Rezension: Wolfgang Koeppen – Tauben im Gras (plus Lektüreschlüssel)

Wolfgang Koeppen – Tauben im Gras (plus Lektüreschlüssel Klett und Königs Erläuterungen)

Deutschland, 1951. Der amerikanische Gelehrte Mr. Edwin reist für einen Vortrag über die Kultur des Abendlandes nach München, wo er das gesellschaftliche Ereignis der Stunde darstellt. Der Schauspieler Alexander und seine Frau Messalina versuchen, die Unzufriedenheit über ihr Leben in Alkohol zu ertränken. Der erfolglose Schriftsteller Philipp scheitert in mehreren Versuchen des Broterwerbs, während seine früher wohlhabende Frau Emilia alte Besitztümer zu Geld macht, um das Paar über die Runden zu bringen. Carla und ihr Sohn Heinz versuchen, die Beziehung zum afroamerikanischen Besatzungssoldaten Washington klarzumachen. Ein weiterer schwarzer Soldat, Odysseus, ist gerade angekommen und treibt mit dem Dienstmann Josef durch die Stadt. Ihre Geschichten überschneiden sich mit denen zahlreicher anderer Personen, ohne dass es für irgendjemanden erfolgreich enden würde – die Menschen bewohnen ihre Stadt und ihre Zeit wie Tauben im Gras.  Koeppens Roman ist ab dem Abitur 2024 in den beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg Prüfungslektüre. Die Vergnüglichkeit derselben steht daher naturgemäß gegenüber ihrem literarischen Wert hintenan. Wenn man weiß, dass Koeppen vergeblich versuchte, gegenüber Lektoren und Verlag durchzusetzen, komplett auf Satzzeichen verzichten zu können, bekommt man eine Ahnung, in welchem Stil der Roman geschrieben ist und welche Herausforderungen er für die Lesenden bereithält.

Unterteilt ist er zahlreiche Abschnitte, die durch Leerzeilen voneinander getrennt sind (wie viele ist in der Literaturwissenschaft umstritten, aber irgendwo zwischen 100 und 110 Abschnitte, von denen die meisten nur wenige Seiten lang sind). Die Abschnitte selbst sind gelegentlich durch Zeilenumbrüche getrennt, eine Feinheit, die sich auch dadurch gerne übersehen lässt, dass sie am Ende von Seiten vorkommen kann.

Ich würde auf die Struktur nicht so ausführlich eingehen, wenn sie für den Roman nicht von elementarer Bedeutung wäre, denn jeder Abschnitt stellt eine oder zwei weit über 20 Figuren ins Zentrum und lässt uns an ihren Erlebnissen und Gedanken teilhaben – während der Erzähler munter zwischen personaler und auktorialer Haltung wechselt, ohne dass dies im Text deutlich gemacht werden würde. Der gesamte Text ist auch kein üblicher Roman mit Handlungsbogen. Die Geschichte entwickelt sich über einen Zeitraum von 18 Stunden, innerhalb derer die Personen vor allem scheitern und allein bleiben; eine Art Zusammenkommen oder Bewältigung einer Aufgabe oder Ähnliches gibt es überhaupt nicht.

Stattdessen erleben wir einen konstanten Bewusstseinsstrom („stream of consciousness„), der durch das Einstreuen von Bemerkungen, Nebenaspekten, Radio- und Zeitungsmeldungen und Ähnliches ergänzt wird und auch sprachlich durch eine parataktische Struktur in endlosen Aufzählungen deutlich gemacht wird. Das literarisch interessierte Publikum kommt auf seine Kosten, aber um es kurz zu machen: leicht oder vergnüglich ist diese Lektüre nicht.

Natürlich wird ein solcher Anspruch auch nicht erhoben. Deswegen stellt sich eher die Frage, inwieweit sie wertvoll ist. Was gibt uns die Beschäftigung mit Koeppen? Der Klappentext informiert mich, dass Marcel Reich-Raniczki der Überzeugung war, dass es einer der definitiven Nachkriegsromane sei, ohne die jene Epoche zumindest literarisch kaum erschlossen werden könne. Inhaltlich steht das außer Zweifel. Besatzung, Trümmerzeit, Hitler und die Vergangenheitsbewältigung, bestehende Ressentiments, Verlust im Krieg, Angst vor neuen Kriegen – die Gegenwart des Jahres 1951 schreit die Lesenden geradezu an.

Und hier muss ich zugeben, dass ich bezüglich des Romans sehr ambivalent bin. Auf der einen Seite kann ich anerkennen, dass Koeppen für seine Zeit sehr progressiv war. Beißend porträtiert er die mangelnde Beschäftigung mit und Verdrängung der nationalsozialistischen Diktatur. Sein scharfes Beobachterauge erkennt die anhaltenden Mentalitäten, die 1933 in den Untergang führten. Er betrachtet das Wetterleuchten der Wirtschaftswunderwelt am Horizont, auch wenn er es noch nicht in Worte fassen kann. Er sieht die Rassentrennung in den USA und kritisiert sie scharf, lange bevor selbst im Mutterland der Demokratie zum Thema wurde. Ohne zu urteilen gibt er uns schwule und lesbische Charaktere.

Auf der anderen Seite aber ist Koeppen in Vorurteilen seiner Zeit gefangen. Er kann wenig dafür, dass die konstante Nutzung des N-Worts in heutigen Ohren kaum mehr erträglich klingt. Die schwarzen Charaktere „Odysseus“ und „Washington“ zu nennen, hat aber bereits in den 1950er Jahren mehr Onkel-Tom-Romantik als dass es akkurat die Namenspraxis der POC-Community wiederspiegeln würde (auch wenn ich natürlich den intertextuellen Bezug mit der Odysseus-Figur schon verstehe…). Die Männer- und Frauenrollen bleiben weitgehend unhinterfragt, und gerade in den Figuren der amerikanischen Lehrererinnen kommen auch deutliche Anti-Amerikanismen durch.

Am störendsten aber ist für mich Koeppens Selbstverständnis, seine Überzeugung, dass der Schriftsteller als Beobachter nicht nur ein Außenseiter ist, sondern sein muss, dass er außerhalb der Gesellschaft stehend dieselbe mit analytischem, distanzierten Blick durchdringt. Ich habe nichts gegen Gesellschaftskritik in Romanen. Wogegen ich etwas habe, ist ein bornierter, überheblicher Blick auf die Gesellschaft, die Vorstellung des Intellektuellen als unverstandener, abgetrennter Elite. Darin ist Koeppen fundamental eine Kreatur der Vor- und Zwischenkriegszeit, hier sieht man eine ständige Strömung deutschen Geisteslebens walten, die leider bis heute immer wieder zum Vorschein kommt. Ich kann daher auch das intellektuelle Spiel Koeppens nicht wirklich genießen, zu sehr stößt mich der Affekt ab. –

Keine Abiturlektüre kann ohne Lektüreschlüssel auskommen. Ich habe zwei davon gelesen, eine von Klett und eine von Königs Erläuterungen. Ich will beide auch kurze besprechen.

Die Klett-Version ist wesentlich dicker als die von Königs Erläuterungen. Das liegt mit Sicherheit auch an der ausführlichen Inhaltsangabe. Jeder einzelne Abschnitt wird in chronologischer Reihenfolge zusammengefasst, was allein rund 100 Seiten in Anspruch nimmt, jedenfalls gefühlt. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt darin, dass man jederzeit nachschlagen kann, was in welchem Abschnitt passiert und auf welcher Seite er sich befindet. Der Nachteil ist, dass kein echtes Gesamtbild erzeugt wird; die Inhaltsangabe bleibt bloßes Nachschlagewerk. Worum es in dem Roman eigentlich geht, bleibt unklar.

Der Lektüreschlüssel legt auch einen merkwürdigen Schwerpunkt auf intertextuelle Bezüge, sowohl zu Koeppens anderen Werken als auch zu solchen, die thematische Ähnlichkeiten besitzen. Das ist sicherlich für einschlägig interessierte Lesende interessant, aber für die Hauptzielgruppe – Abiturient*innen – nicht sonderlich zielführend.

So sie diese Teile überhaupt verstehen. Einmal abgesehen von der teils sehr fragwürdigen Syntax des gesamten Bandes fällt auf, dass der Stil in die sehr deutsche Unart verfällt, in möglichst vielen Fremdworten und mit möglichst vielen bildungssprachlichen Referenzen zu arbeiten; weniger um das Verständnis des Publikums zu vertiefen, sondern um die eigene intellektuelle Qualität zu beweisen – wofür im Übrigen gerade dieses Mittel wenig geeignet ist, denn massenweise Fremdworte einzuwerfen ist so ziemlich das billigste Mittel, um intellektuell zu erscheinen, und das kann man auch trainierten Affen beibringen.

Stellt sich die Frage, ob das Konkurrenzwerk von Königs Erläuterungen besser ist. Zumindest was den Inhalt angeht, mag ich die Zusammenfassung hier mehr: anstatt chronologisch nach Abschnitten vorzugehen, werden die Geschichten der Hauptcharaktere vorgestellt. Auf diese Art wird zum einen deutlich, wo sie sich (nicht) schneiden und welche Leitmotive den jeweiligen Charakter bestimmen. Das Finale dagegen bleibt in dieser Erzählung merkwürdig abwesend und wird praktisch gar nicht besprochen.

Stilistisch hat dieser Lektüreschlüssel dieselben Schwächen wie das Konkurrenzprodukt, wenngleich es etwas weniger stark ausgeprägt ist. Auch profitiert er von einem stärkeren Fokus auf den eigentlichen Roman; die intertextuellen Bezüge bleiben etwas weniger relevant.

Insgesamt würde ich mir bei den Lektüreschlüsseln aber wünschen, dass sie weniger Aufmerksamkeit auf die Biografien der Autoren oder die Rezeptionsgeschichte legen würden. Diese erscheinen mir jedes Mal wie totes Gewicht. Es ist nicht schlimm, man überblättert den Kram halt, aber wirklich nützlich finde ich sie auch nicht.

{ 8 comments… add one }
  • Tim 9. Dezember 2022, 10:07

    Wow. Eine echte Fleißleistung, Respekt.

    Ich habe „Tauben im Gras“ versucht zu lesen, musste aber irgendwann abbrechen. Wie viele andere kulturelle Produktionen des 20. Jahrhundert kam mir auch dieser Text äußerst technisch-architektonisch vor. Ein fast schon verzweifelter Versuch, etwas formal Neues zu schaffen und eben auch formal die Komplexität der Welt abzubilden. Wenn Kulturschaffende sich aber als Laboranten verstehen, muss ich sie einfach immer mit der technischen-wissenschaftlichen Welt vergleichen. Die Nachahmung wirkt leider fast immer jämmerlich. Sie wollen in der Liga der sehr schlauen Leute mitspielen, sind aber eben doch keine Quantenphysiker. Irgendwie wirken solche Autoren (wie auch manche zeitgenössische Komponisten) auf mich abgehängt.

    • Stefan Sasse 9. Dezember 2022, 14:21

      Dieses Konstruierte kann ich auch nicht ab. Du musst schon konstruieren als Autor, da kommst nicht drumrum. Ohne Struktur ist scheiße. Aber wenn die Struktur so offen durchscheint…wir werden das bald für Juli Zeh auch haben, die ist die nächste auf der Liste. Ich fand deswegen „Agnes“ auch schrecklich. Das Ding ist halt: das macht diese Lektüren zu geeignetem Prüfungsstoff.

      Ich muss irgendwann mal was Allgemeineres dazu schreiben. Kennst du mein https://www.deliberationdaily.de/2019/06/die-gaehnende-langeweile-der-pflichtlektueren/

      • Tim 10. Dezember 2022, 11:34

        Danke für den Hinweis, werde ich mir durchlesen.

  • CitizenK 9. Dezember 2022, 11:03

    Danke für’s Teilen. Kannte das bisher nur dem Titel nach. Frage: Wenn zeitgeschichtliche Literatur als Pflichtlektüre – wäre „Das Treibhaus“ dann nicht sinnvoller? Was meinst du?

  • Hans Tabbert 10. März 2024, 15:15

    Zunächst : Das Buch wird in einer Klasse von 25-30 Schülern – wenn es hochkommt – vielleicht 1 oder 2 ansprechen. Koeppen war bei Veröffentlichung 45 Jahre alt und von dieser Erfahrungshöhe behandelt es auch Themen wie Segregration, kollektives Schuldgefühl , Alter , Abtreibung , Krieg etc. Was sollen 17 bis 19-jährige damit anfangen?
    Das Werk ist ja schon für den ∅ – Deutschlehrer zu schwer erfassen.

    Die Liste der Meriten und Preise , die Koeppen einheimsen konnte, sprechen für diesen „Kulturschaffenden“ (LOL).

    Ach, wenn man doch nur Danger Dan und Wir sind Helden Texte durchnehmen könnte.

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