Obwohl der Holocaust wohl eines der best-rezipierten Themen der deutschen Geschichte ist, gibt es in der Forschung immer noch zahlreiche Leerstellen und Unklarheiten. Dazu kommt, dass die Interpretation des Holocaust großen Änderungen unterworfen ist, die von der Öffentlichkeit nicht immer nachvollzogen werden – zumindest nicht auch nur annähernd in der Geschwindigkeit, in der die Forschung voranschreitet. Obwohl etwa die Bedeutung des Teils des Holocaust, der sich außerhalb der Vernichtungslager durch Erschießungen und andere direkte Gewalt vollzog – immerhin etwa die Hälfte der Morde – in der Forschung seit den 1990er Jahren stark in den Fokus gerückt ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch die Rampe von Birkenau und mit ihr die Vorstellung eines industriellen, organisierten, effizienten Massenmords vorherrschend. Dazu gehört auch eine kuriose Entfernung von den eigentlichen Taten: die deutsche Rezeption legte in der Forschung und legt noch immer in der Öffentlichkeit großes Gewicht auf die „Schreibtischtäter“ und die Bürokratie des Terrors, die das spezifisch Deutsche des Holocaust gut zu unterstreichen scheinen – einerseits seine Singularität in der Industralität, andererseits die Effizienz, die mit dem deutschen Selbstbild auf geradezu perverse Art zusammenpasst. Tatsächlich legten die Nazis Wert darauf, die Drecksarbeit nach Möglichkeit andere für sich machen zu lassen. Auf dieses „Fußvolk der Endlösung“ legt Thomas Sandkühler im vorliegenden gleichnamigen Band seine Aufmerksamkeit.
Es handelt sich bei dem Buch um eine wissenschaftliche Studie, die nicht unbedingt für die Bestsellerlisten gedacht ist. Die Struktur ist super ordentlich und filigran durchnummeriert, die Sprache wissenschaftlich-trocken, der Fußnotenapparat ausufernd, das Thema stark eingegrenzt. Nichts davon ist eine Aussage zur Qualität, sondern nur zur Zielgruppe. Sandkühler untersucht in seinem Buch zwei Organisationen „fremdvölkischer“ Hilfskräfte (Trawniki-Männer und ukrainische Hilfspolizei) in einem vergleichsweise kleinen Gebiet (Lublin und Lemberg sowie das Vernichtungslager Belzec), wo ungefähr eine halbe Million Menschen ermordet wurden.
Die ukrainische Hilfspolizei wurde von den Deutschen aus dem (deutlich größeren) Pool der faschistischen Milizen rekrutiert, die sich nach Barbarossa bildeten, um für einen (faschistischen) ukrainischen Staat zu kämpfen. Die Deutschen standen diesem Nationalismus sehr feindselig gegenüber und unterdrückten ihn quasi von Anfang an, rekrutierten aber verlässlich scheinende Milizmänner für die (bewusst zu klein angesetzt) ukrainische Hilfspolizei. Vorrangig griff man auf Leute mit Erfahrung als Polizisten aus der Westukraine zurück. Diese sollte den Deutschen bei der Verwaltung des Judenmords in den besetzten Regionen zur Hand gehen. In Polen hatte 1939 eine ähnliche Rekrutierung mit dem so genannten „volksdeutschen Selbstschutz“, einer Miliz der deutschsprachigen Minderheit, stattgefunden. Die regulären deutschen Stellen waren mit dem resultierenden Chaos, der Gewalt und der Korruption auch da schon nicht warm geworden, aber für die SS-Vernichtungsmaschinerie machte sie genau den Charme aus.
Die Trawniki-Männer wurden nach dem Ausbildungslager für Wachsoldaten in Trawniki benannt und rekrutierten sich aus gefangenen Rotarmisten, für die dieser Dienst die einzige Rettung vor dem sicheren Tod in deutscher Kriegsgefangenschaft war (die Nazis ermordeten mehrere Millionen gefangener Rotarmisten, vor allem 1941/42). Rekrutiert wurden bevorzugt Sowjetdeutsche (geläufig „Russlanddeutsche“ genannt), aber auch als geeignet angesehene Soldaten aus Russland, Weißrussland, den baltischen Staaten und vor allem der Ukraine. Gesiebt wurde vor allem nach Ideologie: einerseits keine Mitgliedschaft in der KPdSU (also keine Politoffiziere oder NKWD-Personal) und andererseits möglichst großer Antisemitismus. Beides musste man damals nicht allzulange suchen.
Die Deutschen bezeichneten alle Trawniki-Männer gerne als „Ukrainer“. Genauso wie bei den „Russlanddeutschen“ ist in diesen abwertenden Begriffen und ihrer tiefen Verankerung im deutschen Sprachgebrauch ein Gutteil der Irrtümer über die Geschichte dieser Epoche zu finden, die gerade auch im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fröhliche Urständ feiern, indem einerseits die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt wird (wohl kein Zufall, dass in Deutschland lange „England“ für Großbritannien und „Amerika“ für die USA gängig war).
Die Rekruten – ob für ukrainische Hilfspolizei oder Trawniki – waren grundsätzlich eine Unterschicht in der deutschen Hierarchie. Ihre Ausbildung war extrem hart, und für jedes noch so geringe Disziplinarvergehen gab es drakonische Strafen – meist Prügelstrafen, die von allen deutschen Vorgesetzten praktisch anlasslos vollzogen werden konnten. Der Lohn, der den Männern ausbezahlt wurde, was extrem niedrig (Faktor 10 unter den niedrigsten deutschen Löhnen), weswegen Plünderung und Diebstahl jüdischen Eigentums an der Tagesordnung war. Das wiederum bestätigte die vorher gehegten deutschen Vorurteile „krimineller“ Slawen. Nicht, dass die Deutschen irgendetwas hätten von den Trawniki lernen können; wie wir noch sehen werden, machte der SS bei Korruption niemand etwas vor.
Organisatorisch wurden die „fremdvölkischen“ Hilfstruppen in die deutschen Strukturen eingebunden, mitsamt Uniformordnung, Abzeichen, Dienstverordnungen und Auszeichnungen. Die Trawniki etwa gehörten formal zur Waffen-SS. Sehr gut sichtbar ist ein typisches Merkmal des NS-Staats, die Doppelung von Strukturen. Im Fall der Trawniki ist es sogar eine Verdreifachung: die Befehle kamen über drei verschiedene, voneinander unabhängige, aber überlappende und verwobene Befehlsketten bei den Männern an. Das war „on the ground“ natürlich kaum nachzuvollziehen und förderte weiter das Chaos und die Unklarheit der Strukturen und damit eine Enthemmung der Gewalt.
Der Beginn des Massenmords liegt in der „Aktion T4“, der Ermordung Geisteskranker in Deutschland. Die Aktion rief massive Proteste im Inland hervor, beschäftigte die Polizei und Justiz, musste mehrfach abgebrochen und verlegt werden. Es war auch der einzige Massenmord, der auf einem schriftlichen Führerbefehl basierte. Aus T4 zogen die Nazis verschiedene Schlussfolgerungen: Hitler selbst erteilte nie wieder einen Mordbefehl schriftlich (was Rechtsextreme bis heute als Anlass nutzen zu behaupten, er habe von der „Endlösung“ nicht gewusst, was völlig absurd ist), die Morde mussten außerhalb des deutschen Reichs geschehen, geheim gehalten und die Täter sollten nach Möglichkeit keine Deutschen sein. Gleichzeitig wurde das T4-Personal benutzt, um den folgenden Massenmord an den Juden zu planen.
Man darf sich diese Organisation keinesfalls als in irgendeiner Weise effizientes, durchbürokratisiertes Verfahren vorstellen. Stattdessen herrschte (absichtlich) völliges Chaos, das dem Personal vor Ort gewaltige Handlungsspielräume öffnete. In den Ghettos wurde ein exzessives Ausweiswesen betrieben, das theoretisch für die Wirtschaft relevante Häftlinge von den anderen trennen sollte, in der Praxis aber vor allem genutzt wurde, um Verhaftungsgründe zu schaffen. Die Hilfspolizei hatte hohe Verhaftungsquoten, die sie erfüllen musste – also aus dem Ghetto heraus in die beginnenden Lager -, so dass die Polizisten verhafteten, was sie in die Finger bekommen konnten, auch Facharbeiter. Das führte zu Beschwerden der Wehrmacht, die kein Problem mit dem Judenmord, wohl aber mit Störungen ihrer Lieferketten hatte.
Die Räumung der Ghettos was ebenfalls eine hoch chaotische und gewalttätige Angelegenheit. Mittlerweile war die ukrainische Hilfspolizei mit Waffen und Munition ausgestattet worden. Theoretisch unterlag sie den polizeilichen Regelungen für den Schusswaffeneinsatz, praktisch zeigen die Reporte, dass genau das Gegenteil vonstatten ging. Dieses ständige Operieren in einer Scheinlegalität ist typisch für den ganzen NS-Staat.
Bei der Räumung der Ghettos kam es zu massenhaft Bestechungen und Plünderungen. Die Nazis hatten Regeln dafür erlassen: Bestechungen und Plündergut waren zu melden und abzugeben. Die SS finanzierte aus dieser Beute den Völkermord, der aufkommensneutral zu sein hatte. Quasi die schwarze Null des Holocaust. Obwohl große Beuteteile abgegeben wurden, steckten natürlich sowohl die ukrainischen Hilfspolizisten als auch, vor allem, die SS-Institutionen massenhaft Beute in die eigene Tasche, je weiter oben in der Hierarchie, desto mehr. Globocnik, der regionale Zuständige, ist ein besonders auffälliges Exemplar für Korruption, so sehr, dass sich Hitler gezwungen sah, ihn zu versetzen (was praktisch nie vorkam). Die Deutschen waren daher die Hauptplünderer, obgleich sie das natürlich in rassistischem Dünkel genau den „Ukrainern“ vorwarfen.
Auffällig ist auch die Gewalt, mit der bei der Räumung der Ghettos vorgegangen wurde. Menschen wurden von Dächern gestürzt, auf offener Straße erschossen oder erschlagen. Leichen lagen tagelang auf den Straßen herum. Ein besonders traumatisches Beispiel ist die „Räumung“ eines Kinderheims, bei dem die Kleinkinder aus den Fenstern geworfen und von den Soldaten als Ziele für „Tontaubenschießen“ verwendet wurden. Die Vorstellung eines „industriellen“ Massenmords verblasst angesichts solcher apokalyptischer Szenen völlig.
Generell liefert Sandkühler eine sehr detaillierte Rekonstruktion, die hier nur schwer zusammenzufassen ist. Die Räumung des Lemberger Ghettos durch die ukrainische Hilfspolizei führ in jedem Fall zu einer großen Schlussfolgerung: Es handelte sich keinesfalls um eine „ganz normale Organisation“, wie in der Forschung bisher immer wieder zu lesen war, sondern eine verbrecherische, in in SS-Strukturen eingebettete und ohne sie nicht denkbare Mordmaschinerie, die nach ähnlichen Prinzipien funktionierte.
Nach der Räumung der Ghettos landeten die Opfer in den Vernichtungslagern. Hier wendet Sandkühler den Blick auf die Trawniki-Männer in Belsec. Er beginnt seine Einordnung mit ausführlichen soziologische Grundlagen, von der Ethnizität der Täter bis hin zu ihren Namen und Einsatzorten, rotierenden Dienstplänen und so weiter. Auch hier ist es schwer, zu einer einfachen Zusammenfassung zu kommen. Auffällig ist, dass die Fluktuation der Trawniki-Männer außerordentlich hoch war.
Auch im Kapitel über Belzec herrscht die Widerlegung des Mythos‘ von der „lautlosen Tötungsmaschinerie“. Stattdessen sehen wir brutale Gewalt. Spätestens im Sommer 1942 wussten die Juden, was sie am Ende ihrer Reise erwartete. Es war auch kaum möglich, darüber nicht Bescheid zu wissen. Sandkühler weist nach, dass Deutsche und Polen in der Region 1942 klare Kenntnisse über den Massenmord durch Gas hatten. Der Gestank des Lagers muss bestialisch gewesen sein und war kilometerweit zu riechen; im etwa zwei Kilometer entfernten Bahnhof etwa konnte man nur durch Taschentücher atmen, weil der Gestank verbrennenden und verwesenden Menschenfleischs so übel war. Wie müssen da die Zustände im Lager gewesen sein?
Die Juden versuchten, sich dem Gang ins Gas zu verweigern. Das Lager war entsprechend angelegt. Gebrechliche, Kranke oder Kleinkinder wurden direkt neben den Bahngleisen erschossen (wo die Leichen auch tagelang herumlagen, die Juden stiegen im Endeffekt aus den Zügen auf Leichen aus), der Rest durch den „Schlauch“ (ein schmaler, durch doppelten Stacheldraht strukturierter Gang) zur Gaskammer getrieben. Dabei wurden sie ausgepeitscht und geprügelt, damit sie sich bewegten. Man pferchte sie in die Kammern, schloss sie und startete den U-Boot-Motor, der die Kammer mit Monoxid füllte – ein qualvoller, rund 30 Minuten dauernder Erstickungstod, während dem die nächste Gruppe neben der Kammer auf ihre eigene Vergasung warten musste. Die Leichen, verzerrt und voller Fäkalien, wurden von Häftlingskommandos herausgezerrt, auf Loren verladen und in riesigen Massengräbern verscharrt.
Diese Massengräber verseuchten innerhalb kürzester Zeit den Boden, so dass ein halbes Jahr später begonnen wurde, sie wieder auszugraben und zu verbrennen. Jüdische Arbeitskommandos mussten das von Hand tun und die verwesenden Leichtenteile zu den Scheiterhaufen tragen, inklusive der mittlerweile verflüssigten Körperteile. Das Grauen lässt sich in Worte kaum fassen. Die Deutschen hatten durch Trial&Error herausgefunden, wie sie die Toten schichten mussten, damit diese brannten. Die Scheiterhaufen erreichten eine Stichflammenhöhe von zehn Metern, machten einen Höllenlärm (im wahrsten Sinne des Wortes) und brannten für mehrere Monate ohne Unterlass, Tag und Nacht, und waren kilometerweit sichtbar, so dass sogar Feuerwehreinsätze der polnischen Feuerwehr ausgelöst wurden.
Das zeigt, wie schizophren der Gedanke war, irgendeine Art von Geheimhaltungspolitik betreiben zu können, und das ist bevor wir dazu betrachten, dass Globocnik es sinnvoll fand, Gerüchte über den Massenmord zu streuen, um die Bevölkerung in Angst zu halten und leichter kontrollieren zu können. Die Vorstellung jedenfalls, man habe nichts vom Judenmord gewusst, kann langsam endgültig ins Reich der Legenden verwiesen werden. Die Beteiligten redeten darüber, die Anwohner*innen redeten darüber, und die Neuigkeiten kamen in alle Winkel Europas. Relevant war nur die Geschwindigkeit: als verlässliche Informationen über den Massenmord im Ausland eintrafen – gegen Ende 1942 – war der Großteil des Holocaust bereits abgeschlossen; das Lager Belzec etwa war Ende 1942 bereits praktisch aufgelöst.
Die Trawniki waren in dieser Angelegenheit sowohl Opfer als auch Täter. Opfer, weil sie mit dem Trauma und der brutalen Disziplin alleingelassen waren, Täter aus offensichtlichen Gründen. Sie waren praktisch dauerhaft betrunken oder zumindest angetrunken. Die massiven Plünderungen in Belzec wurden meist direkt im Ort in Alkohol umgesetzt (was ihnen verboten war und bei Entdeckung zu brutalen Disziplinarstrafen führte). An den Plünderungen nahm auch die Bevölkerung teil. Als die Deutschen Belzec abrissen, pflanzten sie sogar neue Bäume, um die Spuren zu verwischen. Die Anwohner*innen gruben das Gelände aber ständig nach Beute um, so dass die Deutschen Wachen stationieren mussten; nach ihrem Abzug fanden dann sofort wieder „Grabungen“ statt, die dann ihrerseits von den Sowjets unterbunden werden mussten. Viele Trawniki selbst waren am Ende des Krieges effektiv gestrandet: bei Gefangennahme mussten sie Folter und Hinrichtung durch den NKWD fürchten, aber in Deutschland gab es für sie auch keinen Platz.
Das Buch zeigt eindrücklich auf, dass die Quellenlage über den Holocaust insgesamt immer noch nicht vollständig ist. Zahlreiche Lücken machen das Klären von Detailfragen wie etwa die Motive und Herkunft der Trawniki-Männer sehr schwer. Die Holocaustforschung steckt offensichtlich noch voller Möglichkeiten, Leerstellen und offenen Fragen, und es gibt zahlreiche etablierte Narrative, die so nicht mehr haltbar sind. Das vorliegende Buch bietet ein exzellentes Schlaglicht auf einige dieser Aspekte.
@ Stefan Sasse
Ich weiß, ich bin eher spät. Ist ein bisschen der Tatsache geschuldet, dass es mir schwerfiel, Deinen Beitrag in einem Stück zu lesen (ging mir mit der Spiegel-Serie zu den letzten Tagen in Kabul ähnlich); manches zum Thema „Umgang der Menschen untereinander“ geht mir dann doch an die Nerven.
Immerhin bestätigt es zwei, drei meiner Einstellungen:
• Zivilisation ist nur eine sehr, sehr dünne Beschichtung, die leicht abplatzt.
• Die deutsche Judenverfolgung während des Nazi-Regimes ist nicht sooo einzigartig wie oft dargestellt.
• Vielleicht sollte man sich mehr auf das Verbrecherische als auf die Einzigartigkeit konzentrieren, denn in Russland, China, Kambodscha und anderen Ländern gab es ähnliche Vorgänge, bei denen über die Steuerung von oben ein Teil der Bevölkerung dazu gebracht wurde, einen anderen Teil umzubringen.
Grundsätzlich Danke für den Artikel
Gerne! Und ich verstehe die Erschöpfung bei dem Thema völlig.