Oral History: Teenage Mutant Ninja Turtles

Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um ein popkulturelles Phänomen der 1980er und 1990er Jahre: die Teenage Mutant Ninja Turtles.

Mein Kindheit in den 1990er Jahren war reich an Figuren aus Saturday Morning Cartoons, die auch (oder vorrangig) die Spielzeugregale befüllten. Von den Transformers über He-Man zu den Thundercats gab es zahllose dieser künstlerisch eher unterwältigenden Phänomene, die ich damals für den heißesten Scheiß jenseits der Schlümpfe hielt. Der unbestrittene König aber waren die Turtles. Ich liebte die mutierten Schildkröten, und die Biester definierten für eine Weile durchaus, was cool war. Obwohl sie in den letzten Jahren eine kleine Renaissance erlebt haben, sind die Turtles nie wieder eine solche Größe geworden wie seinerzeit. Das liegt vermutlich auch dem spezifischen Moment, den die jugendlichen „Helden im Panzer“ ausfüllten.

Wer aus welchen Gründen auch immer noch nie von den Turtles gehört hat, hier die Prämisse in Kurzform: vier Schildkröten und eine Ratte werden durch einen radioaktiven Schleim intelligent, groß und humanoid. Die Ratte (Meister Splinter) lernte von ihrem japanischen Besitzer die Kunst des Jiujitsu und brachte diese ihren „Söhnen“ Leonardo, Donatello, Michaelangelo und Raphael bei, den titelgebenden „Teenage Mutant Ninja Turtles“. Diese kämpfen gegen eine ganze Latte von Feinden, aber am bekanntesten sind der Shredder (der alte Konkurrent von Splinters Besitzer) und dessen „Foot-Clan“, eine Gruppierung krimineller Ninjas. Die Turtles leben in der New Yorker Kanalisation und lieben Pizza. Ihre menschlichen Freunde sind April O’Neill, eine Reporterin, und Casey Jones, ein Eishockey-Fan und Freizeit-Verbrechensbekämpfer.

Traum meiner Kindheit.

Ich kann mich nicht genau erinnern, wann ich das erste Mal mit den Turtles in Berührung kam, aber es war mit Sicherheit im Kindergarten. Das würde es irgendwann auf 1987-1991 terminieren. Meine Haupt-Fan-Zeit war die Grundschule. Natürlich war Leonardo mein Favorit (ich meine, er hatte zwei Katanas, das ist doppelt so cool wie ein Katana), aber ich hatte nur eine Actionfigur (vom hart ersparten Taschengeld gekauft), und die war von Donatello, weil das Angebot im örtlichen Supermarkt eher überschaubar war. Ich hätte natürlich gerne viel mehr von den Figuren gehabt, und vor allem den Turtle-Truck. Aber der kostete 60DM, und meine Eltern hatten ziemlich exakt null Verständnis für das Franchise und für überteuerten Plastikkrempel. Ich erhielt meine erste Lektion in globalen Warenketten von meinem Vater: die Herstellungskosten des Turtle-Trucks betrugen in seiner Erzählung nur 5DM. Monatelang träumte ich davon, den Turtle-Track direkt beim Hersteller für 5DM abgreifen zu können und alle meine Freunde zu beschämen. Es blieb dann doch bei Donatello.

Ich erinnere mich auch noch an einen Neidanfall an Fasching, als ein Kind ein Turtles-Kostüm hatte. Ich war nur Pirat. Immerhin hatten Piraten Schokogoldmünzen, das war auch was. Aber die Turtles waren einfach das Größte. An der Stelle wirkte sich auch mein sehr eingeschränkter Zugang zu Fernsehen aus (meine Eltern waren, wenig überraschend, keine Fans des Genres des Saturday Morning Cartoons), so dass ich die TV-Serie (der heiße Scheiß) nur sehr sporadisch sehen konnte. Ich hatte auch nie eine Konsole, so dass die Spiele, die für den Nintendo lizensiert waren, ebenfalls an mir vorbeigingen (wobei ich glücklicherweise einen in all diesen Beziehungen großzügiger ausgestatteten Freund hatte, so dass ich teilhaben konnte).

Das Franchise war nicht auf diese Medien beschränkt. Es gab auch Comics; ich besaß einen davon und kann mich erinnern, meine Oma so lange bekniet zu haben, bis sie mir ein bisschen daraus vorlas. Was die erzkatholische und nicht unbedingt an aktuelle Trends angeschlossene Dame vom Kampf der Ninjaschildkröten gegen mutierte Pflanzen gehalten hat, wage ich mir kaum vorzustellen. Irgendwann in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit nahm die Popularität der Turtles dann langsam ab. Es gibt für meine persönliche Geschichte keinen spezifischen Grund, aber die mein eigenes älter Werden fiel direkt mit dem Verblassen des Franchises zusammen, das ab Mitte der 1990er Jahre seinen Zenit klar überschritten hatte.

An der Stelle verlassen wir meine persönliche Beziehung zu den Turtles und werfen einen Blick auf die Geschichte des Franchises. Die Turtles entstanden 1983 als Indie-Comic von Kevin Eastman und Peter Laird. Die beiden entwarfen die Turtles als Persiflage auf die Comictrends der damaligen Zeit. Die DC Teen Titans kamen gerade groß heraus (daher die „Teenage“ Turtles), während die X-Men als Mutanten den Comicmarkt zwar nicht dominierten, aber eine Hochphase erlebten (und natürlich auch eine Cartoonserie bekamen). Dazu waren Ninjas und im Spezifischen Nunchucks (Michaelangelos Waffe) durch Daredevil der heiße Scheiß. Laird und Eastman kontrastierten die Tradition der funny animals, die eigentlich eher unernst und für Kinder war, mit dem düsteren Tonfall der Antihelden.

Man sollte es von der späteren Karriere des Franchises nicht vermuten, aber die ersten Turtles-Comics waren ziemlich blutige, düstere Geschichten. Die Turtles hatten keine unterschiedlichen Farben, und eine Liebe für Pizza war nirgendwo zu finden. April O’Neill war eine Laborassistentin und keine Journalistin. Der Comic war ein riesiger Erfolg. Laird und Eastman produzierten schnell weitere Episoden, und ein neues Franchise entstand. 1987 erschien die Cartoonserie zum ersten Mal, die einen deutlichen ästhetischen Wandel brachte. Mit einem kindlichen Zielpublikum wurde die Gewalt der Vorlage deutlich entschärft, die Turtles erhielten „weniger bedrohliche“ Gegner und der Tonfall insgesamt ging mehr in die typische Kinder-Comedy-Richtung.

Es zeigt die Sensibilitäten der Ära, dass die Turtles vielen immer noch als zu brutal erschienen. In der britischen Übertragung der Vorlage geriet der Titel zu „Teenage Mutant Hero Turtles“, weil das Wort „Ninja“ eine „zu brutale Konnotation“ hatte. Ähnliches geschah auch in Deutschland. Der Zorn der Zensoren richtete sich besonders auf Michelangelos Nunchuks, die man als besonders brutale Waffe identifizierte (warum ist mir völlig unklar), bedenkt man die wesentlich gefährlicheren Katanas und Sais von Leonardo und Raphael). Besorgte Eltern wandten sich damals gegen die Turtles, weil diese Gewalt zu glorifizieren schienen. Aus heutiger Perspektive, da wir uns an völlig andere Darstellungen für Kinder gewöhnt haben, ist das mittlerweile völlig unverständlich.

Ein ähnliches Schicksal erlitt der Realfilm von 1990. Mit einem Budget von nur 13,5 Millionen spielte er über 200 Millionen weltweit ein und war ein riesiger Erfolg. Für mich war das Auftauchen der Turtles in einem „richtigen“ Film damals ein wahrgewordener Traum, und ich schaute ihn ständig an. Die Turtles kämpften natürlich auch hier, aber ihre Waffen hatten wenig überraschend keine blutigen Auswirkungen. Das hielt die britischen Zensoren nicht davon ab, Szenen mit Michelangelos Nunchuks zu schneiden (Leo durfte weiterhin Katanas schwingen), während in der deutschen Version alberne Sounds eingeschnitten wurden, die Adam Wests Batman alle Ehre gereicht hätten. Im eilig produzierten Nachfolger von 1991 benutzten die Turtles dann gar keine Waffen mehr; Michelangelo schwang stattdessen ein paar Hartwürste.

Die Turtles verschwanden nie komplett – es gab eigentlich immer irgendeine Serie, die fortlief – erreichten aber nie wieder die Popularität der 1990er Jahre. Michael Bays Filmversionen von 2014 und 2016 hatten ordentlichen Erfolg, blieben aber hinter der Wiederbelebung des Transformer-Franchises zurück. Der animierte „TNMT“ von 2007 ist erstaunlich gut, blieb aber ein One-Off. 2023 wird ein weiterer Animationsfilm erscheinen, dessen Trailer recht vielversprechend aussieht.

Anfangs habe ich behauptet, dass die Turtles einen spezifischen Moment ausfüllten. Es ist wenig überraschend, dass spätere Adaptionen wie die Michael Bays viele der traditionellen Turtles-Elemente herunterdimmten oder ganz strichen.

Die 1980er Jahre sahen eine wirtschaftliche Rivalität zwischen Japan und den USA. So wie heute die Dominanz Chinas befürchtet wird, teilte man damals Albtraumszenarien über einen Siegeszug von Toyota, Sony und Co. Dieser Konflikt prägte eine ganze Generation – unter anderem auch Donald Trump, der für das Turtles-Szenario in gleich zweifacher Hinsicht relevant ist (siehe unten). Mit der Furcht vor der scheinbaren Überlegenheit der japanischen Wirtschaft (ich erinnere mich noch an Darstellungen der Struktur der japanischen Arbeitswelt im Erdkundeunterricht) ging auch ein Interesse an japanischer Kultur oder dem, was man dafür hielt, einher. Dazu gehörte etwa die Verbreitung von Sushi-Restaurants, aber auch die Verherrlichung von Samurai und, natürlich, Ninja (die die wesentlich ernsthaftere Comicserie „Usagi Yoyimbo“ hervorbrachte, die ihren eigenen Artikel wert ist). Gekoppelt war das alles mit einem kruden Mix „asiatischer“ Weisheiten auf dem Niveau von Glückskeksen und einer Weltbild-Einführung in den Buddhismus.

Die Begeisterung für die Coolness von Ninjas, die bei den Turtles in einem wilden Mix mit Samuraielementen einging, findet sich natürlich im Martial-Arts-Training (das aber eher an die Kung-Fu-Streifen erinnert) und, vor allem, in der Bewaffnung der Schildkröten. In den Geschichten selbst wird recht wenig ninja-artiges getan, was natürlich auch daran liegt, dass Attentate nicht gerade der Stoff von Heldengeschichten sind. Die asiatische Weisheit findet sich in Meister Splinters Kalendersprüchen. All diese Elemente sind heute ziemlich cringy; im Film von 1990 sprechen die japanisch codierten Charaktere zudem in einem vage fernöstlichen Akzent, während April O’Neill das Auftauchen der Ninja damit kommentiert, dass sie wohl mit ihren „Ratenzahlungen an Sony“ im Hintertreffen sei.

Der andere zeitgenössische Aspekt ist New York. Big Apple war DER Inbegriff des urbanen Amerika und nahm in der populären Darstellung und Wahrnehmung der USA eine herausragende Rolle ein. Und das nicht nur im Positiven, als Fluchtpunkt allen Coolen und Neuen. Denn New York war in den 1980er und 1990er Jahren von hoher Kriminalität geplagt und eher eine Stadt im Abstieg, mit Ghettofizierung und streikender Müllabfuhr. Gleichzeitig war sie die Heimat der neuen BWL-Schnösel, die die Reagan-Economy hochgebracht hatte (man denke nur an Gordon Gecko).

Es ist dieser Kontext, in dem einerseits die Turtles operieren und in dem andererseits Donald Trump sozialisiert wurde. Der erzählte im Wahlkampf 2016 immer noch Horrorgeschichten von New York als Hort der Kriminalität und machte Japan als ökonomische Bedrohung aus, stuck in time. Für die Turtles aber war New York der ideale Handlungsort, weil in kaum einer anderen Stadt auch nur halbwegs plausibel war, dass vier antropomorphe Schildkröten auf Verbrecherjagd irgendwie unentdeckt bleiben könnten. Gleichzeitig ist das spezifische Lebensgefühl der Metropole in jener Zeit zwar sicherlich übersteigert, wenn Leute auf die Existenz der Turtles bemerkenswert gelassen reagieren; innerhalb des Settings aber macht es mehr Sinn als seit dem Imagewandel der Stadt.

Diese Elemente finden sich entsprechend in den neueren Adaptionen überhaupt nicht mehr. Die japanischen Anleihen werden, wie etwa in TMNT, wesentlich ernsthafter behandelt oder spielen wie in den meisten anderen Adaptionen einfach gar keine Rolle mehr. New York als Handlungsort hat ebenfalls viel von seinem Schrecken als urban hellscape verloren und ist eher im Stil Marvels der Austragungsort von Schlachten gegen außerirdische Bedrohungen.

Die Lektüre der Comics und das Wieder-Anschauen des Kinofilms war in jedem Fall ein netter trip down the memory lane für mich. Aber ich hüte mich, die Turtles überzustilisieren. Letztlich sind sie ein ziemlich dummes Franchise, ohne größeren Tiefgang. Den brauchen sie auch nicht; effektiv sind es Geschichten für Kinder. Und die müssen unterhalten werden, nicht ich.

{ 10 comments… add one }
  • schejtan 25. April 2023, 08:59

    Ich erwaehne mal noch, dass es in den Anfangstagen im UK (und dadurch auch in anderen europaeischen Laendern wie Deutschland) Teenage Mutant Hero Turtles hiess, weil Ninja als zu gewalttaetig klingend eingestuft wurde.

  • Ariane 25. April 2023, 10:51

    Witzig, ich hab am Wochenende beim Ant-Man-3-Gucken (was für ein Quark btw) seit Ewigkeiten mal wieder an die Turtles gedacht, weil in Ant-Man auch so ein Kopf-Roboter-Wesen unterwegs war.

    Immerhin ein Kopf und nicht ein Gehirn wie bei Turtles. Was ich als Kind übrigens 100x verstörender fand als irgendein Rumgefuchtel mit scharfen Gegenständen 😉

  • Thorsten Haupts 25. April 2023, 11:40

    Es zeigt die Sensibilitäten der Ära, dass die Turtles vielen immer noch als zu brutal erschienen.

    Yup. In meiner Generation hiess die uns als Kinder/Jugendliche prägende Comicserie „Schweinchen Dick“, unter dem Namen wurden im ÖRR die „Looney Tunes“ Folgen gesendet. Mit dem Roadrunner, Bugs Bunny etc. In den Folgen scheiterten die verschiedenen tierischen „Bösewichte“ immer an ihren eigenen Fallen und wurden von Felsbrocken geplättet, hinterliessen bei Abstürzen ein körperförmiges Loch im Boden oder bekamen durch ein explodierendes Gewehr ein derangiertes, geschwärztes Gesicht. Etc. Ein grosser Spass, den Kinder auch genau so verstanden.

    Die Serie wurde etwa um die beschriebene Zeit aus „pädagogoschen“ Gründen aus dem Fernsehen verbannt. Offizielle Begründung? Zuviel Gewalt – obwohl in der Serie niemand jemals dauerhaft verletzt oder getötet wurde.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 25. April 2023, 12:03

      Total absurd. Da gab es in den letzten 20 Jahren ein massives Umdenken. Beispiel auch „Starship Troopers“. Der Film war indiziert und ist seit drei Jahren ab 16 (!) auf Disney+ (!!!).

  • cimourdain 26. April 2023, 11:02

    „…, die wesentlich ernsthaftere Comicserie „Usagi Yoyimbo“ [hervorbrachte], die ihren eigenen Artikel wert ist“ sehr wert sogar. Das würde mir gefallen.

    Noch ein kleiner Hinweis, weil du die Verbindung mit „Daredevil“ erwähnt hast: Zwei nette Shout-outs gibt es in der Namenswahl: Der Sensei „Splinter“ (DD: „Stick“) und die Ninjaorganisation „Foot-Clan“ (DD: „The Hand“).

    • Stefan Sasse 26. April 2023, 12:10

      Ah, das wusste ich nicht. Ich hab keine Ahnung von Daredevil abgesehen von den schrecklichen Filmen und der banalen Serie.

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