Bücherliste Dezember 2022

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Tauben im Gras, Faulheit, Liberalismus

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

BÜCHER

Wolfgang Koeppen – Tauben im Gras (Hörbuch) (plus Lektüreschlüssel Klett und Königs Erläuterungen)

Deutschland, 1951. Der amerikanische Gelehrte Mr. Edwin reist für einen Vortrag über die Kultur des Abendlandes nach München, wo er das gesellschaftliche Ereignis der Stunde darstellt. Der Schauspieler Alexander und seine Frau Messalina versuchen, die Unzufriedenheit über ihr Leben in Alkohol zu ertränken. Der erfolglose Schriftsteller Philipp scheitert in mehreren Versuchen des Broterwerbs, während seine früher wohlhabende Frau Emilia alte Besitztümer zu Geld macht, um das Paar über die Runden zu bringen. Carla und ihr Sohn Heinz versuchen, die Beziehung zum afroamerikanischen Besatzungssoldaten Washington klarzumachen. Ein weiterer schwarzer Soldat, Odysseus, ist gerade angekommen und treibt mit dem Dienstmann Josef durch die Stadt. Ihre Geschichten überschneiden sich mit denen zahlreicher anderer Personen, ohne dass es für irgendjemanden erfolgreich enden würde – die Menschen bewohnen ihre Stadt und ihre Zeit wie Tauben im Gras.  Koeppens Roman ist ab dem Abitur 2024 in den beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg Prüfungslektüre. Die Vergnüglichkeit derselben steht daher naturgemäß gegenüber ihrem literarischen Wert hintenan. Wenn man weiß, dass Koeppen vergeblich versuchte, gegenüber Lektoren und Verlag durchzusetzen, komplett auf Satzzeichen verzichten zu können, bekommt man eine Ahnung, in welchem Stil der Roman geschrieben ist und welche Herausforderungen er für die Lesenden bereithält.

Unterteilt ist er zahlreiche Abschnitte, die durch Leerzeilen voneinander getrennt sind (wie viele ist in der Literaturwissenschaft umstritten, aber irgendwo zwischen 100 und 110 Abschnitte, von denen die meisten nur wenige Seiten lang sind). Die Abschnitte selbst sind gelegentlich durch Zeilenumbrüche getrennt, eine Feinheit, die sich auch dadurch gerne übersehen lässt, dass sie am Ende von Seiten vorkommen kann.

Ich würde auf die Struktur nicht so ausführlich eingehen, wenn sie für den Roman nicht von elementarer Bedeutung wäre, denn jeder Abschnitt stellt eine oder zwei weit über 20 Figuren ins Zentrum und lässt uns an ihren Erlebnissen und Gedanken teilhaben – während der Erzähler munter zwischen personaler und auktorialer Haltung wechselt, ohne dass dies im Text deutlich gemacht werden würde. Der gesamte Text ist auch kein üblicher Roman mit Handlungsbogen. Die Geschichte entwickelt sich über einen Zeitraum von 18 Stunden, innerhalb derer die Personen vor allem scheitern und allein bleiben; eine Art Zusammenkommen oder Bewältigung einer Aufgabe oder Ähnliches gibt es überhaupt nicht.

Stattdessen erleben wir einen konstanten Bewusstseinsstrom („stream of consciousness„), der durch das Einstreuen von Bemerkungen, Nebenaspekten, Radio- und Zeitungsmeldungen und Ähnliches ergänzt wird und auch sprachlich durch eine parataktische Struktur in endlosen Aufzählungen deutlich gemacht wird. Das literarisch interessierte Publikum kommt auf seine Kosten, aber um es kurz zu machen: leicht oder vergnüglich ist diese Lektüre nicht.

Natürlich wird ein solcher Anspruch auch nicht erhoben. Deswegen stellt sich eher die Frage, inwieweit sie wertvoll ist. Was gibt uns die Beschäftigung mit Koeppen? Der Klappentext informiert mich, dass Marcel Reich-Raniczki der Überzeugung war, dass es einer der definitiven Nachkriegsromane sei, ohne die jene Epoche zumindest literarisch kaum erschlossen werden könne. Inhaltlich steht das außer Zweifel. Besatzung, Trümmerzeit, Hitler und die Vergangenheitsbewältigung, bestehende Ressentiments, Verlust im Krieg, Angst vor neuen Kriegen – die Gegenwart des Jahres 1951 schreit die Lesenden geradezu an.

Und hier muss ich zugeben, dass ich bezüglich des Romans sehr ambivalent bin. Auf der einen Seite kann ich anerkennen, dass Koeppen für seine Zeit sehr progressiv war. Beißend porträtiert er die mangelnde Beschäftigung mit und Verdrängung der nationalsozialistischen Diktatur. Sein scharfes Beobachterauge erkennt die anhaltenden Mentalitäten, die 1933 in den Untergang führten. Er betrachtet das Wetterleuchten der Wirtschaftswunderwelt am Horizont, auch wenn er es noch nicht in Worte fassen kann. Er sieht die Rassentrennung in den USA und kritisiert sie scharf, lange bevor selbst im Mutterland der Demokratie zum Thema wurde. Ohne zu urteilen gibt er uns schwule und lesbische Charaktere.

Auf der anderen Seite aber ist Koeppen in Vorurteilen seiner Zeit gefangen. Er kann wenig dafür, dass die konstante Nutzung des N-Worts in heutigen Ohren kaum mehr erträglich klingt. Die schwarzen Charaktere „Odysseus“ und „Washington“ zu nennen, hat aber bereits in den 1950er Jahren mehr Onkel-Tom-Romantik als dass es akkurat die Namenspraxis der POC-Community wiederspiegeln würde (auch wenn ich natürlich den intertextuellen Bezug mit der Odysseus-Figur schon verstehe…). Die Männer- und Frauenrollen bleiben weitgehend unhinterfragt, und gerade in den Figuren der amerikanischen Lehrererinnen kommen auch deutliche Anti-Amerikanismen durch.

Am störendsten aber ist für mich Koeppens Selbstverständnis, seine Überzeugung, dass der Schriftsteller als Beobachter nicht nur ein Außenseiter ist, sondern sein muss, dass er außerhalb der Gesellschaft stehend dieselbe mit analytischem, distanzierten Blick durchdringt. Ich habe nichts gegen Gesellschaftskritik in Romanen. Wogegen ich etwas habe, ist ein bornierter, überheblicher Blick auf die Gesellschaft, die Vorstellung des Intellektuellen als unverstandener, abgetrennter Elite. Darin ist Koeppen fundamental eine Kreatur der Vor- und Zwischenkriegszeit, hier sieht man eine ständige Strömung deutschen Geisteslebens walten, die leider bis heute immer wieder zum Vorschein kommt. Ich kann daher auch das intellektuelle Spiel Koeppens nicht wirklich genießen, zu sehr stößt mich der Affekt ab. –

Keine Abiturlektüre kann ohne Lektüreschlüssel auskommen. Ich habe zwei davon gelesen, eine von Klett und eine von Königs Erläuterungen. Ich will beide auch kurze besprechen.

Die Klett-Version ist wesentlich dicker als die von Königs Erläuterungen. Das liegt mit Sicherheit auch an der ausführlichen Inhaltsangabe. Jeder einzelne Abschnitt wird in chronologischer Reihenfolge zusammengefasst, was allein rund 100 Seiten in Anspruch nimmt, jedenfalls gefühlt. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt darin, dass man jederzeit nachschlagen kann, was in welchem Abschnitt passiert und auf welcher Seite er sich befindet. Der Nachteil ist, dass kein echtes Gesamtbild erzeugt wird; die Inhaltsangabe bleibt bloßes Nachschlagewerk. Worum es in dem Roman eigentlich geht, bleibt unklar.

Der Lektüreschlüssel legt auch einen merkwürdigen Schwerpunkt auf intertextuelle Bezüge, sowohl zu Koeppens anderen Werken als auch zu solchen, die thematische Ähnlichkeiten besitzen. Das ist sicherlich für einschlägig interessierte Lesende interessant, aber für die Hauptzielgruppe – Abiturient*innen – nicht sonderlich zielführend.

So sie diese Teile überhaupt verstehen. Einmal abgesehen von der teils sehr fragwürdigen Syntax des gesamten Bandes fällt auf, dass der Stil in die sehr deutsche Unart verfällt, in möglichst vielen Fremdworten und mit möglichst vielen bildungssprachlichen Referenzen zu arbeiten; weniger um das Verständnis des Publikums zu vertiefen, sondern um die eigene intellektuelle Qualität zu beweisen – wofür im Übrigen gerade dieses Mittel wenig geeignet ist, denn massenweise Fremdworte einzuwerfen ist so ziemlich das billigste Mittel, um intellektuell zu erscheinen, und das kann man auch trainierten Affen beibringen.

Stellt sich die Frage, ob das Konkurrenzwerk von Königs Erläuterungen besser ist. Zumindest was den Inhalt angeht, mag ich die Zusammenfassung hier mehr: anstatt chronologisch nach Abschnitten vorzugehen, werden die Geschichten der Hauptcharaktere vorgestellt. Auf diese Art wird zum einen deutlich, wo sie sich (nicht) schneiden und welche Leitmotive den jeweiligen Charakter bestimmen. Das Finale dagegen bleibt in dieser Erzählung merkwürdig abwesend und wird praktisch gar nicht besprochen.

Stilistisch hat dieser Lektüreschlüssel dieselben Schwächen wie das Konkurrenzprodukt, wenngleich es etwas weniger stark ausgeprägt ist. Auch profitiert er von einem stärkeren Fokus auf den eigentlichen Roman; die intertextuellen Bezüge bleiben etwas weniger relevant.

Insgesamt würde ich mir bei den Lektüreschlüsseln aber wünschen, dass sie weniger Aufmerksamkeit auf die Biografien der Autoren oder die Rezeptionsgeschichte legen würden. Diese erscheinen mir jedes Mal wie totes Gewicht. Es ist nicht schlimm, man überblättert den Kram halt, aber wirklich nützlich finde ich sie auch nicht.

Devon Price – Laziness Does Not Exist: A Defense of the Exhausted, Exploited, and Overworked (Hörbuch)

Workaholics werden in populären Darstellungen gerne ikonisiert. Aaron Sorkin hat im Endeffekt ein ganzes Genre aus der Glorifizierung der Aufgabe jeden Privatlebens und der Monumentalisierung des Arbeitsstresses gemacht, und jüngst hat die TV-Serie „The Bear“ viel Lob erhalten, deren Arbeitsethik nicht ganz unproblematisch ist, um es einmal milde auszudrücken. Gesund ist diese Art der Arbeitshaltung nicht immer. Leider werden Menschen, die diesem Ideal nicht nacheifern, allzu häufig angegriffen und bekommen Faulheit (oder doch wenigstens mangelnden Einsatz) vorgeworfen. Der Psychologe Devon Price hat mit „Laziness does not exist“ nun die These aufgestellt, dass diese häufige Kritik nicht nur unberechtigt, sondern sogar schädlich ist.

Im ersten Kapitel erklärt Price, was er mit „The Laziness Lie“ meint. Er spricht hier von der „Millenial obsession with productivity„. Nichts würde demzufolge gesellschaftlich so hoch geschätzt wie Performance im Job, möglichst viele Stunden zu arbeiten und vollen Einsatz zu zeigen. Hier erkennt man bereits, dass er aus einer sehr amerikanischen Perspektive schreibt; gerade die groteske Überbewertung von Anwesenheitszeiten bei der Arbeit (man möchte nicht einmal von „Arbeitszeit“ sprechen) ist eine amerikanische Obsession. Ich bin mir sehr unsicher, inwieweit ich die Einschätzung dieser Fixierung als „Millenial“-Phänomen teilen würde; Price selbst spannt einen viel größeren Rahmen, indem er auf die puritanischen Wurzeln der kapitalistischen Arbeitsethik verweist: “This form of Christianity taught that suffering was morally righteous and that slaves would be rewarded in Heaven for being docile, agreeable, and, most important, diligent.“ Da ist sicher etwas dran, wenngleich das in den breiten Pinselstrichen, in denen Price malt, natürlich sehr angreifbar bleibt und mit zahlreichen Qualifikationen versehen werden muss.

Das zweite Kapitel, „Rethinking Laziness“, versucht sich an einer Neubelegung des Begriffs „laziness„. Hier unternimmt Price ein Würdigung von Freizeit und Erholung. Auch das klingt in europäischen Ohren eher merkwürdig. Tatsächlich ist es wohl kaum gesund, pro Jahr nur ein paar Tage Urlaub zu nehmen und sonst 60-70 Stunden die Woche zu arbeiten. Da kann ja nichts Sinnvolles bei rumkommen. Wo Price sicherlich auch richtig lag ist, wenn er kritisierte, dass zahlreiche Vorwürfe der „laziness“ (die mit „Faulheit“ nur unzureichend übersetzt werden kann) in Wirklichkeit gesundes Verhalten delegitimieren – etwa Zeit mit Hobbies oder Freunden zu verbringen. Ich habe aber ein großes Problem mit dem Versuch, „laziness“ als positiv umzudeuten und als generellen Mythos darzustellen; dazu aber mehr im nächsten Kapitel. Wesentlich fundierter nämlich ist seine Kritik an den verschiedenen Maßstäben von „laziness“ bei Rasse und Gender. Schwarzen etwa wird, ebenso wie in abgeschwächter Form Frauen, viel eher „laziness“ vorgeworfen als weißen cis-Männern.

Im dritten Kapitel „You deserve to work less“ fordert Price, die Ansprüche an die Arbeitsperformance herunterzuschrauben und sich nicht selbst aufzugeben. Man solle sich nicht schuldig fühlen, weil man „zu wenig arbeitet“, sondern stattdessen klare Grenzen setzen. Erneut, wir sprechen hier von amerikanischen Zuständen, also ein deutliches (und unbezahltes) Erbringen von mehr Stunden. Ich zögere erneut, „mehr arbeiten“ zu schreiben, weil der Zusatznutzen dieser Stunden so rapide abnimmt, ein Thema, das Price leider kaum anspricht.

Was er allerdings komplett unterschlägt ist, dass es ja durchaus Leute gibt, die nicht ständig 120% Leistung erbringen. Böse Zungen würden gar behaupten, das sei die Mehrheit. Es gibt sogar solche Menschen, die weniger als die erforderliche Leistung erbringen. Price macht zwar durchaus immer wieder am Rande deutlich, effektiv von Workaholics zu sprechen, vermengt diese Grenzen dann aber immer wieder und nimmt kein einziges Mal Bezug dazu, dass man kaum eine generelle Aufforderung für mehr „laziness“ aussprechen kann. Genau dieser Eindruck wird aber konstant erweckt.

Das vierte Kapitel, „Your achievements are not your worth“, wendet sich gegen die zu starke Identifizierung mit der Arbeit: “We define people by their jobs—he’s an actor, she’s a mortician—categorizing them based on the labor they provide to others.” Auch hier liegt der Fokus wieder klar auf den Menschen, die sich wesentlich zu stark mit ihrer Arbeit identifizieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich auch vor allem um ein Problem der oberen Mittelschicht handelt; Price spricht zwar natürlich grundsätzlich alle möglichen Schichten an, aber ich würde bezweifeln, dass die meisten Walmart-Kassierer*innen ihre „achievements“ bei der Arbeit zu sehr zum Kern ihrer Identität machen. Das Problem ist für manche Leute natürlich vorhanden, und hier sind Prices Ratschläge, sich auch außerhalb der Arbeit ein Leben zu erhalten, sicherlich sinnvoll.

Das fünfte Kapitel, „You don’t have to be an expert in everything“, wendet sich gegen überzogene Anforderungen, die man sich selbst stellt. Es ist in Ordnung, einmal zu sagen, dass man etwas nicht kann. Das ist das erste Kapitel, dem ich eine generellere Anwendbarkeit und Wichtigkeit unterstellen würde. Man will ja gar nicht wissen, wie viel Bullshit in Unternehmen, Verwaltungen und Institutionen passiert, nur weil jemand nicht den Mut hatte zu sagen, dass er oder sie eine übertragene Aufgabe nicht ausfüllen kann und stattdessen etwas zusammenmurkst, das am Ende riesige Folgekosten verursacht.

In Kapitel 6, „Your relationships should not leave you exhausted“, wendet sich Price von der Arbeitswelt ab und spricht über Sozialkontakte. Die Extrembeispiele von Leuten, die sich selbst und ihre berechtigten Interessen völlig hintenanstellen, um irgendwelchen Verwandten oder Freunden stets zu Diensten zu sein, sind natürlich beeindruckend, und man würde sofort sagen, dass diese Leute anfangen müssen, Prices Ratschlag zu befolgen, einfach einmal „nein“ zu sagen. Seine Tipps dazu sind auch hilfreich (Nein sagen bei sehr kleinen, unwichtigen Dingen üben und eine Standardausrede ständig zu verwenden, um eine Routine zu schaffen). Aber gerade hier habe ich riesige Bauchschmerzen dabei, den Begriff „laziness“ zu verwenden, gerade, weil die Beispiele so extrem sind. Und auch hier gibt es umgekehrt ja auch Leute, die viel zu wenig Beziehungsarbeit leisten.

Das siebte Kapitel, „Shrugging off society’s „shoulds““, fordert, sich von den ständigen Ansprüchen der Gesellschaft zu emanzipieren und einen gesunderen Blick auf die eigenen Bedürfnisse zu haben. Auch hier: sicherlich sinnvoll, wenn man an Workaholism leidet. Spätestens hier aber war mir klar, dass dieses Buch nicht für mich ist, und für europäische Lesende sicherlich überwiegend auch nicht. Das letzte, achte Kapitel, „Compassion kills the laziness lie“, ist dagegen universell gültig: Mitgefühl und Empathie sind ohnehin immer gut, und wenn man andere achtet und ernstnimmt, lösen sich die meisten dieser Probleme ohnehin.

Das ist denn auch mein größter Kritikpunkt mit dem ganzen Ding. Ich glaube, das liegt am Selbsthilfebuch als Genre: es ist ein typisch amerikanisches Genre, indem es die Verantwortung auf das Individuum legt und diesem Handlungsempfehlungen an die Hand legt. Die kollektiven, gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten werden bis auf das Feigenblatt des letzten Kapitels, in dem wir dann aber ebenfalls nur wieder individuelle, moralische Handlungsempfehlungen bekommen, weitgehend ignoriert.

Dabei sind die beschriebenen Probleme ja durchaus real. Die amerikanischen Arbeitszeiten sind beknackt hoch, die Urlaubszeiten geradezu lächerlich, das Phänomen, den Angestellten keine Krankheitstage zuzugestehen geradezu kriminell – und trotz alledem (oder vielmehr deswegen) liegt die Produktivität der US-Wirtschaft trotzdem unter der der deutschen, in der wesentlich weniger Stunden „gearbeitet“ werden.

Natürlich hat Price völlig Recht, wenn er darauf verweist, dass die typischen Pausen, die sich Arbeitnehmer*innen während der Arbeit nehmen, ob sie sie nun offiziell bekommen oder nicht (Raucherpause, Kaffee kochen, Plaudern am Wasserspender, Surfen auf Facebook und und und) unvermeidbar sind und selbst bei schärfster Kontrolle letztlich durch in die Luft Starren genommen würden. Die tägliche Arbeitszeit wird nie komplett mit Arbeit gefüllt sein, sondern immer auch „Anwesenheitszeit“ beinhalten. Aber das Ausmaß, in dem das gerade in den USA der Fall ist, ist dort ein gesamtgesellschaftliches Problem, das einer verqueren Arbeitszeit- und Performanceideologie folgt.

Allein, ob ein Feiern von „laziness„, einem negativ belegten Begriff, dafür die richtige Lösung ist? Ich zweifle das sehr an, und angesichts den damit verbundenen Missbrauchsmöglichkeiten durch Angestellte, die tatsächlich Minderleistungen erbringen (und die gibt es genauso wie die Overperformer) halte ich das für den falschen Weg. Was es stattdessen braucht sind institutionelle Schutzmechanismen und starke sozial verankerte Normen über den zulässigen Rahmen. Aber das spielt bei Price praktisch keine Rolle.

Francis Fukuyama – Liberalism and its discontents (Hörbuch)

Francis Fukuyama hat für seine These von 1991 vom „Ende der Geschichte“ durch den Zusammenbruch des Ostblocks viel Häme geerntet. Man könnte ihm also angesichts eines neuen Buchs über die Überlegenheit des Liberalismus zurufen „when you’re in a hole, stop digging“, aber das wäre unfair. Denn das „Ende der Geschichte“ wird oft missverstanden, vor allem, weil viele Kritiker*innen der These sie gar nicht vollständig, sondern nur in einer stark verkürzten Version kennen. Tatsächlich trifft Fukuyamas Argument, dass es seit 1991 keine ideologische Alternative zum Liberalismus gibt, auch noch über 30 Jahre später zu. Dass es mittlerweile eine ganze Zahl von Ländern und Fraktionen gibt, die dem Liberalismus feindselig gegenübersteht, ändert daran erst einmal wenig. In seinem 2022 veröffentlichten Essay versucht sich Fukuyama an einer Verteidigung des Liberalismus gegenüber den „discontents“ von links wie rechts.

In seinem ersten Kapitel unternimmt Fukuyama es, die Kernthese seines Werkes zu formulieren. Demnach ist der Liberalismus von rechts und links bedroht, wenngleich der Autor von Beginn an und immer wieder klarmacht, dass die Bedrohung von rechts wesentlich direkter und präsenter und kurzfristig gefährlicher ist als die von links. Er unterscheidet dabei grundlegend zwischen jenen, die unzufrieden mit ihm sind und ihn zu ändern versuchen – darunter fallen etwa Konservative von rechts und Progressive von links – und jenen, die ihn offen bekämpfen. Hier finden sich so illustre Zeitgenossen wie Putin und Orban, Xi Jinping und Bolsonaro, aber auch Linksradikale.

Die Fronten derart geklärt geht Fukuyama daran, den Liberalismus erst einmal überhaupt zu definieren. Das ist mehr als notwendig, denn wie er selbst aufzeigt, verstehen unterschiedliche Menschen sehr unterschiedliche Dinge darunter. Er eröffnet eine vorwiegend politische Definition, die er deutlich sowohl vom amerikanischen „liberal“ abgrenzt (das in Europa einfach nur als „links“ verstanden werden dürfte) als auch von seiner extremistischen Version im amerikanischen Libertarismus. Interessant ist er hier, dass er auch explizit das Liberalismus-Verständnis der FDP verwirft.

Stattdessen definiert er den Liberalismus als durch die rule of law, den Rechtsstaat, markiert, und macht direkt deutlich, dass Demokratie dazu nicht grundsätzlich erforderlich ist. Orbans Modell der illiberalen Demokratie wie auch Xis China könnten grundsätzlich liberale Gesellschaften sein (sind es aber natürlich nicht, aus Gründen, die in seiner weiteren Definition deutlich werden). Die Hauptaufgabe des Liberalismus ist demzufolge die Verteidigung der Individualrechte, vorrangig des Rechts auf Leben und des Rechts auf Besitz, gegenüber dem Staat. Fukuyamas Ziel mit dieser Definition ist es erklärtermaßen, ein möglichst breites Zelt aufzuspannen, das möglichst viele mögliche Liberale zulässt.

Ich bin hier völlig bei ihm und kann verstehen, dass er an dieser Stelle den eingeengten Liberalismus-Begriff etwa der FDP verwirft. Wir hatten die Diskussion hier im Blog ja bereits auch, ob etwa die Grünen als liberal gelten dürfen (für Fukuyama sicherlich) oder ob ich mich etwa als Liberaler einordnen könnte (dito). Andere Autoren hier sind da ja anderer Meinung und vertreten einen wesentlich exklusiveren Begriff. Der hat sicherlich auch seine Berechtigung, ist aber emphatisch von Fukuyama nicht gemeint.

Zuletzt betont er, dass eine wesentliche Aufgabe des Liberalismus das „Senken der Betriebstemperatur“ innerhalb des Gemeinwesens sei, indem Glaubenskonflikte auf den privaten Bereich reduziert werden. An dieser Stelle kann ich gleich die beiden Probleme, die ich mit Fukuyamas Definition habe, deutlich machen. Problem eins betrifft die Idee der Toleranz, denn Fukuyama ignoriert, dass der Glaube der Elite bereits institutionalisiert ist und deswegen einen völlig anderen Stellenwert genießt. So etwa sind wir in Deutschland ungeheuer tolerant bei der Frage, ob jemand katholisch oder evangelisch ist, weil da die beiden durch die Elite über Jahrzehnte institutionalisierten Glaubensrichtungen sind. Bereits bei christlichen Splittergruppen findet die Toleranz schnell Grenzen; wo es aber etwa um den Islam geht, ist es mit der viel gerühmten Toleranz sehr schnell vorbei.

Problem Nummer zwei finde ich aber viel bedeutender, denn das liegt in der Definition selbst, die tautologisch ist: Fukuyama erklärt letztlich seine eigenen Werte, befindet diese wenig überraschend gut, zieht einen Kreis darum, nennt alles innerhalb des Kreises Liberalismus und erkennt dann, dass Abweichungen von diesem Werteset nicht gut sind. Das ist aber letztlich nur das Sagen mit vielen Worten, dass man seine eigenen Werte gut findet, was nicht eben eine rasend aufregende Erkenntnis ist. Das Problem damit wird in den folgenden Kapiteln deutlich.

Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Fukuyama mit der Abweichung des Liberalismus nach rechts, die er für eine Fehlentwicklung hält: den Neoliberalismus. Er skizziert kurz die sattsam bekannte Geschichte (Reaktion auf Keynesianismus, Hayek, Chicago-Boys, Thatcher, Reagan, Clinton, Finanzkrise), um dann festzustellen, dass es sich hier um eine Perversion des Liberalismus handelt, die Staatsskepsis in offene Staatsverachtung und Staatsfeindlichkeit verwandelt hat und damit eine (abzulehende) Radikalversion darstellt. So sehr ich inhaltlich bei Fukuyama bin, so sehr zeigt sich hier doch, dass er letztlich einen Strohmann aufbaut, den er dann leicht niederreißen kann, um sich und seine Position als besonders moderat und vernünftig zu präsentieren.

In Kapitel 3 wird es dann etwas philosophischer. Er spricht über den Eigennutz beziehungsweise den Egoismus des Individuums, der letztlich den Kern des Liberalismus ausmacht. Denn ohne den Willen und die Möglichkeit des Individuums, seinen eigenen Interessen und Neigungen nachzugehen, kann der Liberalismus im Guten wie im Schlechten nicht funktionieren. Auch hier findet sich das Leitmotiv der Moderation erneut: in gewissem Maß ist dieser Eigennutz gut, aber wenn es zu viel wird, reißt er den Liberalismus in die Tiefe. An Beispielen für solche Fälle mangelt es wahrlich nicht.

Dem stellt Fukuyama in Kapitel 4 die andere Seite der Medaille entgegen, die „Souveränität des Individuums“. Hier diskutiert er die eher für Linksliberale wichtigen Eigenschaften des Liberalismus in ihrer Ermächtigung des Einzelnen gegenüber der Gruppe, im Ausleben von eigenen Identitäten und Interessen, die im Extrem die Gesellschaft so weit fragmentieren, dass sich diese auflöst und die außerdem zur Konstruktion von Gruppen anregt, die sich dann feindlich in einem Nullsummenspiel gegenüberstehen.

Solcherart die wichtigsten liberalen Eigenschaften und ihre Extreme definiert, spricht Fukuyama im Kapitel 5 die aktuell wohl größte Debatte an, die Identitäspolitik. Er packt das unter „liberalism turns against itself„, wonach ein zu Viel an Freiheit letztlich dazu führt, dass alle ihre Freiheit verlieren. Diese Kritik dürfte allen bekannt vorkommen, wenngleich naturgemäß eine Seite dieser Kritik wesentlich stärker betont wird als die andere: treibt man etwa das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit zu weit, entstehen mächtige Individuen, die die Freiheit aller anderen beschränken – eine beliebte wie zutreffende Kritik aller eher linksstehender Menschen am liberal-kapitalistischen System. Umgekehrt führt eine zu starke Konzentration auf Eigenschaften, die per Geburt vorgegeben sind – wie Geschlecht und Rasse – zu einer unüberwindbaren Gruppenbildung, die die Gesellschaft zerstört – eine ebenso zutreffende wie häufige Kritik von rechts. Fukuyama macht es sich hier sehr einfach, indem er von beiden Seiten letztlich Strohmannargumente aufbaut, um diese umso effektiver niederzureißen und sich in der moderat-rationalen Mitte zu positionieren.

Das sechste Kapitel befasst sich mit der Bedrohung der Rationalität der Wissenschaft durch illiberales Gedankengut. Die Bedrohung von rechter Seite haben wir nicht nur in der Corona-Pandemie, sondern auch bei der Klimawandelleugnung in letzter Zeit sattsam vorgeführt bekommen. Die Ursprünge sind hier mehr psychologischer Natur. Etwas Fundamentaler wird es bei der linksradikalen Wissenschaftskritik, die Fukuyama auf diverse linke Intellektuelle zurückführt, deren Konstruktion der Wissenschaft als „bourgeois“ diese als Feindbild verortet und dadurch zu einer Ablehnung führt. Er macht diese Tendenz etwa bei den radikalen Vertreter*innen des woke aus.

Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit dem Aufschwung von Technologie und der Gefährdung der Privatsphäre und Redefreiheit dadurch. Das empfand ich als das schwächste Kapitel, weil Fukuyama hier offensichtlich aus der Rolle eines Außenseiters schreibt. Seine Vorstellung, dass durch Videospiele eine völlig entgrenzte Welt erschaffen werde, die es „jungen Menschen“ (ein Klischee, das endlich beerdingt gehört; der durchschnittliche Gamer ist weit über 30) erlaube, praktisch ohne Verankerung in der realen Welt auszukommen und ein rein simuliertes Leben zu leben, ist aus der Mottenkiste der Diskussionen der 1990er Jahre entnommen, und seine Abhandlungen so Sozialen Netzwerken nichts als eine Aneinanderreihung an Klischees von Filterblasen bis zu „Anonymität sorgt für mehr Hass“. Hier wäre der Schuster besser bei seinen Leisten geblieben; Substanzielles sagt er praktisch nicht aus.

Das achte Kapitel stellt die Frage nach Alternativen zum Liberalismus, die Fukuyama wenig überraschend mit „nein“ beantwortet. Wie eingangs bereits diskutiert bieten weder Russland noch China, Ungarn oder Indien ein Alternativmodell an. Sie sind zwar klar antiliberal, versuchen aber nicht, weltweit ihr System zu verbreiten. Das ist natürlich für Fukuyama zur Verteidigung seiner eigenen Thesen recht wichtig, aber eigentlich auch keine großartig neue Erkenntnis.

Das neunte Kapitel dagegen fand ich in seiner Beschäftigung mit der Frage nach nationaler Identität hochinteressant. Erneut wendet sich Fukuyama gegen die Extreme – Nationalismus auf der einen, eine völlig Nationalitäten ignorierende, open-borders feiernde Internationale auf der anderen Seite – und diskutiert die Rolle der Nation. Diese ist sehr ambivalent. Nicht nur braucht es die Nation, um den Liberalismus überhaupt zu errichten und zu erhalten (an dieser Stelle erfolgt auch noch einmal eine emphatische Bestätigung der Legitimität staatlicher Eingriffe von skandinavischen Wohlfahrtsstaaten bis zu angelsächsischen laissez-faire-Regimen), sondern nationale Identitäten schaffen auch Gemeinsamkeit.

Denn hier sieht Fukuyama die größte Schwäche des Liberalismus: in seiner Ermächtigung des Individuums fehlt ihm eine gemeinsame Vision, ein gemeinsames Ziel. Ich glaube zwar, dass Fukuyama ein wenig die Chancen einer affirmativen Bekräftigung liberaler Werte unterschätzt – an denen es in meinen Augen deutlich mangelt -, aber grundsätzlich hat er sicherlich Recht. Er versucht deswegen, eine Art Zweckheirat zwischen nationaler Identität und liberalen Werten zu schaffen, die sich so gegenseitig moderieren und in Balance halten. Das ist sicherlich ein gutes Gedankenkonstrukt, das weitere Ausarbeitung lohnt.

Im zehnten und letzten Kapitel fasst Fukuyama das Gesagte dann noch einmal als „Principles of a Liberal Society“ zusammen. Hier wird die Schwäche des Ansatzes auch noch einmal deutlich, vor allem die eigenen Präferenzen als „Liberalismus“ zu definieren und dann auf einen Sockel zu erheben. Das ist wie gesagt nichts, was alle anderen Menschen nicht auch tun würden, aber es wäre manchmal schön, wenn intellektuell ehrlicher damit umgegangen würde.

Der Essay ist insgesamt recht kurzweilig zu lesen und beansprucht auch die Geduld des Publikums nicht über die Gebühr. Das Hörbuch ist in rund acht Stunden durch, die Kapitel mit jeweils etwa 30-40 Minuten in angenehme Häppchen unterteilt. Wie immer lohnt sich die Lektüre Fukuyamas auch und gerade dann, wenn man nicht mit ihm übereinstimmt, und sei es nur, um die eigene Position zu schä

{ 0 comments… add one }

Leave a Comment

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.