Ich will eure Aufsätze nicht

Die Schriftstellerin Juli Zeh, deren 2009 erschienener Roman „Corpus Delicti“ gerade Abitur-Pflichtlektüre ist, war kürzlich im Literaturhaus Stuttgart beim SWR eingeladen. Der SWR hat eine sehr empfehlenswerte Reihe, in der die aktuellen Pflichtlektüren besprochen werden. Im Interview erklärte Zeh auf die Frage, ob sie eine bestimmte Lesart einer Passage als richtig empfinde, dass ihre Meinung da letztlich irrelevant sei: „Es geht darum zu schreiben, was die Lehrer hören wollen.“ Einmal davon abgesehen, dass Juli Zeh nicht eben mit ihren Meinungen zu ihrem Buch hinterm Berg bleibt, was man an ihrer Teilnahme an der Veranstaltung ebenso sehen kann wie daran, dass sie einen eigenen Interpretationsleitfaden herausgegeben hat und daher hier ein bisschen auf Bescheidenheit spielt, kräuseln sich mir bei dieser Aussage die Zehennägel, denn sie reproduziert ein häufiges Deutschunterricht-Klischee, gegen das ich jedes Jahr aufs Neue angehen muss und das einfach nicht totzukriegen ist: dass man schreiben müsse, „was der Lehrer hören will“. Das allerdings ist ein Irrtum – und nur einer von mehreren, die schulische Leistungsfeststellungen besonders, aber bei weitem nicht ausschließlich, in Deutsch umschwirren.

Doch nicht nur die Idee, dass ich als Lehrer in Klausuren meine eigenen Ansichten bestätigt haben will, ist ein typischer Deutschaufsätze umgebender Trugschluss. Meine absolute Hass-Frage bezüglich den Aufsätzen ist sogar noch eine andere: „Wie viele Seiten muss ich schreiben?“ Beide Fragestellungen – was will ich hören, wie viele Seiten will ich – gehen von einem fundamentalen Missverständnis aus: dass ich den Aufsatz überhaupt haben will. Ich will den Aufsatz aber nicht. Nichts ist mir so egal wie der Aufsatz.

Um zu verstehen warum, müssen wir uns klarmachen, welche Funktion ein Interpretations- oder Erörterungsaufsatz in der Schule (oder im Studium) überhaupt hat. Das ist auch nicht auf Deutsch beschränkt: in den Gesellschaftswissenschaften (Geschichte, Politik, Religion, Geografie, Wirtschaft) spielt das Format ebenfalls eine gewichtige Rolle, auch wenn das Schüler*innen (und bedauerlicherweise viel zu häufig auch Lehrkräften) oft nicht klar ist. Ob eine Gedichtinterpretation oder eine Erörterung über die Ursachen des Untergangs der Weimarer Republik, der Zweck ist immer derselbe: ein Gefäß für die eigenen Gedanken zu schaffen.

Schulaufsätze sind ihrer Natur nach künstliche Textformen. Es hat schon seinen Grund, dass niemand sie freiwillig liest. Weder sind sie eine Rubrik in Zeitungen, ganz egal wie intellektuell deren Zielpublikum eingeschätzt wird, noch werden Bände voller Gedichtinterpretationen irgendwo veröffentlicht. Sie erfüllen die Aufgabe, den Lernenden beizubringen, Gedanken strukturell sauber zu entwickeln und sie ebenso strukturell sauber zu kommunizieren. Insgesamt stehen drei gestaffelte Zielsetzungen hinter einem Aufsatz.

Die erste Zielsetzung ist die inhaltlich-pädagogische. Den Aufsatz schreiben zu müssen, zwingt die Lernenden, sich mit dem jeweiligen Thema zu beschäftigen. Dieses Ziel ist das am wenigsten bedeutende. Lasse ich meine Schüler*innen eine Erörterung schreiben, warum Weimar scheiterte, so kommen sie dazu nicht umhin, sich mit der Weimarer Republik zu beschäftigen, weil sie das nötige Faktenwissen brauchen, um überhaupt auch nur beginnen zu können, diese Frage zu erörtern. Deswegen ist auch die mittlerweile glücklicherweise selten gewordene Kritik an der Kompetenzorientierung der Bildungspläne seit 2004 so irreführend – das Lernen von Fakten ist weiterhin unerlässlich, es ist nur kein Wert an sich. Genauso im Übrigen funktioniert es auch in Deutsch: schreiben wir eine Gedichtinterpretation über Barocklyrik, müssen sich die Schüler*innen mit der Epoche des Barock und mit Gedichten auseinandersetzen. Andernfalls können sie den Aufsatz nicht schreiben. Das Anfertigen des Aufsatzes zwingt also zum Lernprozess von fachlichen Inhalten.

Die zweite Zielsetzung ist die methodische: die Lernenden erlernen, wie man einen Aufsatz anfertigt. Aufsätze haben spezifische formale Vorgaben, genauso wie Hausarbeiten und zahlreiche andere Textsorten. Zu lernen, sich an diese Vorgaben zu halten, ist ein essenzieller Schritt. Deswegen beginnen alle Deutschinterpretationsaufsätze mit dem basalen, langweiligen „Basissatz“ („In [Text] von [Autor] aus dem Jahr [XXXX] geht es um [These].“), gefolgt von einem Hauptteil und einem Fazit, in dem die zentralen Erkenntnisse wiederholt werden. Der Aufsatz hat kein Fazit, weil ich nach vier handgeschriebenen Seiten vergessen habe, was der/die Schüler*in geschrieben hat, sondern weil das dazu zwingt, sich Gedanken darüber zu machen, was eigentlich der Kern des gerade Verfassten ist. Genauso folgen Erörterungen dem Muster der drei B – Behauptung, Begründung und Beleg/Beispiel – weil diese Struktur dem Ideal eines Arguments entspricht. Das alles wird in Aufsätzen erlernt.

Natürlich ist das kein Selbstzweck; Aufsätze zu schreiben ist schließlich nichts, was im späteren Leben noch einmal gemacht wird, wie zahlreichen Kritiker*innen des Schulsystems in nicht enden wollender Kreativität und innovativer Schöpfungskraft Jahr ums Jahr erneut auffällt. Die erste und zweite Zielsetzung sind Meta-Elemente, Bausteine auf dem Weg zur eigentlich relevanten Kompetenz, die durch das Aufsatzschreiben erlernt werden soll: ein Material zu durchdringen, die eigenen Gedanken dazu zu ordnen und in kohärenter, sauber strukturierter Form zu Papier zu bringen. Der Aufsatz ist ein Gefäß für Gedanken, für eine Argumentation.

Diese Fähigkeit ist es, die zentral ist, gerade auch im Hinblick auf ein späteres Studium. Zwar orientieren sich Debatten und Diskussionen im Alltag, vom Stammtisch bis zum Bundestag, nicht an diesen hehren Idealen. Die Fähigkeit aber, analysieren, bewerten und neu ordnen zu können, ist unermesslich wertvoll, wesentlich wertvoller als jede auswenig gelernte Jahreszahl, Formel oder Reimschema.

Den geneigten Lesenden ist vielleicht aufgefallen, dass nirgendwo in diesem Prozess ein Verlangen meinerseits nach den Aufsätzen besteht. Sie interessieren mich inhaltlich null. Ich will die Aufsätze nicht. Ich lasse sie schreiben, lese und korrigiere sie, weil der Prozess des Aufsatzschreibens Lerneffekte mit sich bringt – und weil ich diesen Lernprozess zu benoten habe. Deswegen schreiben auch alle denselben Aufsatz. Wäre ich an Gedanken zu etwas interessiert, würde ich kaum diese uniforme, genormte, langweilige Form wählen.

Die Vorstellung also, man müsse „schreiben, was die Lehrkraft hören will“, geht völlig in die Irre. Ich will inhaltlich überhaupt nichts hören. Ich will strukturelle Merkmale sehen. Werden die formalen Vorgaben eingehalten? Sind die Argumente stringent? Sind sie nachvollziehbar formuliert? Gibt es unaufgelöste, interne Widersprüche? Wird das Thema differenziert betrachtet? Legt der Aufsatz die normative Grundlage der Argumentation offen? Was inhaltlich ausgesagt wird, ist mir dabei reichlich egal.

Das liegt auch daran, dass ich nicht unbedingt damit rechne, dass in den Aufsätzen irgendetwas interessantes gesagt wird. Sicher, alle Jubeljahre gibt es den Ausnahmeschüler oder die Ausnahmeschülerin, die völlig brillante Arbeiten abgeben, die einen von den Socken hauen. Aber ich lasse seit mittlerweile zehn Jahren Interpretationsaufsätze von Elftklässler*innen zur Barocklyrik schreiben, nicht, weil ich Barocklyrik sonderlich mag oder weil ich mich brennend für die siebenhundertdreiundsechzigste Interpretation von „Tränen des Vaterlandes“ interessiere, sondern weil Thema und Form am besten geeignet sind, um das Lernziel zu erreichen. Genauso wenig erwarte ich, dass irgendeine Einschätzung zum Untergang der Weimarer Republik mich überrascht oder intellektuell herausfordert, das wäre ein völlig absurder Maßstab. Ich beschäftige mich mit dem Thema professionell schon so lange, wie meine Schüler*innen überhaupt auf der Welt sind.

Mit all dem im Hinterkopf ist es auch leichter zu verstehen, warum die Frage „wie viele Seiten muss ich schreiben?“ so sinnlos ist. So viele Seiten wie notwendig, um die eigenen Gedanken kohärent und differenziert zu entwickeln und die formalen Vorgaben einzuhalten. Tatsächlich hängt die Länge der Aufsätze maßgeblich von den Fähigkeiten der Schüler*innen zur konzisen schriftlichen Äußerung ab. Ich als derjenige, der das Ganze seit vielen Jahren beruflich macht, schreibe vergleichsweise kurze Aufsätze (weswegen auch Musterlösungen aus meiner Hand für die Schüler*innen nur eingeschränkt nützlich sind), während Leute, die darin nicht so gut sind, zwangsläufig für denselben Inhalt mehr Platz brauchen. Dass Schriftgrößen völlig variieren und die Bandbreite verwendeter Papiersorten, sowohl was Rand als auch Linierung betrifft, ohnehin so disparat ist, dass eine Zählung nach Seiten keinerlei Wert besitzt, kommt noch dazu.

Daher: ich will weder eine bestimmte Meinung „hören“ noch will ich eine bestimmte Seitenzahl haben. Ich will überhaupt keine Aufsätze haben. Was ich haben will ist der schriftliche Beweis, dass inhaltliche, methodische und argumentative Kompetenzen vorhanden sind – und dieser Beweis kommt eben in der Form eines Aufsatzes.

Heißt das jetzt, dass mir völlig schnuppe ist, was Schüler*innen zu einem Thema denken? Nein, und der Unterricht bietet auch genügend Raum dafür, unterschiedliche Meinungen auszudiskutieren und aneinander reiben zu lassen. Aber eine Klausur ist dafür nicht das richtige Forum. Wenn mich die Meinung von jemanden zu einem Thema ehrlich interessiert, dann werde ich diese Leute fragen. Aber eben nicht in einem Kontext, der der Leistungsbewertung dient. Das sind zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel, und ja, ich kann das trennen. Für mich hängt null persönliches Herzblut an einer bestimmten Lesart von Juli Zeh, von Barocklyrik oder einer Erörterung der Ursachen des Weimarer Untergangs. Ich achte da auf völlig andere Dinge.

Und da Aufsätze üblicherweise für alle die gleiche Aufgabenstellung haben, ist ihre Lektüre und Korrektur auch echt nicht eben vergnügungssteuerpflichtig. Ich bin um jeden Aufsatz froh, in dem etwas anderes steht, einfach nur der Abwechslung wegen. Wenn mir noch die kleine Seitenbemerkung gestattet ist: am frohesten bin ich über gute Aufsätze. Das Klischee, wonach Lehrkräfte gerne schlechte Noten geben, kann ich zumindest für mich schon aus einem ganz einfachen Grund abstreiten: am schnellsten ist ein guter Aufsatz korrigiert. Wenn ich keine Fehler anstreichen muss und am Ende einfach „Super, 15 Punkte“ drunterschreiben kann, geht das zwei- bis dreimal so schnell wie ein Aufsatz, bei dem ich massenhaft Formfehler korrigieren und Anmerkungen schreiben muss.

Daher: Ich will keine Aufsätze. Ich will keine Meinungen. Ich will keine Seitenzahlen. Ich will Behältnisse für konzise formulierte Gedanken, die in einer kohärenten, klar ersichtlichen Struktur abwägend und differenziert ein Thema betrachten und eine bestimmte These argumentieren. Da bin ich einfach gestrickt, mehr braucht es gar nicht, um mich glücklich zu machen.

{ 14 comments… add one }
  • CitizenK 4. Mai 2023, 07:11

    Gut gebrüllt, Löwe Lehrer.
    Frage: „Ab“fertigen von Aufsätzen (zwei Mal) Absicht oder Fehlleistung?

  • Patrick Sonnenberg 4. Mai 2023, 07:36

    Witzig, ich wollte dir die Sache mit Juli Zeh schon schicken, als ich gemerkt habe, dass ich ja gerade deine Seite lese. 🙂

    Gehe voll d‘accord. Neben Deutsch unterrichte ich ja noch Englisch (comment!!! Als wiederkehrende Textform) und Betriebs- und Volkswirtschaft, wo es sogar 30% der Note ausmachen soll, ob die methodischen Vorgaben erfüllt sind. Ich sage soll, weil die Abiturklausuren jedes Jahr wieder unter 20 Prozent bleiben, als ob die bei der Erstellung denken, dass man ja wohl nicht so viele Punkte dafür kriegen kann, dass man für die Beurteilung relevante Aspekte herausfiltert und die notwendigen Materialien zuordnet.

    • Stefan Sasse 4. Mai 2023, 09:38

      Echt merkwürdig. Unterrichtest du auch in BaWü?

      Aber so Vorgaben sind oft genug nur auf dem Papier total wichtig. Beim Essay sollen die Abstracts jetzt 30% (!) zählen. Wtf?

  • Erwin Gabriel 4. Mai 2023, 19:07

    @ Stefan Sasse

    … gehen von einem fundamentalen Missverständnis aus: dass ich den Aufsatz überhaupt haben will. Ich will den Aufsatz aber nicht. Nichts ist mir so egal wie der Aufsatz.

    Meine Meinung als Konservativer: Du bist einfach nur faul … 🙂

    • Stefan Sasse 4. Mai 2023, 20:07

      Ich nehme an, das soll nur ein Scherz sein.

      • Erwin Gabriel 5. Mai 2023, 10:12

        @ Stefan Sasse 4. Mai 2023, 20:07

        Nur ein Versuch, Deinen Vorurteilen von Konservativen und Liberalen gerecht zu werden, die ja allen Menschen nur Schlechtes zutrauen.

        Ist nicht ernst gemeint, hast Du Dir aber redlich erarbeitet 🙂

  • cimourdain 5. Mai 2023, 08:29

    Wenn du nur ansatzweise über Metahumor verfügst, gibst du deinen Schülys diesen Text als Vorgabe für die Hausaufgabe „Was ist die Intention des Autors“. Mal sehen, wie viele die Musterlösung „Wir sollen uns kurz fassen. Ende.“ hinbekommen.

    • Erwin Gabriel 5. Mai 2023, 10:18

      @ cimourdain 5. Mai 2023, 08:29

      Wenn du nur ansatzweise über Metahumor verfügst, gibst du deinen Schülys diesen Text als Vorgabe für die Hausaufgabe „Was ist die Intention des Autors“. Mal sehen, wie viele die Musterlösung „Wir sollen uns kurz fassen. Ende.“ hinbekommen.

      Cooler Ansatz …
      Von „der hat nur aufgeschrieben, was Mama lesen wollte“ über „Nichts“ wären da viele kurze Lösungen möglich.

      Bei Calvin & Hobbes gibt es eine Folge, wo Calvin als Lösung für eine Mathe-Aufgabe schreibt „weiß ich nicht“ und sich über die schlechte Note wundert; die Antwort war doch richtig 🙂

  • Pirat 7. Mai 2023, 15:50

    Naja. Erstmal: Ich nehm Dir Deine persönliche Haltung dazu ab. Wirklich, komplett. Und hätte mir dann einen entsprechenden Deutschlehrer gewünscht (falls das relevant sein sollte: Bin Abijahrgang 2001).
    Aus Schülersicht stellt sich das halt dummerweise meistens völlig anders da. Stichwort Seitenanzahls-Frage: Jeder hat als Schüler schonmal irgendwo eine Vorgabe gesehen, bei irgendeiner Aufgabe, dass ein Text diesen oder jenen Umfang haben sollte. Manchmal ist das wirklich Teil der geforderten Rahmenformalien, vergleichbar der Gliederung Einleitung – Hauptteil – Fazit. Als Schüler ist es oft noch undurchsichtig, ob das für den genannten Aufsatz auch gilt. Resultat: Man fragt nach. Und manchmal gibt es halt auch Lehrer (selbst erlebt), die eine Seitenzahlvorgabe mitgeben, um den Umfang dessen, was sie dann korrigieren müssen besser zu steuern.
    Aus dem gleichen Grund gibt es auch Lehrer, die sich die nervige Korrektur (wie Du schön beschrieben hast: Zum x-tausendsten Mal den gleichen Krempel zu Thema y lesen) dadurch vereinfachen, dass sie beim durchsehen auch inhaltlich nur nach Schema F denken, das sie abhaken können. Auch das hab ich leider selbst in meiner Oberstufe noch bei meinen Deutschlehrern erlebt. Mit einem davon hatte ich eine recht lebhafte Zankerei über meine Interpretation eines Werkes von Gryphius (ich weiß leider nicht mehr welches), in welches ich aufgrund des Jahres seiner Entstehung (in den 1640ern) noch Kriegsbezüge reindeutete – da Kriegsgeschichte in Hobby von mir war und ist, scannt mein Hirn quasi immer schon direkt nach sowas, wenn die Jahreszahl das vermuten lassen könnte. Der Herr Lehrer war anderer Meinung und gab mir dafür Punktabzug und seine einzige Begründung, die ich jemals dazu hörte war „Im Curriculum steht das nicht“ oder irgendwie sowas. Ich würde denken: Er wollte sich das Leben nur einfacher machen, anstatt aus seinem Schema auszubrechen (und ich war auch der einzige, der diesen Aspekt in seiner Interpretation abhandelte). Es ist mir jedenfalls sehr haften geblieben, dass diesem Deutschlehrer die eigene Meinung zu etwas sehr wichtig war und ich hab halt das Gefühl, fast jeder hatte in Deutsch oder Englisch oder auch Geschichte – halt in allen Fächern, bei denen Deutungen weniger stringent als in Mathematik sind – irgendwann mal so einen Lehrer und das ist der Grund dafür, dass sich diese Unterstellung von wegen „Es kommt drauf an, was der Lehrer hören will“ so massiv hält. Weil es die Fälle leider doch zu oft gibt. Dieser unbewusste psychologische Effekt zieht sich sogar bis in die Wissenschaften – längst ist nachgewiesen, dass man durchaus Unsinns-Studien auch bei namhaften Fachjournals durchs Review kriegt, wenn man nur bestimmte Schlagworte geschickt genug bedient. Und wenn schon die hohen Hallen der Wissenschaft dafür anfällig sind, warum sollten selbst die besten Lehrer völlig gefeit sein davor?
    Wo ich völlig recht gebe: Diese ganzen Aufsätze und Interpretationen sind natürlich nix, was im Normalfall im normalen Alltag jemals wieder braucht, jedenfalls selten in der Form. Das weiß man aber als Schüler ja noch nicht. Die Einsicht, dass diese Aufgabenstellungen mir das geistige Rüstzeug zum Durchdringen von Themen, Argumentieren und zum Einschätzen eines Textes oder eines medialen Beitrags mitgeben sollten (und ich hoffe bei mir auch haben), die kam bei mir erst Jahre nach dem Abitur. Als Schüler haben wir immer nur vermittelt bekommen „es steht im Lehrplan, deswegen gibt es jetzt die Aufgabe, macht die bitte, sonst gibt’s ne beschissene Note“, Schüler-Gehirn-mäßig verkürzt: Der Lehrer will das so. Und da liegt ein wenig die Krux, bei vielen fällt der Groschen halt auch später nicht. Die meisten sind dann nach ihrem Schulende einfach nur froh, diese Aufgabenarten los zu sein, die gefühlt nur für den Lehrer oder die Schule waren, und werfen quasi die gesamte Erinnerung daran über Bord. Die damaligen Textanalysen z.B. hätten eigentlich gutes Rüstzeug sein können, um Propagandareden heutiger Schwurbler sauber für sich als Unsinn zu enttarnen und zerlegen. Die Basis um das bewerkstelligen zu können haben wir eigentlich alle in meinem Abijahrgang gelernt. Aber es ist dann doch so, dass viele das weggedrängt haben und keine Verbindung zwischen den damals gelernten Fähigkeiten und ihren heutigen Situationen ziehen. Wodurch sie das im Grunde nicht mehr können. Ehemalige Mitschüler von mir, die damals im Geschichts-LK selbst hinterhältigste Propaganda aus historischen Zeiten bestens textanalytisch entlarven und zerlegen konnten, fielen in den letzten Jahren dann, wie ich bestürzt miterleben musste, auf wesentlich plumpere heutige Propaganda rein, die sie einfach unreflektiert konsumierten.
    Vor dem Hintergrund frage ich mich schon länger, ob in den Schulen den Schülern der Sinn dieser Übungen nicht unzureichend erklärt wird. Und der Brückenschlag zur Bedeutung im späteren Alltag nicht viel zu wenig aufgezeigt wird.
    (Der Vollständigkeit halber: Die Zankerei um die Gryphius-Interpretation war der Startschuss eines halbjährigen Schlagabtauschs zwischen mir und dem Herrn Lehrer, der sich halt auch durch andere Ausfälle auszeichnete. Er unterstellte uns 12-Klässlern z.B. auch mal kollektiv, wir würden auf SM stehen. Da er als Motorradfahrer öfter in Kluft auftauchte, konterte ich das mit „Der einzige der hier in Leder rumrennt sind Sie.“ Die Retourkutsche war eine 3 in der nächsten Klausur, die ich einem anderen Lehrer zeigte, der meinte, das wäre sicher eine 2. Ich verzichtete auf eine förmliche Beschwerde und hab mir für die Klausur danach dann vorgenommen, sie so zu schreiben, dass er mir eine 1 geben müsste. Was funktioniert hat, so gut, dass er vor der Klasse bekundete, hätte er selbst nicht besser schreiben können. Was ich ihm nicht auf die Nase band, vor dem hiesigen Kontext aber wichtig ist: Tatsächlich hatte ich in der Klausur Gedankengänge meinerseits, bei denen ich den Verdacht hatte, dass sie dem Lehrer vielleicht zu abseitig erscheinen könnten, hinten angestellt und mich auf Versatzstücke, von denen ich aus Erfahrung wusste, die erwartet er inhaltlich, weil er nach Schema F vorgeht, konzentriert. In meinen Augen war es im Grunde die schlechtere Version dieser Klausur, auf jeden Fall die unspannendere. Jedenfalls bediente ich seine vermuteten Erwartungen – und landete einen Treffer. Das war das Ende unserer kleinen Spiegelfechterei, die ich einfach mal als Sieg für mich verbucht hab).

    • Stefan Sasse 8. Mai 2023, 16:42

      Ich verstehe deine Probleme und Erfahrungen völlig. Niemand ist gegen so was immun, ich auch nicht. Und ja, manche Aufgaben verlangen tatsächlich einen Rahmen (im allgemeinbildenden Gymnasium schreibt das Format des Kommentars eine Wortzahl vor, total bescheuert). Aber das wird ausführlich im Unterricht vorher besprochen. Eine gewisse Unsicherheit lässt sich bei so was natürlich nie vermeiden; für die Schüler*innen ist es das einzige Abi, für mich das x-te. Ich hab viel weniger stakes da drin und gleichzeitig viel mehr Erfahrung. Das ist natürlich eine unfaire Asymmetrie.

      Kurz was zum Thema Gryphius: ich mach bei Barocklyrik auch immer den 30jährigen Krieg als historischen Kontext. Und die nicht so guten Leute schreiben dann in den Klausuren auch grundsätzlich irgendwas zum Krieg hin (selbst wenn das Gedicht von 1852 ist). Aber das zeigt leider vor allem, dass die Leute nicht verstanden haben, was Interpretieren ist. Wenn du mir am Text belegst, dass da was mit Krieg ist – fein. Aber wenn es halt ein Liebesgedicht ist, dann ist das ziemlich sicher daneben, die Jahreszahl völlig unbenommen. Auch im Dreißigjährigen Krieg waren die Leute einfach rallig und wollten Sex 😀

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