Michael S. Neiberg – When France fell. The Vichy Crisis and the Fate of the Anglo-American Alliance (Hörbuch)
Nur wenige Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sind so mythenumwittert wie der Fall Frankreichs 1940. Innerhalb von nur 6 Wochen wurde die französische Armee, die von vielen Beobachtern als die stärkste des Kontinents eingeschätzt wurde, vollständig besiegt. Das Land, dass während des Ersten Weltkrieges unter ungeheuren Opfern für vier Jahre erbittert Widerstand gegen die Deutschen geleistet und am Ende siegreich aus dem Konflikt hervorgegangen war, hielt sich kaum länger als das kleine, bedrängte Polen. Die deutsche Propaganda stilisierte den Feldzug zu einem erfolgreichen „Blitzkrieg“, was zwar mit der Realität wenig zu tun hatte, sich aber gut verkaufen ließ. Ironischerweise galt dasselbe für die Alliierten, die durch die Betonung des Blitzkriegmythos ihre eigenen Fehler vergessen machen und eine bequeme Erklärung für das Debakel geben konnten.
Neiberg beschäftigt sich allerdings nicht mit der militärischen Dimension der französischen Niederlage, sondern ihrer politischen. Auch hier gab es zahllose Mythen und absurde Fehleinschätzungen, die jedoch heute weitgehend vergessen sind. Der Autor fasst den Fall Frankreichs in den Kontext angelsächsischer Außenpolitik, indem er vor allem den USA einen merkwürdigen, schlechten Umgang mit der Vichy-Regierung vorwirft. Die Briten, die von Beginn an auf das Pferd Charles de Gaulle setzten, kommen da vergleichsweise besser weg. Ich will im Folgenden Neibergs Argumentation nachzeichnen und überprüfen, inwieweit seine Bewertungen tragfähig sind.
In der Einführung, „A Fight for Love and Glory”, skizziert er die grundsätzliche These seines Buchs: der Fall Frankreichs hab für die amerikanische Außenpolitik einen größeren Schock bedeutet und stärkere Veränderungen hervorgerufen, als dies bei Pearl Harbor der Fall gewesen sei. Diese erstaunliche These leitet sich aus dem amerikanischen Isolationismus ab: nach dem Ersten Weltkrieg hatten die USA sich zurückgezogen und ihre Armee wieder demobilisiert, so dass sie 1940 militärisch ungefähr vergleichbar mit dem Niveau Portugals waren. Sie waren der Überzeugung, wieder starke Armee noch Flotte zu bedürfen, weil die internationale Ordnung ihnen diese Aufgabe abnahm.
Diese internationale Ordnung war das System multipolarer Verträge und Abkommen im Rahmen des Völkerbundes komme dass die Gefahr eines neuerlichen Angriffskrieges seitens Deutschlands einhegte. Der Garant dieser Einhegung war Frankreich, das natürlicherweise das größte Interesse daran haben musste und beständig eine starke Armee unterhielt. Diese Armee war quasi der Sicherheitsanker der USA. Auch wenn Neiberg es nicht sagt, drängt sich für mich doch der Vergleich mit der Situation in der Nato heute auf. Die USA waren in den 1920er und 1930er Jahren effektiv Trittbrettfahrer der französischen Militärausgaben, was die Franzosen zwar durchaus sahen und mit Forderungen nach amerikanischem Engagement zu begegnen versuchten, worauf sich die Amerikaner aber nicht einließen, weil sie kostenlos bekamen, wofür die Franzosen Beiträge wollten. Überspitzt ausgedrückt genossen die Amerikaner in dieser Zeit die Friedensdividende.
Man ging davon aus, dass die französische Armee, so sie nicht ohnehin der Deutschen überlegen war, in jedem Falle so lange aushalten würde, bis die britische und amerikanische Armee mobilisiert war. Die allgemeine Annahme war also, Zeit zu haben, jene wichtigste Ressource, deren Fehlen stets den Untergang bedeutet. Entsprechend brach in Washington im Sommer 1940 blanke Panik aus, als Ausmaß und Geschwindigkeit der französischen Niederlage deutlich wurden. Personen wie der spätere Spitzendiplomat Byrne wandelten ihre Position radikal um 180 Grad von einer isolationistischen Vorstellung, man könne sich heraushalten und eine Art Friedensvertrag zwischen den Alliierten und Deutschland vermitteln, zu dem Durchpeitschen nie dagewesener Militärausgaben im Kongress.
Der eigentliche Fall wird dann in Kapitel 1, “We’ll always have Paris: The Nazis march in”, thematisiert. Bekanntlich hatte sich Frankreich hinter der Maginotlinie verschanzt. Diese hatte einen gigantischen Teil der französischen Verteidigungsausgaben verschlungen; tatsächlich hatte die Dritte Republik mehr für diese Linie ausgegeben als Großbritannien für seine Flotte! Das gängige Narrativ ist, dass diese defensive Anlage die Mentalität der Franzosen entscheidend beeinträchtigt habe und grundsätzlich militärisch sinnlos gewesen sei. Zwar wird diese Position von Neiberg nur im Konjunktiv wiedergegeben – als etwas, das sich damals schnell als angenehmes Narrativ herausstellte – aber er verpasste es an dieser Stelle, die Geschichte geradezurücken.
Die Geschichte des deutschen Vorstoßes ist sattsam bekannt und soll hier nicht wiederholt werden; relevant ist die Reaktion der französischen Eliten: einige zogen sich in eine Art Wiederholung von 1870 nach Bordeaux zurück oder schifften sich nach Algerien aus, um den Kampf von dort fortzusetzen. Hier endeten die Parallelen allerdings: die Regierung informierte die Bevölkerung nicht über den aktuellen Stand, so das allerlei Gerüchte keine Panik produzierten, die dazu führte, das acht Millionen Flüchtlinge die Straßen verstopften und eine humanitäre Katastrophe anbahnten. Gleichzeitig waren die Spitzen des Militärs nicht bereit, den Kampf fortzusetzen und traten entschieden für Waffenstillstandsverhandlungen ein.
Zu diesem kam es dann hauptsächlich, weil der alte Marschall Pétain mit all seinem Prestige aus dem Ersten Weltkrieg die Macht im Land übernahm und den Vertrag verhandelte. Neiberg Beschreibt hier dieses Prestige als eines des Meisters der Verteidigung und des Vermeidens unnötiger Verluste, was für diesen Moment wie maßgeschneidert war. Weniger für den Moment maßgeschneidert allerdings waren die politischen Fähigkeiten Pétains. Genauso wie viele andere Funktionäre der späteren Vichy -Regierung, allen voran Lavalle, war er der Überzeugung, dass die Niederlage letztlich nur auf innere Faktoren zurückzuführen war. Diese Faktoren waren einerseits die Kommunisten und Sozialisten, die in den Worten Lavalles eine fünfte Kolonne der Deutschen gewesen seien (eine völlig absurde Verschwörungstheorie) und andererseits der als korrupt wahrgenommene Parlamentarismus mit seiner säkularen Trennung von Staat und Kirche. Die Rechtsradikalen hofften darauf, aus der Asche der Niederlage ein neues, stärkeres Frankreich entstehen zu lassen, das eine Art Juniorpartner Deutschlands in der neuen Weltordnung darstellen könnte.
Den Sieg der Wehrmacht betrachten sie als beschlossene Sache. Die größte Debatte der Kollaborateure war, ob Großbritannien drei oder fünf Wochen würde durchhalten können. ihre Vorstellungen waren völlig fantastisch und hat nichts mit dem real existierenden Deutschen Reich zu tun, das ihnen am Verhandlungstisch gegenüber saß. Die Ironie der Angelegenheit ist für mich, dass der große Fehler Vichys war, anzunehmen, dass die Nazis ein rationaler Akteur wären: wäre dies der Fall gewesen, so wären die Annahmen Vichys vermutlich gar nicht verkehrt gewesen. Es bleibt für mich immer wieder beeindruckend, wie sehr sich die Nazis selbst damit ins Knie schossen, keinerlei Diplomatie zu betreiben und niemanden als Bündnispartner anzuerkennen. Man muss sich an diesem Punkt auch immer wieder klarmachen, dass wir die ganze Geschichte normalerweise vom Ende her denken. Im Sommer 1940 war aber keinesfalls absehbar, wie der Krieg enden würde.
So wurde Frankreich in die bekannten zwei Zonen aufgeteilt: den Bogen entlang der Atlantikküste, den die Deutschen kontrollierten, und den von Vichy kontrollierten Rest. Die Fiktion, das Vichy eine Souveränität bewahren könnte, ist für Neiberg unbegreiflich. Gleichzeitig ist beeindruckend, in welchem Ausmaß ihnen politische und ideologische Streitigkeiten durch die Niederlage hindurch weiter existierten. Ein nicht unerheblicher Teil der französischen Entscheidungsträger betrachtete die Aussicht eines britischen Sieges als ähnlich schlecht wie die eines Deutschen und hegte tief verwurzelte anti-britische Ressentiments. Gleichzeitig bestand eine obsessive Furcht vor den Kommunisten und Sozialisten und der Dritten Republik im Allgemeinen, die man zu bekämpfen hoffte. Als die Niederlage der französischen Armee nicht mehr zu leugnen war, wandte sich diese nach innen, um imaginäre kommunistische Aufstände zu bekämpfen. dringend benötigte Munition wurde zurückgehalten, um diese Aufgabe nachkommen zu können. Szenarien einer Neuauflage des Aufstands der Kommune 1871 geisterten durch die Vorstellungen der Entscheidungsträger. beides fand sich auch in den USA: auch dort gab es starke anti-britische Ressentiments und irrationale Furcht vor den Sozialisten, die eine anfängliche Sympathie für Vichy stark begünstigten: wie so häufig bevorzugten die Amerikaner eine rechte Diktatur vor einer linken Demokratie.
In Kapitel 2, “A Hill of Beans in this Crazy World: America’s new insecurity”, geht Neiberg mehr auf die Auswirkungen des Falls Frankreichs auf die amerikanische Sicherheitspolitik ein. Seine These, dass dieses Ereignis entscheidend gewesen sei, verfolgt er anhand des republikanischen Parteitags 1940: die isolationistischen Kandidaten, allen voran der Favorit Robert Taft, verloren überraschend gegen Wendel Wilkey, der eine wesentlich größere Bereitschaft erkennen ließ, ein Aufrüstungsprogramm und eine aktivere Europapolitik durchzusetzen. Der Sieg Wilkeys bedeutete einen neuen Konsens in der amerikanischen Innenpolitik: zum ersten Mal erhielt Roosevelt Standing Ovations von beiden Parteien im Kongress für eine außenpolitische Grundsatzrede. Die drastische Steigerung der Verteidigungsausgaben war beschlossene Sache und wurde in gigantischem Umfang durchgesetzt. Dieser Umfang war beeindruckend: bei einem Gesamthaushalt von neun Milliarden wurde ein Ausgabenprogramm von 12 Milliarden aufgelegt, das das Militär von einer Friedenstruppe mit rund 250.000 Mann in eine von vier Millionen verwandeln sollte. Dazu gehörte auch die Einführung der Wehrpflicht in Friedenszeiten, eine für die USA präzedenzlose Maßnahme. Die Aufrüstung lief also bereits anderthalb Jahre, als die Japaner Pearl Harbor angriffen.
Die amerikanischen Befürchtungen kaprizieren sich auch stark auf die Rolle der französischen Kolonien, besonders Martinique. Sie befürchteten, dass von hier ein Angriff auf die westliche Hemisphäre gestartet werden könnte. Angesichts der Schwäche der amerikanischen Armee, die sich zur Abschreckung bislang auf die französische verlassen habe, wäre ein solcher Angriff verheerend. Neiberg sagt leider nichts dazu, wie realistisch diese Befürchtungen tatsächlich waren (nur dass sie in Washington sehr real waren), aber ich kann mir nicht vorstellen, das selbst im Best-Case-Szenario für die Deutschen mit einer Übernahme der französischen Flotte und eventuell einem aktiven Bündnis mit Vichy geht ein Angriff über den Atlantik möglich gewesen wäre.
In diesem Kontext ordnet er dann auch den sogenannten „Basen für Zerstörer“-Deal ein, bei dem die USA Großbritannien 50 alte und militärisch weitgehend nutzlose Zerstörer überließen und dafür Basennutzungsrechte erhielten. Für die USA war dieser Deal sehr bedeutsam, weil er ihnen eine Absicherung gegen mögliche Nutzungen einer Atlantikflotte der Achsenmächte deutlich vor den amerikanischen Küsten ermöglichte. Für die Briten war er wichtig, weil er die USA mit Großbritannien verband und einen Präzedenzfall für weitere Waffenlieferungen schaffte, wie sie ja dann mit dem Lend-Lease-Abkommen auch zeitnah folgen sollten. Gleichzeitig verbesserte sich das Bild Großbritanniens in den USA: sie galten nicht mehr als der bald besiegte auf hoffnungslosen Posten kämpfende Verlierer, sondern als der tapfere Held im Kampf gegen das Böse, wofür besonders die Berichterstattung von Edward Murrow verantwortlich war.
Weiter geht es in Teil 2.
… wie so häufig bevorzugten die Amerikaner eine rechte Diktatur vor einer linken Demokratie.
???? Soweit ich mich richtig erinnere, waren die erste Vichy-Regierung ebenso wie das Waffenstillstandsabkommen formal perfekt legitimiert? Und die Vichy-Regierung die legale UND legitime Vertretung von Frankreichs Interessen gegenüber anderen Nationen?
Gruss,
Thorsten Haupts
Der Text macht ziemlich deutlich, dass GB Vichy nicht anerkannte. Da gab es eine offensichtliche Alternative. Ich weiß gar nicht, was dein Argument ist. Die USA haben Rotchina über 20 Jahre lang nicht anerkannt!
Mein Argument ist ziemlich eindeutig und unmissverständlich, dass 1940 die Vichy-Regierung sowohl die legale als auch die legitime als auch die völkerrechtlich einzige Regierung Frankreichs war, nicht mehr und nicht weniger.
Das Argument mit Rotchinas Regierung ist albern, deren „Legitimation“ kam (und kommt) ausschliesslich aus Gewehrläufen, Gefängnissen und (Massen)Gräbern.
Gruss,
Thorsten Haupts
Hatte GB nicht schon de Gaulle und sein freies Frankreich als legitime Regierung anerkannt? Man kann ja immer nur eine anerkennen.
Exakt!
Zitat:
„…Vichy-Regierung sowohl die legale als auch die legitime als auch die völkerrechtlich einzige Regierung Frankreichs war,“
Stimmet insofern nicht, als dieser Anspruch vom ersten Tag an durch De Gaulle in London bestritten wurde. Er sei der „détenteur légitime de la continuité de l’État“. Es folgte ein „Comité français“ und zunehmend eine Art Regierungshandeln. Die Regierung Churchill wiederum hatte gegen diesen Anspruch – immerhin auf britischen Boden zum Ausdruck gebracht – keine Einwendungen. Rechtsanwälte wurden nicht gefragt; das ist in solchen Situationen auch unüblich^.
Ab anno 44 wurde Vichy dann in Frankreich selbst nachträglich offiziell zur illegalen Usurpation, die zu keinem Zeitpunkt legal gewesen sei. Wie Juristen an dieser Materie rumdoktern ist ziemlich belanglos. Schon Bismarck pflegte zu sagen: Die Geschichte ist kein Amtsgericht.
Schön. Ich halte mich an die bekannten und unbestrittenen Fakten: Die Vichy-Regierung hatte das Mandat des französischen Parlamentes, de Gaulles Alternativregierung war erst einmal nichts anderes als ein versuchter Staatsstreich.
https://de.wikipedia.org/wiki/Vichy-Regime
Dass die Geschichte und die Politik immer den Siegern das Recht geben, ist natürlich historisch völlig korrekt, ändert nur echt nichts an den Tatsachen.
Gruss,
Thorsten Haupts
Es ist komplett irrelevant. Vichy war eine Marionette eines totalitären, genozidalen Regimes. Es gab keine Notwendigkeit, es anzuerkennen. Denn anders als du insinuierst gibt es dazu keine Pflicht, sonst würde man in Taipeh jetzt glaube ich aufhorchen.
Exakt.
Spannend, dass faschistische Regierungen legitim, kommunistische aber illegitim sind. Vichy war eine Marionette Nazideutschlands. Und wie gesagt: die USA standen mit der Anerkennung, genauso wie du, eher allein auf weiter Flur.
Spannend, dass faschistische Regierungen legitim, kommunistische aber illegitim sind …
Versuch´s mal ein bisschen weniger offensichtlich, bitte. 1940 – das Jahr, von dem wir reden – war Vichy eine von der französischen Nationalversammlung demokratisch perfekt legitimierte Regierung. Rotchinas Kommunisten haben sich niemals einer Wahl gestellt. Unterschied klar genug oder willst Du noch ein paar Nebelkerzen werfen?
Dass 1945 ff glasklar war, dass Vichy eine Nazi-Marionette und ein Helfer bei Genoziden war, ist überhaupt keine Frage und wird von mir in keiner Weise bestritten.
Gruss,
Thorsten Haupts
Ich verweise erneut auf Taipeh.
Wo genau ist da der Zusammenhang?
auch nicht anerkannt, obwohl zweifellos demokratisch.
Alternative history from a history teacher (?), that’s something you don’t read every day, especially when the facts are really indisputable.
Vichy France was not only recognized by the US (who incidentally sent Admiral Leahy, one of the most influential persons in Roosevelt’s inner circle as ambassador), but also by Allied nations like Australia and Canada. As well as by most neutral nations such as Switzerland. The reason Vichy France did not have foreign relations with GB was that Vichy France broke them off after the British attack on the French fleet, not because GB recognized de Gaulle as the leader of the French government. De Gaulle didn’t really become that until after the Allied invasion of French North Africa and after he prevailed over General Giraud and Admiral Darlan (who of course was assassinated). Prior to these events de Gaulle was little more than the leader of allied military forces (The Free French) which were at all times under the direct command of the British and later the Americans.
Vichy France retained full civilian and military control over most of the French colonies until late(r) in the war. It made sense for other nations to acknowledge this via diplomatic relations, regardless of the actual state of Vichy France as a puppet of Nazi Germany.
Thanks for the correction.
Merci Sir, that was what I knew but was too lazy to actually look for and document appropriately.
Zitat Stefan Sasse:
„So wurde Frankreich in die bekannten zwei Zonen aufgeteilt: den Bogen entlang der Atlantikküste, den die Deutschen kontrollierten, und den von Vichy kontrollierten Rest.“
Das mit den „Zonen“ war eigentlich noch komplexer. Der Streifen am Atlantik war nochmal eine spezielle militärische Zone, abgesondert vom Rest, und der wiederum mit nicht einheitlichem Status; nur Elsass und Lothringen waren offiziell unter deutscher Verwaltung, was von Vichy wiederum „eigentlich“ nicht anerkannt wurde. Hinzu kam noch eine italienische Ecke im Südosten. In diesem Durcheinander glaubte Vichy sich indes offiziell weiterhin für ganz Frankreich zuständig, inkl. Empire natürlich. Im Grunde ein absurder Fantasiestaat, der bezeichnenderweise noch mit der Komödie in Sigmaringen fortgesetzt wurde
Zitat:
„Die Fiktion, das Vichy eine Souveränität bewahren könnte, ist für Neiberg unbegreiflich“
Das war ja auch nicht so. Die Souveränität war Papierform. Das soll es aber in der Staatenwelt öfters geben^; Fiktionen ebenso. Beispielsweise gab es die Fiktion „Deutschland in den Grenzen von 31.12.1937“ (auch in Brandts Ostverträgen gab es auf dem Papier noch entsprechende „Vorbehalte“) offiziell bis 7.10.1990 und der Kohl hatte in den Monaten davor in dieser Sache noch massive Schwierigkeiten mit seinem rechten CDU-Flügel.
Zitat:
„Gleichzeitig bestand eine obsessive Furcht vor den Kommunisten und Sozialisten und der Dritten Republik im Allgemeinen.“
Mit dieser Aussage wird IMHO doch etwas zu stark alles in einen Topf geschmissen. Was die Kommunisten betrifft, ist der zu diesem Zeitpunkt noch völlig intakte Hitler-Stalin-Pakt zu beachten. Den fanden auch die französichen Kommunisten richtig gut, Letztere wurden darufhin von der Regierung Daladier offiziell verboten. Das war noch einige Zeit vor dem Juni ’40 und innerhalb der 3. Republik. Der Hitler-Stalin-Pakt musste erstmal verschwinden (Juni ’41) bis die Kommunsten auf die Idee kommen durften, dass Résistance ne gute Idee ist.
Zitat
„beides fand sich auch in den USA: auch dort gab es starke anti-britische Ressentiments und irrationale Furcht vor den Sozialisten, die eine anfängliche Sympathie für Vichy stark begünstigten“
„Anfänglich“, okay, aber das Anfängliche zog such ziemlich lange hin^. FDR hielt Vichy-Repräsentanten offenbar für pflegeleicht und für relativ leicht umzudrehen in seinem Sinn, dem renitenten De Gaulle jedenfalls vorzuziehen.
Zitat:
„wie so häufig bevorzugten die Amerikaner eine rechte Diktatur vor einer linken Demokratie.“
Dass die Rechts-Links-Schema hier maßgeblich war, glaub ich eher nicht. Maßgebliche Vichy-Leute kamen übrigens von links, wie namentlich Laval. Der war mal der Meinung, dass der Sozialismus die „Verwirklichung der Republik“ sei – in seiner Zeit als Gewerkschaft- und SFIO-Mann. Das Rechts-Links-Schema ist in F – auch heute noch – eh äußerst fluid^. Den Vichy-Mann Mitterrand kann man da u.a. auch erwähnen.
FDR hielt Vichy-Repräsentanten offenbar für pflegeleicht und für relativ leicht umzudrehen in seinem Sinn, dem renitenten De Gaulle jedenfalls vorzuziehen.
Und Churchill war ja auch nicht der umgänglichste Charakter, insofern schon eher erstaunlich, dass die sich nicht alle an die Gurgel gegangen sind, aber dafür gibts ja Diplomaten. 🙂
Yes.
Yes.
Korrekt, das schreibt Neiberg auch, hab ich in der Zusammenfassung unterschlagen.
Ja.
Nun, der Impetus war ein dezidiert anti-sozialistischer; ich denke, das passt schon grob.
Auch wenn Neiberg es nicht sagt, drängt sich für mich doch der Vergleich mit der Situation in der Nato heute auf.
Hab ich auch gleich dran gedacht, obwohl der krasse Wechsel hin zu viel Militär(präsenz) ja eigentlich eh der nach dem 2. Weltkrieg war. Davor sind die USA ja immer quasi blank in einen Krieg hineingegangen und haben das sehr beeindruckend aus dem Boden gestampft.
Sollten sich vielleicht Leute mal angucken, die heute gerne erzählen, nur Diktaturen wie China können Effzienz.
Die Ironie der Angelegenheit ist für mich, dass der große Fehler Vichys war, anzunehmen, dass die Nazis ein rationaler Akteur wären
Ja gut, da waren sie nicht die einzigen. Wären die Nazis rationale Akteure gewesen, wäre Chamberlain auch als großer Diplomat in die Geschichte eingegangen. Churchill war bis 39/40 der verrückte Irre.
Gleichzeitig bestand eine obsessive Furcht vor den Kommunisten und Sozialisten
Ich erklär mir das immer mit zwei Gründen (und zeitlich lag die Oktoberrevolution damals natürlich noch näher). Zum Einen sind Sozialisten sehr viel weiter weg von der Elite als rechte Diktatoren oder welche, die es werden möchten. Hitler ist ja die krasse Ausnahme und der hatte irgendwann genug elitäre Anhänger, die von einer aristokratischen Ständediktatur träumten. Und vor dem Sozialisten als unbekanntem Bösen hat man mehr Angst als vor jemanden, mit dem man schon mal gesittet ein Bier getrunken hat.
Und 2. Sozialisten machen chaotische Massenaufstände, womöglich im ganzen Land und der Straße vor dem Haus. Hab mal irgendwo gelesen, dass in englischen Arbeiterstädten/vierteln nach der Oktoberrevolution überall rote Fahnen an den Häusern hingen, das muss für die Mächtigen wahrlich beängstigend gewesen sein. Und 1870 und 1918 waren ja auch so ungeplante, chaotische Massenaufstände.
Wüsste ich jetzt spontan auf der rechten Seite nichts Ähnliches, die kommen eigentlich immer durch Wahlen und Kooperation mit den bürgerlich-konservativen oder durch Putsch (was nur die Elite kann) an die Macht.
Selbst heute geistert ja zwischendurch immer mal wieder das Gespenst von sozialen Unruhen und Massenaufständen durch die Medien. Oder die Sorge größer vor einem linksgrünwokeversifften Zeitgeist als vor einer Regierungsbeteiligung der AfD.
Ich hab das schon öfter gesagt, aber das ist so ein Treppenwitz der Weltgeschichte: die Linksextremen behaupten immer, die Mehrheit zu sein und kommen nur durch Gewalt an die Macht, während die Rechtsextremen immer behaupten, durch entschlossene aktion an die Macht zu kommen und es meist mit Kooperation der Eliten und durch Wahlen tun.
Ich kenne mich zugegeben mit den historischen Gegebenheiten zu wenig aus, um die historische staatsrechtliche Legitimität des „etat francaise“ zu beurteilen, möchte mal aber eine (provozierende) Frage stellen: Wenn der Vichy-Staat legitim war, war es dann auch die Vichy-Exilregierung, die nach der Befreiung Frankreichs 1944 von Sigmaringen aus operierte ?
Und noch eine Beobachtung zur Frage, ob Petain faschistisch war. Hier sein Wappen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Vichy_France#/media/File:Flag_of_Philippe_P%C3%A9tain,_Chief_of_State_of_Vichy_France.svg
Natürlich ist es eine gaaanz andere Axt, aber dennoch…