Volker Ullrich – Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Hörbuch)
Die politischen Hoffnungen richteten sich auf die Bildung einer großen Koalition, die die DVP, das Zentrum, die DDP und die SPD umfassen sollte. Die Idee dahinter war nicht eine neu entdeckte Liebe für die Sozialdemokratie, sondern die Vorstellung, dass eine breite Basis in der Masse der Bevölkerung gebraucht wurde. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass die Liberalen zu diesem Zeitpunkt noch bereit waren, die Legitimität der Arbeiterbewegung als Teil Deutschlands anzuerkennen – etwas, das gegen Ende der 1920er Jahre nicht mehr der Fall sein würde. Cuno hatte ohnehin längst sämtliche Lust an dem Amt verloren, und es gab eigentlich nur einen Kandidaten: Gustav Stresemann. In den Worten Hugo Stinnes‘: „Stresemann lag in der Luft.“
Bevor er sich der Regierung Stresemann zuwendet, beginnt Ulrich Kapitel 2 mit der Hyperinflation. Sie ist der Elefant im Raum, der bisher nur am Rande des Geschehens erwähnt worden ist und prägt die Erinnerung an 1923 wie kaum ein anderes Ereignis. Ohne die Vorgeschichte des Jahres zu verstehen, ist es praktisch unmöglich, die Hyperinflation richtig einzuordnen. Sie beginnt bereits während des Ersten Weltkrieges, weil der deutsche Staatshaushalt nicht in der Lage war, die laufenden Kosten auch nur annähernd aus den Steuern und Kriegsanleihen zu decken. Diese Kriegsanleihen werden im Lauf der Inflation komplett entwertet und waren eine Anlage vor allem für die Mittelschicht, die durch diese kalte Beseitigung der Staatsschulden bei der eigenen Bevölkerung die größten Schäden bei ihrem Vermögen erlitt. Selbstverständlich führte sie dies weniger auf den verlorenen Krieg als vielmehr auf die Republik selbst zurück.
Ende des Krieges jedenfalls betrugen allein die Zinskosten 90% aller offiziellen Staatsausgaben; der Krieg war komplett auf Pump finanziert. Ullrich spricht in diesem Zusammenhang von einem Hasardspiel. Die Reichsmark war im Jahr 1918 nur noch 50% von dem Wert, was sie zu Beginn des Krieges gewesen war. Damit war das Ende der Fahnenstange allerdings noch bei weitem nicht erreicht. Die weitere Entwicklung der Inflation verlief in Schüben. Bis Ende 1919 beschleunigte sie sich drastisch. Darauf folgte eine Phase relativer Ruhe und Stabilität in der ersten Hälfte 1920, ehe die Londoner Konferenz mit der offiziellen Festlegung der Reparationssumme einen weiteren starken Werteverfall der Währung und durch ausländische Spekulationen gegen die deutsche Zahlungsfähigkeit auslöste. Ein weiterer großer Inflationsschub entstand durch die durch Rechtsradikale durchgeführte Ermordung Walther Rathenaus 1922. Das legendäre vollständige Abdrehen in die Hyperinflation geschah dann erst 1923 als Folge des Ruhrkampfes.
Bereits vorher allerdings hatte die Inflation dramatische Züge angenommen. Jetzt herrschte jedoch lange Jahre ein Inflationskonsens, der sowohl von der Wirtschaft, den Beschäftigten als auch von der Politik getragen wurde. Dieser Inflationskonsens beruhte vor allem auf drei Säulen: Die relative Ruhe nach dem Ersten Weltkrieg, die angesichts der großen Demobilisierung und den damit einhergehenden Verwerfungen in der Volkswirtschaft keine Selbstverständlichkeit war, sollte erhalten werden; die deutsche Wirtschaft, die all die Kriegsheimkehrer zu versorgen hatte und zudem unter der drohenden Belastung von Reparationen stand, sollte gestärkt werden (ein Ziel, das bis 1922 auch gut erreicht wurde, mit hohen Wachstumsraten und gutem Exportanteil, der Reparationen teilweise möglich machte); und zuletzt sollte die tatsächliche Wirtschaftskraft Deutschlands gegenüber den Alliierten verschleiert und durch die sogenannte Erfüllungspolitik Zahlungsunfähigkeit demonstriert werden, um auf diese Art und Weise aus dem Versailler Vertrag herauszukommen. Bis 1922 wurden diese Ziele auch erreicht, wenngleich das Ausmaß der Verschleierung zwar unbekannt, aber das grundlegende Ziel zumindest von den Alliierten vermutet wurde. Den Beziehungen zwischen Deutschland und der Entente war dies nicht zuträglich.
Die Kosten dieser Politik trafen die Menschen in Deutschland höchst ungleich. Die größten Verlierer waren die Rentiers, also Menschen, die von Kapitaleinkünften leben mussten, die Beamten, deren Bezüge einseitig vom Staat gekürzt werden konnten, und das bereits erwähnte gehobene Bürgertum, dessen Investitionen und Anlagen verloren gingen. Die Gewinner fanden sich vor allem unter den Niedriglöhnern, deren Einkommen im Vergleich zu allen anderen Bevölkerungsschichten nach oben genivelliert wurden, so dass es zu einer Verringerung der großen Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft kam. Alle anderen abhängig Beschäftigten waren Verlierer der Inflation. Für Landwirte war die Situation zwiespältig. Auf der einen Seite half ihnen die Produktion lebenswichtiger Nahrungsmittel, die von den Städtern mit wertvollen Sachwerten bezahlt wurden, auf der anderen Seite litten auch sie massiv unter den Preissprüngen für Saatgut und Maschinen. Die letzte Kategorie der Gewinner waren die Großindustriellen, allen voran Hugo Stinnes. Es gelang ihnen, gigantische Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft anzustoßen, die ihnen im Gegenzug noch mehr politische Macht sicherten.
Insgesamt sorgte die Inflation spätestens ab 1922 für große Not in der Bevölkerung und brachte neue soziale Phänomene hervor. Eines der Kuriosesten waren sicherlich die Inflationsheiligen, Wanderprediger mit langen Haaren und Bärten in Sandalen und Kutten, die überall auftraten und verschiedene Verschwörungstheorien verbreiteten. Der Vergleich zu den Corona-Querdenkern ist sicherlich nicht unangebracht. Ulrich beschreibt jedoch auch eine wohlige Lust der Bevölkerung am Zahlenrausch, einen Verlust jeglicher Maßstäbe bei den Preisen, der eine fast fiebrige Stimmung in der Bevölkerung erzeugte und trotz aller Not eine merkwürdige, oft ironische Distanz zum Geschehen bewirkte.
Es war der Ruhrkampf, der den Point of No Return darstellte. Die vollständige Finanzierung des Generalstreiks durch die Notenpresse auf der einen Seite und der vollständige Verlust sämtlicher Einnahmen des wichtigsten Wirtschaftsgebiets auf der anderen Seite führten zu einer völligen Implosion der deutschen Zahlungsbilanz. Spätestens im Sommer 1923 hatte die Mark als Währung praktisch aufgehört zu existieren.
Gleichzeitig fand ein enormer Bedeutungsgewinn für Devisen aller Art statt, selbst für Kleingeld eigentlich nicht besonders solider Länder wie Italien. Ausländer in Deutschland lebten wie die Made im Speck, was den Deutschen natürlich nicht gefiel. Auch diese Erfahrung der zusätzlichen Unterwerfung unter das Ausland gehört zum Erfahrungsschatz des Jahres 1923.
In Kapitel 3 kehrt Ulrich zur Großen Koalition unter Stresemann zurück. Stresemann startete mit großen Hoffnungen ins Amt, traute sich jedoch nicht, den längst gescheiterten Ruhrkampf abzublasen. Der Grund hierfür war weniger Einsicht seitens Stresemanns, sondern die Rücksichtnahme auf die radikale und extreme Rechte in Deutschland, die auch in der Regierung, vertreten durch den rechten Flügel der DVP, präsent war. Obwohl die Regierung über eine breite parlamentarische Basis zu verfügen schien, war diese in Wahrheit kleiner als es die Zahlen vermuten ließen. Bereits bei der Wahl Stresemanns blieben Abgeordnete des rechten Flügels der DVP sowie Abgeordnete des linken Flügels der SPD der Abstimmung fern, was als Signal für künftige Probleme gesehen werden konnte.
Angesichts dieser unsicheren Mehrheit entschloss sich Stresemann dazu, Politik am Parlament vorbei zu betreiben. Hierfür nutzte er die Sommerpause, um bis zum Beginn des Herbstes keine Abstimmungen durchführen zu müssen und stattdessen mittels eines Ermächtigungsgesetzes politische Maßnahmen durch Kabinettsorder umzusetzen. Dabei erhielt er die Unterstützung von Reichspräsident Ebert und der Mehrheit des Parlaments, die mit einer Zweidrittelmehrheit ihre Zustimmung gab.
Dieser Zustimmung gingen jedoch harte Verhandlungen voraus. Vor allem die Einschränkungen des Ermächtigungsgesetzes waren Gegenstand der Diskussion. Die bürgerlichen Parteien strebten vor allem danach, durch das Ermächtigungsgesetz die sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik zurückzudrehen, insbesondere den Achtstundentag. Die SPD konnte dieses Anliegen weitgehend abwehren, obwohl am Rande des Themas Zugeständnisse seitens der DVP erzielt wurden. Das Thema des Achtstundentages begleitete die gesamte Regierung Stresemann. Das Ermächtigungsgesetz galt solange, bis eine neue Regierung an die Macht kam oder der Oktober erreicht war. Dieses Muster sollte auch bei zukünftigen Ermächtigungsgesetzen, einschließlich demjenigen, das Hitler zur Diktatur verhelfen sollte, Anwendung finden. In diesem Fall jedoch waren die Einschränkungen wirkungslos.
Stresemann zeigte sich als besonnener und offener Regierungschef, wie man an der Auswahl seiner Minister erkennen konnte. Besonders auffällig war die Berufung von Rudolf Hilferding zum Finanzminister. Hilferding, ein ehemaliger USPD-Abgeordneter, war ein Theoretiker der Finanzwirtschaft und ein ungewöhnlicher Verbündeter eines nationalliberalen Unternehmensvertreters. Dennoch versprach er durch unkonventionelle Ansätze zumindest die Möglichkeit einer Lösung der Krise. Es spricht sehr für Stresemann, dass er die Notwendigkeit solch neuer Ansätze erkannte und einen ideologischen Gegner mit ihrer Umsetzung beauftragte.
Dennoch war diese Zusammenarbeit in seiner eigenen Partei äußerst umstritten. Der rechte Flügel der DVP strebte eine Koalition mit der DNVP an und damit die Abschaffung der Republik. Zudem ging es um die Verdrängung der SPD aus dem Kabinett, die von den Rechtsradikalen immer noch als „undeutsch“ angesehen wurde. Dieser Konflikt sollte schließlich zum Bruch der Großen Koalition führen. Da diese als letzte Hoffnung für eine parlamentarische demokratische Lösung galt, schien dies wie bereits 1930 das Ende der Republik zu bedeuten. Allerdings gelang es Stresemann wie ein Phönix aus der Asche, die Große Koalition in eine zweite Runde zu führen. Dieses Mal spielte die SPD eine geschwächte Rolle und Hilferding hatte keinen Ministerposten mehr. Die Schuld hierfür lag natürlich bei den Rechten, die den Bruch massiv vorantrieben, aber auch bei der SPD selbst, die sich strategisch und taktisch unklug verhielt.
Recht eigentümlich ist hier die Rolle Friedrich Eberts, der zwar einerseits als Verteidiger der Demokratie auftritt, aber andererseits ist selbst Ideen wie die Einrichtung eines Direktoriums unter den bürgerlichen Parteien gutheißt, die zu dieser Zeit ernsthaft erwogen wird. diese Bereitschaft, die parlamentarische Demokratie in Krisenzeiten abzuschalten und auf Exekutive Funktionen zurückzugreifen, wirft einen düsteren Schatten auf die Ereignisse am Ende der Weimarer Republik.
Besonders problematisch in der Großen Koalition ist die Rolle des Wehrministers Geßler, der zwar von der DP ist, aber ganz besonders empfänglich für die Idee von autoritären, auf die Reichswehr gestützte Regierung zur Ausschaltung der demokratischen wie undemokratischen Linken ist. Er wird uns im späteren Verlauf noch öfter begegnen.
Der Versuch, Der Hyperinflation Herr zu werden, brachte auch Ideen wie eine Parallelwährung auf Roggenbasis, wie sie natürlich vor allem von den großen Landbesitzern vorgebracht wurde, auf. auch andere Ideen wurden vertreten. Auffällig an all diesen Ideen war für mich, das in allen die Vermögen der Wohlhabenden wenigstens als Pfand für diese neue Währung vorgesehen waren, wenn nicht sogar größere Umverteilungen von diesen Wohlhabenden in Richtung des Staates geplant waren. diese gerade von den bürgerlichen Parteien vertretene Position steht in einem auffälligem Gegensatz zu ihrer heutigen Perspektive und Kontextualisiert die Forderungen nach der Einschränkung der sozialpolitischen Leistungen der Weimarer Republik ein wenig, die als faire andere Hälfte eines solchen Verzichts betrachtet wurden. Es gab hier zwar keine Äquivalenz, weswegen der Abwehrkampf der SPD durchaus seine Berechtigung hat, aber die grundsätzliche Bereitschaft, allen beteiligten Opfern abzuverlangen, und die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Opfer, sind durchaus bemerkenswert.
Weiter geht es in Teil 3.