Shlomo Venecia – Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz (Hörbuch)
Teil 1 hier.
Das letzte Kapitel, „The Shoa, Auschwitz and the Sonderkommando„, entstammt nicht mehr Venecias Hand, sondern kommt als historischer Kommentar. Es legt quasi als Grundlage den Verlauf der Shoa dar, beginnend bei den Judenboykotten 1933 (über die die Behauptung postuliert wird, es habe kaum negative Reaktionen in In- und Ausland gegeben, wo genau diese dazu führten, dass die Nazis ihre Taktik änderten und solche Maßnahmen bis zur Reichspogromnacht 1938 nicht wiederholten). Die kommenden Jahre waren von rechtlicher Diskriminierung gekennzeichnet, die ihren Gipfel in den „Rassegesetzen“ 1935 fand. Das Ziel war, die Juden zur Auswanderung zu treiben (was, worauf das Kapitel aber nicht eingeht, durch die gleichzeitige Ausplünderung natürlich konterkariert wurde).
Die Reichspogromnacht stellte eine erneute Verschärfung dar. Gleichzeitig begann eine Einweisung von Juden in Konzentrationslager, die zu diesem Zeitpunkt massiv ausgebaut wurden und ihren Charakter änderten (vorher dienten sie der Inhaftierung politischer Gegner). Dies betraf aber nur einzelne Gruppen, eine koordinierte Einweisung erfolgte erst im Krieg. Dieser markiert den Beginn der Massentötungen, vor allem ab 1941, zuerst in Erschießungskommandos und mit Gaswägen, dann zunehmend in spezialisierten Lagern. Die ersten Experimente fanden auch für die improvisierten Gaskammern (denen vor allem sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer fielen) mit CO2 statt, doch das für Definizierung benutzte Zyklon B löste dieses bald ab.
Das System der Konzentrationslager erfuhr eine zweifache Ergänzung. Einerseits wurden zahlreiche Außenlager errichtet, vor allem in Auschwitz, in denen körperlich fähige Gefangene zu Tode gearbeitet wurden, und andererseits die Vernichtungslager, die im Falle Birkenaus in die reguläre Lagerstruktur integriert waren und im Falle von Chelmo, Majdanek, Treblinka und Belczek letztlich nur aus dem Ende der Bahnstrecke und den Gaskammern mit Krematorium bestanden. Der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit war 1944 erreicht und fand seinen grausigen Ausdruck in der Vernichtung von über 400.000 ungarischen Juden binnen weniger Wochen. Danach wurden die Lager und viele der Beweise vernichtet, als die Rote Armee näherrückte. Die Todesmärsche begannen. Auch die Arbeit der Sonderkommandos wird in dem Kapitel noch einmal erklärt.
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Die Lektüre von Shlomo Venecias Erinnerungen ist, wie man sich vermutlich denken kann, nicht gerade leichte Kost. Es bietet Antworten auf Fragen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hatte – und Venecia beantwortet diese auf eine ausführliche Art, die mich an Vladek Spiegelman erinnert – selbst die Diktion, die wenigstens in der englischen Übersetzung durchkommt, erinnert an ihn, obwohl die beiden aus völlig anderen Kulturkreisen kommen (polnische Juden vs. Sephardim), etwa im ständigen Einschub des „anyway„. Wie Vladek Spiegelmanns Erzählung bleibt auch Shlomo Venecia eng an seinem eigenen Erleben; er weigert sich kategorisch, über Dinge zu sprechen, die er nicht aus eigener Anschauungn erlebt hat. Der Kosmos des Sonderkommandos war winzig; acht Monate im Krematorium und den Baracken darumherum. Trotzdem enthielten sie unvorstellbaren Horror, und dieser spiegelt sich in Venecias Antworten auf die Fragen, die ihm in dem Interviewformat gestellt werden. Ich fand mich immer wieder zustimmend nickend, wenn es um diese Fragen ging; ich hätte an denselben Stellen dieselben gestellt.
Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Logistik der Gaskammern. Die Bilder, wie Menschen in den Keller steigen sind hinreichend bekannt, aber wie lange dieser Prozess dauerte und wie die SS die Kontrolle über die Todgeweihten behielt eher nicht. So ließ man Familien beieinander, nicht aus Menschlichkeit – die restlichen Prozesse und der ständige Sadismus bezeugen dies nachhaltig -, sondern weil das verhinderte, dass Flucht- oder Widerstandsgedanken entwickelt wurden. Das Hinuntersteigen, Entkleiden und Betreten der Gaskammer dauerte Stunden. Von dem Zeitpunkt, als die ersten Opfer die Kammer betraten, bis zum Verschließen derselben vergingen oft 60-90 Minuten – qualvolle Zeit, die durch die Prügel der SS und ihre psychologische Folter (die die Männer hauptsächlich aus Spaß durchführten) noch erhöht wurde. Da die Kammern so voll wie möglich gemacht wurden, wurden starke Männer zuletzt in die Kammern getrieben und so stark geprügelt, dass sie mit aller Macht hineindrängten – wodurch Kinder und Schwache bereits vor dem Gaseinwurf erquetscht und zu Tode getrampelt wurden.
Allzu stark hält sich auch noch der Irrglaube, dass der Tod in den Kammern relativ schnell vonstatten ging. Wie Venecia trocken feststellt, sind 10-12 Minuten des nach Luft Schnappens eine lange Zeit. Dazu die Panik, die Schreie, die Enge, die Dunkelheit – das Martyrium ist beinahe unvorstellbar, umso mehr, als dass es keine überlebenden Augenzeugen gibt. Die SS-Männer distanzierten sich in ihrer Feigheit maximal von diesem mörderischen Tun: die Klappe über dem Gaseinwurf wurde vom Sonderkommando geöffnet und geschlossen; nur den Einwurf selbst betätigte ein SS-Mann. Auch beim Herausholen der Leichen und Reinigen der Kammern ließ sich die SS kaum blicken. Die Sonderkommandos arbeiteten recht eigenständig, aber unter ständigem Performancedruck: schafften sie eine „Ladung“ nicht innerhalb von 72 Stunden, liefen sie in Gefahr, selbst Teil der nächsten zu werden.
Da ist natürlich auch die Frage, ob die Sonderkommandos je eigene Verwandte vergasen mussten. Auch dieser Horror blieb ihnen nicht erspart. Venecia erzählt davon, wie sein Onkel Teil einer „Selektion“ wurde. Er traf ihn im Ausziehraum der Gaskammer, ein ausgemergeltes Skelett, dem Tode nahe. Die einzig menschlichen Gesten, die ihm blieben, waren ihm einen letzten Bissen Essen zu geben und ihn über die Qual des bevorstehenden Todes zu belügen. Sie umarmten sich kurz, bevor sich die Tür der Gaskammer hinter Venecias Onkel schloss.
Venecia beantwortet auch ausführlich die Frage, inwieweit die Gefangenen ihr Schicksal ahnten. Üblicherweise tat die Desorientierung der Ankunftsprozedur ihren Dienst und sorgte dafür, dass die in Zügen ankommenden Menschen nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Eine andere Sache war das bereits mit den Deportierten aus den Ghettos. Sie, die schon als halbe Leichen ankamen, hatten jede Illusion über den Charakter der Deutschen und ihr Schicksal verloren, ahnten durchaus, was ihnen bevorstand, waren aber psychisch und körperlich so am Ende, dass sie meist willenlos in den Tod stolperten. Am deutlichsten stand Insassen des Lagers selbst ihr Schicksal vor Augen. Wer in Birkenau inhaftiert war, wusste um die Kammern. Meist vergasten die Nazis Häftlinge, die krank waren und dadurch bereits so geschwächt, dass sie keine Chance auf Widerstand hatten (etwa Venecias Onkel), oder sie deportierten die Häftlinge in ein anderes Lager wie Majdanek, um den Effekt der Desorientierung wieder auszunutzen.
Gab es Solidarität unter den Gefangenen? Für Venecia ist die Frage letztlich ein Kategorienfehler. Solidarität gibt es, wenn man etwas zu essen hat. Wer hungert, lebt in vollständigem Egoismus. Die Beschreibung des nagenden Hungergefühls, das alles andere überschattet, ist mehr als eindrücklich. Die blanke Not verhinderte jede Solidarisierung, machte die Vorstellung eines Austauschs komplett undenkbar. Jede Minute des Tages war auf das eigene, unmittelbare Überleben gerichtet. Dass es den Kapos des Sonderkommandos unter diesen Bedingungen überhaupt gelang, über Monate einen so komplexen Aufstand zu koordinieren, ist absolut beeindruckend.
Unterhielten sich die Häftlinge untereinander? Praktisch gar nicht. Auch diese Erzählung Venecias deckt sich mit denen anderer Überlebender. Die Reduzierung der Menschen auf das pure Überleben, die permanente Erschöpfung, der nagende Hunger machten jedes Gespräch undenkbar. Sie unterhielten sich nicht einmal über ihre unmittelbare Arbeit und ihren Allltag. Es ist ein vollkommenes Auslöschen der Identität; die Metapher der „Roboter“, die Venecia immer verwendet, hat auch hier ihren Ursprung. Auch über die Erlebnisse in den Lagern sprachen die Gefangenen kaum.
Die Haltung zum Reden über Auschwitz in den Jahren nach 1990 teilt Venecia ebenfalls mit anderen Überlebenden. Erste Versuche, nach dem Krieg über das Erlebte zu sprechen, scheiterten. Nicht an dem Unwillen der Überlebenden zu reden, sondern am Unwillen ihrer Umwelt, ihnen zuzuhören. Ihnen wurde vorgeworfen zu lügen, man hielt sie für verrückt, zweifelte ihre Worte an. Was mich so überrascht ist, dass das Verschließen gegenüber dem Thema, das Totschweigen, dann so lange hielt. Denn spätestens ab den Auschwitz-Prozessen oder doch wenigstens der Ausstrahlung von „Holocaust“ 1979 drehte sich der Wind diesbezüglich ja. Aber die Augenzeug*innenberichte nahmen tatsächlich erst in den 1990er Jahren an Fahrt auf. Wie schrecklich musste es gewesen sein, nicht nur diesen Horror zu erleben sondern dann auch noch das Erlebte abgesprochen zu bekommen, oft genug von jenen, die Denunziant*innen oder aktive Täter*innen gewesen waren.
Ich schreibe in der Rezension immer wieder „die Nazis“, aber es ist bemerkenswert, dass Venecia selbst in seinem Bericht immer von „die Deutschen“ spricht. Man kann es ihm nicht verübeln. Die einzigen Deutschen, denen er in diesen Tagen begegnete, waren Wehrmachts- und SS-Angehörige, und sie alle waren ausnahmslos willige Partizipierende am Holocaust, in den meisten Fällen mit sadistischem Vergnügen. Dieser Sadismus ist etwas, der ebenfalls eine Hervorherbung verdient. Denn die gleiche Fehleinschätzung von der „deutschen Effizienz“, einer angeblichen Kühle und technokratischen Distanziertheit, der die Opfer des Holocaust aufsaßen, teilen wir auch heute noch. Das Bild, das Venecia – und zahlreiche andere Überlebende – von den Tätern zeichnen ist kleiner, gewöhnlicher, banaler. Es sind trinkende, sadistische Gestalten. Keine Herrenrasse weit und breit.
Was das letzte Kapitel angeht sind die historischen Überblicksinformationen durchaus nützlich, doppeln sich aber stark mit den Erzählungen Venecias. Ich sehe, warum sie integriert wurden – Venecias intellektuelle Integrität, nur über seinen eigenen Erfahrungsbereich zu sprechen, lässt viele Details aus – aber gleichzeitig wäre hier eine bessere Anbindung an das Buch wünschenswert gewesen. Ich frage mich auch, ob das Kapitel vorzuschalten nicht besser gewesen wäre.
Das aber nimmt nichts von der eindrücklichen Qualität des Werkes. Venecias Schilderung ist von einer brutalen Intensität. Die Geschichten verfolgen mich teilweise immer noch, und die Details des Holocaust auf diese Art erzählt zu bekommen hilft einmal mehr, sich das Ausmaß und die ganze Brutalität, die furchtbare Entmenschlichung, vor Augen zu rufen. Der blanke Horror dieses Ereignisses geht allzu oft in einer ritualisierten, bereinigten Variante unter, weswegen gerade solcherlei Schilderungen so unglaublich notwendig sind. Ich spreche daher eine unbedingte Leseempfehlung aus.