In einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 8. Mai 2020[1] beklagte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, dass die Ukraine bei der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg systematisch ausgespart wird. Gerade in Deutschland wird völlig verdrängt, dass mindestens acht Millionen Menschen in der damaligen Sowjetrepublik getötet wurden. Bei den meisten Deutschen dürfte Melnyk damit vor dem Februar 2022 auf Verwunderung gestoßen sein: Ukraine und Russland sind nicht dasselbe?
Damit gehen die Deutschen wie so viele einem verzerrten russischen Geschichtsbild auf den Leim, das das zaristische russische Imperium, die Sowjetunion und das heutige Russland bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt. Melnyk beschreibt das als „blinden Fleck“, eine These, die der Welt-Autor Richard Herzinger sicher vollen Herzens unterschreiben würde[2]. Er erklärte dies mit einem „national zentrierten Horizont“, in dem die deutsche Geschichtswissenschaft verharre, obgleich sie sich „große Verdienste bei der Erforschung des Holocaust“ erworben habe.
Dieser Vorwurf der nationalen Nabelschau ist sicherlich nicht falsch. Zu gern wird die Shoah im Kontext einer deutschen Geschichte untersucht, als Verbrechen von Deutschen an Deutschen (man denke etwa an Anne Frank). Dass der Löwenanteil der Opfer der Shoah aus Osteuropa kam und wie groß dieses Ungleichgewicht ist, ist den meisten Deutschen genauso wenig geläufig wie das Massaker von Babyn Yar, das zusammen mit ungezählten weiteren Massenerschießungen dieser Art für mehr als die Hälfte der Opfer der Shoah verantwortlich ist – während wir gerne bei der Chiffre von Auschwitz verharren.
Der Vorwurf Herzingers, dass hierzulande nicht nur Geschichte, sondern gar die Existenz der Ukraine weitgehend unbekannt gewesen seien, ist nur marginal übertrieben. Der Bildungsplan beruflicher Gymnasien in Baden-Württemberg findet folgende dürre Worte: „Ausgrenzung und Entrechtung der Juden und anderer Minderheiten (Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas), Euthanasie, Verfolgung politischer Gegner, Besatzungspolitik, Massenerschießungen, Konzentrations- und Vernichtungslager“.
Möglicherweise findet man unter den Schlagworten der Massenerschießungen einen Verweis auf die Massaker; vielleicht behandelt die Besatzungspolitik einmal den großen „Hungerplan“. Genauso gut könnte man sich aber unter diesen Schlagworten auch mit den Vergeltungsmorden der Wehrmacht und SS an Widerstandskämpfer*innen befassen oder mit der Besatzung Frankreichs. Eine Voraussetzung, den Blick auf Osteuropa zu werfen und es als viel mehr denn eine Kartenregion zu betrachten, auf der man anhand von Soldatenbriefen den Verlauf des Vernichtungskriegs herausarbeiten kann, lässt sich aus diesen Vorgaben jedenfalls nicht ableiten.
Erst langsam kommen die osteuropäischen Länder, vor allem Polen, etwas mehr in den Fokus des Geschichtsunterrichts, bleiben aber gegenüber der Beschäftigung mit der deutschen Nationalgeschichte noch eher orchideenhaft. Wer sich auf das Abitur vorbereitet macht jedenfalls wenig falsch, eher deutsche Ereignisse als polnische zu lernen.
Diese Konzentration auf Deutschland ist natürlich auch unseren eigenen Verzerrungen geschuldet. Wir sprechen und lesen Deutsch, und sofern wir keine osteuropäischen Quellen übersetzt bekommen, entziehen sie sich unserem Zugriff. Wir fühlen zwar eine kulturelle Verbundenheit mit Frankreich und Großbritannien, sicherlich mit den USA, aber wer hat bis vor Kurzem schon eine intellektuelle oder emotionale Verbundenheit mit der Ukraine erlebt? Osteuropa ist terra incognita und taucht vor allem in Defizit-Diskursen auf, wenn es etwa um die gefährdete Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn geht, die in Gemeinschaftskunde mittlerweile ihre gebührende Beachtung findet.
Dass man da, wie Herzinger das formuliert, „mit einer gewissen Ratlosigkeit“ auf die „Renationalisierung der Historie“ in diesen Ländern blickt, ist nachvollziehbar. Deren „Selbstheroisierung“ entspricht dem Bedürfnis, sich Gehör zu verschaffen, gesehen und anerkannt zu werden. Es muss schmerzen, von den großen Tätern Russland und Deutschland gleichermaßen übersehen zu werden, auch wenn es im einen Fall planvoll und im anderen aus selbstreferenzieller Ignoranz geschieht.
Für uns Deutsche ist die Diktatur Hitlers eine weiterhin auf negative Weise identitätsstiftende Epoche. Sie markiert, was wir nicht sein wollen, und um sie dreht sich unser Selbstbild noch immer. Für Heroismus ist dort zwar kein Platz, wohl aber für eine gewisse Betriebsblindheit. Ein guter Teil davon ist ehrenhaft, entspringt er doch dem Wunsch, niemandem zu nahe zu treten und nicht dem Revisionismus Vorschub zu leisten. Diese Furcht blockiert sicherlich die Auseinandersetzung mit osteuropäischen Perspektiven, die notwendigerweise relativierend und vergleichend sein müssten. Sie hat aber auch eine große demokratiehygienische Wirkung, was man an den wütenden Versuchen der Rechtsradikalen erkennt, all diese Beschäftigung über Bord zu werfen.
Die Zeit des Nationalsozialismus, hat der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland einmal gesagt, sei nur ein „Fliegenschiss der Geschichte“[3]. Rein vom Zeitraum her hat er damit sicher Recht; was sind schon 12 Jahre gegenüber Jahrhunderten? Nur ist diese Argumentation ungefähr so aufrichtig wie die eines Trinkers, der einen schweren Auffahrunfall mit mehreren Toten verursacht hat und die halbe Stunde seiner Todesfahrt als Fliegenschiss gegenüber den restlichen Fahrten abtut, die er unternommen hat. Klar, der Trunkenbold hätte nichts lieber, als dass alle kollektiv einen Schlussstrich unter die ganze Sache ziehen und er wieder zur Flasche greifen darf, statt durch die Erinnerung zur Enthaltsamkeit genötigt zu werden. Aber den Gefallen sollten wir ihm nicht tun.
Falls es Gauland ein Trost ist: alleine steht er mit dieser Haltung nicht da. Von Beginn an gab es Menschen in Deutschland, die nur allzu gerne den Mantel des Schweigens über dem Dritten Reich ausgebreitet und die 12 Jahre in den Orkus des Vergessens gestoßen hätten. Als 1948 der Film „Morituri“ in die Kinos kam, der erste deutsche Film, der sich mit der Shoah beschäftigt, reagierte das Publikum mit heftiger Ablehnung[4]. Wegen verbreiteter Terrorattacken mussten mehrere Kinosäle renoviert werden. Im gleichen Jahr gaben in Befragungen 55,5% der Befragten an, der Nationalsozialismus „sei eine gute Idee gewesen, die schlecht ausgeführt wurde“[5].
Seither haben sich die Gemüter etwas beruhigt. Der historische Glücksfall des Kalten Krieges erlaubte es den (West-)Deutschen, sich als die Guten zu fühlen und, nun in der NATO, dieses Mal für die richtige Seite gegen „den Russen“ zu stehen. Dieses Bild miefiger Nachkriegsatmosphäre bekam erst in den 1960er Jahren seine Risse, als der Auschwitzprozess einer neuen Generation die bisher totgeschwiegene Leerstelle im elterlichen Lebenslauf grell beleuchtet vor Augen führte. Der Feldzug der 68er gegen die Vätergeneration und ihre Verdrängung des Geschehenen war der vorläufige Abschluss dieser Entwicklung, der jedoch, wie von Götz Aly gezeigt[6], in narzisstischer Selbstbezogenheit und der ideologischen Verirrung von Ho-Chi-Minh-Rufen und inflationären Faschismus-Vorwürfen endete und eine weitere Dekade erlaubte, in der man sich bequem von der NS-Vergangenheit emanzipieren zu können glaubte.
Während das „hässliche Deutschland“ durch das Bild eines knieenden Willy Brandt ersetzt wurde, war es dem ehemaligen Wehrmachtsleutnant Helmut Schmidt allzu Recht, wenn keine zu bohrenden Fragen über die Rolle seiner Generation im Krieg und ihren Wissensstand gestellt wurden. Die Vergangenheit war schrecklich, aber vor allem war sie vergangen. Deutschland hatte Restitution geleistet. Nun schaute man nach vorne.
Es ist aus heutiger Sicht kaum zu glauben, aber die Shoah selbst spielte während dieser Dekaden nur eine untergeordnete Rolle. Das änderte sich 1979, als die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ im Fernsehen gezeigt wurde. Es war das TV-Ereignis des Jahres, etablierte den Begriff „Holocaust“ im kollektiven Bewusstsein und erzwang eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Schlag auf Schlag wurden weitere heilige Kühe geschlachtet: in den 1990er Jahren musste der Mythos der „sauberen Wehrmacht“ daran glauben (ebenfalls gegen massive Proteste), und die Zwangsarbeiter*innen erhielten ab 1999 erstmals Anerkennung und Wiedergutmachung.
Ohne Reibungen ging das freilich nie ab. Das TV-Ereignis 1983, die monumentale Bavaria-Produktion „Das Boot“, zeigte genauso wie das 1993 erschiene Machwerk „Stalingrad“ die Soldaten von Wehrmacht und Kriegsmarine als Opfer einiger weniger böser Nazis, und noch 2013 konnten ARD und ZDF in „Unsere Mütter, unsere Väter“ unschuldige Wehrmachtssoldaten gegen die antisemitische polnische Heimatarmee antreten lassen. Der Boden aus dem Gaulands Äußerungen sprießen ist ebenso fruchtbar wie der, auf die ihre Früchte nach seinem Willen fallen sollen.
Die Bundesrepublik tat sich nie leicht mit ihrer Vergangenheitsbewältigung. Die DDR hat es nicht einmal versucht und wusch stattdessen das neue Regime zusammen mit seiner eingesperrten Bevölkerung rein, indem es sich als antifaschistischer Frontstaat inszenierte, eine Haltung, die bis heute giftige Ernte im Osten der Republik einfährt. Seit 1990 ist die Vergangenheitsbewältigung ein gesamtdeutsches Projekt geworden. Es ist die sprichwörtliche „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (Nolte)[7], und sie ist es nicht, weil sie nicht vergehen kann, sondern weil sie es nicht darf.
Das ist kein natürlicher Prozess. Er erfordert die tägliche aktive Arbeit in der mittlerweile vierten Generation, gegen all jene, die nur allzu gerne wieder einem übersteigerten Nationalismus das Wort reden wollen und darauf hoffen, ihre schmuddeligen Ideen endlich aus dem Schatten ziehen zu können, den die blutrünstige Diktatur zu Recht auf sie wirft. Schon aus biologischen Gründen müssen wir uns heute nicht mehr mit Altnazis in deutschen Ministerien herumschlagen. Stattdessen haben wir eine neue, sich rapide radikalisierende Rechte in den Parlamenten. Wir haben in unserer Wachsamkeit nachgelassen und uns in falscher Sicherheit gewogen.
Umso bedeutender ist die Rolle, die dem Geschichtsunterricht zukommt. In der sicheren Erkenntnis, dass sich die Gaulands durchsetzen und die ungeliebte Vergangenheit in den Raum des Fliegenschisses verbannen würden, wenn man es ihnen ermöglichte, räumen die Bildungspläne der Republik den 12 Jahren einen auf den ersten Blick überproportionalen Platz ein. Bis zum Abitur erlebt jede*r Schüler*in die Geschichte der NS-Diktatur mindestens zweimal – einmal in der Mittel-, einmal in der Oberstufe – und die Wahrscheinlichkeit, in Religion, Ethik, Philosophie und Literatur daran vorbeizukommen, ist eher gering (von der Saturierung öffentlicher Debatten und TV-Formate stark schwankender Qualität einmal ganz zu schweigen).
Der Untergang der Weimarer Republik, die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, die „Gleichschaltung“, eine Außenpolitik der Provokationen, Revisionen und Lügen, die Diskriminierung der Juden und anschließende Shoah und der Vernichtungskrieg werden in großer Breite unterrichtlich aufgearbeitet. An Themenvielfalt besteht also kein Mangel.
Man darf sich also durchaus fragen, was aus dieser umfangreichen Aussetzung am Ende übrigbleibt. Das bezieht sich nicht nur so sehr auf die reinen Inhalte. Diese sind vor allem für atemlose click-bait-Überschriften à la „Vier von zehn Schüler*innen wissen nicht, wofür Auschwitz steht“[8] relevant, die zwar schockierend wirken, aber praktisch nichts über den Stand der Erinnerung an die Shoah aussagen. Alexander Gauland weiß sehr gut, wofür Auschwitz steht; in dem Fall wären wir wohl froh, er wäre einfach komplett im Tal der Ahnungslosen und würde die rechte Klappe halten.
Wichtiger als das Bestehen irgendwelcher Trivial-Pursuit-Tests ist, ob die Bedeutung des Ereignisses erkannt und beurteilt wurde. Es kann nicht reichen, quasi mit dem Zaunpfahl einige Daten und Fakten zur Shoah einzuprügeln und darauf zu hoffen, dass sich das rechte demokratische Bewusstsein dann schon einstellen möge. Es braucht eine multiperspektivische, kritische Betrachtung des Ereignisses. Die Frage des „Wie konnte das nur geschehen?“ erfordert eine komplexe Antwort statt eines betroffenen Kopfschüttelns und der beruhigenden, aber irreführenden Vorstellung, dass es sich nicht wiederholen könnte.
Glücklicherweise sind die Vorgaben der Bildungspläne und die Gestaltung der Lehrwerke hier vorbildlich. Eine gute Quellenauswahl, Hinführung an die giftige Geschichte des Antisemitismus‘ in Deutschland, die Durchführung durch eine distanziert-kalte Bürokratie – die Bausteine sind da. Auch die leidige Frage, ob die Deutschen von der Shoah wussten oder doch zumindest gewusst haben konnten (ja und ja) wird häufig zumindest gestreift.
Das gilt auch für die anderen Themen. Der Untergang der Weimarer Republik hängt in jeder Plenardebatte als ständig mahnendes Beispiel über den Köpfen der Parlamentarier*innen; die Lehren aus diesem Vorgang werden beständig öffentlich rezipiert. Hier zeigen sich bereits deutlich die Grenzen des Geschichtsunterrichts: während dort zahlreiche Erklärungsansätze nebeneinandergestellt und einer abwägenden Gewichtung unterzogen werden, wird das Thema im öffentlichen Diskurs allzu gerne vereinnahmt, um zu belegen, dass die eigene Meinung schon immer richtig war.
Auch die Herrschaftsmechanismen des Nationalsozialismus und seine Außenwirkung werden in der Schule ausführlich und differenziert behandelt und bieten wertvolle Referenzpunkte für heutige Krisen und Konflikte. Auch hier ist man zwar immer wieder überrascht, wie wenig bei den Erwachsenen mit einiger Entfernung zur Schule noch übrig ist, die Qualität der schulischen Vorgaben zum Trotz. Gleichzeitig aber ist vermutlich nicht viel mehr zu erwarten, und wenn man es mit den weißgewaschenen Nationalgeschichten anderer Staaten vergleicht – Russland ist ja nur ein Extrembeispiel, und die aktuellen, nur noch als Geschichtsklitterung zu beschreibenden Vorstöße der Republicans in den USA zur Leugnung der Geschichte der Sklaverei geben ebenfalls Anlass zu tiefster Sorge – ist Deutschland eine Insel der Seligen, in der die Bildungspläne immer noch recht gut von kulturkämpferischer Tagespolitik abgeschottet sind.
Natürlich sind alle Vorgaben durch Lehrwerke und Bildungspläne immer nur so gut wie die Lehrkräfte, die sie umsetzen. Der AfD-Hetzer Bernd Höcke war vor seiner bedauerlichen parlamentarischen Karriere ja auch Geschichtslehrer. Das zeigt aber nur einmal mehr, dass es auf jeden Einzelnen kommt – ob im Umgang mit der NS-Vergangenheit, ob im Klassenzimmer sitzend oder hinter dem Pult lehrend. Es ist eine dauerhafte Verantwortung, der wir uns stellen müssen, jeden Tag aufs Neue. Diese Geschichte darf nicht vergessen werden, sie kann nie abgeschlossen sein. Wir können nicht zulassen, dass hier Schlussstriche gezogen werden, die doch von denjenigen, die sie fordern, nur als Anfangsparagrafen begriffen werden.
[1] https://www.deutschlandfunk.de/zweiter-weltkrieg-in-der-ukraine-ein-riesiger-blinder-fleck-100.html
[2] https://www.welt.de/kultur/article155985562/Er-sagte-zuerst-was-die-AfD-jetzt-denkt.html
[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article176912600/AfD-Chef-Gauland-bezeichnet-NS-Zeit-als-Vogelschiss-in-der-Geschichte.html
[4] https://www.goethe.de/ins/il/de/kul/mag/20884933.html
[5] https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/geschichte/artikel/alliierte-politik-zur-entnazifizierung-der-deutschen
[6] https://www.youtube.com/watch?v=9KJsevJjABg
[7] https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0080_nol_de.pdf
[8] https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/auschwitz-vier-von-zehn-schuelern-wissen-nicht-wofuer-es-steht-a-1170423.html
Vielen Dank für Deinen Artikel – Deine zentrale Aussage würde ich sofort unterschreiben:
Diese Geschichte darf nicht vergessen werden, sie kann nie abgeschlossen sein. Wir können nicht zulassen, dass hier Schlussstriche gezogen werden, die doch von denjenigen, die sie fordern, nur als Anfangsparagrafen begriffen werden.
Wenn ich an meinen eigenen Geschichtsunterricht zurückdenke (ist zugegeben auch über 20 Jahre her) kann ich mich erinnern, dass die Geschichte des Holocaust eher eine Aneinanderreihung von Fakten war – Eskalation der Verbrechensspirale, Anzahl der Opfer, wichtige Tatorte. Was mir fehlte und ich in den letzten 20 Jahren in Eigenregie durch den Konsum von Literatur, Dokumentationen und den Besuch von Erinnerungsstätten aufgeholt habe ist die systemische Betrachtung auf den Holocaust.
Mich hat es immer umgetrieben, warum ein solches Verbrechen passieren konnte, warum so viele wissentlich mitgemacht haben und wie es zu einer derartigen Entgrenzung der Gewalt kommen konnte. Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit sich eine Gesellschaft in eine solche Richtung entwickeln kann, etc.
Aus deinen Ausführungen leite ich ab, dass heute ganzheitlicher auf das Thema in der Schule geblickt wird, was ich sehr begrüße.
Ich glaube der Nährboden, warum dieses Schlusstrichdenken immer noch nicht kaputt zu bekommen ist, ist der Umstand, dass man als Deutscher im Ausland von Unbedarften auf diese Geschichte reduziert wird. Gleichsam reagiert die tschechische und polnische Öffentlichkeit sehr gereizt, wenn man die Verbrechen thematisiert, die im Zuge der Westverschiebung Polens und der Vertreibung der deutschen Minderheiten an Deutschen begangenen wurden. Es geht mir hier nicht um die Aufrechnung oder Rechtfertigung von Unrecht. Zum geschichtlichen Gedenken gehört aber ein in meinen Augen gemeinsames Gedanken in allen Facetten. Und somit sollte und muss auch die Thematisierung deutschen Leids infolge von Flucht und Vertreibung einen Platz in der kollektiven Erinnerungskultur haben. Da helfen weder Entschädigungsdebatten von deutscher Seite nach irgendwelchen Gütern im ehemaligen Ostpreußen, Pommern oder Schlesien, wie auch polnische Reparationsforderungen nicht geneigt sind, einem guten Gedenken förderlich zu sein.
Ja, ich denke, die Betrachtung der Shoa in der Schule hat sich wesentlich verbessert.
Ich glaube, Deutschland wird nur noch selten auf diese Geschichte reduziert, das scheint mir eher Nabelschau zu sein. Polen ist da eher eine Ausnahme (Tschechien war mir bisher nicht bekannt, was ist da los?).
Tschechien hat bislang noch nicht die kritische Seite der Beneš Dekrete behandelt. Deutsche Kritik zum Umgang führt zu erheblichen Verstimmungen.
https://m.dw.com/de/streit-um-benes-dekrete-geht-weiter/a-485465
Da fehlt mir die Sachkenntnis, muss ich zugeben. Mir sind die Benes-Dekrete bisher nicht geläufig.
Grundlage für die pauschale Enteignung und Vertreibung aller Deutschstämmigen auf dem Staatsgebiet der Tschechoslowakei post WW 2. Ethnische Säuberung nach heutigem Verständnis – ein Verbrechen gegen die Menschheit.
Ah, danke. Unterscheidet sich das qualitativ vom Vorgehen in Polen oder gibt es hier nur ein Dekret, wo es in Polen „wilde Vertreibungen“ waren?
Das ist ein Streitpunkt – rein formaljuristisch hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (letztmalig in einem Urteil aus 2005) keinen Völkermord feststellen können. Unbestritten ist, dass die Dekrete Basis waren für die unterschiedslose Vertreibung der deutschen Minderheit in Tschechien / Slowakei und das es im Zuge dieser Vertreibungen zu Gewaltausbrüchen gegenüber den Deutschen gekommen ist, die stellenweise von staatlichen Stellen befördert wurden.
1997 unterzeichneten Deutschland und Tschechien eine gemeinsame Erklärung, die das gegenseitige Bedauern über die jeweils von der anderen Seite begangenen Verbrechen ausdrückt – erklärten hier aber auch die Absicht, dass Fass nicht mehr aufzumachen. So blieben Verbrechen ungesühnt und Eigentumsansprüche abgegolten.
In Summe ist das Thema deutlich kleiner als der deutsch-polnische Gegensatz in der Frage, für die unmittelbar Betroffenen aber nach wie vor ein sehr emotionales Thema.
Ethnische Säuberung ist kein Genozid, trotzdem ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich will das Fass übrigens trotzdem auf keinen Fall neu aufmachen – als Tscheche 1946 hätte ich auch nicht anders gehandelt.
Was also genau ist das Argument? Dass sie aufarbeiten müssten? Dass sie das nicht müssten?
Was sollen sie – jetzt noch – aufarbeiten, bitte? Juristisch, geographisch, politisch und menschlich (Wegsterben der Beteiligten) ist die Sache abgeschlossen. Aufgabe für Fachhistoriker, ferdisch.
Stimme ich dir zu 100% zu.
Danke. Nicht sehr konsistent, aber sei´s drum :-).
Tschechien war nach dem Krieg brutal für Deutsche, die da ja seit Jahrhunderten lebten. Nur verhielten sich viele Sudeten-Deutschen und die neu aus dem Reich eingwanderten Deutschen nach 1938 eben auch nicht als Friedenstauben.
Man kann das nicht gegeneinander aufwiegen, aber verglichen mit dem, was die Deutschen 1938-1945 gemacht haben, war selbst die tschechische und polnische Reaktion geradezu liebenswürdig.
Das mag was die Anzahl und Systematik der Verbrechen angehen, in der individuellen Grausamkeit und der Auswirkung auf die Leidtragenden, würde ich das Wort liebenswürdig sicherlich nicht verwenden.
Ganz sicher nicht, nein. Aber die Sowjets brachten weder Hungerplan noch Holocaust. Sie brachten Unterdrückung; sie waren letztlich ein völlig generisches Imperium, das seine Peripherie unterwarf. Das war NS-Deutschland dezidiert nicht.
Stefan, hier ging es um ethnische Säuberung?
Sorry, ich glaube ich habe den Faden verloren. Was meinst du?
Dein Beitrag … Aber die Sowjets brachten weder Hungerplan noch Holocaust. … gehört nicht hierher, sondern weiter unten – hier haben wir über ethnische Säuberungen in Polen und Tschechien post WW 2 gesprochen :-).
Ah sorry!
Meine Mutter ist 1944 kurz vor der heranrückenden Roten Armee aus der Nähe von Breslau in das noch von Deutschen gehaltene Tschechien geflohen. Nach Kriegsende sind die zurück zum heimatlichen Bauernhof. Mein Opa, den ich nie kennengelernt habe, schaffte es auch irgendwie aus der „Festung“ Breslau zurück zum Hof. Im Frühling 1946 sind die dann in Güterwaggons in ein westdeutsches Flüchtlingslager. Die erste Kindheitserinnerung meiner Mutter ist der Blick auf eine sich vermutlich im Fahrtwind öffnende und schliessende Tür eines solchen Güterwaggons inklusive des Ratterns des langsam fahrenden Zuges.
In den Städten wurden die Deutschen von den Polen oft sehr schlecht behandelt. In den umliegenden Dörfern war das nicht unbedingt so. Neben den Zuzüglern aus dem sowjetisch besetzten Ostpolen lebten da halt auch einige Polen aus der Zeit des Krieges und davor. Wenn die deutschen Bauern die gut behandelt hatten, gaben die vermutlich auch Schutz.
Es gab da bis in die 00er Jahre einige größere Sippentreffen. Groll gegen die Vertreibung oder die Polen habe ich da nie bemerkt. Common sense war, dass Deutschland viel Unrecht begangen hatte und man das Land nicht zurückfordern konnte. Ein Bruder meines Opas war seit 33 innere Opposition und nach der Besetzung der Tschecheslowakei hatte der seine beiden Brüder + Ehefrauen überzeugt. Die wussten, dass dies alles in einen Krieg münden würde.
Die persönlichen Erfahrungen waren sicher sehr unterschiedlich.
Jepp. Deine Familie scheint da eine sehr gesunde Reaktion gehabt zu haben. Aber die elektoralen Erfolge des BHE etwa sprechen nicht gerade dafür, dass das eine erdrückende Mehrheit war, leider.
Die gingen zumindest in den 50ern zu Schlesier-Treffen. Das war halt ein Ort, an dem man Verwandte und Nachbarn von früher traf. Die besuchten sich sowieso oft. Zumindest aus der Kriegsgeneration alles stabile CDU Wähler, aber auf keinen Fall Hitzköpfe.
Glaub ich. Vielleicht waren die Revisionisten auch nur eine sehr laute Minderheit. Ich kenn mich da ehrlich gesagt zu wenig aus.
Der eigentliche Fokus Deines Artikels liegt auf Deutschland, aber ich war eher an der Einleitung interessiert – also über die Ukraine. Denn das Wissen über die Ukraine (und ich glaube über alle sowjetischen Einzelstaaten bis auf das Baltikum) ist tatsächlich sehr gering. Wir (ich bin 1970 geboren) wussten zwar, dass Russland nicht gleich die Sowjetunion war, aber das war es dann auch schon. Die postsowjetischen Länder waren aber ziemlich unbekannt. Und meine Frage dazu ist: Wie historisch belastbar waren die innersowjetischen Grenzen? Wie wurden die Grenzen bei der Erschaffung der Sowjetunion gezogen, zwischen Russland und Belorussia, Ukraine, Kasachstan, Usbekistan, etc.?
Uff, da bin ich echt kein Experte. Meines Wissens nach ermutigte Lenin die Gründung eigener Sowjetrepubliken in der Erwartung der Weltrevolution, wodurch die Grenzen in einem gewissen Rahmen willkürlich waren.
Auch auf diese Frage ist die Antwort kompliziert: 1917 gründeten sich nach der Februarrevolution aus dem Nordwestlichen Kraj (größte Verwaltungseinheit des Zarenreichs, „Bundesland“) Belarus und aus dem südwestlichen Kraj die Republik Ukraine. Letztere(1) bestand ursprünglich nur aus der heutigen Zentralukraine (Wolhynien, Kiew, Poltawa), beanspruchte aber ein Gebiet, das im wesentlichen die heutige Ukraine umfasst, im Norden und Osten noch drüber hinaus. Beide wurden schon 1917 durch den Druck der Roten Armee zu (nur formal) eigenständigen Sowjetrepubliken. In der Russischen SSR wurde nach der Oktoberrevolution das ‚Volkskommissariat für ethnische Angelegenheiten‘ gegründet, das sich darum kümmerte, dass ethnische Minderheiten in ihren Regionen Teilautonomie bekamen. (2),(3). Die politischen Realitäten des polnisch-sowjetischen Krieges und des sowjetischen Bürgerkriegs sorgten für weitere Grenzverschiebungen zugunsten der ‚kleinen‘ Sowjetrepubliken. So wurde das Gebiet der südöstlichen Ukraine 1920 dieser zugeschlagen, weil dort die Machnowschtschina (4) sehr stark war. 1922 wurde die UdSSR gegründet, danach gab es zwischen der Ukraine und Russland nur noch kleinere Verschiebungen, außer dass der östliche Teil des Donbass an Russland gegeben wurde. Die Westukraine wurde 1939/1940/1945 von Polen(5)/Rumänien/Ungarn hinzugefügt. Und die Geschichte der Krim ist ja seit 2014 leidlich diskutiert.
1) ich beziehe mich jetzt auf hauptsächlich darauf, weil da wenigstens die Geographie halbwegs geläufig ist
2) Auch wenn das Sowjetsystem insgesamt zweifelsohne menschenverachtend war, muss man sich vergegenwärtigen, was das für ein Fortschritt gegenüber den imperialen Willkürgrenzen der Zeit war.
3) Diese Behörde war übrigens das erste ‚Staatsamt‘ von Josef Stalin
4) Nestor Machno war ein ukrainisch-nationalistischer Anarchist, der zwar gegen die Weißen Truppen war, aber der Roten Armee zu viel Eigenständigkeit forderte.
5) Es gab auch 1918 eine kurzlebige Westukrainische SSR auf polnischem Gebiet
Wer’s gern auf Karten anschauen mag:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1917-1928_Soviet_Ukraine_borders_formation_(EN).svg
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ukraine-growth.png
Wenn es um tatsächliche internationale Aufarbeitung des Nazismus geht, Neonazis zu verurteilen, duckt sich Deutschland tatsächlich aus Feigheit vor dem Freund (beachte welche beiden Staaten als einzige dagegen gestimmt haben !) weg.
https://digitallibrary.un.org/record/3894841?ln=en
Passend dazu auch eine aktuelle Abstimmung des UN-Menschenrechtsrats zur allgemeinen Verurteilung des Rassismus:
https://media.un.org/en/asset/k1u/k1umbr5x6x
Gegen die Resolution waren die beteiligten NATO-Staaten sowie die Ukraine.
Aber Geschichte wird gerne von interessierter Seite instrumentalisiert. Gerade das dritte Reich bietet sich mit dem dreifachen Verbrechen der politischen Unterdrückung, des Massenmords an Juden und anderen Minderheiten sowie des europaweiten Angriffskriegs dafür an. Und momentan geht es um nichts anderes als Instrumentalisierung. Würdest du sonst einen Rechtsnationalisten zitieren, den du in bei einem anderen Land nicht mal mit der Kneifzange anfasst als Kronzeuge zitieren.
Die Wahrheit ist doch ganz einfach: Der deutsche Krieg war ein Vernichtungskrieg, der auch rassistisch unterfüttert war. Er fand am furchtbarsten in der Ukraine und Belarus statt (auch da könntest du den Moment innehalten und fragen, warum du dieses Land nicht erwähnt hast). Und den Soldaten war es komplett egal, ob der ‚slawische Untermensch‘ (sorry für den Nazijargon) gegenüber aus Kasachstan oder Georgien war, sich als Ukrainer, Russe oder ‚Russländer‘ gefühlt hat. Auch Stalin war es im übrigen egal, wen er da in seinem Aufreibungskrieg verheizt hat.
Zurück in die Gegenwart. Auch die transatlantische Kritik an der deutschen Vergangenheitsbewältigung ist in diesem Kontext zu lesen. Du hattest im letzten Vermischten (6) einen ICDS-Lobbyisten, der die Lehre „Nie wieder Krieg“ kritisiert hat. Nichts beweist schließlich moralische Überlegenheit so sehr, wie wenn man mit Feuer und Schwert gegen das Böse zieht.
„tatsächliche internationale Aufarbeitung des Nazismus“
Und das soll ein Gremium leisten, in dem Staaten den Vorsitz hatten oder haben, deren schwere Menschenrechtsverletzungen notorisch sind? Konsterniert.
Angesichts des track record der UNO-Vollversammlung bezüglich Israel würde ich da keine große Hoffnungen haben.
Siehe meine Antwort an Thorsten Haupts weiter unten…
… duckt sich Deutschland tatsächlich aus Feigheit vor dem Freund (beachte welche beiden Staaten als einzige dagegen gestimmt haben !) …
Au contraire. Derartige UN-Resolutionen (man beachte, wer dafür gestimmt hat) dienen einzig und ausschliesslich dem Zweck, westliche Staaten und dabei vorrangig die USA unter Druck zu setzen. Und dazu, dass die ganzen in der UN versammelten Bananenrepubliken, Mafiastaaten und totalitären Gangster bei eigenen Missetaten auf die USA zeigen können: Die doch auch, siehe UN Resolution „Ärgert mal die USA No. 1250“.
Sie haben damit in etwa denselben Wert und dienen demselben Zweck wie die mit der Regelmässigkeit einer Uhr auf jährliche Wiedervorlage genommenen antiisraelischen Resolutionen. Ginge es nach deren Zahl, wäre Israel der mit grossem Abstand gefährlichste Staat der Erde – und genau diesen Eindruck will man ja bezwecken.
Wäre Deutschland seinen verkündeten Werten gegenüber konsequent, hätte es mit „Nein“ stimmen müssen. Hat es aus Rücksichtnahme auf seine weltweiten Wirtschaftsinteressen natürlich nicht …
Gruss,
Thorsten Haupts
Der ‚Druck‘, von dem Sie sprechen, besteht in diesem Fall darin, keine verdammten Neonazi-Symbole zu verwenden. Und darum geht es, dass es kein gutes Bild abgibt, wenn die ‚Verteidiger der Demokratie‘ mit SS-Aufnähern rumlaufen. (Damit sind sie natürlich nicht allein, auch Prigoschin, der CHef der Wagner Kompanie hat SS-Tätowierungen. Irgendwie sind Nazis bei jeglicher Soldateska beliebt.)
(Für dieses Problem gäbe es übrigens eine Lösung mit Masalas „woker Armee“. Man muss nur „Neonazi“ als eigenes Geschlecht definieren, dann wäre es Pfuiba, diese auszugrenzen.)
Und da bei dieser konkreten Abstimmung fast die gesamte Welt außer Europa, USA, Kanada und Australien mit Ja gestimmt hat (auch Israel im übrigen). ist Ihre Einlassung über ‚Bananenrepubliken,…‘ in Wirklichkeit nur Dogwhistle für „Von Nichtweißen lasse ich mir doch nicht vorschreiben, wie ich Rassismus handhabe.“ oder noch realistischer „Scheiß auf Weltgemeinschaft, wir sind das stärkste Kriegsbündnis und zwingen anderen unseren Willen auf“.
Boah sind Sie aber leichtgläubig. Aus der Resolution:
„14. Expresses deep concern about increased frequency of attempts and
activities intended to desecrate or demolish monuments erected in remembrance of those who fought against Nazism during the Second World War, as well as to unlawfully exhume or remove the remains of such persons, and in this regard urges States to fully comply with their relevant obligations, inter alia, under article 34 of
Additional Protocol I to the Geneva Conventions of 1949; 13“
Zielrichtung nicht klar? Dann denken wir mal gemeinsam an die sowjetisch-stalinistischen Siegesdenkmäler in Osteuropa …
Gruss,
Thorsten Haupts
Sie sprechen einen Punkt an, der von verschiedenen Seiten zeigt, was ich mit Instrumentalisierung meine:
a) Die Denkmäler waren sowohl während des kalten Kriegs (ich erinnere hier nur an das sowjetische Ehrenmal im Westberliner Tiergarten) als auch danach nicht als problematisch gesehen. In den 90ern wurden Abkommen zu deren Schutz zwischen GUS/Russland und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten geschlossen.
b) ‚deep concern‘ ist eine wohlfeile Formulierung. Der völkerrechtlich relevante Teil ist im zweiten Satz, der auch mit dem Genfer Abkommen unterfüttert wird: Der Schutz von Soldatenfriedhöfen auch des Feindes.
c) Natürlich hat die Sowjetunion diese Friedhöfe mit ihrer Propaganda ausgestaltet. Man denke an den ‚Bronzeengel-Rotarmisten‘ auf der Treptower Heide.
d) [Meine persönliche Meinung dazu: Hier ist das Pietätsgebot stichhaltiger als das Ärgernis Propaganda. Milde Analogie: Ich erinnere mich an eine Don-Camillo-Episode, wo dieser den Dorfkommunisten eine Messe für den Italienischen König aufgedrückt hat, mit der Fahne der Monarchie und allem drum und dran.]
e) Die Entfernung der Denkmäler hat den Charakter einer Damnatio Memoriae. Das haben wir bei der Denkmalstürmer-Debatte im Westen hinreichend geklärt. Diese ist bei Lenin oder gar Stalin verständlich, bei Puschkin eher dämlich.
f) Im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg resultiert es in einem verzerrten Geschichtsbild, wenn die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ‚herauseditiert‘ wird. Denken Sie an falsche Formulierungen ‚die Befreiung von Auschwitz durch die Amerikaner‘, die hin und wieder auch in guten Zeitungen bei Artikeln zum Thema vorkommen.
g) Ein interessanter Nebenaspekt: Auch in diese Richtung wird die Sowjetunion entgegen der historischen Wirklichkeit einfach mit Russland gleichgesetzt.
In der Summe hat also selbst dieser Absatz eine stärker Anti-Propaganda Stoßrichtung, da es ebenso naiv wäre zu glauben, dass der aktuelle Denkmalsturm nicht gezielt propagandistischen Zwecken dient.
Im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg resultiert es in einem verzerrten Geschichtsbild, wenn die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ‚herauseditiert‘ wird …
Wenn das geschieht, dann ja. Wenn die Sowjetunion allerdings – wie ebenso allzu häufig geschehen – als „Befreier“ vom Nationalsozialismus gefeiert wird, dann eher nicht. Der Feind meines Feindes ist mitnichten mein Freund – und die historische Wahrheit ist schlicht, dass der Sieg der Alliierten für Osteuropa einen totalitären Unterdrücker durch einen anderen abgelöst hat. Schön für die Opfer, die nicht mehr prioritär auf einer Vernichtungsliste standen, schlecht für die, die dadurch erstmalig auf einer solchen landeten.
Gruss,
Thorsten Haupts
Insgesamt allerdings war die Rote Armee ein deutliches Plus. Vorsicht, den Eindruck einer Gleichsetzung zu erregen.
Gegenüber den Nazis? Disakutabel, unter dem Strich wahrscheinlich. Aber das ist ein unübertreffbar niedriger Standard und rechtfertigt nicht die Aufforderung der UN, Denkmäler des neuen Besatzers wegen „hat gegen die Nazis gekämpft“ stehenzulassen.
Gruss,
Thorsten Haupts
In Osteuropa wie gesagt eh nicht, weg mit dem Scheiß. Ich sehe eine Ausnahme für Deutschland.
Soldatenfriedhöfe und Sieger-Denkmäler sind unterschiedlich zu sehen. Siegessäulen und Triumphbögen sind schon im eigenen Land sehr grenzwertig.
Ich finde, die sowjetischen Denkmäler in Deutschland stehen in einem völlig anderen Kontext als die in Osteuropa.
@CitizenK, Stefan Sasse, ThorstenHaupts
Gewissensfrage: Nachdem ihr den Mitgliedern der UNO-Vollversammlung so misstraut, sollte die gestrige Verurteilung des russischen Versuchs, die Besetzung von Teilen der Ukraine zu ‚legitimieren‘ durch eben dieses Gremium wertlos sein – ebenso wie dessen Verurteilung des russischen Angriffskriegs im Frühling diesen Jahres oder die jährliche Verurteilung der Krim-Besetzung seit 2014. Oder sind die Stimmen der restlichen Welt nur dann relevant, wenn sie den westlichen Vorstellungen nutzen?
… sollte die gestrige Verurteilung des russischen Versuchs, die Besetzung von Teilen der Ukraine zu ‚legitimieren‘ durch eben dieses Gremium wertlos sein – ebenso wie dessen Verurteilung des russischen Angriffskriegs im Frühling diesen Jahres oder die jährliche Verurteilung der Krim-Besetzung seit 2014.
Absolut korrekt. Klopapier, bedrucktes.
@cimourdin
Symbolische Bedeutung, mehr nicht. Weder Putin selbst noch Indien oder China werden deshalb ihre Haltung ändern.
Gewissensfrage: Ein „Menschenrechts“-Rat unter dem Vorsitz von Saudi Arabien (!) – was sind dessen Resolutionen wert?
Ich würde mir sehr wünschen, Deine Hoffnungen wären kein Wunschdenken.
@cimourdin
Nachtrag: Bitte nicht falsch verstehen: Symbole haben ihre Bedeutung. Man stelle sich nur vor, die Abstimmung hätte das entgegengesetzte Ergebnis gebracht.
Übrigens sehe ich auch die Bedeutung von Symbolen in der Kolonialismus-Debatte anders als Thorsten Haupts. Die Rückgabe von Kulturgütern, die für eine Identifikation dort wichtig ist, halte ich für sehr angebracht. Ob die Nofretete besser in Kairo wäre als in Berlin, ist trotzdem eine offene Frage.
Du produzierst einne Schwarz-Weiß-Trugschluss. Es muss nicht entweder-oder sein. Die Vollversammlung kann sowohl schlechte Entscheidungen bezüglich Israel als auch gute bezüglich Russland treffen.