paar anderen Normen fast immer den höchsten Schutzstatus. Weisen sie eine lange Betriebszugehörigkeit auf, ist ihr Abfindungsanspruch sehr hoch. Bei geringer Betriebszugehörigkeit hatten sie ohnehin keinen Anspruch auf Altersteilzeit.
– 90 Prozent der Antragsteller wählten als Vollzeit weiterzuarbeiten und anschließend Teilzeit Null. D.h., die ATZler bezogen bei Null Arbeit für eine begrenzte Zeit weiter Arbeitslohn.
– Das „Wunsch“-Renteneintrittsalter lag auch in den Neunzigerjahren unter 60 Jahren. Frühester ATZ-Bezug lag damals so um 62 Jahre.
– Wer damals arbeitslos wurde, konnte als über 50jähriger 3 Jahre Arbeitslosengeld beziehen. Dazu kam ein hoher Abfindungsanspruch. Das Modell war durchaus für viele interessant, weshalb es der Gesetzgeber später einschränkte. Und es ist übrigens der wesentliche Grund, warum die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bei älteren Erwerbsfähigen so dermaßen unpopulär war.
Und wie erklärst Du die ganzen Frühpensionierungen im Staatsdienst? Der Staat kann ja schließlich Beamte gar nicht entlassen. Das passt nicht so ganz zusammen – Arbeitnehmer als Oper erpresserischer Unternehmen, aber beim Staat ist alles anders.
Die Behauptung ist zumindest fragwürdig. Man müsste a) die höhere Zahl an Renten- mit der korrespondierenden niedrigeren Zahl an Arbeitslosengeldbeziehern verrechnen. Und b) bedeuten längere Renteeinzahlungszeit häufig auch höhere Renten – auch das müsste man gegenrechnen.
Ich wäre gespannt auf eine entsprechende Gesamtrechnung – erst danach würde ich mich eventuell der Kritik anschliessen. Bis dahin ist das ein populistischer Schnellschuss.
Last but not least gibt es keine Verbindung aus der damaligen Frühverrentung mit den heutigen Problemen der Rentenfinnazierung, die ergeben sich im wesentlichen aus der Demographie und sind seit 40 Jahren absehbar, ohne dass die Politik irgendetwas wirksames unternommen hätte. Wieder einmal …
Für die heute noch mögliche Rente mit 65 erinnere ich gerne an die Bedingung dafür – 45 Beitragsjahre. Weshalb sich darüber auch am ehesten Leute echauffieren, die nach Studium und Weltreise dafür bis mindestens 70 arbeiten müssen.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich persönlich tippe auf 72 oder 73, aber ich werde erst darüber jammern, wenn ich absehen kann, wie hoch der Verschleiß bis dahin sein wird.
Im Schnitt schließt man hierzulande mit 22,5 Jahren die Ausbildung ab und hat dann schon 3 Jahre ein paar Prozentchen eingezahlt. Dann käme das ja knapp so hin.
Ich wüsst aber nicht, welche Partei ich wählen sollte in Rentenfragen, denn wie Sie ja gesagt haben, man redete hin und wieder über das Problem, setzte hier und da durchaus einige Regler (EIntrittsalter, Abzüge,…) anders, aber naja. Hat jemand vielleicht Ideen?
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Im Schnitt schließt man hierzulande mit 22,5 Jahren die Ausbildung ab
Ja. Mit „Bologna“ sogar Studiengänge. Das war zu meiner Zeit anders – da lag das Berufseintrittsalter bei Studenten AFAIR im Schnitt bei etwa 26.
Ich halte die Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren (!) anders als Stefan P. nicht für ungerecht.
Hat jemand vielleicht Ideen?
Jetzt? Nein. Das System wird vor die Wand fahren (hoffentlich nach meinem Tod) und dann neu aufgesetzt werden. Zeit für (radikale) Korrekturen wäre vor 30 Jahren gewesen, aber da überliess man sich dem Prinzip Hoffnung. Und das bei nicht mehr korrigierbaren Fakten (Demographie). Hat einen Stammplatz auf meiner länger werdenden Liste absoluten Politikversagens …
Gruss,
Thorsten Haupts
Ja, 45 Beitragsjahre finde ich eine Leistung (und Glück – keine längere Krankheit, Pflege etc.). Werde ich nicht mehr schaffen, aber ich rechne damit, mir was einfallen lassen zu müssen.
Leute meiner Generation werden das (System nicht mehr aufrechtzuerhalten) vermutlich erleben, weshalb mich ein FAZ-Kommentar neulich auch so geärgert hat, der sich – sinngemäß – über die langweiligen Jungpolitiker überheblich äußerte, was die jetzt schon an ihre Rente dächten, man selber habe das ja nicht getan, stattdessen sei man voller Leben gewesen und vital etc. etc. Tja. Perspektivenwechsel ist jedermanns Sache nicht.
Es ist völlig richtig, sich so früh wie irgend möglich um die eigene Altersversorgung zu kümmern. Meine Generation tat das unbedacht sorglos zu wenig. Der „Generationenvertrag“ wurde de facto in den achtzigern gekündigt.
Gruss,
Thorsten Haupts
Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden
Die Behauptung ist wohl erklärungsbedürftig.
Frühverrentung = Viele Rentner*innen, die entsprechend lange Bezüge bekommen
Wie gesagt: Die Kosten sind die zusätzlichen Jahre Rentenbezug. Die fallen aber beim früheren Renteneintritt an, also vorne. Wer mit 63 in Ruhestand geht, bezieht eben zwischen 63 und 67 zusätzliche Rente. Diese Kosten fallen der Allgemeinheit zur Last. Nach 67 fallen keine zusätzlichen Kosten an, schließlich hätte er ohnehin Rente erhalten.
Deswegen kostet uns heute die Rente mit 63 unendlich viel Geld, die Altersteilzeit von 1998 jedoch nicht.
Die Kosten sind die zusätzlichen Jahre Rentenbezug.
Exakt. Überschaubar und vor allem lange abgelaufen. Und ab 1997 wird das Bild auch dadurch anders, dass Rentenabschläge eingeführt wurden.
Summa summarum hat das Ganze mit den heutigen Rentenproblemen 0,0 gar nichts zu tun.
Behaupte ich doch auch gar nicht!!!
Ja sicher, kein Widerspruch. Aber das ist ja keinerlei Widerspruch zu meinem Punkt: es war teuer auf Kosten der Sozialsysteme.
Deine Kernthese ist, die Unternehmen hätten die Sozialkassen ausgebeutet. Unstrittig ist, dass es in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre ein „Jugendwelle“ gab, je jünger, desto besser. Unstrittig ist auch, dass Unternehmen interessiert waren, ältere Beschäftigte, die nicht mehr als produktiv galten, aus den Betrieben zu drängen.
Doch diese Phase endete mit dem Platzen der New Economy Blase. Eine schmerzhafte Erfahrung aus der Zeit war, dass es jungen Menschen eben daran mangelte und sie mit kritischen Situationen überfordert waren. War 2000 der U30jährige Bereichsleiter hipp, starb dieser Typus nach 2001 rasant aus. Heute schaffen es selbst Naturtalente selten vor Mitte 30 in herausgehobene Führungspositionen. Auf der politischen Ebene folgte 2005 das älteste Kabinett in der Nachkriegsgeschichte, in den USA hatte bereits Bush eine sehr alte Administration benannt.
Zurück zur Wirtschaft: Die IG Metall unternahm wie geschildert nach 2001 mehrere Versuche, bei der Politik eine Neuauflage der betrieblichen Altersteilzeit durch flankierende gesetzgeberische Maßnahmen zu erwirken. Warum, Stefan, gab es von Gewerkschaftsseite dieses große Interesse, wenn es doch angeblich die bösen Unternehmen waren, die damit die älteren Beschäftigten aus den Betrieben drängten?
Altersteilzeit war der Goldene Handschlag für verdiente Beschäftigte. Nehmen wir einen 60jährigen Mitarbeiter im Einkauf. Mit der alten Altersteilzeitregelung konnte er vereinbaren, noch weitere 2 Jahre Vollzeit zu arbeiten, um dann weitere 2 oder sogar 3 Jahre volles Gehalt zu beziehen, mit Unterstützung der Arbeitslosenversicherung, die damals meiner Erinnerung nach die Hälfte des Gehalts in den 4 Jahren übernahm. Bei einer betriebsbedingten Kündigung hätte er wegen der langen Kündigungsfrist zwar 6-12 Monate Gehalt bezogen, danach aber nur für 3 Jahre 60% seines Gehalts als Arbeitslosengeld. Die fehlenden 40% hätten durch eine entsprechend hohe Abfindung ausgeglichen werden müssen – was kaum möglich war: Bei angenommenen 30 Jahren Betriebszugehörigkeit lag der Abfindungsanspruch in den Sozialplänen meist bei weniger als einem Jahresgehalt. Zudem schädigte die Arbeitslosigkeit den Rentenanspruch.
Die Rechnung zeigt, dass die Altersteilzeit für Arbeitnehmer ebenso ein gutes Geschäft war wie für Unternehmen – zu Lasten der Sozialkassen. Das war eine tiefe soziale Ungerechtigkeit zu Lasten der jüngeren Beschäftigten. Heute haben wir mit der Rente mit 63 etwas Ähnliches – und die Linken schaffen es nicht, sich von diesem System zu distanzieren.
„Platzen der New Economy Blase“
Das hat auch der Bereitschaft für die geforderte (zusätzliche – 2. Säule) private kapitalgedeckte Altersvorsorge einen ziemlichen Schlag versetzt. In Deutschland besonders, in Skandinavien gab es bereits die staatlichen Rentenfonds.
Klar, wer wie ein Dummy anlegt, verdient wie ein Dummy. Monate vor Platzen der Blase gab es in Medien wie dem SPIEGEL Warnungen, mit Investments in Verlustgesellschaften vorsichtig zu sein. Es ist nicht schwer, Geld an der Börse anzulegen, nur sollte man wie überall im Leben ein paar Grundregeln beherrschen.
Wer gar keine Ahnung hat, investiert in den ETF World. Mutigere kaufen große Titel. Wer vor 10 Jahren jeden Monat 100 Euro in Nvidia-Aktien investiert hat, besitzt heute eine halbe Million Euro. Nvidia ist das, was fast jeder auf seinem Computer als Grafikkarte hat.
Es ist absolut okay, wenn viele Deutsche sagen „wollen wir nicht“. Nur sollen sie dann auch die Finger von dem Geld anderer Leute lassen, die eben Risiken eingegangen sind. Und an der Stelle scheinen wir ein Problem zu haben. Ernten ohne gesät zu haben war schon Jesus zuwider.
Ich verstehe gar nicht deine Aggression. Ich sage doch auch gar nicht, dass das einseitig böse Unternehmen waren. Es ist nur albern zu postulieren, dass die gänzlich unbeteiligt waren oder dass es nicht zu einer Belastung geführt hätte. Ich thematisiere das ja deswegen, weil es für mich ein Beispiel dafür ist, wie die Transformation VON ALLEN BETEILIGTEN gemanaged wird. Und dass so was heute komplett fehlt (Stichwort Heizungsdesaster).
Das ist doch keine Aggression. Die Geschichte ist einfach und wurde damals schon so gesehen: Arbeitgeber und Arbeitnehmer hatten ein gemeinsames Interesse und bürdeten einen Teil der Kosten via Politik der Allgemeinheit auf. Danach verloren die Arbeitgeber das Interesse, weshalb es zu keinem neuen Deal kam. Die Rente 63 kam gegen den ausdrücklichen Willen der Arbeitgeberverbände zustande.
Mich stört die Geschichtserzählung ältere seieen rausgedrängt worden. Das mag wie meist in Einzelfällen so gewesen sein. Meine breite Erfahrung war es nicht.
Nee, die sind freiwillig gegangen. Frührente war immer das Lebensmodell von ca. 35% der Deutschen.
Das schreibe ich doch die ganze Zeit. Und es sind mehr als 35 Prozent, die einen frühen Ruhestand bevorzugen.
ok
Nun, wenn ich Raphael richtig verstanden habe war das schon in deutlich mehr als Einzelfällen (wenngleich natürlich andere es super fanden!).
Was meinst Du? Das Gesetz der großen Zahl? Wenn eine Million Arbeitnehmer*) – und es waren meiner Erinnerung nach wesentlich mehr Anspruchsnehmer – ATZ beantragten, davon aber 20 Prozent bis zur gesetzlichen Altersgrenze arbeiten wollten, dann wurden eben 200.000 zum Ausscheiden genötigt.
Aber auch das ist ja nichts Ungewöhnliches in der Marktwirtschaft. Unternehmen bauen Arbeitsplätze auf und ab. In den Neunzigerjahren wurden aufgrund der rahmenrechtlichen Verhältnisse**) Produktions- und Serviceeinheiten ins günstigere Ausland verlagert. So kam es zu einem massiven Arbeitsplatzabbau. Und von so einer Restrukturierung sind auch ältere Beschäftigte betroffen. Das ist normal und kein gesellschaftlicher Skandal. Die Altersteilzeit war eine sehr honorige Sache für vom Stellenabbau Betroffene.
Aber was ist mit jenen, die ihren Arbeitgeber nötigten, ihnen ATZ anzubieten? Damals gab es einen Quasi-Rechtsanspruch. Wenn Unternehmen gar keine Stellen abbauen wollten, aber von ihren älteren Arbeitnehmern praktisch gezwungen wurden, das frühzeitige Ausscheiden zu vereinbaren, war das keine angenehme Sache. Ich habe ja berichtet, dass selbst mir, der solche Modelle prinzipiell rundherum ablehnt, dies widerfahren ist. Anfang der Nullerjahre – da waren die alten Regelungen abgeschafft – nötigten mich ein paar Mitarbeiter durch „Dienst nach Vorschrift“ (Fehlzeiten, Schlechtleistungen), ihnen ein für das Unternehmen teures „freiwilliges“ ATZ-Modell anzubieten, das sie zuvor mehrmals eingefordert hatten.
Das werden in den Neunzigerjahren nicht wenige gewesen sein. Die hat Lutz Raphael wohl irgendwie vergessen. Für mich wäre interessant, wie Du die Rente mit 63 einordnest, die ja im Grunde eine moderne Variante der früheren ATZ ist, nur mit günstigeren Antragsrechten für Arbeitnehmer.
*) Internet auf See ist für mich gerade sehr teuer. Daher muss ich Zahlen aus dem Kopf referieren.
**) Deutschland hat aus der Geschichte wenig gelernt, wenn wir heute wieder vor dem gleichen Problem stehen.
Ich hab gar keine große Kritik an der ATZ, ich glaube, das ist das große Missverständnis hier. Ich finde es eher beachtlich, wie pragmatisch und erfolgreich das zum Managen des Übergangs war und wie sehr so was heute fehlt.
Wieso hast Du damit kein Problem?!
Sag ich doch: weil es den Übergang managed.
Es gibt keinen Übergang zu managen. So wurde die ATZ auch nicht genutzt. Statt den vom Gesetzgeber angedachten „gleitenden“ Übergang entschieden sich fast alle Anspruchsnehmer für den harten Schnitt: 2 -4 Jahre voll arbeiten und dann in Ruhestand (ATZ 0 hieß das glaube ich) bei vollen Bezügen. Das war wie heute die Rente mit 63 ein vergoldeter Vorruhestand auf Kosten der Allgemeinheit.
@Stzefan P.:
Sie haben sicher eine gute Begründung dafür, warum der Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren auf „Kosten der Allgemeinheit“ geht? Sonst ist es nur ein Ressentiment 🙂 .
Klar. Weil die Beitragsjahre für Versicherungsleistungen irrelavant sind. Relevant sind die Höhe der Einzahlungen und Rentenbezugsdauer.
d.h. du würdest das Renteneintrittsalter an die erworbenen Rentenpunkte knüpfen?
Das ist eine Möglichkeit. Zum einen wird jemand, der mit 16 anfing einzuzahlen, in den ersten 10-15 Jahren keine relevanten Beiträge geleistet haben. Zum anderen ist die Rente mit 63 großzügig bemessen, auch Zeiten der Arbeitslosigkeit werden anerkannt, also Phasen, in denen die Allgemeinheit gar nicht profitiert hat.
Die Versicherungsmathematik ist da fairer: Wer einen gewissen Betrag einbezahlt hat, kann unter Berücksichtigung seiner statistischen Lebenerwartung mit einer bestimmten Rentenhöhe rechnen. Alles andere ist nur ungerecht.
Kommt halt auf die Definition von „gerecht“ an, das ist ja kein objektiv definierbarer Begriff. Ich sehe deine Logik durchaus, aber kategorisch würde ich das nicht anwenden wollen. Unverschuldete Arbeitslosigkeit zu bestrafen, indem du länger arbeiten musst, fände ich (wie glaube ich die Mehrheit) auch nicht eben gerecht.
„Gerecht“ (nicht „sozialgerecht“) ist, wenn jemand unter gleichen Umständen mindestens das herausbekommt, was er einbezahlt hat. Wenn die Regeln so angelegt sind, dass die eine Gruppe viel und die andere wenig herausbekommt, verstößt das gegen jeden Gerechtigkeitsbegriff.
Und was ist fair dran, wenn jemand mit Jahren der Arbeitslosigkeit genauso behandelt wird als jemand, der ununterbrochen gearbeitet hat? Und es ist kaum fair zu nennen, wenn jemand mit Jahren der Arbeitsgritslosigkeit so behandelt würde als hätte er sein gesamtes Leben geschuftet und darf deswegen früher Rente beziehen als jemand, der später begonnen, aber 40 Jahre durchgearbeitet hat. Das ist doch nicht zu begründen.
Nein, tut es nicht. Es verstößt gegen deinen, den du arbiträr aufgestellt hast. Erneut: der wird sicher von vielen geteilt und ist auch diskussionswürdig. Aber du tust dir keinen Gefallen, deine Moralvorstellungen zu verabsolutieren.
Klar ist das zu begründen. Erneut, du musst nicht zustimmen, aber begründen kann man das problemlos.
Lieber Herr Pietsch, die Höhe der Rente ist über die erworbenen Rentenpunkte an das erzielte Einkommen gekoppelt, was Sie sicher wissen?
Bleibt als einziges Gegenargument die Anrechnung von Arbeitslosenzeiten. Akzeptiert, aber da das bei der Standardrente (nicht mit 63) genauso ist, sehe ich die von Ihnen postulierte Mehrbelastung der Allgemeinheit nach wie vor nicht.
Ich sehe immer noch kein gutes Argument gegen den Rentenbezug mit 63 nach 45 Beitragsjahren?
Gruss,
Thorsten Haupts
Gerechtigkeitsmaßstäbe sind allgemeingültig und einfach zu beschreiben. Du kannst jeden Unsinn begründen, das ist kein Beleg für einen Maßstab.
Aber Du definierst Individualität. Für den einen ist das anzuwenden, für den anderen das. Das ist eben kein Maßstab, sondern nur Meinung.
Gerecht im herkömmlichen Sinne meint, Gleiches gleich (horizontale Gerechtigkeit) und Ungleiches ungleich (vertikale Gerechtigkeit) zu behandeln. Du sagst, es sei auch gerecht, Ungleiches gleich zu behandeln. Dann ist schleierhaft, wie Du zu einem allgemeingültigen Maßstab – und damit zur gerechten Behandlung – kommen willst.
Der Rentenanspruch ist aber auch an ein fixes Renteneintrittsalter gebunden. Genau das wird aufgehoben. Nach diesem System ist es egal, ob jemand 40 oder 50 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt war – ab (derzeit 66) einem bestimmten Lebensalter erhält er von der Allgemeinheit eine Rente.
Und hier spielt es eine ganz wesentliche Rolle, ob er bei einer Lebenserwartung durchschnittlich 82 Jahren 16 Jahre Anspruch auf bestimmte Zahlungen hat oder 19 Jahre. Da würde jeder die längere Bezugsdauer nehmen, aber nur wer als Teenager mal 5 Pfennig einbezahlt hat, kommt in diesen Genuss.
Ich hab den Faden verloren. Warum kommen Teenager in den Genuss? Die Rentenhöhe hängt doch von den Einzahlungen und (aktuell) vom Erreichen der Regelaltersgrenze ab?
Die Anspruchsberechtigung auf die Rente mit 63 wird maßgeblich von der ersten Einzahlung bestimmt. Hat jemand als Azubi im Alter von 16 Jahren seine ersten Beiträge entrichtet, so ist er mit (heute) 64 Jahren grundsätzlich anspruchsberechtigt. Dies begünstigt Beitragszahler, die eine Lehre dem längeren Ausbildungsweg (späteres Abitur, zweiter Bildungsweg, Studium) vorgezogen haben.
Die sozialen Merkmale der Antragsteller zeigen, dass von der Vergünstigung der Standard-Arbeitnehmer mit Lehre (kaufmännische oder Handelsausbildung, andere Lehre) und dann beschäftigt in der Verwaltung, profitiert. Das ist aber – wie bei der Altersteilzeitregelung – nicht der Kreis der von der Politik eigentlich Gemeinten.
Das lässt sich übrigens kaum als Zufall abtun. Die Images bestimmter sozialer Gruppen – Dachdecker, Krankenschwester – gelten immer nur für die moralische Aufladung auf dem Werbeplakat.
Ich finde das aber wenig problematisch, weil diese Leute ja dann die Beitragsjahre voll haben und, das scheint mir relevanter, in Berufen sind, die in dem Alter eh nicht mehr leistbar sind.
Lieber Stefan Pietsch, als Manager sind Sie geschicktes Ausweichen ja gewöhnt 🙂 . Es bleibt also übrig, dass Sie die „Bevorzugung“ ablehnen, weil die Leute vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter in Rente gehen können.
Und ich lehne sie dann für Leute ab, die weniger als 45 Beitragsjahre haben. Wir beide haben ein „Gerechtigkeits“argument auf unserer Seite, aber es ist in beiden Fällen ausserordentlich schwach. Nur handelt es sich eben nicht um eine Regelung auf Kosten der Allgemeinheit. Auch nicht für die, die ausbildungsbedingt bereits mit nur 35 Beitragsjahren in Rente gehen …
Gruss,
Thorsten Haupts
Im (Change) Management geht es nicht um Ausweichen, sondern Probleme direkt an der Wurzel angehen. Wir können diejenigen, die Rente mit 63 beantragen, noch sehr gut in den Offices gebrauchen.
Seit ein paar sehr wenigen Jahren vielleicht 🙂 . Vorher waren das die wenig geliebten alten Säcke, eingestellt wurden die praktisch niemals mehr.
Und ich bin im Ergebnis sogar Ihrer Auffassung, Gerechtigkeitsfragen hin oder her. Nur reduziert sich das Argument gegen die Rente mit 63 damit auf den volkswirtschaftlichen Nutzen – und an der Stelle gehen die meisten Menschen (ja, auch rechte Demokraten) auf die Barrikaden. Ich kann das trotzdem, Sie natürlich sowieso, aber die meisten Menschen finden das schlicht widerlich.
Gruss,
Thorsten Haupts
Das ist dann in Ordnung, wenn die Leute auch früher sterben. Dann bin ich einverstanden. So hast Du das aber wahrscheinlich nicht gemeint, oder? Andernfalls bekommen sie länger (mehr) Geld. Das ist eine Sozialleistung und hat mit der Versicherung nichts zu tun.
Das, Stefan, beschreibt aber präzise das Problem von Bildern, die sich im Kopf festsetzen. Der amerikanische Journalist Eric T. Hansen hat in seinem amüsanten Buch „Planet Germany“ die deutschen Medien dadurch characterisiert gesehen, dass sie zielgenau die Person finden, die von irgendeiner Politik negativ betroffen ist – und daraus einen Jammerbericht über diese Politik machen.
Wenn Raphael gleichzeitig darauf hingewiesen hat, dass die überwiegende Zahl der Frühverrententen diese Frühverrentung begrüsst hat, wäre das in Ordnung. Ich nehme in Kenntnis der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften allerdings an, er hat genau das nicht getan …
Es ist diese Art der Berichterstattung, die eine nicht kleine Schnittmenge mit Aktivismus hat. Und genau das meinen viele rechte Demokraten, wenn sie den deutschen Medien Unglaubwürdigkeit bescheinigen – die Produktion von Bildern und Eindrücken anhand faktisch ziemlich eindeutiger Minderheiten von Betroffenen einer bestimmten Politik.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich erinnere mich nicht verbatim an die Passage, aber selbstverständlich haben viele es begrüßt. Nur gab es eben auch Leute, die das nicht taten. Raphael arbeitet vor allem die Ambivalenz heraus: die unbestreitbare Vorteile für die Leute einerseits und den gefühlten Identitätsverlust andererseits. Gute historische Arbeit eben, auch wenn du da eine mit unbegreifliche Ressentimentgeladenheit dagegen hast.