Rezension: Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom

Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom

Ende der 1960er Jahre begann eine der größten Verwerfungen seit der Industriellen Revolution, die häufig unter „Strukturwandel“ gefasst wird: die Deindustrialisierung Europas zugunsten eines stark anwachsenden Dienstleistungssektors. Der Typus des „Malochers“, der so lange das Bild des Arbeiters bestimmte und der für das Selbstbild der Nachkriegs-Wachstums-Ära so entscheidend war, begann an Strahlkraft zu verlieren. Stattdessen rutschten die westlichen Industriegesellschaften in eine Strukturwandelskrise, aus der sie als Dienstleistungsgesellschaften wieder auftauchten sollten. Lutz Raphael legt mit „Jenseits von Kohle und Stahl“ eine vergleichende Sozialgeschichte, die die Entwicklung ab dem Ende der 1960er Jahre bis in die 1990er Jahre hinein in Deutschland, Frankreich und Großbritannien nebeneinderstellt. Forschungsansätze verschiedener Art, die den Umbruch „von unten“, aus der Perspektive der Betroffenen, erklären sollen, verknüpft er dabei mit einer klassischen Ereignisgeschichte, die gleichwohl stets die große Thematik im Blick haben soll. Inwieweit dieser Forschungsansatz aufgeht, soll die Rezension klären.

Der erste Abschnitt, „Die Vogelperspektive: Drei nationale Arbeitsordnungen im Umbruch„, beginnt in Kapitel 1, „Industriearbeit in Westeuropa nach dem Boom: Die politökonomische Perspektive„, erst einmal mit Raphaels Versuch, die wirtschaftlichen Grundzüge der Epoche quasi noch aus der Vogelperspektive zu beschreiben. Er sieht einen grundlegenden Prozess der Deindustrialisierung in Westeuropa ab den 1960er Jahren, der aber regional höchst unterschiedlich verlief. Der grundsätzliche Trend der Tertiärisierung, also des Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen, verlief in Großbritannien mit der stärksten Intensität, während in Frankreich und Großbritannien die meisten der neu entstehenden Dienstleistungssektoren an den industriellen Kern gekoppelt blieben. Dieser Prozess lässt sich nur global verstehen, denn er ging Hand in Hand mit der gleichzeitigen Industrialisierung Südostasiens (die gleichwohl außerhalb von Raphaels Studie liegt und daher hier nur referenziert wird). Rapahel bezeichnet dies als eine grundlegende „Neuverteilung“ der industriellen Substanz in globalem Maßstab.

Dies hatte Arbeitsplatzverluste von rund 10% im industriellen Sektor zur Folge, die allerdings zu 20-25% ein Statistikeffekt waren, da die Unternehmen viele Jobs in Tochterfirmen auslagerten, die offiziell Dienstleiter sind. Die grundsätzliche Qualität und Anforderungsprofile dieser Jobs blieben weitgehend erhalten. Rund 50% der Jobverluste entsprachen Verlagerungen in die Billiglohnländer und waren unwiderbringlich verloren, weitere 25% stellten Rationalisierungsopfer dar, die der steigenden Effizienz und dem Siegeszug der Mikroprozessoren geschuldet waren (dazu später mehr).

Die Globalisierung ab den 1980er, besonders aber den 1990er Jahren war hierbei der größte Treiber der strukturellen Verschiebungen, und in diesen beiden Dekaden fand auch der Großteil der Arbeitsplatzverluste statt. In Großbritannien startete der Trend bereits in den 1970er Jahren und hatte wie bereits erwähnt wesentlich durchschlagenderen Effekt. Dagegen entstanden in Frankreich die relativ geringsten Verluste an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor. In der BRD waren die absoluten Zahlen wegen der großen Ausgangsbasis – kein Land im Westen war so stark industrialisiert wie Westdeutschland – hoch, aber nur wenige Sektoren (vor allem Textil- und Schwerindustrie) verschwanden vollständig, die meisten blieben erhalten. Das betraf in allen Ländern Schlüsselsektoren (man denke nur an die Autoproduktion in der BRD!) blieben. Vereinfachend gesagt: Für den Binnenmarkt produzierende Branchen blieben, für den Weltmarkt produzierende Branchen gingen. Eine westdeutsche Besonderheit war der weitgehende Bestandserhalt der Werkzeugmaschinenhersteller, die nur hier als Sektor erhalten blieben, weil sie einen Prozess der Hyper-Spezialisierung unterliefen, der ihnen Marktnischen als Weltmarktführer sicherte. Eine Gemeinsamkeit aller drei Länder dagegen war der Bedeutungszuwachs kleiner und mittlerer Unternehmen, was den Anteil an der Industrie anbelangte. Dieser Zuwachs allerdings wurde durch den gleichzeitigen Prozess der Kapitalkonzentration konterkariert, der den Großunternehmen relativ mehr Macht als je zuvor zugestand.

Dazu kam, dass der Bedeutungsgewinn von Mikroprozessoren und Robotern eine riesige Investitionswelle bedeutete, die gewaltige Kapitalmengen erforderte, was wiederum die Großunternehmen begünstigte. In jedem Fall sorgte dieser Modernisierungstrend für massive Produktivitätsgewinne auf Kosten der Beschäftigung. Damit ging auch eine Komplexitätssteigerung der Arbeit einher, die unqualifizierten und niedrigqualifizierten Arbeitskräften ihren unsicheren Aufstieg in die untere Mittelschicht abrupt beendete und in vielen Fällen existenziell gefährdete. Die Adaption dieser neuen Technologien fiel in der Produktion sehr unterschiedlich und wurde nach dem Prinzip trial and error durchgeführt. Wesentlich klarer waren Effekt und Umsetzung in den Unternehmensorganisationen: die Hierarchien wurden flacher, es wurden bestehende Tätigkeiten outgesourced, was zu Arbeitsplatzverlusten führte. Auch dieser Trend aber wurde konterkariert, in dem Fall durch den Bedarf an zusätzlicher, neuer Verwaltung für die komplexer werdenden Lieferketten, die allerdings auch größere Fertigkeitsniveaus erforderten.

Auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik spielten eine wichtige Rolle, weil sie die Profitmargen der Unternehmen veränderte. Die Stagflation,  der 1970er Jahre und die Rezession der frühen 1980er Jahre etwa hatte große Auswirkungen auf die Unternehmensbilanzen. Der Umschwung in der Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1980er Jahre (Thatcher, Mitterand, Kohl) veränderte die Struktur der Wirtschaft ebenfalls grundlegend. In allen drei Nationen führte er zu einer Privatisierungswelle, deren Ausmaß allerdings sehr unterschiedlich war. In Großbritannien waren sie naturgemäß wieder am stärksten, aber hier hatten auch große nationale Unternehmen bestanden, wie es sie etwa in der BRD gar nicht gab. Das Land trieb daher die Entindustrialisierung politisch voran und riss dabei Lücken in die Wirtschaftsstruktur, die durch Importe geschlossen wurden, und setzte auf die Finanzindustrie und den Standort London als neue Wirtschaftstreiber, mit all den bekannten Folgen. Im Gegensatz dazu reagierten die BRD und Frankreich mit Erhaltungssubventionen auf den Prozess und bremsen ihn so sozialverträglich (wenngleich zu hohen Kosten) ab.

Die Entwicklung zum Finanzmarktkapitalismus mochte zwar in Großbritannien ihren Vorreiter gefunden haben, fand aber grundsätzlich in ganz Westeuropa statt. Die Bedeutung des Kapitals wuchs wie bereits beschrieben massiv an und führte zu einer Unterwerfung der Wirtschaft unter den Primat des Shareholder Value und der Banken. Damit ging ein anderes Mindset einher, das ich als Aufstieg der Manager (gegenüber den Unternehmern) beschreiben würde. Auch bei der Internationalisierung der Unternehmensstrukturen war Großbritannien Vorreiter, während Frankreich und Deutschland erst in den 2000er Jahren diesen Prozess nachvollzogen, da vorher starke Verknüpfungen der Unternehmen mit den nationalen Banken bestanden hatten („Deutschland-AG“). Dieser Prozess brachte auch ein deutlich gesteigertes Innovationstempo hervor; Raphael geht darauf nicht ein, aber es ist kein Zufall, dass der Ostblock gerade in dieser Epoche wirtschaftlich abgehängt wurde.

Die beschriebenen Trends bedeuteten für viele Arbeiter*innen das Ende des (möglichen) Aufstiegs in die Mittelschicht und für viele andere den Absturz in die Prekarität. Die Jahre waren von einer deutlichen Zunahme instabiler Erwerbsverläufe gekennzeichnet. In Großbritannien und Frankreich litten besonders die Jugendlichen unter hoher Arbeitslosigkeit; das deutsche duale System integrierte diese im Gegensatz dazu viel besser und hatte daher eine niedrigere Jugendarbeitslosigkeit. Auch die Lage der Frauen ist bemerkenswert: die Textilarbeiterinnen, die den Großteil der Beschäftigten in diesem Sektor ausmachten, verschwanden weitgehend geräuschlos (ganz anders als die männlich dominierte Montanindustrie). Viele der Opfer dieser Arbeitsplatzverluste fanden sich im deutlich schlechter bezahlten und wesentlich weniger angesehenen Dienstleistungssektor wieder. Dieser etablierte sich in allen drei Ländern für alle Gruppen, aber eben besonders für Frauen.

Zusammengefasst: der Niedergang der traditionellen Industrien schaffte eine Beschäftigungskrise; die Deindustrialisierung war verknüpft mit einer weltweiten Neuverteilung von industriellen Ressourcen; der Finanzmarktkapitalismus übernahm vor allem in Großbritannien das Ruder, während in Frankreich und Deutschland Spielräume und Idiosynkratien erhalten blieben; ein genereller Rückzug der Rolle des Staates in der Wirtschaft war zu beobachten; und Deutungskämpfe um all diese Geschehnisse brachen aus – die Raphael in Kapitel 2 näher untersucht.

Kapitel 2, „Der Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen„, schaut dann näher darauf, wie die Deutungskämpfe um die in Kapitel 1 geschilderten Prozesse abliefen. Grundsätzlich postuliert Raphael eine Problematik, das „Meinungswissen“ (also das Wissen der Menschen darüber, wie sie Meinungen bilden, wobei dieses Wissen unterbewusst abgespeichert und abrufbar ist) über lange Zeiträume klar zu erfassen. Das macht jede Untersuchung dieses Gegenstands zwangsläufig schwierig.

Er rät in jedem Fall zu Vorsicht bei klaren Siegesnarrativen, etwa für den Neoliberalismus; die reale Lage war viel differenzierter und lässt sich nicht so leicht vereinfachen. Der Neoliberalismus war zwar ab den 1970er Jahren im Aufschwung, aufbauend auf der Idee, dass ein jede*r des eigenen Glückes Schmied*in sei, wurde aber in jenen Jahren vor allem durch das allgemein verbreitete Krisengefühl befeuert. Er bot aber keine klaren Handlungsanweisungen, weswegen die mit ihm verbundenen Schlagworte eher diffus waren („Modernisierung“, „Dienstleistungsgesellschaft“).

Nach diesen grundlegenden Überlegungen wechselt Raphael in die nationalen Perspektiven. Die Analysen waren in Großbritannien immer klassenzentriert, mit einer entsprechenden Sprache. In Deutschland (Ost wie West) dagegen zog man aus Weimar die Lektion, keinen Gegensatz von Nation und Proletariat mehr zuzulassen und vermied daher größtenteils solche Sprache in der Mobilisierung der Arbeiterklasse. Die Idee vom „Industriebürger“ ersetzte die des „Industriearbeiters“. In Frankreich schließlich waren jahrzehntelang Kleinbürger der zentrale Bezugspunkt gewesen. Die Arbeiter rückten nur kurz in der Boomphase in die öffentliche Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit ruhte stets auf einem prekären Kompromiss der Konservativen und der „Klassenparteien“, der mit dem Ende des Booms wieder aufgekündigt wurde.

Daher sind die amtlichen Sozialdaten nur schwer vergleichbar. In Frankreich wurden die Arbeiter durch kommunistische Wahlerfolge aufgewertet, so dass die Gesellschaft ab 1947 in fünf Klassen eingeteilt wurde: cadres (die Elite), professions intermédiaires (höhere Angestellte), employés (Angestellte), ouvriers (Arbeiter), agriculteur/artisans/indépendants (Bauern/Künstler/Unabhängige, oder auch schlicht: Sonstige). Diese Anerkennung einer klaren Klassenstruktur macht die französische Taxonomie der britischen ähnlicher als der westdeutschen. Hier hab es die professional occupations, intermediate occupations, skilled occupations, partly skilled occupations und unskilled occupations. Versuche unter New Labour, diese Struktur zu modernisieren, fanden in der Öffentlichkeit wenig Anklang, weswegen das System grundsätzlich immer noch in Nutzung ist. Die BRD nutzte nur die drei Großkategorien, die bereits Bismarcks Sozialversicherungssystem gestaltet hatten: Arbeiter, Angestellte, Beamte. Die amtlichen Statistiken verfolgten stets das politische Ziel, Klassengegensätze zu negieren („Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“).

Wenig überraschend interpretierte die BRD die Deindustrialisierung auch als eine Auflösung von Klassen und Schichten. Es gab zahlreiche Versuche, Deutungsmuster zu funden („Risikogesellschaft“ (Beck), „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze), „Informationsgesellschaft“ (Bell). Beliebt in der bundesdeutschen Soziologie ist auch die Konstruktion der Sinus-Milieus. Diese Entwicklungen untergruben die alte Mobilisierungssprache nachhaltig. In Frankreich und Großbritannien dominierten amerikanische Deutungsmuster, die in der Deindustrialisierung vor allem eine Individualisierung betrachteten. Alle drei Länder erlebten einen Aufschwung kritischer Berichterstattung über „Problemgruppen“, die sich diesem neuen Trend zu verweigern schienen (Arbeitslose, das Prekariat, etc.). Die alte Arbeitsgesellschaft verschwand fast völlig aus dem Blickfeld. Stattdessen entstand das Bild einer Gesellschaft, die die Kontrolle über ihre Ränder verloren hatte. Andere Scheidungslinien wie Rassismus und Sexismus wurden immer bedeutsamer. In der Soziologie breitete sich eine generelle Skepsis aus, inwieweit man überhaupt noch Kollektive fassen könne.

Zu diesem Prozess gehörte auch die Veränderung der politischen Kommunikation. Die Auflösung der traditionellen Milieus einerseits und der Siegeszug des nivellierenden Fernsehens andererseits erzwangen eine Anpassung der Parteien an die neuen Kommunikationsformen, die die alten Mobilisierungssprachen weitgehend verdrängte. In einer gewissen Weise war dem aber ein falscher Frühling der Klassensprachen vorausgegangen, der durch die günstige Beschäftigungssituation und das links-sozialistische Meinungsklima der 1960er Jahre geschaffen worden war. In Frankreich und Großbritannien war dieser Trend aber dank der stärkeren Klassenstrukturen wesentlich weniger ausgeprägt als in Deutschland.

In Frankreich verloren die sozialistischen Kampfbegriffe angesichts der Repression des Ostblocks 1956/68 massiv an Attraktivität, während umgekehrt die Mittelschicht ins Zentrum sozialdemokratischer Rhetorik zu rücken begann, ein Prozess, den auch New Labour und Schröders SPD rapide nachvollzogen. Die Sozialdemokratie wurde zunehmend zu einer Partei des Öffentlichen Dienstes und der Angestellten, was sich in ihrer Sprache deutlich abzeichnete. Auch hier sticht die deutsche Situation heraus, da der DGB bereits nach 1945 die Klassenrhetorik Weimars abgelegt und sich auf den Catch-All-Begriff „Arbeitnehmer“ festgelegt hatte. Um den Bedeutungsverlust der Arbeiter zu kompensieren bemühten sich die Gewerkschaften um die Aufhebung der alten Trennlinie, was final 2003 gelang.

Mit ihrem Verschwinden wurde die Arbeiterklasse immer zu einem Gegenstand von Kunst und Kultur. Die Produkte von Arbeiter*innen selbst hatten dabei keinen Erfolg; es waren Arbeiten von aus der Mittelschicht stammenden Intellektuellen ÜBER die Arbeiterklasse, die reüssierten. Dadurch wurde sie zunehmend exotisiert. Zwar wurde sie romantisiert; dies führte aber gleichzeitig zu einem Schein des Gestrigen und Vergangenen, was durch die offizielle Erinnerungspolitik (die vielen Zechenmonumente im Ruhrgebiet etwa) noch verstärkt wurde. In Großbritannien entwickelte sich ein eigenes Genre von Spielfilmen, vor allem im komödiantischen Genre, die die Arbeiterklasse thematisierten. Üblicherweise wurde, wie etwa in „Billy Elliot“, der Ausbruch aus diesem dem Untergang geweihten Milieu als erstrebenswert dargestellt.

Zum Abschluss des Kapitels fasst Raphael noch einmal seine wichtigsten Befunde zusammen. (1) Die Sprachen, die Arbeitern eine kollektive Existenz gegeben hatten, wurden leiser. (2) Ihre politischen Repräsentationsformate lösten sich auf. (3) Gesellschaftliche Ungleichheit wurde zwar im Diskurs nur noch als „Kaleidoskop feiner Unterschiede“ thematisiert, von den unteren Schichten aber durchgehend als „wir gegen die“ wahrgenommen. Raphael wendet sich daher entschieden dagegen, die Arbeiterklasse als verschwunden anzusehen, nur weil dies im öffentlichen Diskurs postuliert wird.

Kapitel 3, „Politikgeschichte von „unten“: Arbeitskämpfe und neue soziale Bewegungen„, beginnt Raphael mit der Feststellung, dass die Arbeiterbewegung bis in die 1970er Jahre ein aktivistisches, progressives Geschichtsverständnis stetigen Fortschritts durch Protest hatte, das sich danach nachhaltig zerschlug. Neue Bewegungen dockten an die Protestmethoden an und machten sich sicht- und hörbar. Da Arbeiter*innen üblicherweise keinen Zugang zu materiellen oder kulturellen Ressourcen haben, bleiben sie ohne schlagkräftige Organisationen wie die Gewerkschaften ungehört. Raphael will deswegen betriebliche Auseinandersetzungen stärker unter die Lupe nehmen, spiegelbildlich zu Kapitel 1 ihren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik untersuchen und die „Ereignisse“ (große Streiks etc.) betrachten.

Streiks wurden in den drei Ländern unterschiedlich gehandhabt. In Großbritannien waren sie rechtlich praktisch unreguliert und oblagen einem „anything goes“, während die BRD das Streikrecht am schärfsten begrenzte. Frankreich bildete hier den Mittelweg. Gleichwohl betrachteten während des Booms 1948-1973 die Gewerkschaften Frankreichs den Streik als ein regelmäßig anzuwendendes Mittel der Klassenbildung, während die britischen und westdeutschen Gewerkschaften auf Kooperation mit der Sozialdemokratie setzten (und im deutschen Fall auf die Tarifpartnerschaft).

Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gelang es den Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre, gewaltige Erfolge durchzusetzen. Sie erlangten Inflationsausgleiche und andere monetäre Ergebnisse, aber anders als in der Bundesrepublik, wo die Löhne ebenso (und ohne riesige Streiks) stiegen wurden die Streiks von beiden Seiten auch als Kampf um die Wirtschaftsordnung wahrgenommen und geführt. Der britische Bergbaugewerkschaftsführer Arthur Scargill etwa brachte den Konservativen 1972 und 1974 vernichtende Niederlagen bei, die bei den Tories zur Erstellung einer neuen Strategie absoluter Härte und totalen Kampfes führten, die dann 1984 exerziert wurde – mit durchschlagendem Effekt. Auch in Frankreich gelang es den Gewerkschaften zu Beginn der 1980er Jahre nicht, ihre Erfolge zu wiederholen. Zwar versuchte die Regierung Mitterand kurzzeitig, Nationalisierungen durchzusetzen. Jedoch mussten sie unter dem Druck der wirtschaftspolitischen Wende (Neoliberalismus, Monetarismus, Kapitalisierung, siehe Kapitel 1) schnell eine Kehrtwende hinlegen.

In der Bundesrepublik brach 1987 eine Welle militanterer Streiks im Ruhrgebiet aus, als unerwartete Betriebsschließungen auch junge Arbeitnehmende betrafen. Vor allem die ausgleichende Politik der SPD-Regierung im Land entschärfte den Konflikt. Am relevantesten aber war die beginnende Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Diese Forderung war hochumstritten und sollte von Seiten der Gewerkschaften Arbeitsplatzverluste reduzieren. Die Arbeitgeber lehnten sie vehement ab. Auffällig war die starke Politisierung; die CDU/CSU stellten sich emphatisch auf die Seite der Arbeitgeber, und mit Dehnungen und Übertretungen des Streikrechts wurde versucht, die Streikkassen der IG Metall überzustrapazieren. Der resultierende Kompromiss der 38.5-Stunden-Woche ist für Raphael vor allem darin bedeutsam, dass er einerseits einen Trend zur Flexibilisierung von Tarifverträgen begründete, andererseits aber die Wirtschaft auf den Pfad der Produktivitätssteigerung und Rationalisierung festlegte.

Das Zeitalter der großen Streiks aber war vorüber. Ein Gefühl der Machtlosigkeit machte sich breit, das zusammen mit der demobilisierenden und entmündigenden Massenarbeitslosigkeit die politische Aktion „von unten“ drastisch unattraktiver machte. Dazu kam die beschriebene Entwicklung, dass die Schuld für die Deindustrialisierung den arbeitslosen Arbeiter*innen selbst aufgebürdet und so individualisiert wurde; das Thema wurde in den Medien zudem banalisiert und kaum mehr berichtet. Der letzte Faktor war eine Entpolitisierung: die Wende der Linksparteien zu marktbasierten Konzepten ab den 1980er Jahren nahm den Staat als Adressat von Forderungen aus dem Spiel, da die etablierten Alternativen von Verstaatlichung und direkten wirtschaftlichen Eingriffen nicht zur Verfügung standen. Gleichzeitig gab die Politik viel Geld aus, um die Folgen abzudämpfen und das Thema so weiter aus den Schlagzeilen zu halten, mit entsprechenden Folgen für die Schuldenstände.

Kapitel 4, „Von Industriebürgern und Lohnarbeitern: Arbeitsbeziehungen, Sozialleistungen und Löhne„, geht wesentlich tiefer auf das Konzept des Industriebürgers ein. Raphael konstatiert, dass ein ganzes Bündel von Gesetzen, Sozialleistungen und vertraglichen Vereinbarungen über den eigentlichen Arbeitsvertrag hinaus die Lebensrealität bestimmten. Die Boomphase mit ihrer Stärkung der Gewerkschaften hatte zu einer mehrfachen Absicherung des Lohnarbeitsverhältnisses geführt, die synonym mit „guter Arbeit“ geworden war. Das bedeutete für Arbeiter*innen konkret die kollektiv-tarifrechtliche Absicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, betriebliche Mitbestimmung, Instanzen für die Durchsetzung dieser Rechte und Schlichtung, Mindestlöhne, individuelle Schutzrechte und zuletzt arbeitsbasierte Ansprüche auf Sozialleistungen.

Raphael weist darauf hin, dass die oft gehörte Lesart, dass dieses Paket fordistischen Produktionsweisen entsprungen sei, in die Irre führe. Es war ein europäisches Unikum, wurde erst in der postfordistischen Ära geschaffen und kam erst nur Facharbeiter*innen und erst später auch Ungelernten zugute. Zwar durchbrach dieses Paket auf der einen Seite die Statusgruppen des 19. Jahrhunderts, schuf aber auf der anderen Seite neue, vor allem im Bereich der Geschlechter (männliches Einernährermodell, Frau als Hausfrau) und des Migrationshintergrunds (ungelernte und Hilfstätigkeiten bei Menschen mit Migrationshintergrund).

Ab 1975 geriet das Tarifrecht, die wichtigste Stütze des Systems, immer mehr unter Beschuss. Interessanterweise war dieser von konservativer Seite vorgebrachte Angriff mit einer Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Erfolge verbunden: eine neue konservative Sozialpartnerschaft nach dem deutschen Modell wurde auch nach Frankreich und Großbritannien übertragen. Die Arbeiter*innen gaben gewissermaßen ihre Macht zugunsten einer Verrechtlichung ab, die den Spielraum der Gewerkschaften massiv einschränkte, gleichzeitig aber den Status Quo sicherte. Dieses interessengeleitete Arrangement erlaubte er der aufstrebenen „new economy„, sich weitgehend außerhalb der Strukturen der Industriegesellschaft zu entwickeln.

An dieser Stelle legt Raphael einen kurzen Exkurs zu gewerkschaftlicher Organisationsmacht ein. In Großbritannien schwand die gewerkschaftliche Macht in den 1970er und 1980er Jahren massiv; die Gewerkschaften verloren über die Hälfte ihrer Mitglieder. In neuen Unternehmen konnten sie sich kaum etablieren. In Frankreich ist eine ähnliche Krise zu beobachten. Die BRD stellt hier die Ausnahme dar; ihre Gewerkschaften kamen glimpflich davon, besaßen allerdings auch ein niedrigeres Ausgangsniveau. Wie in Großbritannien etablierten sie sich in den neuen Bundesländern niemals. Ähnlich sieht die Lage für die Mitbestimmung aus: in Großbritannien wurde sie praktisch pulverisiert, in Frankreich nahm ihr Wirkungsgrad immer weiter ab, während er in der BRD ab 1972 eher ausgebaut und institutionalisiert wurde.

Als nächstes wendet sich Raphael dem System der Löhne und Entgeltsysteme zu. Bis in die 1970er Jahre waren Akkordlöhne der Normalfall, wurden jedoch zunehmend durch Gruppensysteme abgelöst, die die Rolle von Maschinen und Teamwork stärker einbezogen. Die Gewerkschaftsmacht sorgte in Deutschland dafür, dass die Tariflöhne stets mit der allgemeinen Entwicklung mithielten (und zogen auch den Öffentlichen Dienst mit). Einbrüche erlebte das System erst mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und der Wiedervereinigung ab 1990, die für die dortigen Beschäftigten wesentlich schlechter waren. In Großbritannien dagegen war das System nie so flächendeckend gewesen und löste sich ab den 1970er Jahren immer mehr zugunsten des von Liberalen vertretenen Systems individueller Aushandlungen auf, so dass Durchschnittslöhne wenig aussagekräftig sind, weil innerhalb von Branchen starke Variationen bestehen. Zudem machen Überstundenregelungen in Großbritannien einen größeren Teil des Lohns aus (bis zu 40%). Frankreich beschritt hier den Mittelweg: das Lohngefälle war wegen der schlechteren gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht viel größer als in der BRD, aber insgesamt gab es mehr branchenweite Regelungen und Mindestlöhne als in Großbritannien.

Was das Kündigungsrecht anbelangte verbesserte sich die Position der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren wesentlich: in Deutschland und Frankreich durch klare Kündigungsschutzregeln, die in Deutschland zudem in das System der betrieblichen Mitbestimmung eingebunden waren, in Großbritannien durch Schlichtungs- und Abfindungsverfahren. Der Vergleich bleibt aber laut Raphael schwierig; das deutsche und britische System sind etwa viel flexibler als das französische. Der Schutz vor Kündigungen blieb aber in Großbritannien am schlechtesten ausgeprägt.

Trendsetter war Großbritannien dagegen in seiner Gesetzgebung gegen geschlechtliche und rassistische Diskriminierung, die bereits in den 1960er Jahren begonnen und in den 1970er Jahren kodifiziert wurde; bis heute funktioniert diese Gesetzgebung auf Basis ihrer ursprünglichen Form weiter. Frankreich begann erst Ende der 1970er Jahre mit ähnlichen Schutzwirkungen und fügte gegenüber Großbritannien starke Regelungen in der Begrenzung der Wochenarbeitszeit hinzu. Die BRD hielt sich hier lange zurück, so dass die 48-Stunden-Woche dominierte (sie galt bis 1994!). Zu Beginn der 1980er Jahre lag durch Tarifverträge in der tonangebenden Metallindustrie die Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden, sank dann bis zum Ende des Jahrzehnts auf 38,5 und dann bis 1995 auf 35 Stunden. Gleichzeitig verlängerte sich der Jahresurlaub deutlich. Solche Maßnahmen fehlten in Großbritannien völlig. Die auf europäischer Ebene in den 1980er Jahren eingeführten Sicherheitsstandards wurden in Großbritannien notorisch gebrochen, wo der Staat sie auch praktisch kaum kontrollierte; nicht viel besser sah das Bild in Frankreich aus. In Deutschland war die Lage dank der gesetzlichen Mitbestimmung etwas besser, blieb aber ein Problem.

Die Sozialpakete waren ebenfalls sehr unterschiedlich konstruiert. Die britischen Lohnnebenkosten waren niedrig, weil die Sozialleistungen steuerfinanziert waren, wodurch die Arbeiter*innen bei Arbeitslosigkeit stark abstürzten (rund 41% des letzten Lohns). Deutschland (etwa 61%) und Frankreich (60-70%) waren deutlich mehr am Modell der Lebensstandardsicherung hin ausgerichtet und banden die Sozialleistungen deswegen direkt an die Löhne. In allen drei Ländern begann in den 1980er Jahren der Sozialabbau, in dem die Regierungen politisch alle gleich vorgingen: sie „kauften sich Zeit“, indem sie die bisher abgesicherten Arbeiter*innen massiv im Strukturwandel unterstützten und gleichzeitig neue Beschäftigungsverhältnisse aus den Sozialpaketen heraushielten. Dadurch trat auch das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit auf, bei dem dieses Schleifen der Sozialstandards am deutlichsten sichtbar wurde, weil die Anwartschaften verringert wurden (gleichzeitig aber hoch genug blieben, um das System auf Dauer zu überlasten).

Dementsprechend veränderte sich auch die Tonlage. Am stärksten war dies wiederum in Großbritannien zu sehen, wo means tests und andere entwürdigende Maßnahmen die Regel wurden, die zu einer deutlichen Erniedrigung von Sozialleistungsempfangenden führten. Auch in Deutschland und Frankreich schwenkten Regierungen in den 2000er Jahren auf diese Linie ein. Die Folge war „eine Rückkehr elementarer Lebensrisiken in den Erfahrungsraum vieler Arbeiterhaushalte“, die allerdings sehr ungleich verteilt war: manche Gruppen erlebten sie wesentlich schärfer als andere (vor allem Frauen, Ungelernte und Migrant*innen), während andere Gruppen sie eher als Wetterleuchten am Horizont wahrnahmen.

Zum Abschluss des Kapitels kommt Raphael auf drei Arbeitswelten. In der ersten besteht das Prinzip der Sozialbürgerschaft weiter, mit all den Absicherungen, die das mit sich bringt. In der BRD findet sich diese Welt noch in großen Teilen der alten Industriebranchen, in Frankreich fast nur in Großunternehmen und in Großbritannien nur in „Inseln“. In der zweiten Welt gelten Teile des Systems noch, aber die kollektive Interessenvertretung ist allenfalls noch dysfunktional vorhanden. Klein- und Mittelbetriebe, Investoren aus den USA oder Japan und Neugründungen gehören zu dieser Welt. Die dritte Welt schließlich umfasst alle Betriebe, in denen das System auch de jure aufgekündigt worden war, vor allem Kleinunternehmen und der Dienstleistungsbereich.

Kapitel 5, „Facharbeit, Produktionswissen und Bildungskapital: Deutungskämpfe und Neuarrangements„, wendet sich dann der Deutung dieser Entwicklungen zu. Im Zentrum steht der viel zitierte „Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“, da in allen drei Ländern in dieser Zeit „Bildung“ und „Wissen“ zu zentralen Begriffen der Debatte wurden und eine immer größere Rolle spielten. Visionen von der Automatisierung hielten überall Einzug. Die Abwertung von manuellen Tätigkeiten gegenüber geistigen war dabei kein neues Phänomen; schon Karl Marx hatte sie untersucht. Die größte Trennung der Sphären hatte das kapitalistische System des 19. Jahrhundert, in dem alles Wissen beim Fabrikbesitzer lag, während die Arbeiter*innen rein ausführende Tätigkeiten hatten. Die spezialisierte Facharbeit entwickelte sich aus dem Wissen der Handwerker, das diese in die Industrie mitbrachten. Im Verlauf der Industrialisierung nahm die Bedeutung von Wissenstiteln dann immer mehr zu.

Dadurch stieg die Bedeutung der Facharbeiter*innen, deren Anteil konstant zunahm. In Großbritannien blieb dieser Prozess privat, zwischen Betrieb und Auszubildenden. In Frankreich, das ab 1789 die handwerklichen Traditionen geschliffen hatte, übernahm der Staat die Rolle der Zertifizierung, während Deutschland im Kaiserreich das bis heute gerühmte duale Ausbildungssystem entwickelte, in dem die berufliche Seite bei den Unternehmen und die schulische Seite beim Staat lag.

In den 1970er Jahren entwickelte sich nun die neue „Bildungsideologie“, die Raphael als „Herrschaftswissen“ qualifiziert: die Vorstellung, dass man sich in eine „Wissensgesellschaft“ bewege, in der „Kompetenzen“ statt Bildungstiteln und dazu lebenslanges Lernen dominieren würden, galt als Fakt. Theoretische Grundlage war Gary S. Beckers Theorie vom „Humankapital“ (das heute glaube ich nur als Pejorativ vorkommt). Obwohl die Empirie bereits damals gegen diese Vorstellungen sprach, wurden sie aus ideologischen Gründen übernommen und propagierten eine Kombination von öffentlichen Bildungansgeboten mit privaten Zusatzinvestments. Die meinungsbildende Elite modellierte quasi ihren eigenen Status Quo für alle, was angesichts des Fehlens „einfacher“ oder „mittlerer“ Jobs in den Dienstleistungsbranchen in dieser Ideologie umso augenfälliger ist. Sie galten schlicht als veraltet und unattraktiv.

Die Bildungssysteme aller drei Länder widersprachen diesen Vorstellungen in den 1960er Jahren massiv. Ihre „Demokratisierung“ stand deswegen weit oben auf der Agenda, womit neben einem verbreiterten Zugang auch ein wesentlich größerer Praxisbezug gemeint war. Die prophezeite Neuordnung blieb aber aus: formalisierte Bildungstitel blieben zentral, auch wegen des starken Widerstands der Wirtschaft, die das duale System, die Doktortitel etc. beibehalten wollte. Die „Tertiärisierung“ des Bildungssystems war in Frankreich ein großer und eher problematischer Kraftakt, während Großbritannien überhaupt erst in den 1990er Jahren nachzog. Raphael untersucht alle drei Systeme systematisch.

In Deutschland wurden die Fundamente der Expansion noch in der Großen Koalition gelegt, die noch zur Absicherung des industriellen Booms das korporatistische System zementierte. Die ab den 1970er Jahren einsetzende Bedeutungsverschiebung hin zum sekundären Bildungssektor, vor allem Realschule und Gymnasium, wurde von einer immer größeren Durchlässigkeit des dualen Systems begleitet. Dem stand als Negativum ein immer schwerer Zugang von Hauptschüler*innen und Schulabbrecher*innen gegenüber. Insgesamt bewies das System eine „Modernität des Unmodernen“ (Greinert).

Das britische Lehrlingssystem mit bis zu fünf Jahre währenden Ausbildungszeiten erreichte selbst zu seinen Hochzeiten kaum ein Drittel der Jugendlichen und war in den 1960er Jahren in einer tiefen Krise. Dazu kam, dass die Gewerkschaften das System mit dazu benutzten, ihre Macht zu erhalten, indem sie Zugänge kontrollierten. Die Thatcher-Regierung zerschlug die Macht der Gewerkschaften und reduzierte die Jugendarbeitslosigkeit durch die Einführung eines ein- bis zweijähirgen „Youth Training Schemes“, der die Jugendlichen aber nur auf die Wartebank schob und nichts leistete. Die Übertragung der Ausbildung an die Privatwirtschaft scheiterte ebenfalls, weil nur rund ein Fünftel der Betriebe überhaupt ausbildeten. Selbst der unter New Labour betriebene Fokus auf Bildung blieb weitgehend Illusion. Angesichts dieser Lage kam Großbritannien dem bildungsideologischen Ideal einer kompetenzbasierten Gesellschaft am nächsten, in der die Arbeitgebenden bestimmten, welche Fähigkeiten jemand formell besaß. All das hatte den Nebeneffekt, in der Arbeitendenschaft eine Anti-Intellektualität und Ablehnung von Schule festzuschreiben, die das deutsche duale System deutlich verwässern konnte, und so gesellschaftliche Standesgrenzen zu reproduzieren und festzuschreiben.

Das französische System brachte Schulabgänger*innen mit wesentlich höheren und mit der BRD vergleichbaren Standards an Bildung hervor, was dazu führte, dass die Vermittlung von Wissen und Titeln immer mehr auf die Schulen überging und zu einem Bedeutungsverlust der Facharbeitendenschaft führte. Branche um Branche wurden die alten Ausbildungsgänge komplett abgeschafft und durch neue Strukturen mit eigenen Zugangshürden ersetzt.

Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Öffnung des Bildungssystems paraxoderweise die Lage der Arbeiterklasse als Ganzer verschlechterte, weil sie zu einer zunehmenden Bedeutung formaler Abschlüsse führte. Am schlechtesten schnitt das britische System ab, wo der Ausbildungsgrad aller Arbeitenden durch die Fiktion eines Erwerbs im Beruf am geringsten blieb. In Frankreich war der Bildungserwerb durch die Fokussierung auf das staatliche Schulsystem am größten, aber auch praxisfernsten und hatte wegen der auch rechtlich deutlichen Trennung der verschiedenen Klassen einen wenig durchlässigen Effekt; gleichzeitig war das System aber für die dadurch gebildeten Schichten (wie auch in Deutschland) deutlich besser auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt, weswegen diese Länder anders als Großbritannien auch eher auf exportorientierte Qualitätsproduktion setzten, während die Insel eher versuchte, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrigeres Lohnlevel zu erhalten.

Die Arbeit selbst veränderte sich ebenfalls massiv: von einer tayloristischen Organisation ging der Trend zu flexibleren, aber auch fordernderen Arbeitsorganisationen, in denen das Idealbild angestrebt wurde, nachdem jede*r Arbeiter*in bis zu fünf verschiedene Jobs beherrschte (multiskilling). In der Praxis wurde dieses Ideal wegen der Fluktuation und fehlender Ausbildung im Betrieb vor allem in Großbritannien selten erreicht, aber wo es gelang, entstanden große Produktivitätsgewinne.

Raphael beschließt das Kapitel mit sieben Feststellungen. Erstens nahmen die fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitenden zu; zweitens wurden Weiterbildung und -qualifikation für ALLE Arbeitenden zu essenziellen Identitäsmerkmalen; drittens die bereits erwähnte Flexibilisierung; viertens die Herausforderung, die darin vor allem für ältere Arbeitnehmende bestand; fünftens der Generationenbruch („Abschied vom Malocher“); sechstens die Disziplinierung durch eine Null-Fehler-Toleranz und größere Disziplin am Arbeitsplatz; siebtens die Reproduktion von Geschlechterrollen durch die Entindustrialisierung, da die Frauen von den Weiterbildungsangeboten weitgehend ausgeschlossen waren. Zuletzt erinnert Raphael noch einmal an die Bedeutungszunahme der Subjektivierung: was Kompetenzen wert waren und wie Arbeit konkret entlohnt wurde, war immer mehr bilateralen Abkommen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern unterworfen.

Abschnitt 2, „Nahaufnahmen: Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Wandel„, beginnt mit Kapitel 6, „Lebensläufe, Berufskarriere und Jobsuche in Umbruchzeiten„. In diesem kombiniert Raphael quantitative Biographieforschung mit direkten Lebensdokumenten, um ein möglichst exaktes Bild zu erlangen. In der Epoche des Booms war der Einstieg in das Arbeitsleben oft unqualifizierte Arbeit, der dann eine Nachqualifizierung und beruflicher Aufstieg folgte. Raphael untersucht zuerst die 1935-1949 Geborenen, die direkt in die Nachkriegszeit hinein erwachsen wurden und dort Arbeit finden mussten. Prekäre, wechselnde Beschäftigung in den 20ern mündete mit der Familiengründung gegen Ende dieser Lebensdekade häufig in einer langfristigen Bindung an ein Unternehmen, um so Sicherheit zu erlangen, die für Familien so essenziell ist.

Auffällig ist, dass die Produktionsgüterindustrie wesentlich jünger geprägt war, weil hier Akkord- und Schichtarbeit vorherrschten, die vor allem für jüngere Arbeitnehmende attraktiv waren. Den Frauen stand diese Berufskarriere praktisch nicht offen; sie blieben auf ungelernten, temporären Arbeitsstellen hängen. Bis zu den 1970er Jahren, so Raphael, näherten sich die Berufswege ungelernter und gelernter Arbeitskräfte an. Dieser umfassende soziale Aufstieg ermöglichte den Eintritt breiter Gruppen in die Mittelschicht. Damit schien das Ende des Proletariats gekommen; zeitgenössisch sprach man vom affluent worker. Wesentlich schlechter allerdings ging es den meist ignorierten Arbeitsmigrant*innen, die in schlecht bezahlten, prekären Stellungen verharrten. In Deutschland und Frankreich war diese Entwicklung dabei deutlich geradliniger als in Großbritannien, wo regionale Unterschiede und solche der Branche schärfer betont blieben und die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre einschneidender als auf dem Kontinent für Massenarbeitslosigkeit sorgte.

Raphael wendet sich nach dieser Betrachtung der Boomzeit nun wieder der vergleichenden Länderbetrachtung zu, um die Folgen der Deindustrialisierung zu untersuchen. In Frankreich gingen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren; die Reallohnzuwächse der Arbeiter*innen betrugen in den 1970er und 1980er Jahren nur noch 1% und fielen in den 2000er Jahren auf null. Während der Anteil an Migrant*innen insgesamt stabil blieb, waren vor allem die Frauen Opfer der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation. Durch diese Entwicklungen änderte sich die Altersstruktur der Fabriken massiv. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit bedeutete einen viel späteren Eintritt in das Arbeitsleben, der Strukturwandel mit seinen Frühverrentungen, dass die Menschen bereits in den 1950er Jahren wieder aus dem Arbeitsleben ausschieden. Wegen der schlechten Chancen auf einen neuen Job harrten viele ältere Arbeitnehmende auch bei großen gesundheitlichen Belastungen in der Hoffnung auf Frühverrentung auf ihren tayloristischen Arbeitsplätzen aus. Diese Beharrung der Älteren stand in Kontrast zu den prekären Arbeitsverhältnissen der Jüngeren. Für die Unternehmen bedeutete dies, dass Änderungen und Innovationen schwieriger durchsetzbar waren, weil die Älteren änderungsavers waren (und immer sind).

Für Großbritannien hält Raphael zuerst fest, dass die Arbeitsplatzverluste dort wesentlich umfassender und einschneidender waren als in Frankreich oder der BRD. Zahlreiche Arbeiter*innen, die ihre Jobs an die um sich greifende Massenarbeitslosigkeit verloren, wurden zu Servicearbeitenden wider Willen. Mitte der 1980er Jahre war fast die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos, was von der Thatcher-Regierung durch erzwungene „Youth Training Schemes“ verschleier wurde. Auch in Großbritannien bedeuteten die Schließungen für ältere Arbeitnehmende üblicherweise das Ende der Erwerbstätigkeit; auch hier förderte die Regierung über Dauerkrankschreibungen und Frühverrentungen ein das soziale Netz nachhaltig belastendes „Ausgleiten“ aus dem Arbeitsmarkt. Die Erfahrung war für die Betroffenen sehr ambivalent: einerseits waren die verlorenen Arbeitsplätze, gerade im Bergbau, gesundheitlich massiv schädlich und anstrengend. Andererseits hing ihre Identität daran. Die Liberalisierung sorgte gleichzeitig für eine massiv sinkende Verweildauer in den Betrieben und zu steigender Unsicherheit und gebrochenen Erwerbsbiografien.

In der alten Bundesrepublik war der Arbeitsverlust wesentlich geringer und gradueller als in Frankreich und besonders Großbritannien. Auffällig ist, dass die Arbeitsplatzverluste der Männer (die entweder keine oder schlechter entlohnte Arbeit fanden) durch vermehrte Frauenerwerbstätigkeit aufgefangen wurde, gerade in migrantischen Milieus. Hier dominierten auch die unattraktiven Arbeitsverhältnisse wie Nachtarbeit. Wie überall trafen die Rationalisierungsmaßnahmen aber auch in der BRD ältere Arbeitnehmende, die meist frühverrentet wurden (mit den vorhersehbaren Kosten für die Sozialkassen). Das Muster sich nach hinten verschiebender Familiengründungen findet sich auch in Deutschland. Anders als in den Nachbarländern sorgte das duale System aber in Deutschland für eine wesentlich bessere Qualifizierung und Beschäftigung der jungen Generation. Innerbetrieblicher Aufstieg wurde deutlich schwieriger, blieb aber viel realistischer als in Großbritannien oder Frankreich. Zu beobachten ist auch eine starke Zunahme von Teilzeitarbeit, besonders unter Frauen, denen der Weg in die Qualifizierungen und Karrieren weiter weitgehend verstärkt blieb und die auf den unteren Rängen der Hierarchie festgehalten wurden.

Raphael wendet sich als nächstes der Erfahrung von Heirat und Familiengründung zu. Die Klassendominanz der Heiraten endete bis zu den 2000er Jahren nicht. Allerdings heiratete der kleiner werdende Pool der Arbeiter häufiger Angestellte, die (dann oft in Teilzeit) in Dienstleistungen oder dem Öffentlichen Dienst arbeiteten. Die sich nach hinten schiebende Familiengründung bedeutete eine längere Verweildauer im elterlichen Haushalt. Die einheimischen Kinder setzten dabei oft den Aufstiegsweg der Eltern, wenngleich eben zeitversetzt fort. Das galt für die migrantischen Familien viel weniger. Sie waren wesentlich größeren Risiken des Arbeitsplatzverlusts (und damit auch erzwungener Umzüge und verschobener Familiengründungen) ausgesetzt und konnten oftmals keine Aufstiege in die Mittelschicht erleben, da sie auf den unteren Rängen der Arbeitshierarchie festhingen. Gleichzeitig konnten die Kinder in allen Arbeitendenhaushalten allerdings oft die Ausfälle des Haupternährers durch eigene Arbeit kompensieren, so dass die Gesamthaushaltseinkommen häufig trotz Arbeitslosigkeit annähernd gleich blieben (um den Preis erhöhter Frauenerwerbstätigkeit und längerer Verweildauer der Kinder).

Raphael stellt aber abschließend fest, dass die Zeitgenoss*innen wesentlich einschneidendere Wirkungen erlebten, als diese empirisch nachweisbar sind. Einen Grund dafür sieht er im zunehmenden Druck in den Unternehmen selbst, die mit mehr Kontrolle, Weiterentwicklung und Rationalisierung reagierten, die auch Arbeitnehmende ohne Arbeitsplatzverlust als Verschlechterung empfanden. Zudem existierten „Inseln der Beschäftigungsstabilität“ auch in stark betroffenen Regionen. Besonders hervor hebt er den gesellschaftlichen Konsens, dass der Generation der „Malocher“ das Privileg zustünde, von den „Zumutungen von spätem Jobverlust und Dauerarbeitslosigkeit verschont zu bleiben“. Die Beschäftigten reagierten zudem mit größerer Betriebstreue auf die wachsende Unsicherheit. Zudem wurden die ungelernten Jobs weitgehend von Arbeitsmigrant*innen erledigt. Die Lebensphase „Jugend“ verlängerte sich deutlich und führte zu einem Perspektivenwandel. Zuletzt weist er noch einmal auf die Bedeutung der Frühverrentung für den Erhalt des sozialen Friedens hin.

In Kapitel 7, „Betriebliche Sozialordnungen im Umbruch„, ändert Raphael den Blick von dem auf Familienstrukturen zu denen von Betrieben. Diese erlebten auch organisatorisch einen Umbruch; der alte patriarchalische Unternehmertypus wurde zunehmend von unpersönlicheren Strukturen, Metriken und einer Konzentration auf die Entwicklung von Humankapital verdrängt. Die Innovationen jener Jahre führt Raphael weniger auf Begeisterung seitens der Unternehmer*innen als vielmehr die Strukturkrise und die Überlebensnotwendigkeit zurück. Unter den Schlagwörtern lean production und lean managment wurde versucht, Kosten zu reduzieren und so Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Die Gefahr war, dass dies zu einer raschen Abfolge von Managmentpersonal und Organisationsstrukturen führen konnte, die keinerlei Bezug zum Unternehmen besaßen und rein die Kostenseite im Blick hatten, was zu einem Teufelskreis aus Entlassungen, zunehmender Distanz vom Betrieb und sinkender Arbeits- und Produktqualität führen konnte.

Diese „negative Betriebsidentität“ ist für Raphael ein Beleg der Existenz und Bedeutung der Identität der Belegschaft mit dem eigenen Betrieb. Er sieht die Fabrik als „soziales Handlungsfeld“, in Deutschland geprägt von der „Produktionsgemeinschaft“ innerhalb der Belegschaft und zwischen ihr und dem Managment, die Konflikte als „empfindliche und vermeidbare Störung“ empfindet. Dieser Idee stehen marxistische Entwürfe schroff gegenüber, der (fälschlich) eine Dominanz des neoliberalen, einzig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Organisationsmodells vorhersagte. Dem stehe eine „überraschende Vielfalt“ an Betriebsordnungen gegnüber. Diese ordnet Raphael in eine Matrix zwischen monokratisch-pluralistisch und sozialintegrativ-kontraktuell, aus der er vier Typen synthetisiert: paternalistische Betriebe (sozialintegrativ/monokratisch), „Arbeitshäuser“ (kontraktuell/monokratisch), Kooperativ-konsensorientiert oder konfrontativ-konfliktorisch (sozialintegrativ/pluralistisch) sowie „Marktgesellschaften“ (kontraktuell/pluralistisch).

Dazu identifiziert er vier Typen von Sozialbindungen in Betrieben. Zuerst berufsbezogene Verbindungen wie die der Facharbeiter (die besonders in Deutschland dank der betrieblichen Mitbestimmung Einfluss hatten), danach die der konkreten Arbeitszusammenhänge von zusammengehörigen Arbeitsabläufen (mit dem Großtrend der Verselbstständigung von Arbeitsabläufen und der damit einhergehenden „Professionalisierung“), drittens die Fabrik oder das Werk (die an Bedeutung verlor) und viertens die Belegschaft in der Struktur des Konzerns oder der Unternehmensgruppe. Letztere markierten in der betrachteten Episode einen bedeutenden Umschwung durch die Fusionen und Aufkäufe besonders der 1990er Jahre.

Im Ländervergleich fällt die seit 1919 starke Betonung kooperativer Formen in Deutschland auf, während diese in Großbritannien die Ausnahme darstellen. In Frankreich versuchte die Regierung zwar, Kooperation zu fördern, hatte aber gegen die eher monokratische französische Unternehmertradition wenig Erfolg, weswegen das Land wesentlich konfliktorientierter sei. Gleichzeitig gebe es aber viele Gemeinsamkeiten, etwa die Gemeinschaftsstrukturen der „work crews“ in körperlich fordernden Jobs. Dies sei aber branchenabhängig; in der Lebensmittelindustrie bestehe eine starke Trennung zwischen Facharbeitenden und Un- und Angelernten. Konflikte würden oft eher konstruktiv gelöst, wo das Ende patriarchalischer Ordnungen mit Gewerkschaften verhandelt werden konnte, während ansonsten eher der oben beschriebene Teufelskreis eintrete.

Exemplarisch macht Raphael all dies an der Automobilindustrie deutlich. Entgegen der oft gehörten Behauptung konnten die Unternehmen die Bandarbeit nur parziell durch Automatisierung ersetzen, weswegen halb-autonome Arbeitsgruppen eher die Regel wurden. Besonders hervorzuheben ist hier der Einfluss der japanischen Methoden. Hohe Löhne, hohe Sozialleistungen und hohe Ansprüche an die Belegschaft liefen in Tandem und wurden auf Kosten der Zulieferer und deren Belegschaften realisiert, was eine deutliche Zwei-Klassen-Gesellschaft in den Unternehmen und Arbeitsbedingungen mit sich brachte. Der Strukturwandel brachte einen Wechsel von konfrontativen Methoden zu solchen der passiven Arbeitsplatzerhaltung mit sich. So entstanden zwar kooperative, aber in von oben verordnete Sozialstrukturen eingebettete Sozialordnungen. Der Versuch gerade der japanischen Unternehmen, durch Ansiedlungen in strukturschwachen Regionen Streiks und Konfrontation zu vermeiden, ging nicht immer auf; der erste Streik bei Toyota seit 1950 etwa ereignete sich im gerade deswegen ausgesuchten Valenciennes 2009.

Der Wettbewerbsdruck führte in der Bundesrepublik zu einer Verdichtung der kooperativen Arrangements. Diese brachten der westdeutschen Wirtschaft einen deutlichen Wettbewersvorteil gegenüber den britischen und französischen Modellen. Dies erlaubte es den Betriebsräten, Sicherheitszusagen durch Steigerungen der Produktivität in modernen Akkordsystemen (die auf ganze Betriebe umgelegt waren) zu erreichen, ein win-win-Szenario. Die längeren Betriebszugehörigkeiten sorgten für ein Investment der Arbeitnehmenden in den Betrieb und seinen Überlebenskampf in der globalen Transformation, der gerade britischen Betrieben häufig abging, die zwar kuzrfristig starke Strukturen besaßen, aber kaum Langfristigkeit.

Anders als in der Autoindustrie sah die Lage in krisengebeutelteren Branchen aus. Hierbei sieht er drei Problemkonstellationen. Zuerst die Bildung von Notgemeinschaften, die etwa tarifliche Untergrenzen freiwillig unterschritten oder die Produktion demokratisch weiterführten, obwohl die Unternehmensleitung das nicht mehr wollte, alles mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Die zweite Kategorie war der „mühsame Auszug aus dem Patriarchat“ (Kotthoff), das Erkämpfen von pluralistischen Beteiligungsrechten. Zum dritten beschreibt er das Auseinanderbrechen bestehender Sozialstrukturen bei zu starken personellen Einschnitten, das dann die Übernahme innovativer Methoden wegen des Misstrauens gegen das ortsfremde Managment nicht ermöglichte.

Raphael endet das Kapitel mit einer Betonung der Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen für den wirtschaftlichen Erfolg, die oft übersehen werde. Die Anerkennungskämpfe der Deindustrialisierungszeit brachten vor allem Gewinne für bisher marginalisierte Gruppen (vor allem Arbeitsmigrant*innen). Anders als von marxistischen Theorien prophezeit habe es auch keine weitgehende Zerstörung der Sozialordnungen durch die neuen Managmentmethoden gegeben, die zwar oft Druck und Innovation brachten, aber nicht zwangsläufig in neoliberaler Ausbeuterei mündeten. Gleiches gilt für technische Innovationen: sie „gaben den Entwicklungen betrieblicher Sozialordnungen keine Richtung vor“. Besonders erfolgreich seien die Bündnisse für Arbeit gewesen, die es in allen drei Ländern gab. Mit das erfolgreichste Modell war das der „Koevolution“, der betrieblichen Mitbestimmung.

Verschlechternde Betriebsordnungen findet Raphael vor allem in krisengebeutelten Betrieben, in denen die Unternehmensleitung autokratisch („Arbeitshäuser“, wir erinnern uns) die Ordnung aufrecht erhielten und ihre Vorstellungen durchsetzten. Hier standen sich Kapital und Arbeit scharf gegenüber und war die Stimmung schlecht. Insgesamt aber macht er, vielleicht überraschend, einen relativen Gewichtsgewinn pluralistisch-kooperativer Betriebsordnungen aus.

In Kapitel 8, „Industriedistrikte, „Problemviertel“ und Eigenheimquartiere: Sozialräume der Deindustrialisierung„, wirft er dann abschließend den Blick auf die Lebensbedingungen der Arbeitenden außerhalb der Betriebe. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung die Sozialräume nachhaltig geändert hat (was, anders als in den Industriebrachen der USA, in Europa zu weitgehender Umgestaltung und Orten der Erinnerungskultur geführt hat).

Besonders einschneidend sei die Schaffung neuer regionaler Disparitäten, besonders einschneidend im Nord-Süd-Gegensatz Großbritanniens. Auch der Gegensatz von Stadt und Land vertiefte sich. In Deutschland war die Lage ähnlich, wo 1990 zum Nord-Süd-Gefälle auch eines zwischen Westen und Osten hinzukam. Der deutsche Süden und Südwesten profitierten indes davon, dass Kohle und Stahl nie eine große Rolle gespielt hatten und die Transformation deswegen leichter zu verkraften war. Ähnliche Divergenzen finden sich auch in Frankreich. Besonders betroffen waren überall die monoindustriell geprägten Gebiete.

Raphael „zoomt“ nun näher an betimmte Industriedestrikte heran. Besonders erfolgreich waren etwa jene, die eine verwurzelte Hochqualitäts-Arbeitskultur besaßen. In anderen Regionen sorgte die Dominanz von Großkonzernen für eine klare Hierarchie mit zahlreichen abhängigen Zuliefererbetrieben. Gleichzeitig brachte die Transformationszeit eine Renaissance kleinerer und mittlerer Betriebe. Diese Neubildungen waren besonders in der BRD signifikant, während Großbritannien und Frankreich stärkere Deindustrialisierung statt Umbildungen erleben mussten. Oft waren die großen Automobilkonzerne die Fixpunkte dieser Entwicklung. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist auch der Wegzug der Angestellten und Facharbeiter aus den Städten in die Vorstädte (Suburbia).

Diese Entwicklung nimmt Raphael in einer zweiten Zoomstufe unter die Lupe. Er macht eine bestehen bleibende räumliche Trennung des Bürgertums, der Angestellten und den Arbeitenden aus; lediglich in Einzelfällen sei das Ideal sozialer Durchmischung erreicht worden. Gleichwohl änderten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitendenklasse massiv: die alten Elendsviertel verschwanden zugunsten der einheitlichen Betonkomplexe (die zwar unästhetisch, aber wesentlich komfortabler waren). Dieser Aufstieg in den Lebensbedingungen war direkt mit massivem sozialem Wohnungsbau verknüpft. Als dieser in den 1980er Jahren praktisch eingestellt wurde, endete auch der große Auszug des Proletariats in bessere Wohnverhältnisse. Stattdessen förderte der Staat, besonders unter konservativen Regierungen, den Erwerb von Wohneigentum.

Die Trends verliefen in den Ländern hierbei unterschiedlich: in Großbritannien etwa mit hohen Eigentumsquoten in engen Reihenhaussiedlungen, in der BRD mit Einzelhäusern und Doppelhaushälften bei höherem Mietanteil. Die Deindustrialisierung und das neue Leitbild des Wohneigentums veränderten die Wohnräume radikal. Einerseits entstanden die bürgerlichen Wohngebieten, andererseits die verwahrlosenden „Problemviertel“ der Unterschicht in den in der Boomphase errichteten Arbeitendenquartieren (paradigmatisch in den Pariser Banlieus verkörpert). Die soziale Durchmischung existierte zwar, allerdings nicht in den einstigen sozialdemokratischen Mustersiedlungen, sondern in den Randgebieten, in denen der Bausparvertrag regierte. Die alten Wohnviertel wurden ethnisiert, soziale Probleme und Migration untrennbar miteinander verbunden.

Die Migration war überhaupt ein wichtiger Aspekt. Der rund 15-17% betragende Anteil der Arbeitsmigrant*innen lebte oft lange in Provisorien und schaffte nur langsam, wenn überhaupt, den Aufstieg in bessere Quartiere. Die von den Regierungen erhoffte massenhafte Rückkehr blieb mangels Perspektiven aber auch oft unrealisiert. Je länger diese Zustände dauerten, desto weniger blieb ein Rückkehrwunsch erhalten (bei den türkischen Migrant*innen in Deutschland etwa sank er von 80% 1985 auf 20% 2005). Den Migrant*innen gelang auch nur selten der Weg in die Festanstellung. Diese Entwicklungen waren in Großbritannien sogar noch ausgeprägter und wurden von der Regierungspolitik aktiver befeuert; hier entstanden „Problemzonen der Dienstleistungsgesellschaft“.

Dieser Wandel der Sozialräume und die wachsende Bedeutung der Migrant*innen führte spiegelbildlich zu einem Verschwinden der klassischen Arbeiterkultur, ihrer Vereine, Organisationen und sozialen Netzwerke. Besonders in Krisenregionen lösten sich diese Milieus einfach auf. Die auf Werten ehrlicher Arbeit und Anstrengung beruhende „Malocher“-Kultur verlor vor allem in diesen Krisenregionen an Bedeutung – und gerade in diese zogen mangels Alternativen besonders viele Migrant*innen. In den kleinstädtischen Wohnquartieren blieben Sozialstrukturen eher bestehen, blieben aber regional bezogen und klassenübergreifend. Ebenfalls zerstörerisch auf diese Milieus und Wertestrukturen wirkten Managmentwechsel und Unternehmensreformen, die klassische Patriarchen durch gesichtsloses Managment ersetzte und betriebliche Sozialleistungen abschaffte.

Industrielle Sozialformen zogen sich so in die Randbereiche zurück, hörten aber nicht komplett zu existieren auf. Besonders, wo eine „untere Mittelschicht“ entstand (meist im Dienstleistungssektor beheimatet), blieben starke Strukturen erhalten oder bildeten sich neu. Die erhoffte Durchmischung blieb auch wegen der zunehmenden Bedeutung des Pendelns aus, das immer größere Ausmaße annahm. Das Verschwinden der monoindustriellen Gebiete sorgte auch für ein Verschwinden industrieller Ballungszentren, das nicht ausgeglichen wurde.

Im Schluss, „Die Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart?„, fasst Raphael wichtige Aspekte noch einmal zusammen. Erstens habe die Deindustrialisierung zum ersten Mal seit 1945 wieder klare Gewinner und Verlierer produziert; der „Fahrstuhleffekt“ des Booms hörte auf. Ab den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen sehr bescheiden, die Qualität der Arbeit aber nahm vielfach zu. Die britische Entscheidung zu radikaler Deindustrialisierung habe den sozialen Gegensatz im Land einerseits, aber auch den zwischen Insel und Kontinent andererseits bereits lange vor dem Brexit vertieft. Industrielle Arbeit sei dort am erfolgreichsten geblieben, wo technische Innovationen die Veränderungen herbeiführten. Die anhaltende Wirkung des Betriebs als positiver Bezugspunkt sei ein Beweis für die Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen, bei denen ein pluralisierend-kooperativer Trend zu beobachten sei. Andererseits war auch die Transformation von Betrieben in „Arbeitshäuser“ ein Teil dieser Realität.

Der „Abschied vom Malocher“ sei aber auch als sozialer Prozess zu begreifen, etwa durch die Verbreitung von Wohneigentum und den Abschied vom männlichen Ernährermodell. Der Anteil an Frauen an Fachkräften nahm langsam, aber beharrlich zu. Dazu komme eine Pluralisierung der Kultur durch die Einebnung der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur. Raphael schließt sein Buch mit der Feststellung, dass viel weitere Forschungsarbeit vonnöten sei und verteidigt seine Periodisierung 1970-2000 unter anderem mit dem Generationenargument (viele der ab 1970 Betroffenen gingen in Rente) und der Musealisierung der alten Industriekultur in den 2000er Jahren.

Lutz Raphaels Werk scheint mir ein ähnliches Grundlagenwerk für die Epoche der Deindustrialisierung zu sein wie Osterhammels für das 19. Jahrhundert. Ich halte auch die Prämisse, dass in dieser Zeit eine Deindustrialisierung in Westeuropa (und Nordamerika) stattfand und dass diese einen entscheidenden Umbruch bedeutet, für kaum kontrovers. Die Begrifflichkeit klingt zwar drastisch, weil sie negativ aufgeladen ist; die gleichzeitige Transformation hin zur digitialisierten Dienstleistungsgesellschaft aber (die ja genau der Prozess ist, den der Ostblock genauso wie die Deindustrialisierung verpasste) ist ein elementarer Baustein um Verstehen unserer heutigen Welt. Ich empfehle Raphaels Buch daher vollumfänglich und bitte vorauseilend um Entschuldigung, wenn ich durch das Zusammenfassen vereinfachend oder irreführend war; das Werk ist ziemlich dicht geschrieben und nicht eben für das beiläufig-entspannende Lesen geeignet. Ich möchte die Rezension mit einigen eigenen Beobachtungen beschließen.

Der Punkt Raphaels, dass trotz des Verlusts des sozialistischen Klassenbewusstseins („Proletariat“) in der Wahrnehmung der unteren Schichten ein eher soziologisches bestehen blieb („Wir gegen die“), scheint mir gerade im Ignorieren dieser Wahrnehmung ein oft übersehenes Mosaiksteinchen in der Erklärung heutigen Elitenhasses zu sein, aus dem ja die AfD ihre Stärke bezieht. Vor allem sehe ich darin den häufigen Fehler, von der AfD (oder den Republicans oder Tories) als „neuer Arbeiterpartei“ zu sprechen; diese finden in jenen Milieus zwar durchaus Zuspruch, aber eben nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie es verstehen, diesen Gegensatz zu bedienen, den die Sozialdemokratie durch ihren Schulterschluss mit dem Kapital („Dritter Weg“), der paradoxerweise ja in den kooperativ-pluralistischen Betriebsordnungen gerade zum Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze gführt hat, erst freigegeben hat.

Ebenfalls unterschätzt scheint mir die Rolle der Frühverrentung als versteckte Subvention zur Erleichterung des sozialen Übergangs. Die Politik der Zeit verstand es, dass die Transformation nur dann möglich war, wenn der Übergang gleitend und abgefedert erfolgte (eine Erkenntnis, die der heutigen Politik mit dramatischen Folgen völlig abgeht). Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden; gleichzeitig aber halte ich das Fehlen eines Aufstiegs radikaler Parteien durch die gesamte Transformationszeit in nicht unerheblichem Maße auf genau diese Entwicklung zurückführbar. Das erfordert in meinen Augen eine wesentlich intensivere Beschäftigung.

Ebenfalls auffällig ist für mich das Wechselspiel zwischen der Expansion des Bildungssektors und der Transformation der Wirtschaft. Beide verstärkten sich wechselseitig. Die Wirtschaft erforderte einen immer besseren Ausbildungsstand, weil die Tätigkeiten individueller, verantwortlicher und komplexer wurden, während gleichzeitig das allgemeine Bildungsniveau immer weiter anstieg und einen Aufwärtsdruck erzeugte, der vermutlich auch maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die marxistischen Verarmungsprognosen nicht eintraten und eben nicht eine monokratische „Arbeitshaus“-Kultur entstand, sondern die Betriebsordnungen sich eher pluralisierten.

Bemerkenswert ist für mich zudem, auch wenn Raphael sich jeglicher Wertung enthält, dass das britische Modell im Vergleich nicht besonders gut aussieht. Die rapide Entmachtung der Gewerkschaften und forcierte Deindustrialisierung führte zu einem so großen Wohlstandsverlust, dass er von den Gewinner*innen der Transformation nicht wirklich aufgeholt werden kann. Demgegenüber ist es auffällig, welche positiven Effekte auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzerhalt das deutsche Mitbestimmungssystem besaß, weil es Exzesse beider Seiten – krassen Kahlschlag oder massive Streiks – vermied.

Auch ein wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf den heutigen Aufstieg der Rechtspopulisten, ist die Ambivalenz zwischen dem „Verlust“ schlechter Arbeit – also körperlich anstrengender, monotoner und gesundheitsschädlicher Arbeit – einerseits und der Identität als „Malocher“ andererseits. Die Deindustrialisierung und Frühverrentungswelle hatte für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mit Sicherheit positive Auswirkungen, auf die mentale Gesundheit aber nicht zwingend, weil die Identität als männlicher Alleinernährer und „Macher“ verschwand und dazu noch von Randgruppen wie Frauen und Migranten übernommen wurde.

Zentral für das Verständnis der gesamten Boom- und Transformationsära finde ich das Konzept des „Industriebürgers“. Es beschreibt ziemlich gut, welche Teilhabeerwartungen an das System gerichtet wurden und wo ein großer Teil der Zufriedenheit mit dem System diese Teilhabe und die damit verbundenen Leistungen erbrachten. Besonders relevant scheint mir die Sicherheit: in dem Moment, in dem die Vollbeschäftigung verschwand, wurde Sicherheit zum obersten Wert der Beschäftigten (völlig nachvollziehbar), was deren Handlungen und Herangehensweisen erklärt. Die Sicherung von Beschäftigung wurde dadurch zu einem Element, das die Effizienz maßgeblich mitbestimmte: wo dies besser gelang, wie in der BRD, und die Industriebürgerschaft größeren Schichten offen blieb, war die Effizienz auch höher als in Ländern, die das wie Großbritannien nicht ermöglichten.

Zuletzt halte ich Raphaels Betonung der Bedeutung der Betriebsordnungen für wichtig, weil diese gerne hinter Kennzahlen verschwinden. Zwar mag es durchaus sein, dass man die Belegschaft eines Standorts um zwei Drittel kürzen kann und auf dem Papier trotzdem die Produktion aufrechterhalten wird; gleichzeitig führt dies aber zu einem solchen Moralverlust, dass eben diese Produktion gefährdet ist und dass die Arbeitenden zu passiven bis sogar widerständigen Elementen werden, die zwar „Arbeitshaus“-Abläufe leisten können, aber die in der globalisierten Wirtschaft der Wissensgesellschaft zunehmend gefragten individuellen und kooperativen Strukturen nicht leisten können und wollen.

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