Rezension: Eleanor Janega – The Once and Future Sex: Going Medieval on Women’s Roles in Society

Eleanor Janega – The Once and Future Sex: Going Medieval on Women’s Roles in Society (Hörbuch)

„Zustände wie im Mittelalter“ ist ein geflügeltes Wort, um vage rückständige und unattraktive Zustände zu beschreiben. Dabei wissen wir sehr wenig über diese Epoche und arbeiten oft mit Klischees, die Autoren aus der Renaissance und der Neuzeit prägten, um ihre eigene Zeit in strahlenderem Licht erscheinen zu lassen. Eleanor Janega hat es sich bereits seit Längerem zur Aufgabe gemacht, Fehlvorstellungen über das Mittelalter zu korrigieren. Auf ihrem Blog „Going Medieval“ veröffentlicht sie immer wieder solche Betrachtungen. Nun liegt ein Buch von ihr vor, in dem sie die Rollenbilder von Frauen im Mittelalter untersucht – ihre ideengeschichtlichen Ursprünge, die Schönheitsideale, Sexualität, Arbeitswelt und natürlich die Frage, warum uns das alles heute überhaupt noch interessieren sollte.

In Kapitel 1, „Back to Basics„, beginnt Janega mit der Darstellung der Rolle der antiken Autoren. Diese galten im Mittelalter wie auch in der Renaissance als unbestechliche Autoritäten, weil sie alt waren – und je länger etwas her war, desto näher war e san biblischen Zeiten, desto näher war es an Gott, und desto richtiger musste es also sein. So galt Hippokrates als unbedingte erste Autorität in der Frage der Unterscheidung von Männern und Frauen. Die seinerzeit unhinterfragte Vier-Säfte-Lehre, nach der jeder Mensch vier „Säfte“ im Körper habe, deren Austarierung seine Gesundheit und sein Gemüt beeinflusse, diente auch der Herausstellung von Unterschieden zwischen Mann und Frau. Für Hippokrates stellte der Frauenkörper ein unkennbares Mysterium dar, da sich in ihm Prozesse abspielten, die von der Wissenschaft (in Gesellschaften, die Anatomie tabuisierten) völlig unnachvollziehbar waren. Klar war für Hippokrates allerdings, dass der Frauenkörper gegenüber dem männlichen defizitär sein musste.

Diese Idee wurde von Platon weiter ausgeführt, der gleichzeitig als erster überlieferter Kritiker des männlichen Penises auftrat. Allerdings betrachtete er ihn vor weiblichem Uterus als deutlich überlegen, weil er anders als dieser beseelt sei: der männliche Samen war das entscheidende Element der Fortpflanzung, das aktiv in die Frau gebracht wurde, die diesen nur passiv empfing. Die Vier-Säfte-Lehre zu Platons Zeit betrachtete Frauen zudem als „feucht“ und „kalt“, Männer als „trocken“ und „heiß“. Das war relevant, weil die Hitze der Männer überschüssige und schlechte Säfte verbrannte (und sie gleichzeitig aggressiv machte, ein mit ihrer „natürlichen“ Dominanz einhergehender Nachteil), während die kühle Feuchtigkeit der Frauen dafür sorgte, dass schlechte Säfte durch die Menstruation ausgeschieden werden mussten und Frauen grundsätzlich weniger zurechnungsfähig waren als Männer, weil ihr Säftehaushalt viel mehr in Unordnung war.

Aristoteles als geschätztester Autor des Mittelalters (es hilft, eine eigene Schule zu begründen, die das eigene Werk jahrhundertelang reproduziert) brachte den Schlussstein in diese Analyse des weiblichen Körpers mit der Überzeugung ein, dass der Uterus im Körper umherwandere und dadurch für Probleme sorge; einzig durch eine Schwangerschaft werde „fixiert“, wodurch Frauen dann temporär halbwegs vernünftig würden.

Die antiken Autoren wurden im Mittelalter viel rezipiert, geradezu geheiligt. Auch die wenigen Frauen mit Zugang zu Bildung wie Hildegard von Bingen studierten sie, kamen dabei aber zu eigenen Ergebnissen (die vor allem versuchten, die weiterhin unhinterfragte Analyse der antiken Vordenker ins Positive zu wenden); der geringe Stand weiblicher Bildung habe aber einen „Dialog mit dem Patriarchat“ verhindert.

In Kapitel 2, „How to look„, werden mittelalterliche Schönheitsideale behandelt. Auffällig ist, dass die Schönheitsideale der Antike weitgehend unbekannt sind. Antike Autoren beschrieben zwar Frauen gerne generisch als schön, machten aber selten genaue Angaben, worin diese Schönheit eigentlich bestehen würde. In der mittelalterlichen Rezeption spielte daher vor allem das Ideal der Helena von Troja, das „Gesicht, das tausend Schiffe sandte“, eine große Rolle. Da ihr Aussehen aber auch unbekannt war, wurde sie mit den Schönheitsidealen des Mittelalters belegt.

Für die Menschen des Mittelalters galt eine Kongruenz von Schönheit und Macht beziehungsweise Status: schöne Frauen sind reich und mächtig und umgekehrt. Eine Königin etwa war per Definition schön, weil sie es sein musste: Herrschaft bedingte dies schlicht. Umgekehrt konnten gewöhnliche Frauen niemals schön sein, egal welche Attribute sie ansonsten auch aufwiesen. Dies zeigt sich bereits an den Schönheitsidealen des mittelalterlichen Gesichts. Die schöne Frau hatte graue Augen, weiße Haut und Zähne (die sich entgegen dem Klischee dank mangelnder die Zähne angreifender Nahrungsmittel durch Zähne putzen tatsächlich erreichen ließen), blonde Haare, hohe Stirn, volle Lippen und schwarze Augenbrauen. Dieses Ideal war reichlich spezifisch und offensichtlich europäisch geprägt; zudem war es nur durch solche Frauen zu erreichen, die nicht den Elementen ausgesetzt waren, die weiße Haut schnell verunmöglichen.

Auch mittelalterliche Beschreibung des restlichen Körpers sind, wie mittelalterliche Literatur generell, stark formalisiert. Es ist gewissermaßen ein Malen nach Zahlen, dem praktisch alle Autoren folgen und das den (literarischen) Blick von oben nach unten gleiten lässt: Von den Haaren zur Stirn und den Augenbrauen zu den Augen, der Nase und den Lippen, den Wangen, dem Hals über die Schultern, Arme und Hände, von dort zu den Brüsten, der Taille und dem Bauch, ehe Beine und Füße den Abschluss bildeten. Dabei wiederholte sich immer das gleiche Muster: weiße und weiche (!) Haut (wie sie nur wohlhabende Fraue haben konnten), kleine und runde Brüste (ganz im Gegensatz zu unserem heutigen Ideal; diese ließen sich nur durch den Einsatz von Ammen erreichen, so dass wohlhabende Frauen ihre Brüste schnell abbinden konnten, damit diese nicht durch Säugen größer wurden), kleine Füße (äußerst unpraktisch bei jeglicher Arbeit), dicker Bauch (ebenfalls in deutlichem Gegensatz zu heute), dicke Schenkel – es ist offenkundig, dass diesen Merkmalen nur reiche Frauen entsprechen konnten.

Diese Ideale finden sich auch in zahlreichen bildliche Darstellungen, vor allem in solchen der biblischen Eva. Das erlaubte es den Künstlern auch, nackte Frauen zu zeichnen. Die Ubiquität dieser Darstellungen muss auf Kirchenbesucher einen erotisierenden Effekt gehabt haben; die Bilderstürmerei der Protestanten jedenfalls wurde von ihnen explizit damit begründet, dass Männer in der Kirche ständig sexuell erregt würden.

Dem mittelalterlichen Schönheitsideal war aber auch Sauberkeit sehr wichtig. Das Klischee ist ja, dass die Menschen ständig schmutzig waren. Das allerdings ist nicht korrekt, vielmehr gehörte tägliches Waschen genau wie heute zum Alltag. Nur konnten allein reiche Frauen diese Sauberkeit einigermaßen über den Tag retten. Sauber zu sein galt als rein und nahe am göttlichen Zustand.

All diese Schönheitsideale mussten aber unbedingt auf „natürliche“ Weise erreicht werden. Frauen durften keinesfalls wirken, als würden sie sich um ihre Schönheit kümmern; eine Aura der Ignoranz gegenüber dem Thema gehörte zum guten Ton. Makeup oder Färben der Haare war generell des Teufels und eine große Sünde, wie an der biblischen Geschichte von Jezebel deutlich wird, die weniger wegen ihres Mordens, sondern wegen ihres Eyeliners unter die großen Sünderinnen der Apokalypse eingereiht wurde. Nur minimal weniger verächtlich war Parfüm, das nur so erlaubt war, dass es ausschließlich der eigene Ehemann riechen konnte (um so andere nicht in Versuchung zu führen). Körperbehaarung indessen galt als Ausdruck von zu viel Körpersäften und Unreinheit, weswegen sie geradezu verwerflich waren. Gleichzeitig galt aber – Natürlichkeit, wir erinnern uns – ein hartes Verbot, sie auszuzupfen oder zu rasieren.

Bei der Kleidung bestand ein Dilemma. Sie waren einerseits Statusmarker des Adels, mit dem sie sich auch von reichen Bürgersfrauen abheben konnten (und waren daher zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung notwendig), andererseits war aber das Tragen schöner Kleidung zur Darstellung von Schönheit sündig. Die Kleidungsverbote hatten so die wichtige Funktion, wohlhabenden gewöhnlichen Frauen zu verunmöglichen, die Schönheitsstandards des Adels zu erreichen (und die selbsterfüllende Prophezeiung von reich/mächtig=schön damit Wirklichkeit werden zu lassen).

Es ist offensichtlich, dass damals wie heute die Schönheitsideale extrem heuchlerisch waren, weil sie Frauen für das Verfehlen eines Standards bestraften, ihn zu erreichen aber verboten.

Kapitel 3, „How to love„, befasst sich mit Sex. Erneut beginnt Janega in der Ideengeschichte. Schließlich mussten die mittelalterlichen Autoren die Nacktheit Adams und Evas (vor allem Letzterer), die sie so gerne zeichneten, irgendwie erklären und einordnen. In der mittelalterlichen Theologie hatten Adam und Eva zwar Sex, empfanden dabei aber keine Lust – es war eine körperliche Funktion, die sie an- und ausschalten konnten wie alle anderen auch, weswegen sie auch keine Scham empfanden. Das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis sorgte also dafür, dass sie Lust empfanden (und Scham), was ihren Ausschluss aus dem „reinen“ Paradies bedeutete.

Sex war für Menschen im Mittelalter daher grundsätzlich in Ordnung, so er denn der Fortpflanzung diente und im Sakrament der Ehe eingehegt war. Dieses war anfangs auch noch kein Hinderungsgrund für das Priesteramt; erst ab 1123 wurde ein „hartes“ Zölibat eingeführt, das auch vor der Priesterweihe verheirateten Menschen dieselbe verwehrte. Damit einher ging eine zunehmende Betonung der Enthalsamkeit als erstrebsamem Ideal: wer seine Reinheit dadurch bewahrte, keinen Sex zu haben, war besonders nahe an Gott. Alle anderen mussten notgedrungen kopulieren, um den Erhalt der Menschheit sicher zu stellen, was Gott in seiner Weisheit so gefügt hatte.

Für die Durchführung war ausschließlich die Missionarsstellung geeignet, da sie männlich dominant war und die „natürliche“ Ordnung der Dinge wiederspiegelte. Jede andere Haltung war sündig, etwa der Doggy-Style, über dessen Sündigkeit sich die mittelalterlichen Quellen in erklecklichem Detail ausließen. Noch sündiger waren sexuelle Handlungen, die in keiner Fortpflanzung resultieren konnten; von Petting über Küsse zu Onanieren und Reiben und Oralsex war alles verboten und wurde unter dem Catch-all-Begriff der „Sodomie“ gefasst.

Für die Theologen galten Frauen anders als Männer auch als besonders lustvoll, weil ihre Säfte und ihr kalter Zustand sie nach der trockenen Hitze des Samens dursten ließen und dieser Durst nie gestillt werden könne; anders als Männer seien sie außerdem schlicht zu dumm, den sexuellen Akt in seiner gottgewollten Glorie zu begreifen und blieben wie Kinder immer passiv und auf der Suche nach mehr. Sie würden quasi als „faules“ Element zu dem „reinen“ Element des Penis gezogen. Der Sexualakt ging in der mittelalterlichen Vorstellung also von den unersättlichen Frauen aus.

Dem Orgasmus kam dabei eine überraschend wichtige Rolle zu, weil in der Überzeugung der Zeitgenoss*innen galt, dass ohne ihn keine Empfängnis möglich sei. Anders als etwa in der Antike mussten BEIDE Partner Lust empfinden und zum Höhepunkt kommen. Es war die Aufgabe des Mannes, ihn zu empfinden (also selbst fähig zu sein) und ihn bei der Frau herbeizuführen, und zwar ausschließlich vaginal (weil alles andere ja bedeuten würde, dass Sex auch Spaß macht, und das war wiederum supekt). Bevor man sich aber zu sehr über dieses scheinbar progressive Element freut: es hatte den nicht unerheblichen Nachteil, dass man davon ausging, dass Vergewaltigungen oder Prostitution ohne Schwangerschaft ausgingen, wenn Frauen es nicht genießen würden – und da wir heute wissen, wie die Natur funktioniert, können wir uns die Folgen dieses Irrtums sehr gut ausmalen.

Ein Organ, das die Denker des Mittelalters nachhaltig verwirrte und faszinierte, war die Klitoris. Da Gott ja unmöglich etwas geschaffen haben konnte, das ausschließlich der Freude an der Sexualität diente, es aber keine erkennbare Funktion hatte, gab es den Menschen Rätsel auf. Ihre Stimulierung während des Vaginalverkehrs war zwar grundsätzlich etwas anrüchig (weil der Mann die Frau nicht aus eigener Penis-Vollkommenheit zum Orgasmus bringen konnte), aber erlaubt. Da sie ebenfalls mit Blut gefüllt und gehärtet werden konnte, einigte man sich schließlich darauf, sie als weibliches Gegenstück zum Penis zu sehen, was angesichts des Größenunterschieds (für gewöhnlich, wie Janega trocken hinzufügt) Sinn zu machen schien.

Auch zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrts hatte das Mittelalter Antworten. Während der Menstruation oder der Schwangerschaft Sex zu haben war absolut verwerflich, weil keine Schwangerschaft resultieren konnte. Zudem war klar, dass während der Menstruation eine enorme Gefahr bestand, sich dabei Lepra holen, die gefürchtetste Krankheit des Mittelalters, die natürlich aus einem Ungleichgewicht der Säfte resultierte (das während der Menstruation am höchsten war) und in Frauen entstand (natürlich) und daher beim Sexualakt übertragen werden konnte. Prostituierte waren dagegen immun, sofern sie nicht verbotenerweise Spaß am Sex gehabt hatten; eine leprakranke Prostituierte war also eindeutig überführt. Außerdem verpönt war Sex an Mittwoch oder Freitag, abgeraten wurde vom Samstag, damit man sich auf den heiligen und selbstverständlich sexfreien Sonntag vorbereiten konnte. Wenn dann alle Sterne richtig standen, wurde der Geschlechtsakt weitgehend bekleidet und in völliger Dunkelheit durchgeführt, damit man möglichst wenig voneinander sah (und andere auch; Privatsphäre war im Mittelalter nur wenigen zugänglich).

All diese Regeln bedeuteten übrigens auch, dass Frauen in den Wechseljahren in höchstem Maße suspekt waren, weil ihre Säfte nicht mehr abfließen konnten. Man sagte ihnen nach, dass die auflaufenden Gifte ausreichten, dass sie mit einem Blick töten konnten. Sex mit einer Frau in den Wechseljahren war in höchstem Maße unnatürlich und hochgradig gefährlich.

In Kapitel 4, „How to be„, beschäftigt sich Janega dann mit der Rolle der Arbeit. Frauen arbeiteten viel: ihre ihnen zugeschriebenen Rollen als Mutter und Hausfrau bedeuteten auch im Mittelalter schwere Arbeit, und damals wie heute war diese Arbeit unsichtbar und wenig als solche anerkannt. Das Machen und Halten des Feuers, Zubereiten von Nahrung, Waschen, Organisieren des Haushalts und vieles mehr war absolut erschöpfendes Tagwerk – das aber, ebenfalls damals wie heute, nur ergänzend zu anderer Arbeit in allen möglichen Berufen stand, denn Janega macht von Beginn an klar, dass die Trennung von häuslicher und beruflicher Sphäre eine Erfindung der bürgerlichen Neuzeit ist.

Wenig überraschend arbeiteten die allermeisten Frauen als Bäuerinnen, weil die meisten Menschen der Zeit in der Landwirtschaft tätig waren. Sie arbeiteten hier neben Aussaat, Einbringung und Ernte vor allem mit den kleineren Tieren wie Hühnern (da diese geringeres Prestige besaßen als die großen Tiere, mit denen die Männer arbeiteten). Grundsätzlich konnten sie genauso wie Männer erben, allerdings nur, wenn keine männlichen Erben verfügbar waren. Dies führte dazu, dass etwa ein Viertel der Höfe in weiblichem Besitz war (häufig von verwitweten Frauen) und auch eigenständig verwaltetet wurde. Es ist generell spannend, dass Frauen im Mittelalter durchaus eigenen Besitz hatten, der vom Mann losgelöst war; dazu gehörte auch die Aussteuer, die im Falle einer Trennung (üblicherweise durch Tod des Mannes) auch an die Frau zurückfiel.

Neben der Landwirtschaft arbeiteten Frauen aber auch in den meisten anderen Berufen, meist neben ihren Männern, die diesen Beruf ausübten (und ausgebildet von ihren Eltern, die ihn bereits auch erlernt hatten; Heiraten fanden meist innerhalb desselben Berufsstands statt). Sie konnten als Witwen und Erbinnen auch in die Zünfte gelangen, wo sie als passiv gleichberechtigte Mitglieder wirken konnten – jedenfalls bis zur Heirat, von welchem Zeitpunkt an diese Rechte an den Ehemann übergingen. Dies machte solcherart ausgestattete Frauen zu ungemein attraktiven Partnerinnen und erstklassigen Kandidatinnen auf dem Heiratsmarkt, ein Vehikel des sozialen Aufstiegs.

Einige Berufe waren besonders weiblich geprägt. Dazu gehörten etwa die Bräuerinnen, die Bier herstellten. Dieses war das alkoholische Getränk der Masse (Wein war ein Elitengetränk) und damals noch kaum haltbar, so dass beständig neues gebraut werden musste. In den Brauereien das Wasser zu kochen und zu schleppen war eine typische Frauenarbeit, die auch recht gefährlich war und zu furchtbaren Unfällen führen konnte. Der Textilbereich war gleichfalls eine weibliche Domäne; das allgegenwärtige Spinnen wurde vor allem in Hausarbeit erledigt. Zudem waren Frauen in allen Arten von Dienstberufen überrepräsentiert, die natürlich ein entsprechend geringes Prestige hatten. In der Medizin arbeiteten Frauen vor allem als Hebammen und in Hilfspositionen, da ihnen das medizinische Studium ebenso wie die entsprechenden Ausbildungshänge verwehrt waren.

Ein größerer Abschnitt ist der Sexarbeit gewidmet. Sie war als normal akzeptierte Arbeit gesehen und nicht illegal oder grundsätzlich anrüchig, weil man ihre Notwendigkeit anerkannte (für unverheiratete Männer die einzige Möglichkeit, ihre überschüssige Hitze abzubauen und die Körpersäfte im Gleichgewicht zu halten). Trotz des gesetzlichen Schutzes, den sie anders als in anderen Epochen genossen, waren die Prostituierten aber sozial ausgegrenzt, da Sexualität außerhalb der Ehe grundsätzlich suspekt war und mussten sich durch spezifische Kleidung ausweisen. Die Normalität des Gewerbes zeigt sich aber darin, dass immer wieder Frauen in den Beruf gezwungen werden konnten, weil die Rechtsprechung ihn als normale Tätigkeit klassifizierte. Der Ausstieg aus der Prostitution war gängig und geschah vor allem durch Buße, welche üblicherweise in einer Heirat bestand. Männern wurde für das sozial erwünschte Heiraten der Prostituierten oft weltliche und geistliche Vergünstigung gewährt, da die Frauen dadurch wieder unter die ebenso gesellschaftlich erwünschte Kontrolle der Männer kamen – unabhängige Frauen mit eigenem Einkommen waren den Zeitgenossen höchst suspekt.

Auch viel religiöse Arbeit wurde von Frauen geleistet. Hier waren reiche Frauen überrepräsentiert, da eigentlich nur ihnen die Klöster offenstanden (wegen der hohen Eintrittskosten). Sie waren dort allerdings klar auf untergeordnete Rollen festgelegt; Frauen waren keine eigenständigen Theologinnen, da dies als gefährlich gesehen wurde. Sie seien schlicht zu zu dumm, um Häresie erkennen zu können, und waren deswegen dafür besonders anfällig.

Die uns bekannteste Frauenarbeit ist die als Herrscherinnen. Adelige Frauen arbeiteteten auch, outsourceten aber schwere körperliche Arbeit an Bedienstete. Stattdessen waren sie viel mit Verwaltung und Diplomatie beschäftigt. Als „Ladies in Waiting„, die höhergestellte Adelige umgaben und für diese Botendienste, Beratung und Vermittlung übernahmen, konnten sie auch recht alt sein – Herrscherinnen brauchten auch erfahrene Gehilfinnen und wollten sensible Themen nicht unbedingt 17jährigen Teenagerinnen anvertrauen. Am arbeitsreichsten war der „Job“ der Königin, der zusätzlich die entscheidende Rolle zukam, dem König gesichtswahrende Revision zu erlauben, indem sie öffentlich für irgendjemanden bat und so dem König erlaubte, vorherige übereilte Entscheidungen zurückzunehmen.

Ab Abschluss steht Kapitel 5, „Why it matters„. Die Frage, warum die Beschäftigung mit dem Mittelalter heute noch irgendwie relevant ist, wabert in dem Bereich ja immer mit, und Janega nennt das relevanteste Argument auch gleich zuerst: weil es dem Erkenntnisgewinn dient und spannend ist. Nicht alle geschichtliche Forschung muss unmittelbar für uns relevant sein. Aber Janega ist natürlich auch der Überzeugung, dass sehr wohl große Relevanz für uns heute bestehe.

Die Ideen von der Unterlegenheit der Frau wurden schließlich von der Antike über das Mittelalter bis in Neuzeit hinein immer wieder übernommen und rezipiert. Wir stehen bis heute, auch wenn wir es uns häufig nicht bewusst machen, in dieser Tradition. Ebenfalls bis heute ein Dauerschema ist die Unsichtbarkeit von Frauen, besonders im Beruf. Frauenarbeit wird systematisch geringgeschätzt und ignoriert, ob es sich um Haus- und Carearbeit dreht oder um Berufe, die überwiegend weiblich geprägt sind. Ihr Prestige ist immer geringer als das von männlichen Berufen.

Die untergeordnete Stellung von Frauen ist ebenfalls eine, die sich lange über das Mittelalter hinaus erhalten hat. Zwar änderten sich die Rechtfertigungen dafür – anstatt eine gottgewollte Ordnung anzunehmen, begannen die Aufklärer, natürlich-biologische Gründe für die Unterlegenheit von Frauen zu suchen, eine Tendenz, die sich bis heute in der Vorstellung findet, Frauen neigten „natürlicherweise“ zu schlecht bezahlten Berufen und Hausarbeit. Aber das grundsätzliche Schema blieb bestehen.

Ebenfalls relevant ist die Wandelbarkeit von Schönheitsidealen. Wer auch immer behauptet, dass Attraktivitätsmerkmale irgendwie biologisch determiniert seien, kann sich durch das Mittelalter eines Besseren belehrt sehen. Schönheitsideale sind sozial konstruiert und unterliegen einem permanenten Wandel, und es sei immer wieder sinnvoll, sich dies vor Augen zu führen. Dasselbe gelte für die Rolle der Sexualität. Das in diesem Zusammenhang wohl wichtigste Element des Buchs ist die Erkenntnis, dass im Mittelalter den Frauen unersättliche Lust zugeschrieben wurde, während die Männer eigentlich gar kein großes Interesse an Sex hätten. Heute wird das genaue Gegenteil behauptet und die Theorie verbreitet, dass Frauen natürlich monogam und eher wenig an Sex interessiert seien, während Männer gerne als unersättliche Sexmonster, die sich kaum unter Kontrolle haben, dargestellt werden. In beiden Fällen wird jeweils die natürliche Ordnung der Dinge bemüht, um die Ideologie zu verbrämen.

Ich empfand die Lektüre des Buchs insgesamt als vergnüglich. Seine überschaubare Länge und vor allem Janegas flotter Schreibstil mit einer feinen, trockenen Ironie, der es immer gelingt, die Balance zu halten und weder in die leider verbreitete Arroganz der Nachgeborenen über die Vergangenheit abzurutschen noch in einen predigenden Tonfall zu verfallen, sondern die Erkenntnisse der Forschung in einer nachvollziehbaren und cleveren Struktur aufzubereiten, tragen maßgeblich zum Lesevergnügen bei. Einzig im letzten Kapitel ist etwas Kritik angebracht, denn hier beginnt die intellektuelle Konsistenz etwas zugunsten Janegas progressiver Agenda ins Wanken zu geraten.

Ob Kontinuität oder Bruch mit mittelalterlichen Ideen, irgendwie zeigt uns alles, dass Frauen heute immer noch in einer problematischen Situation sind, was irgendwie manchmal aufs Mittelalter zurückzuführen ist und manchmal auch nicht, was entweder das Reaktionäre dieser Ideen heute zeigt oder dass das Mittelalter eigentlich viel weiter war, als es das Klischee üblicherweise vermuten lässt – ich empfand das letzte Kapitel als reichlich inkohärent, und das Buch wäre vermutlich besser bedient gewesen, hätte Janega es weggelassen und das Ziehen von Schlussfolgerungen den Lesenden überlassen. Aber es ist ein kurzes Kapitel, weswegen das nicht allzu negativ ins Gewicht fällt, und die intellektuelle Ehrlichkeit des Rests ist überzeugend genug.

{ 30 comments… add one }
  • R.A. 15. Dezember 2023, 17:55

    Interessant, Danke für den Buchhinweis. Da werde ich bei Gelegenheit mal reinschauen.

    Obwohl ich den Eindruck habe, daß das nicht nur etwas ideologisch verzerrt ist, sondern die Autorin auch den üblichen Historikerfehler begeht, die überlieferten Quellen für eine repräsentative Beschreibung der damaligen Wirklichkeit zu nehmen.
    Was sie natürlich nicht ist – sie beschreibt die theoretische Sicht der damaligen veröffentlichten Meinung, dominiert durch Kleriker. Auch wenn diese Sicht gewisse Aspekte der Machtausübung beeinflußt und damit auch manchmal wirklichen Einfluß auf die gelebte Realität hatte (z. B. bei der juristischen Beurteilung von Vergewaltigungen oder Prostitution) – die Lebenswirklichkeit der damaligen Menschen sah halt deutlich anders aus.

    Nur mal als Beispiel: „Wenn dann alle Sterne richtig standen, wurde der Geschlechtsakt weitgehend bekleidet und in völliger Dunkelheit durchgeführt, damit man möglichst wenig voneinander sah“
    Das ist Fiktion, wahrscheinlich eines sexuell frustrierten Mönchs.
    In vor-viktorianischer Zeit war insgesamt das Verhältnis zur Nacktheit viel entspannter als heute und die Leute haben im Alltag deutlich mehr „voneinander gesehen“ als wir es gewohnt sind.

    Da braucht man gar nicht erst in die allgemein üblichen Badehäuser zu gehen, da lohnt sich zu erinnern, daß Nachthemd oder Schlafanzug relativ moderne Erfindungen sind.
    In der beschriebenen mittelalterlichen Zeit war es üblich nackt zu schlafen, und oft mit vielen Personen und gemischt in einem Raum. Da haben sich also nicht nur die Familienangehörigen voreinander ausgezogen, sondern auch Gesinde oder Gäste, im großen Schlafraum einer Burg der größere Teil der Burgbewohner oder in Herbergen alle möglichen Reisenden beiderlei Geschlechts.
    Dann kam natürlich die Dunkelheit – aber je nach Mondlicht etc. waren dann auch sämtliche Arten Liebesspiel relativ öffentlich.

    Ähnlich skeptisch wäre ich bei der Frage, ob die „offiziellen“ Schönheitsideale irgendwelche praktischen Auswirkungen gehabt haben. Selbst bei der direkt adressierten Oberschicht werden die Männer wie zu allen Zeiten jeweils eigene Präferenzen gehabt haben. Und über 90% der Bevölkerung werden gar nicht mitbekommen haben, daß sie graue Augen und kleine Brüste bevorzugen sollen. Generell sollte die Wirkung irgendwelcher offizieller Lehren nicht überschätzt werden – der Staat hatte damals noch relativ wenige Eingriffsmöglichkeiten in das Leben der Menschen und alleine schon die fehlenden Medien verhinderten, daß die Leute diese offiziellen Vorstellungen überhaupt mitbekamen.
    Das änderte sich eigentlich erst (und sehr langsam) im Spätmittelalter mit dem Aufkommen von Predigerorden, die Vorstellungen von einer ordentlichen christlichen Lebensführung verbreiten wollten.

    Ist ja auch heute so: Die aktuell von der veröffentlichten Meinung propagierte Glaubensrichtung beschreibt eine Welt, in der die Menschen gendern, kein Auto benutzen, vegan leben und auf ihren Fußabdruck achten.
    Und obwohl das heute über alle Medien täglich propagiert wird, lebt die große Mehrheit deutlich anders und zukünftige Historiker würden gut daran tun, die heutigen Lebensumstände nicht anhand von Pressekommentaren zu rekonstruieren.

    • Ariane 15. Dezember 2023, 18:46

      Habs mir bei aller Kritik auch vorgemerkt 🙂

      die überlieferten Quellen für eine repräsentative Beschreibung der damaligen Wirklichkeit zu nehmen.
      Was sie natürlich nicht ist – sie beschreibt die theoretische Sicht der damaligen veröffentlichten Meinung, dominiert durch Kleriker

      Jep, das ist mir auch aufgefallen, sagt sie was zu den Quellen, auf die sie sich bezieht? Gerade bei solchen Themen sind die obersten Kirchenlehrer vielleicht nicht ganz so repräsentativ (mal ganz abgesehen davon, dass das eh theoretische Überlegungen sind und es nicht unwahrscheinlich ist, dass nebenan die Geliebte mit Kind saß^^)

      Und die fehlende Privatsphäre können wir uns heute vermutlich nicht mal mehr vorstellen, das galt ja nicht nur für Sex, sondern auch Siechtum, Tod, Geburten, Toilettengängen usw. usf.

      der Staat hatte damals noch relativ wenige Eingriffsmöglichkeiten in das Leben der Menschen und alleine schon die fehlenden Medien verhinderten, daß die Leute diese offiziellen Vorstellungen überhaupt mitbekamen.
      Das änderte sich eigentlich erst (und sehr langsam) im Spätmittelalter mit dem Aufkommen von Predigerorden, die Vorstellungen von einer ordentlichen christlichen Lebensführung verbreiten wollten.

      Genau genommen, gabs nicht mal einen Staat im üblichen Sinne^^ (insofern ist es tatsächlich vernünftiger, das aus Kirchensicht zu handhaben, die waren ja eher sowas wie „übergreifende Medien“)
      Im letzten Punkt: jein. Schon in der Frühzeit der Christianisierung hat man da recht professionalisiert, Leute losgeschickt, die was über die christliche Lebensweise erzählen, es war aber nicht so institutionalisiert, wie wir uns das heutzutage vorstellen. Mal davon ab konnte auch nicht jeder Dorfpfarrer Latein und lesen und schreiben. Selbst die kirchliche Lehre war viel individueller, es konnte also gut vorkommen, dass in Villariba jemand saß, der viel Wert auf sexuelle Keuschheit legte und in Villabacho „der Papst ein Hurenhaus im Lateranpalast betrieb“ Solche profanen Überlegungen liefen ja auch eher unter unwichtiges Zeugs, die katholische Kirche war ja genug damit ausgelastet, ernsthafte Irrlehren wie von den Katharern oder Lollebarden (oder so, die meinten, Wein/Blut wäre symbolisch) zu bekämpfen.

      • Stefan Sasse 16. Dezember 2023, 09:54

        Das Problem bei den Quellen ist, dass wir fast nur die haben. Zeugnisse der meisten Bevölkerungsschichten fehlen uns ja. Sie schreibt ja auch weniger eine Alltagsgeschichte der Gendervorstellungen (mangels Quellen eh schwierig), sondern eher eine Ideengeschichte. Weil auf genau diese schriftlichen Quellen referenzieren spätere Epochen ja dann.

        • Ariane 19. Dezember 2023, 01:37

          Ah ok. Verständlich, wie gesagt eventuell etwas einseitig (gerade wenn man bedenkt, dass viele irrigen Vorstellungen aus dem Mittelalter quasi nochmal durch die Interpretation der Neuzeit durchgelaufen sind).

          Hat sie vermutlich mit den Witwenregeln gemacht und was ich noch etwas wirklichkeitsnäher finde, wären natürlich rechtliche Dinge (neben Verwaltungskram und theologischen Überlegungen ja fast das einzige, was recht zuverlässig aufgeschrieben wurde).

      • R.A. 17. Dezember 2023, 13:11

        „gabs nicht mal einen Staat im üblichen Sinne“
        Ich verwende „Staat“ hier recht weit verstanden als „Obrigkeit, die gewisse Vorstellungen in der Gesellschaft durchsetzen will“. Da paßt also auch eine Stammesgesellschaft rein und natürlich das mittelalterliche Feudalsystem. Die Spezialitäten des modernes Staats sind m. E. in unserem Kontext hier nebensächlich.

        „Schon in der Frühzeit der Christianisierung hat man da recht professionalisiert, Leute losgeschickt, die was über die christliche Lebensweise erzählen,“
        Ist nicht mein Schwerpunkt, aber m. W. haben die frühen Missionare etwas über christlichen Glauben erzählt, aber nicht über christliche Lebensweise.

        Im neuen Testament steht ja fast nichts über christliche Lebensweise, die Textstellen im alten Testament sind eher gegenteilig unterwegs (Stichwort Polygamie), und die frühen Christen waren mit den Gewohnheiten der römischen Gesellschaft im wesentlichen zufrieden, man hat da nichts fürs Diesseits propagiert, sondern fürs Jenseits.

        Wo die mittelalterliche Kirche Gewohnheiten prägen wollte, da tat sie es eher aus römischen Vorbildern heraus – z. B. die Durchsetzung der Ehe vor einem Priester, insbesondere mit der revolutionären Neuerung daß die Frau nach ihrer Einwilligung gefragt werden mußte.

        Alleine schon daß die Theologie so heftig auf antike heidnische Autoritäten zurückgreifen mußte zeigt ja, daß die Bibel da nicht so viel hergibt.
        Spaßigerweise sind es dann später gerade die Lutheraner mit ihrem „sola scriptura“ die sehr strenge moralische Sitten predigen, die in der scriptura überhaupt nicht vorgegeben sind.

    • Stefan Sasse 16. Dezember 2023, 09:53

      den üblichen Historikerfehler begeht, die überlieferten Quellen für eine repräsentative Beschreibung der damaligen Wirklichkeit zu nehmen.

      Das ist „kein üblicher Historiker*innenfehler“. KEIN*E, ich wiederhole, KEIN*E seriöse*r Historiker*in würde das jemals tun.

      Was die Dunkelheit angeht: ja klar, in Ein-Raum-Häusern hast du keine Privatsphäre, das ist ja gerade Janegas Punkt. Deswegen passiert der Sex ja nachts, wenn niemand was sieht. Dieses „nicht sehen“ ist der ganze Punkt. Was den Rest angeht: ich hab das auch schon gelesen, aber da sind so viele Meinungen zu den Themen im Umlauf, ich bin mir nicht sicher, was da stimmt. Dafür bin ich zu wenig Mediävist.

      Die aktuell von der veröffentlichten Meinung propagierte Glaubensrichtung beschreibt eine Welt, in der die Menschen gendern, kein Auto benutzen, vegan leben und auf ihren Fußabdruck achten.

      Das ist vollkommener Humbug. Niemand erweckt den Eindruck, dass eine überwältigende Mehrheit das tun würde. Selbst unter Fans von Gendern, Autoenthalsamkeit und Veganismus ist völlig sonnenklar, dass sie eine Minderheit sind.

      • Thorsten Haupts 17. Dezember 2023, 13:01

        Niemand erweckt den Eindruck, dass eine überwältigende Mehrheit das tun würde …

        Für einen Historiker hast Du manchmal ein ziemlich blindes Auge … Zukünftige Historiker würden ihre Sicht auf unsere Epoche zuerst einmal aus überlieferten/archivierten Medienberichten ziehen. Und fänden dann tausende von Beiträgen mit einem positiven Bezug auf „gendern, kein Auto benutzen, vegan leben und auf ihren ökologischen Fußabdruck achten“ – und max. eine Handvoll mit davon abweichenden positiven Bezügen. Es ist durchaus naheliegend, anzunehmen, dass diese Funde die Sicht von Historikern in, sagen wir, 200 Jahren auf unsere Zeit dominieren würden.

        Die Normalität des Alltagslebens in einer Epoche, Region, Klasse, Schicht hinterlässt IMMER deutlich weniger Spuren, als die veröffentlichte Sicht der Funktionseliten. Weshalb ich für die Vergangenheit eigentlich nur Archäologen halbwegs traue, wenn es um die Beschreibung des Lebens von Otto Normalverbraucher geht.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 18. Dezember 2023, 08:38

          Erneut, ich glaube, du lässt dich da täuschen. Und hast wenig Vertrauen in die Historiker*innen der Zukunft 😉

          • sol1 19. Dezember 2023, 12:30

            Wenn zukünftige Historiker das Zeitschriftenregal eines Supermarkts von heute studieren, werden sie genauere und zuverlässigere Kenntnisse darüber haben, was in „den Medien“ steht als die Zeitgenossen R.A. und T.H.

      • R.A. 17. Dezember 2023, 13:21

        „Das ist „kein üblicher Historiker*innenfehler“.“
        Jo klar – alleine die Historiker sind perfekt 😉

        Natürlich ist es Basis der historischen Wissenschaft die Quellen kritisch zu hinterfragen. Natürlich lernt man ab 1. Semester sich nicht zu sehr auf ihre Sichtweise einzulassen.

        Und trotzdem ist es der typische Historikerfehler, das immer wieder mal zu vergessen. Wenn jemand sich einige Jahre intensiv mit gewissen Quellen beschäftigt hat, dann verändert das einfach den eigenen Mindset. Ich habe eigentlich noch keinen historischen Kongreß erlebt bei dem nicht bei ein/zwei Vorträgen zu wenig Distanzlosigkeit angemahnt wurde. Kommt eben auch bei Profis immer wieder vor.

        „Deswegen passiert der Sex ja nachts, wenn niemand was sieht.“
        Sagt wer? Also: Welche Quellen (außerhalb der klerikalen Theorie) bestätigen, daß Dunkelheit so wesentlich war?
        M. W. gibt die Quellenlage zum realen Verhalten der Leute fast nichts her. Und deswegen ist es eine starke Behauptung, daß das Verhalten im Mittelalter so stark von dem anderer Kulturen oder Zeiten abgewichen haben soll.

        Denn natürlich war und ist es weltweit Normalität, daß Sex sich naheliegendeweise meist dann abspielt, wenn man nebeneinander im Bett kuschelt. Aber es gibt genug Beispiele für Kulturen, bei denen Licht/Dunkelheit oder was andere Leute mitbekommen fast keine Rolle spielen. Und bis zum Beleg des Gegenteils wird man davon ausgehen, daß das im europäischen Mittelalter genauso gelaufen ist. Ich habe nicht den Eindruck, daß Janega diesen Beleg gefunden hat.

        „Niemand erweckt den Eindruck, dass eine überwältigende Mehrheit das tun würde.“
        Aber selbstverständlich wird versucht diesen Eindruck zu erwecken. Natürlich behauptet niemand explizit, daß dem so sei (das tun die mittelalterlichen Autoren auch nicht). Aber wenn man unsere aktuelle Gesellschaft nur aus den Medien kennen würde, dann findet man weit überproportional Themen und Verhaltensweisen dargestellt, die mit der realen Lebenswirklichkeit der breiten Mehrheit nichts zu tun haben.

  • cimourdain 18. Dezember 2023, 09:44

    Zwei Gedanken zum Fehlen der Intimsphäre:

    Als Ersatz für Zwischenwände haben sich die Menschen beholfen und mit Vorhängen und Betthimmeln ein wenig Privatsphäre geschaffen. Auch die erwähnte Missionarsstellung kann man unter dieser Prämisse sehen, ist sie doch die Variante, die sich gänzlich unter der Decke praktizieren lässt.

    Interessanter ist jedoch imho die Frage, ob das dadurch zwangsläufig antrainierte „Wegschauen“ bei Intimität nicht ein wichtiger Aspekt war, warum die vorherrschende („offizielle“) Kultur sich so in Richtung Prüderie entwickelt hat – verschärft dadurch, dass das Christentum stark in Richtung schuldbasierte Kultur tendiert.

  • R.A. 18. Dezember 2023, 11:53

    „Als Ersatz für Zwischenwände haben sich die Menschen beholfen und mit Vorhängen und Betthimmeln ein wenig Privatsphäre geschaffen.“
    War das so? Ich weiß es daß in bzw. ab der frühen Neuzeit Betten mit Vorhängen gab. Bei mittelalterlichen Schlafräumen und vor allem Schlafsälen ist mir davon nichts bekannt.

    „Auch die erwähnte Missionarsstellung kann man unter dieser Prämisse sehen …“
    Ist das nicht ohnehin in allen Kulturen die „normale“ bzw. verbreitetste Stellung?

    „„Wegschauen“ bei Intimität“
    Wäre die Logik nicht umgekehrt? Wegschauen wg. Prüderie?
    Da müßte man mal prüfen, wie das mit Wegschauen etc. in nicht-christlichen Kulturkreisen üblich ist. Insbesondere was da vor dem Kontakt mit dem christlichen Europa üblich war.

    • cimourdain 18. Dezember 2023, 15:04

      Artefakte habe ich auf die Schnelle keine gefunden, aber ein paar Bilder von Betthimmeln, hung celours, und Alkoven in spätmittelalterlicher Kunst – und eine kleine Typologie der Liegemöbel:
      https://thomasguild.blogspot.com/2016/01/multilingual-furniture-dictionary.html

      Welche Stellung in welchen Kulturkreisen am beliebtesten ist, habe ich mich nicht getraut zu googeln – bestimmt sind die Kommentare zu diesem Thema nur noch unappetitlich…

      „Wegschauen“ im nicht-christlichen Kontext: Bin darauf gestoßen bei einem neueren Roman, der in Edo-Japan spielt, wo geschildert wird, wie jemand bewusst bei Sexgeräuschen weggeht, um nicht durch die Zeugenschaft einer entehrenden Handlung mitentehrt zu werden. Sicher keine zuverlässige Quelle aber dadurch bin ich überhaupt mit der Idee von Schuld- und Schamgesellschaften in Kontakt gekommen.

      • Thorsten Haupts 18. Dezember 2023, 16:00

        Welche Stellung in welchen Kulturkreisen am beliebtesten ist, habe ich mich nicht getraut zu googeln – bestimmt sind die Kommentare zu diesem Thema nur noch unappetitlich…

        Tun Sie´s ruhig, bei häufigeren Fragen – und die gehört mit Sicherheit dazu – sind die ersten 5 Seiten google-Suchergebnisse üblicherweise freak- und dreckarm. Auf englisch habe ich mit „sexual position ancient times favourite“ zwar nur sehr wenige Ergebnisse für „ancient“ gefunden, aber aller Ergebnisse waren im weitesten Sinnen seriös bzw. dezent.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 18. Dezember 2023, 18:30

          Mein Wissensstand ist, dass die Römer harte Missionarsstellungs-Fanatiker waren. Alles andere war unschicklich.

          • cimourdain 18. Dezember 2023, 18:53

            Ich bin Thorsten Haupts‘ Rat gefolgt (natürlich nur zur Vervollständigung meiner kulturhistorischen Kenntnisse) und gleich als erstes auf diesen sehr umfangreichen und detaillierten Wikipediaartikel gestoßen worden, der auch Darstellungen diverser alternativer Positionen enthält:
            https://en.wikipedia.org/wiki/Sexuality_in_ancient_Rome

            • Ariane 19. Dezember 2023, 01:39

              (natürlich nur zur Vervollständigung meiner kulturhistorischen Kenntnisse)

              Natürlich 😀

        • Thorsten Haupts 18. Dezember 2023, 21:01

          Der von C verlinkte Wikipedia-Artikel bestätigt das nicht. Hätte mich in einer Mittelmeer-Krieger-Kultur mit vielen griechischen Wurzeln auch sehr, sehr gewundert.

          • Stefan Sasse 19. Dezember 2023, 08:49

            Wie gesagt, bin kein Experte. Danke!

          • R.A. 19. Dezember 2023, 10:49

            „Der von C verlinkte Wikipedia-Artikel bestätigt das nicht.“
            Ich gehe davon aus, daß Stefan das ironisch gemeint hat. Wenn man mal ein paar Beispiele antiker Vasen oder Mosaike gesehen hat fragt man sich eher, ob die Römer überhaupt mal einen auf Missionar gemacht haben …

            Der Wikipedia-Artikel beschreibt aber auch unser Grundproblem:
            „With extremely few exceptions, surviving Latin literature preserves the voices of educated male Romans on sexuality.“
            Diese römischen Oberschichtsmänner hatten zwar – im Gegensatz zu den mittelalterlichen Klerikern – wenigstens persönliche Erfahrungen mit dem Thema.
            Aber eine realistische Einschätzung was beim römischen Normalbürger normal war läßt sich daraus nur schwer gewinnen. Die meisten Beispiele (z. B. Wandmalereien aus dem Bordellen von Pompeji oder politische Schmähschriften gegen Tiberius) sind da auch nur begrenzt hilfreich.

            Insgesamt ergibt sich aber ein ähnliches Bild wie bei den anderen vor-monotheistichen Gesellschaften: Grundsätzlich sind Nacktheit und Sex keine Tabu-Themen und es gibt kein Konzept von „Sünde“. Aber es gibt einige strafbewehrte Verbote (bei den Römern z. B. Inzest, bei den Ägyptern nicht) und die allgemeine Tendenz daß es für den eigenen Status nötig ist, sich öffentlich mit ordentlicher Kleidung und zurückhaltendem Betragen würdevoll zu zeigen.

  • R.A. 18. Dezember 2023, 11:56

    Nachtrag:
    „dass das Christentum stark in Richtung schuldbasierte Kultur tendiert.“
    Weniger wegen „schuldbasiert“ per se (das haben andere Religionen auch), sondern speziell Schuld wg. Sex/Nacktheit.
    Die speziell christliche Problematik mit Nacktheit ist wohl vom Judentum übernommen worden (und zwar relativ spät). Und ist bei dem eine echte Spezialität, die übrigen antiken Kulturen (auch die keltischen und germanischen) kannten das nicht.

    • Stefan Sasse 18. Dezember 2023, 13:39

      Danke!

    • cimourdain 18. Dezember 2023, 15:21

      Eine weitere Grundlage der christlichen Problematik mit Nacktheit (v.a. bei Frauen) war die (idealisierte) römische Schicklichkeitsvorstellung, die von den lateinischen Kirchenvätern Hieronymus und Augustinus übernommen wurde.

      Andersrum, da haben Sie recht, war Nacktheit auch im Christentum lange ein Zeichen der Unschuld. Für manche frühchristliche Sekten (Adamiten) war Nacktheit als Naturzustand „Lebensprinzip“. Lange war beim Ritual Taufe (bei Erwachsenen wie Kindern) öffentlich der Täufling nackt.

      Und dann gibt es noch die mittelalterliche Legende von Lady Godiva, über viele Jahrhunderte eine Entschuldigung, unbekleidete Frauen darzustellen.

    • Thorsten Haupts 18. Dezember 2023, 15:23

      Ja. Hat mich auch amüsiert – das jüdisch/christliche Krampf-Verhältnis zu Nacktheit und Sexualität hat bei allen antiken Völkern des Mittelmeerraumes überhaupt keine Entsprechung. Wusste gar nicht, dass die Juden hier die Ausnahme darstellten. Der Grund dafür wäre mal interessant, falls Ihnen bekannt?

      • cimourdain 19. Dezember 2023, 17:14

        drei mögliche Erklärungen (die sich gegenseitig verstärken):

        – nomadische Lebensweise: Konflikte innerhalb einer Gruppe können schnell eskalieren. Ehebruch ist der Klassiker eines Konfliktgrundes.

        – Abgrenzung von den anderen Kulturen und Religionen des alten Orients, die eher freizügig waren.

        – Einziges Zeugnis für das Sittlichkeitsverständnis stammt auch hier wieder von Priestern, die kulturübergreifend nicht repräsentativ sind.

  • Ariane 19. Dezember 2023, 02:12

    Ich zieh das mal hier runter, vielleicht haben Cimo und andere da auch noch eine Einschätzung zu?

    „Schon in der Frühzeit der Christianisierung hat man da recht professionalisiert, Leute losgeschickt, die was über die christliche Lebensweise erzählen,“
    Ist nicht mein Schwerpunkt, aber m. W. haben die frühen Missionare etwas über christlichen Glauben erzählt, aber nicht über christliche Lebensweise.

    Also Katholizismus heißt übersetzt ja allumfassend und ich bin schon der Meinung, dass es nicht nur um den Glauben, sondern auch die Erklärung und Durchsetzung der christlichen Lebensweise ging. Auch wenn die Durchsetzung der Missionarsstellung vermutlich nicht die Top-Priorität hatte^^

    Man denke nur an die zig Regeln zu Sünden, Buße, Reue, Sündenerlass oder die ganzen Speise/Fastenregeln mit ihren zig Ausnahmen. Das Ende der innereuropäischen Sklaverei und (Menschen-)opfern. Und auch wenn man am Ende häufig heidnische Bräuche eingemeindet hat, war die Kirche auch damit beschäftigt, den Kram als abergläubischen Unfug zu bekämpfen (weswegen sie auch gerade im Frühmittelalter keine Hexen verfolgt hat)

    Aber sie hatten schon durchaus höhere Ambitionen als nur den Leuten von Jesus zu erzählen.

    Wo die mittelalterliche Kirche Gewohnheiten prägen wollte, da tat sie es eher aus römischen Vorbildern heraus – z. B. die Durchsetzung der Ehe vor einem Priester, insbesondere mit der revolutionären Neuerung daß die Frau nach ihrer Einwilligung gefragt werden mußte.

    Ja, aber nun ja. Die Römer hatten halt eine hochprofessionelle Verwaltungsstruktur. Und wer die hat, hat auch Regeln über Familien/Erbschaftsangelegenheiten und darüber, dass Mord, Raub, Brandschatzen, (anderer Leute) Frauen vergewaltigen auf eigene Faust verboten sind. Jede Gemeinschaft, die keine Anarchie ist, hat sowas.

    Und die Kirche war halt das einzige Überbleibsel dieses hocheffizienten Verwaltungsapparates mit dem Vorteil der Schrift noch dazu. Gerade im ganz frühen Mittelalter war das ja häufig eine Kooperation, wer ein Großreich regieren will, braucht Verwaltung und Gesetze und da hatte man eben die Kirche, die ja aus dem römischen Reich stammte.

    • cimourdain 19. Dezember 2023, 08:31

      Frühgemeinde: In den Episteln des NT zeigt sich, dass die frühchristlichen Gemeinden wohl relativ wenig Vorschriften hatten, sondern sich aus Gemeinschaft und Eucharistiefeier definierten. Später gab es sehr viele christliche Sekten, manche davon strikt asketisch. Von einer katholischen Einheitskirche kannst du erst ab dem Konzil von Nicäa sprechen (4. Jh). Das erste vollständige Regelwerk für alle Lebensbereiche (aber auch nur für eine kleine Gruppe) war das Regelwerk des hl. Benedikt (6. Jh)

      Eheschließung in Rom: Wichtig ist, dass die Ehe als Rechtsstatus gesehen wurde. Die formale Eheschließung durch Priester (conferratio) war eigentlich nur bei den Patriziern üblich und nicht einmal dort zwingend. Verbreiteter war Eheschließung durch Erwerb der Braut vom Vater (cum manus) oder durch faktisches Zusammenleben (usus)

    • R.A. 19. Dezember 2023, 10:57

      „Man denke nur an die zig Regeln zu Sünden, Buße, Reue, Sündenerlass oder die ganzen Speise/Fastenregeln mit ihren zig Ausnahmen.“
      Ja, aber da muß man schon differenzieren wie sich das zeitlich darstellt. Viele dieser Regeln waren anfangs nur rudimentär vorhanden (insbesondere zur Missionierungszeit), galten dann lange Zeit nur für Mönche oder dann anderen Klerus (z. B. gilt das Priesterzölibat erst ab dem Hochmittelalter, da sind wir viele hundert Jahre nach Bonifatius und den anderen Missionaren).
      Die Verbreitung in der übrigen Bevölkerung kam eigentlich erst in Schwung, als die von Janega beschriebenen Kirchenlehren durch die Gründung von Universitäten auch genug Leuten außerhalb des Klerus bekannt wurden und die Bettelorden anfingen auch dem normalen Volk zu predigen.
      Und bis das dann flächendeckend wirksam wurde sind wir schon in der frühen Neuzeit …

      „Und die Kirche war halt das einzige Überbleibsel dieses hocheffizienten Verwaltungsapparates mit dem Vorteil der Schrift noch dazu.“
      Richtig! Deswegen kommt eben vieles heute als „christlich“ Geltende gar nicht aus Bibel oder Theologie, sondern aus der römischen Gesellschaftsordnung und Gesetzgebung der Spätantike.

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