Teil 1 hier.
Michael S. Neiberg – When France fell. The Vichy Crisis and the Fate of the Anglo-American Alliance (Hörbuch)
Die französische Flotte war ein Hauptaugenmerk sowohl von Briten als auch Amerikanern. Die Deutschen besaßen offensichtlich keine Hochseetaugliche Flotte, die die USA bedrohen konnte. Die Franzosen allerdings besaßen die drittgrößte weltweit. Fiele sie in deutsche Hände, würde dies das Machtgleichgewicht massiv verändern. Zwar machten die Deutschen keine Anstalten und versicherte Vichy, die Flotte nicht herauszugeben, doch das beruhigte niemanden. Die Briten entschlossen sich daher, nachdem der französische Flottenkommandant in Mers-al-Kabir ein Ultimatum zur Neutralisierung der Flotte ausgeschlagen hatte (aus Gründen eines idiotischen, anachronistischen Ehrenkodex‘), die französische Flotte in einer Art Überraschungsangriff zu zerstören.
Dieser Angriff vergiftete die britisch-französischen Beziehungen massiv und war ein Propaganda Geschenk für die Deutschen. Strategisch erreichte er allerdings das Ziel, die französische Flotte zu neutralisieren mit und so jede Gefahr eines deutschen Zugriffs auszuschließen. Die USA bedrohten gleichzeitig Vichy diplomatisch damit, ihren Kolonien zur Unabhängigkeit zu verhelfen, wenn diese militärisch nicht strikt neutralisiert blieben.
Der letzte diplomatische Aspekt jener Tage betraf die Person Charles de Gaulle. Die Briten erkannten ihn als legitime Regierung Frankreichs im Exil an, während die USA Vichy anerkannten. De Gaulle es war ein schwieriger Charakter, den die Briten hauptsächlich deswegen ertrugen, weil er ihnen so nützlich war. Gerade mit den Amerikanern allerdings stieß er beständig zusammen. Einen ersten Beweis seiner Fähigkeiten und seines Wertes erbrachte er, als der Tschad als erste französische Kolonie offen die Seiten wechselte und sich zum „freien Frankreich“ bekannte.
Kapitel 3, “No Good at Being Noble: The Vichy Quandry”, vertieft den Blick auf das diplomatische Chaos jener Tage. Die Regierung in Vichy war improvisiert und hatte keinerlei Verbindungen mehr, was es dem Ausland ungeheuer schwer machte, die Lage korrekt einzuschätzen.
Die Regierung um Laval und Pétain selbst erwartete eine baldige Niederlage Großbritanniens und eine allgemeine Friedenskonferenz, auf der sie ihre Souveränität zurückerhalten und ihre Rolle im neuen Europa definieren würde. Die Erwartung war, Elsass-Lothringen wieder zu verlieren, ansonsten aber Großmacht auf Augenhöhe bleiben zu können – eine geradezu lächerliche Verschätzung der realen Lage und der Natur des Nazi-Regimes. Die Bereitschaft der Franzosen, als Kollaborateure auf einer gleichwertigen Basis mit der neuen deutschen Vorherrschaft zu kooperieren, ist allerdings bemerkenswert und zeigt einmal mehr die idiotische deutsche Diplomatie beziehungsweise das komplette Fehlen einer deutschen Diplomatie.
Es war gerade diese Kollaboration, die die USA so sehr fürchteten. Roosevelt kommunizierte den Franzosen in eindringlicher Offenheit auf der Weltbühne, dass eine solche Kollaboration von den USA als extrem unfreundlicher Akt betrachtet und entsprechend beantwortet werden würde. Dass die Nerven in der Anglosphäre so blank lagen, lag auch an einem weiteren Horrorszenario: eine Kooperation zwischen Vichy und Franco. Eine solche würde die britische und damit direkt verbunden auch die amerikanische Sicherheit entscheidend bedrohen und damit das Tor für eine Dominanz der Achsenmächte in Nordafrika öffnen. Die kanarischen Inseln könnte dann als ein weiteres Sprungbrett in die Karibik und die westliche Hemisphäre generell dienen. Es ist beeindruckend, wie geostrategisch sowohl die Briten als auch die Amerikaner im Vergleich zu den Deutschen dachten, die nicht einmal auf eine solche Idee kamen. Es zeigt einmal mehr, wie hirnverbrannt der gesamte Krieg von deutscher Seite aus war. Zu dieser Thematik siehe auch Dan Diner – Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942 (hier rezensiert).
Auf französischer Seite war die zentrale Figur in den nun folgenden diplomatischen Schachzügen General Weygand. Seine gesamte Biografie war äußerst mysteriös – er hatte unklare, aber sicher prominente Eltern, baute im Ersten Weltkrieg seine Kontakte zu den USA aus, war militärisch brillant, erzkonservativ und deswegen als potenzieller Putschist gefürchtet -, aber er hatte eine Armee von 100.000 Mann in Algerien aufgebaut, die angesichts der geringen Truppenstärken dort 1940 das Zünglein an der Waage spielen konnte (und natürlich wieder Fantasien von Angriffen über den Atlantik befeuerte).
Die USA sendeten eine ähnlich schillernde Figur, William Donovan, auf eine weiterhin publizierte Reise durch das mediterrane Europa, die sowohl Vichy als auch Berlin geradezu in Panik dazu brachte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit diese beiden Männer sich nicht treffen konnten. Donovan reiste zuerst auf den Balkan, wo er versuchte, eine antideutsche Front herzustellen. Beeindruckend ist, mit welcher Offenheit er die amerikanischen Überlegungen darlegte: er versprach den Balkanstaaten, dass die USA alles tun würden, um Großbritannien im Krieg zu halten, und dass dies wiederum ihre eigene Sicherheit gegenüber den Achsenmächten garantiere. Obwohl die USA Ostentativ noch neutral waren, bestand in der amerikanischen Politik für niemanden mehr ein Zweifel daran, dass das Land auf absehbare Zeit nach einer Aufrüstungsperiode immer aktiver in den Krieg eingreifen würde. das beständige Mysterium der deutschen Kriegserklärung an die USA (siehe hierzu auch Brendan Simms/Charlie Laderman – Hitler’s American Gamble: Pearl Harbor and Germany’s March to Global War (Hörbuch) (hier rezensiert)) findet hierin wohl ein weiteres Puzzlestück.
Der letzte Aspekt der diplomatischen Verwicklungen jener Tage war die britische Blockade. Genauso wie im Ersten Weltkrieg war ein zentraler Aspekt britische Strategie, die Versorgungslinien in das Deutsch besetzte Europa durch eine maritime Blockade abzubrechen. Nach Mai 1940 betraf diese Blockade auch Frankreich. Die britische Befürchtung war, nicht zu Unrecht, dass die Deutschen jegliche französischen Ressourcen für ihre eigenen Zwecke beanspruchen würden. Da genau dies geschah, stand Frankreich bereits Ende des Jahres kurz vor einer Hungersnot.
Wie in allen anderen Fällen verfolgten die Amerikaner eine andere außenpolitische Linie gegenüber Vichy. Sie hofften, durch ein Offenhalten der diplomatischen Kanäle und punktuelle Zusammenarbeit ein Zusammengehen von Vichy mit Deutschland verhindern zu können. Entsprechend organisierten sie humanitäre Hilfen, die vor allem über Nordafrika liefen (um Weygand zu becircen) und die die Briten zwar heftigst ablehnten, aber mit Blick auf ihre eigene Abhängigkeit von den USA zähneknirschend zuließen.
In Kapitel 4, “We Mustn’t Underestimate American Blundering: Britain’s Imperial Insecurity”, standen die USA dann vor den Trümmern ihrer Frankreichpolitik. Die ständigen unübersichtlichen Machtkämpfe in der Vichy-Regierung führten zum Aufstieg Darlains, der noch mehr als Laval und Pétain auf einen deutschen Sieg und auf deutsche Kooperation baute. Als im Irak der Druck auf die Briten durch den Putsch 1941 stieg, war Frankreich einmal mehr entscheidend: da wegen des Sykes-Picot-Abkommens Syrien unter französischer Kontrolle war und die verbündeten Italiener sich gerade anschickten, Ägypten zu attackieren, schien ein Zangenangriff (besonders unter Zuhilfenahme der gefürchteten französischen Flotte) denkbar und würde das britische Reich im Nahen Osten völlig zerstören, die Verbindungslinie über Suez in den Indischen Ozean kappen und so nicht nur Desaster für Großbritannien, sondern auch für die Sicherheitssituation der Vereinigten Staaten bedeuten. Es zeigte sich, das sowohl die Amerikaner ihre Beziehungen zu Vichy als auch Vichy seine Beziehungen zu den USA komplett falsch eingeschätzt hatte.
Trotzdem war die amerikanische Diplomatie unter Cordell Hull und Botschafter Leahy nicht bereit, ihr Scheitern einzugestehen. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion wirkt er als ein weiterer Sargnagel. Darlain war nun der Überzeugung, dass einerseits an einem deutschen Sieg und andererseits an einer ideologischen, antikommunistischen Front kein Weg mehr vorbeiführe und dass die USA das hier sicher genauso sehen mussten. Die antibritischen Ressentiments verbunden mit einem tief verwurzelten Antikommunismus beförderten die Kollaboration Vichys, das auch begann, scharfe antijüdische Gesetze einzuführen. Die Reaktion der amerikanischen Diplomatie darauf: Leahy versuchte, Ausnahmen für amerikanische Juden in Nordafrika zu erreichen.
Das Scheitern der amerikanischen Politik bezüglich Vichy wurde offenkundig, als mit Pearl Harbor und der folgenden deutschen Kriegserklärung die USA direkte Kriegspartei wurden. Für Darlain und Laval war die Konsequenz, sich noch näher an Deutschland zu orientieren und Angebote für eine Art von Bündnis zumindest in Nordafrika zu machen, die von Göring in typischer Nazi-Arroganz mit einem Gebrüll über „die Franzosen müssen lernen, werden Krieg gewonnen hat“ beantwortet wurden und die Qualität der deutschen Diplomatie einmal mehr vor Augen führten.
Gleichwohl hatten die USA ein Problem: die deutschen Erfolge in Nordafrika 1941 waren sehr besorgniserregend und die Sowjetunion schien auch nicht gerade lange durchhalten zu können. Als Vichy in Marokko neue Flughäfen baute, deren Landebahnen viel zu lang für die zur Verfügung stehenden Flugzeuge waren, die aber deutschen viermotorigen Bombern den Flug nach Martinique erlauben könnten, klingelten wieder alle Alarmglocken (mit unserem Wissensstand ist es natürlich amüsant, da wir wissen, dass die deutsche Rüstungsindustrie notorisch unfähig war, diesen wichtigen Flugzeugtyp zu produzieren). Für die USA galt es nun, die Politik gegenüber Vichy grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen.
In Kapitel 5, “They’re Asleep in New York: The Allies look for Answers”, sehen wir dann wieder einmal, wie innenpolitische Erwägungen der Außenpolitik im Weg stehen können. Als Charles de Gaulle einige strategisch völlig irrelevante Inseln vor der Küste Quebecs für das freie Frankreich übernahm, was in der alliierten Welt für Begeisterungsstürme sorgte, plädierte er voller Einsatz dafür, eine Rückgabe der Inseln an Vichy zu erzwingen. Das war nicht nur angesichts der erst eine Woche zurückliegenden Attacken auf Pearl Harbor ein merkwürdiger Fokus seiner Aufmerksamkeit, sondern auch fundamental gegenläufig zur öffentlichen Meinung in den USA, die sich bereits seit Monaten gegen Vichy gewandt hatte. Die Politik jetzt aber zu ändern würde das öffentliche Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Politik bedeuten, wozu Hull nicht bereit war.
Die Amerikaner sahen sich einem weiteren Problem ausgesetzt: sie konnten de Gaulle auf den Tod nicht ausstehen, hatten massives politisches Kapital und Zeit in die Etablierung von Beziehungen zu Vichy gesteckt und mussten sich mit den Briten koordinieren. Da sie die Freien Franzosen de Gaulles nicht als Option betrachteten, brauchte es eine Alternative. Die Hoffnung war, diese in Giraux zu finden, einem antideutschen General mit hollywoodreifer Persönlichkeit.
Die Amerikaner etablierten ein extrem leistungsfähiges Spionagenetzwerk in Nordafrika, das neben der Schätzung französischer militärischer Fähigkeiten in der Region die politische Lage sondieren und Verbindungen zu Giraux herstellen sollte. Gleichzeitig erhielt man den Versuch aufrecht, einen Kanal zu Weygand zu schaffen. Letzteres scheiterte vollständig: Weygand bekannte sich öffentlich zu Pétain und entwich allen amerikanischen Kontaktversuchen. Giraux auf der anderen Seite war eine schlüpfrige Persönlichkeit, auf die sich zu verlassen ein enormes Risiko darstellte.
Weiter geht’s in Teil 3.
Die Franzosen allerdings besaßen die drittgrößte weltweit.
Die (knapp) viertgrösste nach GB, den USA und Japan und vor Italien.
… nachdem der französische Flottenkommandant in Mers-al-Kabir ein Ultimatum zur Neutralisierung der Flotte ausgeschlagen hatte (aus Gründen eines idiotischen, anachronistischen Ehrenkodex‘)
Uninformierter Zivilistenquatsch. Ein Flottenkommandeur mit zumindest einer Chance auf einen Kampf, der seine Flotte auf Nachfrage kampflos und entgegen dem Auftrag seiner Regierung an einen Feind übergibt, ist kein Flottenkommandeur, sondern ein feiger Verräter, fertig. Hat mit einem „anachronistischen Ehrenkodex“ überhaupt nichts zu tun, sondern mit grundlegendem soldatischen Ethos, auch heute noch gültig für alle kampffähigen Streitkräfte weltweit.
Gruss,
Thorsten Haupts
Korrekturanmerkung: Du schreibst mehrfach von Lavalle. Der Politiker hieß Pierre Laval
Wenn man schon mal dabei ist, hätte ich da noch den Giraud statt Giraux und den Darlan statt Darlain^.
Is aber nicht wichtig, die Rezension find ich gut 🙂
stimmt… ich habe die Vermutung, dass Stefan mit seiner Hand immer noch nicht gut tippen kann (In diesem Fall beste Besserungswünsche) und seine Spracherkennungssoftware mit französischen Namen überfordert ist.
ich tippe immer noch nicht gut, nein, danke für die wünsche. daher in den kommentaren auch kurz und mit mieser rechtschreibung.
Fluch des Hörbuchs 😀
Hab es alles korrigiert in der gesamtrezension.
ups danke
Zitat:
„Weygand bekannte sich öffentlich zu Pétain und entwich allen amerikanischen Kontaktversuchen. Giraux auf der anderen Seite war eine schlüpfrige Persönlichkeit, auf die sich zu verlassen ein enormes Risiko darstellte.“
Der Weygand war zwar „innenpolitisch“ ein Vichy-Mann, sprich: Er war faschistischen/korporatistischen Ideen zugetan, antiparlamentarisch und all so was, natürlich gewürzt mit Antisemitismus, aber gleichzeitig durchaus GEGEN die Kollaboration und insoweit intern ein Gegner von Pétain und Laval, wenngleich eher leise. Also eine Kombination von einer gewissen ideologischen Verwandtschaft mit den Nazis bei gleichzeitiger aus nationalem Denken gespeister Feindschaft. Da war er übrigens nicht der Einzige, d.h. die Gleichung Vichy = Kollaboration ist zwar weitgehend, aber keineswegs durchgängig stimmig. Die Kombination Vichy einerseits und Kritik an der Kollaboration andererseits war für FDR natürlich reizvoll und die Anbahnung von „Geschäften“ mit Weygand war heftig, aber letztlich erfolglos und der Weygand fristete nach Gefangennahme durch die Deutschen den Rest des Krieges in – relativ komfortabler – deutscher Internierung. Danach von den befreienden Amerikanern äußerst höflich behandelt, von De Gaulle aber äußerst unhöflich^. Andererseits konnte Letzterer Weygand keine Kollaboration anhängen. Der Vorwurf endete mit Freispruch.
Die Weygand-Story verweist darauf, dass der Oberbegriff Vichy – wenn sozusagen in Einzelteile zerlegt – ideologisch eine durchaus komplexe Angelegenheit darstellt. Das ist auch in diesem Werk von Julian Jackson (ein durch und durch frankophiler Brite; gibt es häufiger als man denkt^) ganz gut geschildert:
https://reviews.history.ac.uk/review/262
Jepp, danke!
It appears to me (not having read it of course) that this book is a great example for writing history with the benefit of 20/20 hindsight plus from the victors‘ perspective.
1. The policy approach adopted by the US in the summer of 1940 re Vichy France made perfect sense with the knowledge available at that time. France was beaten, GB barely hanging in there and the only French government left with any real world influence and power (such as the Germans would permit of course) was Vichy France. It still controlled most if not all French colonies and commanded a significant navy plus ground and air forces in North Africa, Syria and Asia. And maybe it could be turned against Germany (and Italy) one day. So it made sense to have a relationship and try to exert influence.
2. De Gaulle on the other hand was a total nobody in the summer of 1940. He had a few thousand soldiers under his command and a huge attitude, and not really much else. Nobody in the French colonies or the unoccupied territories was listening to him. Even most of his senior leaders later on (like Juin or de Lattre) only joined him after the Allied invasion of North Africa and the vision of an Allied victory in North Africa and eventually Europe. De Gaulle benefitted, in hindsight and after the war was won, immensely from the fact that he had been firmly on the side of the victors all along. But in the summer of 1940 the UK and Churchill worked with him mainly because they had no one else, especially after the attack at Mers el Kebir. It was extremely hard to see back then how de Gaulle would ever evolve as the undisupted leader of a French government.
3. The fall of France was a shock for the US but not nearly as much as the author makes it out to be and certainly not bigger than Pearl Harbour, that’s just absurd. The draft and the increase in armament production was implemented because the US realized that the war in Europe (and elsewhere) was not coming to an end any time soon, and that Japan was likewise going to continue its aggressions, especially with the Dutch and French colonies in Asia now being vulnerable. The fall of France was a mere footnote in this context.
Agreed on 1 and 2, can’t really judge 3. The argument for pearl harbor was about the paradigm shift: Neiberg says that happened before. PH was a shock and hugely important, obviously, but it was not central for the armament drive, which happened before. That makes sense IMHO.