Rezension: Matthew Gabrielle/David M. Perry – The Bright Ages: A New History of Medieval Europe

Matthew Gabrielle/David M. Perry – The Bright Ages: A New History of Medieval Europe (Hörbuch)

Im Jahr 476 fiel das Römische Reich. Germanische Stämme plünderten die „Ewige Stadt“, der letzte Kaiser wurde abgesetzt und das Reich zerfiel. Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den „Dunklen Zeiten“ Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten. Aus diesem Morast entwickelten sich harte Krieger, die Ritter, und die Beginne der europäischen Nationen, die sich dann in der Neuzeit formieren würden. Sein Ende fand dieses dunkle Mittelalter mit der Renaissance ab dem 15. Jahrhundert, in dem die antiken Wissensbestände wiederentdeckt und der Buchdruck erfunden wurden und die Wissenschaft den Aberglauben zurückzudrängen begann, während die europäischen Nationalstaaten die Welt unterwarfen und schließlich mit der Industriellen Revolution ins Zeitalter der Moderne eintrafen. So zumindest lautet eine grob zusammengefasste Vulgärversion dessen, was viele über das Mittelalter zu wissen glauben. Das Gerede von den „Dunklen Zeiten“, den „dark ages„, wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig. Matthew Gabrielle und David M. Perry unternehmen in dem vorliegenden Band einen neuen Versuch: sie postulieren, es seien stattdessen „Helle Zeiten“, „bright ages„, gewesen. Ich kann an revisionistischer Geschichtsschreibung nie einfach nur vorbeigehen, und das Klischee des düsteren Mittelalters stört mich schon lange. Also habe ich mir das Buch zu Gemüte geführt.

Dass Rom nicht einfach unterging, und schon gar nicht in einem zu bestimmenden Jahr wie 476, sondern ganz im Gegenteil lange weiter ein Eigenleben führte, ist mittlerweile unter Historiker*innen eigentlich common sense (wen das detailliert interessiert, dem sei dieser Beitrag ans Herz gelegt). 476 wurde Rom nicht zum ersten Mal geplündert, und für die Zeitgenoss*innen hatten die Ereignisse keine hervorgehobene Bedeutung. Diese wurde vom Stammvater des oben erwähnten Narrativs, Edward Gibbons, reichlich unhistorisch erfunden. Stattdessen weisen Gabrielle und Perry auf zwei maßgebliche Faktoren hin.

Das erste sind die erobernden Goten selbst. Anstatt, wie man das erwarten würde, den römischen Staat und die römischen Institutionen zu zerstören und sich zu Königen Italiens (oder wo auch immer sich ihr aktueller Herrschaftsbereich erstreckte) auszurufen, stellten sie sich direkt in die Tradition der Römer, übernahmen teilweise ihre Institutionen und beriefen sich auf deren Legitimation. Das ging soweit, dass sie sich offiziell der Oberherrschaft Konstantinopels (Byzanz) unterstellten.

Überhaupt, Byzanz. Das römische Reich endete wenn überhaupt dann nur im Westen. Die westliche, selbstzentrierte Geschichtsschreibung hat jahrhundertelang den Ostteil des Römischen Reichs ignoriert, der aber ohne jeden Bruch bis 1453 weiter existierte. Tief ins Mittelalter hinein war Konstantinopel „die Römer“, und der lebhafte Austausch mit dem Westen blieb bestehen. Das gilt, wie wir noch sehen werden, selbst für die peripheren Außenposten wie Britannien. Im Verlauf des Buchs betonen die Autoren immer wieder die Bedeutung von Byzanz für die europäisch-arabische Welt.

Die Zeitgenoss*innen sahen sich auch nicht in einem dunklen Zeitalter, im Gegenteil. Die Kirchenbauten der damaligen Zeit – die Autoren kommen immer wieder auf die Galla Placidia in Ravenna zurück – reckten sich in den Himmel und versuchten, das Göttliche hervorzuheben. Künstliche Himmel und Sternenglanz schmückten die Decken. Genauso wie beim (alten) Römischen Reich täuschen auch die schlichten Steinoberflächen vieler Monumente darüber hinweg, dass sie für Zeitgenoss*innen bunt und strahlend waren – dass sich die Bemalung nicht erhalten hat, trübte unsere Wahrnehmung dieser „bright ages“ nachhaltig.

Auch der Aufstieg des Islam und die muslimischen Eroberungen zerstörten die Strukturen des antiken Lebensraums nicht. Zwar hörten die eroberten Bereiche künftig – zumindest für ein knappes Jahrhundert, bevor die muslimische Welt fragmentierte – auf die Befehle Mekkas statt Roms. Aber der Austausch von Waren, Menschen und Ideen ging weiter wie früher auch. Überhaupt heben die beiden Autoren in diesem Abschnitt die Gemeinsamkeiten der arabischen und christlichen Welt hervor, waren sie doch Monotheisten und beteten denselben Gott an. Im 7. und 8. Jahrhundert konvertierten die Muslime die unterworfenen Bevölkerungen auch weitgehend nicht, sondern stratifizierten die Gesellschaften. An der Spitze standen die Muslime, darunter (mit Sondersteuern und weniger Rechten) die anderen Monotheisten, also Christen und Juden, und dann der Rest. Dieses System dürfte jedem Einwohner des vorherigen Römischen Reichs bekannt vorkommen. Erst mit der Zeit konvertierten die Bevölkerungen immer mehr, um die Sondersteuern zu umgehen – und durch Gewöhnung. Als Bedrohung aber empfand „die Christenheit“ den Islam nicht, schon allein, weil „die Christenheit“ nicht exisiterte.

Die Autoren legen viel Gewicht darauf, dass es nicht „das Christentum“ des Mittelalters gab, sondern viele Christentümer (so wie es auch viele Islams gab). So konnte der eine christliche Herrscher problemlos ein Bündnis mit einem islamischen Herrscher haben, wo ein anderer einen heiligen Krieg gegen Ungläubige focht. Die jeweiligen Ungläubigen konnten stets auch andere Christen sein; die Grenzen waren fließend. Koexistenz und Konflikt wechselten ständig ab. Wir werden auf dieses Motiv im Rahmen der Kreuzzüge noch zurückkommen.

Die Autoren nehmen auch die Rolle von Frauen in Politik und Religion in den Blick. Diese, so postulieren sie, war weit stärker ausgeprägt als in den klassischen Narrativen auf das Mittelalter häufig angenommen. Zwar genossen Frauen bei weitem keine Gleichstellung, aber die hatten sie natürlich auch vorher nicht genossen. Tatsächlich waren Frauen im Mittelalter freier, als sie es in Rom gewesen waren und besaßen größere Handungsspielräume (der Komparativ hier ist allerdings sehr wichtig).

Sie konnten hervorgehobene Rollen in der Politik übernehmen, indem sie ihre Heiraten bestimmten und ihre Kinder und Ehegatten berieten; gleichzeitig war solche politische Macht immer bedingt und konnte ihnen jederzeit entzogen werden. In der Religion waren es vor allem die Frauen, die die Christianisierung vorantrieben. Sie überredeten ihre heidnischen Ehegatten zur Konversion, waren Rollenvorbilder für die Gesellschaft und förderten den Kult und die Kirche. Im Rahmen der Literatur des Mittelalters werden wir noch einmal auf Frauen zurückkommen.

Ich möchte aber an dieser Stelle meine erste Kritik an dem Buch loswerden: die Autoren beschränken sich praktisch vollständig auf die Geschichte der politischen und kulturellen Elite. Wenn sie von „Frauen“ sprechen, meinen sie adelige Frauen. Wo Männer vorkommen, sind es Adelige und Kleriker. Die 99% spielen praktisch keine Rolle. Das ist angesichts dessen, dass sie weitgehend eine Kulturgeschichte erzählen, wenig verwunderlich. Aber es ist eine Leerstelle, die arg selbstverständlich als solche belassen wird, so dass die verallgemeinernde Darstellung der „bright ages“ von den Lesenden stets durch die bittere Armut der Subsistenzwirtschaft bäuerlicher Kreise gedanklich ergänzt werden muss.

Die Autoren selbst wenden nun den Blick auf Großbritannien. Sie verwerfen das nationalistische Narrativ einer Insel ohne Kontakte, der rauen Peripherie, aus der sich der spätere englische Nationalstaat herausschälen wird. Dieses besonders unter der britischen Rechten enorm beliebte Narrativ relativieren sie durch das Herausstellen der Kontakte, die die Briten durch die ganzen oh so dunklen Zeiten hatten (ein Beispiel hierfür ist die Übernahme von Heiligen aus Kleinasien, was regelmäßige kulturelle Kontakte voraussetzt). Britische Mönche beziehen sich auf Kleriker aus Ägypten, Handel findet weiterhin statt, und so weiter. Auch die Wikingerinvasionen sind weniger eine Zäsur als eine vorübergehende Gewaltwelle; Britannien bleibt über das gesamte Mittelalter an das restliche Europa angebunden.

Ich erwähnte gerade bereits die Mönche. Keine Darstellung des Mittelalters wäre ohne sie vollständig. Sie fungierten als intellektueller Knotenpunkt, indem sie missionierten (und damit das Christentum in jeden Winkel des früheren Römischen Reichs brachten), normative Alternativen anboten (eine Abkehr von heidnischen Kulten und gänzlich neues Selbstverständnis, gerade mit Hinblick auf das Jenseits) und als Wissensreproduzenten dienten. Mönche kopierten Texte, und zwar nicht nur als zufälliges Beiwerk, wie das abschätzend gerne angenommen wurde, sondern durchaus in wissenschaftlicher Absicht. Umberto Ecco zum Trotz wurde Aristoteles auch im Mittelalter beständig gelesen.

Die Bedeutung der Religion für den Adel wird von den Autoren durchgängig immer wieder betont. Die meisten Menschen waren tief gläubig (es ist generell eine gute Faustregel anzunehmen, dass frühere Gesellschaften ihre Religion ernstnahmen). Sie waren in ständiger Sorge um ihr Seelenheil, gerade weil ihr gewalttätiges Verhalten oft in so krassem Gegensatz zur Lehre des Christentums stand. Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte setzte sich so immer mehr die Idee des Gottesfriedens durch; die frühen „Raubritter“ in ihren Motten wurden nach und nach durch „echte“ Ritter ersetzt, die wir aus den Geschichten kennen. Nicht, dass allzuviele Exemplare den hohen Ansprüchen genügt hätten, aber das anarchische Gewaltfest des Frühmittelalters fand gerade auch durch die intellektuelle Arbeit der kulturellen Elite ein Ende und wurde eingehegt.

Nicht nur die Briten hatten wesentlich mehr Kontakte zur restlichen Welt, als das gemeinhin angenommen wird. Die Autoren erzählen eine (belegte) Geschichte über Karl den Großen, der vier Jahre nach seiner Kaiserkrönung ein ungewöhnliches Geschenk aus dem Kongo (!) erhielt: einen Elefanten. Das Tier lebte immerhin bis 818 und war für den Kaiser ein ständiges Exponat seines Herrschaftsanspruchs. Das ist deswegen interessant, weil sich Karl ja nicht nur als Römischer Kaiser inszenierte – und damit in einer ungebrochenen Traditionslinie mit Rom – sondern dass er auch andere Kontinuitäten konstruierte. Der Elefant wurde als Sendbote Persiens (in leichter Verkennung geografischer Gegebenheiten) interpretiert; in dieser Lesart führte Karl die Beziehungen mit diesem großen Rivalen Roms direkt fort.

Ganz und gar nicht in römischer Kontinuität standen dagegen die Kreuzzüge. Die Autoren legen Wert darauf, dass es „heilige“ Kriege schon vor 1098 gegeben hatte, wenngleich in kleinerem Ausmaß (sie warnen auch davor, die allesamt nach der Eroberung Jerusalems geschriebenen Geschichten des Kreuzzugs zu wörtlich zu nehmen). Sie postulieren ein beständiges Abwechseln von Koexistenz und Heiligem Krieg. Zwar war der Mittelmeerraum kein Multikultiparadies, aber vom „Clash of Cultures“ (eine These, die sie mehrfach entschieden verwerfen) war wenig zu spüren. Es ist auffällig, wie unbedeutend die Kreuzzüge für die Muslime sind; in ihrer Geschichtsschreibung spielen sie kaum eine Rolle.

Auch die Schlacht von Tours, die von Rechten gerne als Beginn eines ethnisch reinen Christentums gesehen wird, verwerfen sie als weitgehend irrelevant. Für die Muslime war es nur ein Scharmützel; die Christen rieben letztlich eine Spähabteilung auf. Es waren MODERNE Autoren, die das Ganze mit Bedeutung aufluden, wie so oft für das Mittelalter. Dieses Beseitigen eines Dickichts von Narrativen von der Renaissance bis heute ist die schwierige Aufgabe der Mediävisten, und die Autoren wenden sich mit Gusto dagegen. Viel wichtiger erscheinen ihnen Differenzen innerhalb des Islam; so etwa verbündet sich Toledo im Kampf gegen andere Herrscher von al’Andalus mit christlichen Herrschern und öffnet seine Tore. Ständig wechselnde Allianzen von Christen und Muslimen, von Koexistenz und Hass kennzeichneten diese Epoche. Die Autoren wenden sich an dieser Stelle auch gegen das spiegelbildliche progressive Zerrbild; wo die Rechten gerne einen „clash of cultures“ beschwören, sehen Progressive gerne ein „conviventia„, ein friedliches, multikulturelles Zusammenleben als Vorbild für die heutige Zeit. Die Autoren machen deutlich, dass es so rosig bei weitem nicht war. Misstrauen und Konflikt waren prägend und genauso häufig wie Koexistenz.

Das alles hinderte aber nicht eine gegenseitige intellektuelle Befruchtung, wie sie in typischen Mittelalter-Narrativen praktisch gar nicht vorkommt. Große Denker wie Moses Maimonedis und Ibn Sina wurden im gesamten christlichen Europa viel gelesen und rezipiert, ebenso wie Aristoteles und andere Philosophen. Das christliche Europa brachte seinerseits seine eigenen Intellektuellen hervor, die bis nach Ägypten kamen und dort direkt mit den Ideen in Berührung kommen und diese diskutieren, um sie danach wieder in ihre Heimat zurückzubringen. Zwar mag das politische Gebilde des Römischen Reichs zerfallen sein; die Handelsrouten funktionierten nach wie vor und erlaubten einen regen Austausch von Ideen. Umgekehrt fanden sich auch Araber und Afrikaner an europäischen Höfen (was erneut einige typische rechte Narrative zerstört).

An dieser Stelle sprechen die Autoren über die Literatur des Mittelalters, vor allem die beliebten Artus-Romane. Sie sind aus mehreren Gründen wichtig. Einerseits zeigen sie die (relativ) große Handlungsfreiheit von Frauen, die teilweise auch als Autorinnen tätig waren. Die Artusromane erfüllten nicht nur die Funktion, ideales ritterliches Verhalten darzustellen, sondern dienten auch der Legendenbildung zur Legitimation. Es wurde eine Frühzeit konstruiert, die ein goldenes (ritterliches) Zeitalter darstellte. Der spätere König Henry II. etwa führte seinen Stammbaum dann auch auf arturische Helden zurück.

Hier habe ich einen weiteren großen Kritikpunkt: die Darstellung ist mir hier viel zu rosig. Die Mediävistin Eleanor Janega zeigt auf ihrem großartigen Blog „Going Medieval“ sehr schön auf, wie die Artusromane Frauen objektifizierten und ausschließlich männliche Fantasien bedienten. Die Autoren geben hier dem revisionistischen Überschwang etwas stark nach und lassen es bei der nötigen Trennschärfe der Handlungsfähigkeit von Frauen gegenüber dem, was wir heute darunter verstehen, vermissen.

Heilige Kriege indes, ich erwähnte es bereits, wurden nicht nur gegen Andersgläubige gefochten. Auch innerhalb der Christenheit erfreuten sie sich großer Beliebtheit. So etwa eroberten Kreuzfahrer im vierten Kreuzzug nicht nur entgegen des ausdrücklichen päpstlichen Befehles christliche rumänische Städte, sondern eroberten auch Konstantinopel selbst. Begründet wurde das mit theologischen Differenzen, aber es ging um Plünderung – wie vielen Zeitgenossen durchaus klar war; ein nicht unerheblicher Teil des Kreuzfahrerheeres spaltete sich entrüstet ab und setzte den Kreuzzug (erfolglos) auf eigene Faust nach Ägypten fort. Auch Machtfragen spielten eine direkte Rolle: der Papst in Rom begann immer mehr die Vorrangstellung innerhalb des Christentums zu postulieren, so dass der Patriarch von Konstantinopel ein Konkurrent war. Das Schisma der beiden Religionen war deswegen praktisch unvermeidlich.

Ähnliche Überlegungen bringen die Autoren auch für die Albigenser-Kreuzzüge vor allem in Südfrankreich vor. Die „Ketzer“ wurden von der späteren (revisionistischen) Geschichtsschreibung mit zahlreichen theologischen Verstößen aufgeladen (unter anderem Vegetarismus), aber das sehen die Autoren vor allem als Propaganda. Was die Albigenser (wie viele andere Sekten der damaligen Zeit, etwa die Flagellanten) so gefährlich machte war ihre Ablehnung des Priestertums, das direkt die Macht der Kirche gefährdete. Die Autoren sehen in der offenen Erlaubnis der Kirche jener Zeit zur Gründung von Franziskanern und Dominikanern ein Abwehrmanöver, quasi die Schaffung eigener Orden, die die spirituellen Bedürfnisse unter dem Dach der Kirche erfüllten – sehr erfolgreich, wie man vermerken muss.

Die Franziskaner waren derart erfolgreich, dass sie missionierend bis Karakorum kamen, wo sie bei den Mongolen auf unverständliche Neugier stießen. Die Franziskaner kamen gerade an, als sich die Mongolen anschickten, das größte Reich der Menschheitsgeschichte zu erobern. Sie schufen dabei nicht neue Verbindungen zwischen Ost und West – diese bestanden durch das ganze Mittelalter, wie die Reise der Franziskaner belegt. Aber die Mongolen beschleunigten das Ganze noch einmal. Auch hier sehen wir wieder die Verbindung von Politik und Macht, die im Mittelalter nicht voneinander getrennt werden können. Im Christentum verbreitete sich damals der Mythos vom Priesterkönig Johannes, der angeblich aus einem gewaltigen christlichen Reich im Osten (wahlweise in Indien, Somalia oder der asiatischen Steppe gelegen; die geografischen Details sind nebulös) einen Heiligen Krieg gegen die Muslime führte. In Wahrheit waren es die Mongolen, die dann 1258 Bagdad eroberten und der muslimischen Welt einen Stoß versetzten, von dem sie sich nie erholen sollte.

Wann das Mittelalter genau endet, ist immer eine Definitionsfrage derjenigen, die darüber sprechen. Von Beginn an machten die Autoren die Willkürlichkeit solcher Epocheneinteilungen deutlich, aber irgendwo müssen sie ihre Darstellung auch beenden. Sie tun das mit zwei Faktoren der großen Pest (der „Schwarze Tod“) ab 1346 einerseits und der 1551 erfolgten Debatte zwischen Bartholome de Las Casas und Juan Gines de Sepulveda.

Die Pest war eine direkte Folge der Verbundenheit der Welt und der Urbanisierung. Die Menschen allerdings wussten das nicht; sie suchten – wie immer – eine Erklärung in der Religion. Dazu gehörten sowohl Geißelungen als auch Pogrome, Reue und Exzess. Die Reaktionen waren vielfältig, aber die Pest war ein gewaltiger Einschnitt, der durch die Vielzahl an Toten – rund ein Viertel der Bevölkerung, wenngleich geografisch sehr ungleich verteilt – gesellschaftlich-politische Strukturen wesentlich effizienter störte als es der „Untergang“ Roms je hätte tun können.

Den finalen Schlussstein unter das Mittelalter – in intellektueller Hinsicht jedenfalls – setzen die Autoren mit der Debatte zwischen Las Casas und Sepulveda. In dem Streit ging es um die Frage, wie die spanische Krone mit den Ureinwohner*innen Amerikas umzugehen hatte. Las Casas argumentierte aus mittelalterlicher Logik: die Indios waren Menschen, die Rechte von Gott besaßen und missioniert werden mussten. Die Krone hatte sie zu schützen. Sepulveda argumentierte neuzeitlich: die Krone hatte das Land erobert, die Indios waren keine Spanier, und das Recht des Stärkeren erlaubte ihre Ausbeutung. Sepulveda verlor den politischen Streit, aber er gewann den Diskurs. Die europäischen Herrscher machten sich die Welt untertan und begannen sich in die Nationalstaaten zu entwickeln, die wir heute haben – zum Besseren wie zum Schlechteren.

Insgesamt kann ich die Lektüre des Buchs nur empfehlen. Der allgemeine Kenntnisstand über das Mittelalter ist katastrophal, und die Schulbücher sind ebenfalls immer noch weit hinter dem aktuellen Stand der Forschung zurück, so dass die Narrative auch heute noch beständig reproduziert werden. Leider muss man aber auch sagen, dass die Autoren gelegentlich über das Ziel hinausschießen; eine häufige Gefahr revisionistischer Geschichtsschreibung. Ihr Bild ist oft allzu rosig und malt mit breiten Pinselstrichen über bestehende Ungleichheiten, Unterdrückung und Armut hinweg. Wenn man das aber im Kopf behält, so ist es eine wertvolle Ergänzung.

{ 53 comments… add one }
  • Thorsten Haupts 11. August 2022, 11:35

    Wen die Zeit vertieft interessiert, den könnte folgendes interessant finden:

    Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. 4. Auflage. Beck, München 2009. Johannes Fried

    Das hier skizzierte Problem … eine häufige Gefahr revisionistischer Geschichtsschreibung … gibt es bei Fried nicht, trotzdem arbeitet er die Epochenwende für grosse Teile der Mittelmeerwelt und Europas, die durch den Untergang des weströmischen Imperiums eingeleitet wurde, überzeugend heraus. Man kann Revisionismus nämlich auch zu weit treiben (die Widerlegung eines Mythos gebiert ihrerseits neue).

    Ein paar Punkte der Besprechung, die mir auffielen:
    Dass Rom nicht einfach unterging, …

    Natürlich ging es als Imperium sichtbar unter. Und Byzanz verstand sich selbst zunehmend als griechischer, nicht als römischer, Erbfolger, sein praktischer Machtanspruch beschränkte sich nach Justinian auch auf Kleinasien.

    Die Zeitgenoss*innen sahen sich auch nicht in einem dunklen Zeitalter, im Gegenteil.

    Schön für die Zeitgenossen. Nur zum Vergleich: Um 100 nach Christus hatte praktisch keine Stadt des römischen Imperiums Schutzmauern (!), um 600 nach Christus hatten selbst kleinste Städte Europas Wehranlagen – ausnahmslos und überall. Mehr muss man zum Unterschied gar nicht wissen.

    Das alles hinderte aber nicht eine gegenseitige intellektuelle Befruchtung …

    Die von neuzeitlichen Autoren regelmässig völlig überzeichnet wird, die Befruchtung beschränkte sich auf wenige Individuen und – was entscheidend ist – war in der islamischen Welt nicht institutionell abgesichert. Denn der eigentliche (und zu selten beleuchtete) langfristige Vorteil Europas gegenüber der islamischen Welt war die Systematisierung und Institutionalisierung des Wissensaustausches mittels Verschriftlichung und der neugegründeten Universitäten, was einander bedingte.

    Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den „Dunklen Zeiten“ Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten.

    Das ist summa summarum einer erstaunlich korrekte Darstellung dessen, was damals in Europa tatsächlich stattfand (Byzanz ausgeblendet). Nur ein Zeichen von vielen: Der Abzug der römischen Legionen aus Grossbritannien stellt Historiker heute vor ein einzigartiges Problem – für einige hundert Jahre fehlen jegliche schriftliche Aufzeichnungen darüber, was sich in diesem Teil Europas eigentlich abgespielt hat. Der Zivilisationsbruch war dramatisch, das ging bei der wohlwollenden Rezension des Buches einfach unter, weil in der Historie heute gerne Kontinuitätslinien und fliessende Übergänge betont werden.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Tim 11. August 2022, 13:27

      Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. 4. Auflage. Beck, München 2009. Johannes Fried

      Ist das lesbar? Frieds Karl-Biographie fand ich schwer verdaulich. Sie kam mir über weite Strecke wie der Versuch eines Abiturienten vor, romanhaft zu schreiben.

      • Thorsten Haupts 11. August 2022, 13:43

        Hmmmm, streckenweise echte Längen und nicht selten sehr blumige Ausdrucksweise, aber ungeheuer kenntnis- und erkenntnisreich.

        • Tim 11. August 2022, 13:58

          Vermutlich traut sich sein Verlag nicht, ihm einen engagierten Lektor zur Seite zu stellen.

    • Ariane 12. August 2022, 00:57

      Nur ein Zeichen von vielen: Der Abzug der römischen Legionen aus Grossbritannien stellt Historiker heute vor ein einzigartiges Problem – für einige hundert Jahre fehlen jegliche schriftliche Aufzeichnungen darüber, was sich in diesem Teil Europas eigentlich abgespielt hat

      Das ist zweifellos wahr (siehe auch die Diskussion von Tim und Wächter weiter unten), allerdings auch häufig etwas kurz gesprungen. Und der Rückzug aus Britannien war ja weit vor dem „offiziellen“ Fall Roms. Der Zivilisationsbruch war auf jeden Fall dramatisch, aber auch bedingt durch das Kuddelmuddel der Völkerwanderung und die kriegerische Zerstörung, die damit einherging.

      Ich persönlich bin auch nicht so sicher, ob man die Römer nicht zu sehr glorifiziert. Genauso könnte man die spanische Eroberung bzw jegliche Kolonisierung glorifizieren, schließlich haben sie den unzivilisierten Barbaren ein paar Straßen hingestellt. Und die Römer wurden eben auch nicht mit offenen Armen begrüßt, sondern das war ebenfalls schlichte Kolonisation. In meiner Recherche (eigentlich über Otto den Großen) bin ich auf einen Podcast zur deutschen Geschichte gestoßen:
      https://open.spotify.com/show/4m3HskjlXWTYv4iVmHFs5W?si=8a17dd0458924103

      Und Travis Dow hatte da einen spannenden Vergleich, weil er meinte, Tacitus bzw die Römer sprachen über die Germanen (edle Wilde) genauso wie Amerikaner über Indianer oder Spanier über die südamerikanischen Ureinwohner. Wilde Kämpfer, aber halt Barbaren, denen man die Zivilisation bringen muss. Was eben nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen war. Und den Zeitgenossen wirds wohl auch reichlich egal gewesen sein, ob sie sonst vielleicht etwas länger ohne schriftliche Aufzeichnungen vor sich hingelebt hätten.

      • Thorsten Haupts 12. August 2022, 09:02

        Und die Römer wurden eben auch nicht mit offenen Armen begrüßt, sondern das war ebenfalls schlichte Kolonisation.

        Der Vergleich hinkt einfach auf mehreren Ebenen. Eroberte Gebiete wurden integraler Bestandteil des Römischen Reiches UND den Römern fehlte eine rassistische Theorie, also kamen sie gar nicht erst auf die Idee, andere Völker seien minderwertig (ich meine damit über Alltagsvorurteile hinausgehenden, echten, Rassismus wegen Ethnie/Hautfarbe).

        Und den Zeitgenossen wirds wohl auch reichlich egal gewesen sein, ob sie sonst vielleicht etwas länger ohne schriftliche Aufzeichnungen vor sich hingelebt hätten.

        Oh ganz sicher. Aufgegebene Siedlungen, nachlassender Bergbau und verfallende Infrastruktur (Strasen, Aquädukte etc.) allerdings dürften ihnen ebensowenig egal gewesen sein, wie jenes unschätzbare Geschenk inneren Friedens, innerer Sicherheit und (für damalige Verhältnisse) rechtsstaatlicher Garantien über Jahrhunderte. Nicht umsonst gibt es den angeblichen chinesischen Fluch „Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ – für Normalbürger immer eine Drohung, damals viel mehr als heute.

        Man muss Roms Eroberungen wahrlich nicht glorifizieren, das war schlichter Imperialismus. Man sollte sich allerdings ebenso davor hüten, die DANACH erzielten zivilisatorischen Fortschritte für die Eroberten im gleichen Atemzug in die Tonne zu treten.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Ariane 12. August 2022, 10:47

          Eroberte Gebiete wurden integraler Bestandteil des Römischen Reiches

          Jein, das geschah häufig erst sehr viel später nach Abschlachtung, Geiselnahme, Sklaverei und Auspressung. Und natürlich hielten die Römer sich für was Besseres und die anderen für Barbaren.

          Auch zu deinen späteren Ausführungen hat man bei Antike und Mittelalter das Problem, das wir über riesige Zeiträume reden. Bis 1000 n. Chr. war einfach was Anderes als 1250 zu leben als das Mittelalter wieder viel erhellter war. Das ist als wenn wir den ganzen Zeitraum ab 1500 als einzelnen Block sehen.

        • Stefan Sasse 12. August 2022, 17:11

          *hust* Die PROVINZEN hießen nicht umsonst so. Die standen rechtlich deutlich unter dem „Kernreich“. Und die Römer hielten sich für wesentlich besser, nur halt nicht aufgrund ihrer Hautfarbe.

  • CitizenK 11. August 2022, 12:15

    Deine Lese- (und Schreib-) Leistung ist bewundernswert.

    Zwei einfache Fragen:

    Spielen die Zerstörung bzw. der Verfall der zivilisatorischen Errungenschaften der Römer Straßen, städtische Strukturen, Bäder, Heizungen (!) für die Autoren überhaupt keine Rolle?

    Der Begriff der Karolingischen „Renaissance“ taucht (jedenfalls in der Besprechung) gar nicht auf. Wird die auch überschätzt?

    • Stefan Sasse 11. August 2022, 17:40

      Nein, kommt nicht vor.

      Sie erwähnen kurz die Renaissance des 12. Jahrhunderts und die karolingische Renaissance, aber beides hauptsächlich um das Konzept der Renaissance als solches zu verwerfen.

  • sol1 11. August 2022, 12:38

    „…Dave Gibbons…“

    Du meinst Edward Gibbon?

    In Trier läuft momentan gerade eine große Ausstellung, in der diese Narrative revidiert werden:

    https://untergang-rom-ausstellung.de/

    Davon erfahren habe ich im Spiegel Nr. 26:

    https://www.spiegel.de/wissenschaft/roemisches-reich-wie-es-wirklich-zum-niedergang-der-antiken-weltmacht-kam-a-6bc3f27a-38c2-40f4-80c3-9fa47ff2b648

  • Tim 11. August 2022, 13:11

    Das Gerede von den „Dunklen Zeiten“, den „dark ages„, wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig

    Der Begriff „dunkle Zeiten“ wird in der Regel so verstanden, dass es aus der betreffenden Epoche wenige schriftliche Quellen und man oft nur indirekte Aussagen treffen kann – unser Wissen ist „dunkel“, weniger die Zeit selbst. Niemand wird z.B. sagen, dass Karl der Große in einer irgendwie dunklen Zeiten herrschte, aber selbst über sein Leben liegt sehr vieles im Dunkeln. In Europa änderte sich das erst mit dem kontinentüberspannenden Netz an Klöstern ab dem 11. Jahrhundert und der entsprechenden Schriftkultur.

    Klingt für mich so, als wollten Autoren wieder mal offene Türen einrennen …

    • derwaechter 11. August 2022, 13:40

      Ob das i.d.R. wirklich so verstanden wird?

      Ich kannte das auch eher als wertenden Begriff und wollte mal kurz nachschauen.

      witzig, wie sich hier die deutsche und englische Wikipedia auf den ersten Blick unterscheiden:

      „Als dunkle Jahrhunderte oder dunkles Zeitalter (engl. Dark Ages) werden Zeiträume bezeichnet, in denen die Geschichte einer bestimmten Region mangels Schriftquellen oder archäologischer Funde wenig bis gar nicht erforscht ist“

      vs.

      „The „Dark Ages“ is a term for the Early Middle Ages, or occasionally the entire Middle Ages, in Western Europe after the fall of the Western Roman Empire that characterises it as marked by economic, intellectual and cultural decline.“

      • Tim 11. August 2022, 13:55

        @derwaechter

        witzig, wie sich hier die deutsche und englische Wikipedia auf den ersten Blick unterscheiden:

        Das ist wirklich witzig. Gerade(!) mit Blick auf die britischen „dark ages“ kenne ich den Begriff als Beschreibung unseres Unwissens. 🙂

        Wobei ja auch völlig unstrittig ist, dass nach 500 wesentliche Annehmlichkeiten des römischen Lebens schnell verschwanden, etwa Straßenbau und Wasserversorgung. Ich empfinde es zum Beispiel als sehr peinlich, dass die Europäer nach Rom mindestens tausend Jahre lang keinen vernünftigen Straßen-Unterbau fertigbrachten.

    • Stefan Sasse 11. August 2022, 18:10

      Ja, du hast damit natürlich grundsätzlich recht. Aber: die populäre Wahrnehmung ist eine andere.

      • Tim 11. August 2022, 21:21

        Hm, meinst Du? Würde jetzt mal aus der Hüfte heraus geschossen vermuten, dass manche Leute mit dem „dunklen Mittelalter“ eigentlich die frühe Neuzeit meinen, also insbesondere die Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts.

  • Ariane 11. August 2022, 16:31

    Hallo mal wieder 🙂

    Spannend. Da ich gerade ohne richtigen PC bin, hatte ich auch mal wieder Muße mich mehr mit dem Mittelalter, bzw den Romanen von Gablé und den jeweiligen Themen zu beschäftigen. Auch wenn ich weiß, dass zb der Sassestefan nicht viel von historischen Romanen hält, finde ich so punktuelle Betrachtungen oft etwas erhellender, weil das Mittelalter an sich so groß und unüberschaubar ist, dass zwangsläufig viele Vereinfachungen sein müssen. (obwohl es die meisten Vorurteile wirklich nicht verdient hat)

    Dass es dabei meist nur um die Elite geht, stimmt. Gilt aber auch für davor und danach, der „Pöbel“ tritt halt eher als Ratespiel oder Statistik auf und nicht als eigenständige Akteure. Und selbst für Romane gibt so ein Leibeigenen-Leben nicht wirklich viel her (obwohl Follett es ganz gut versteht, solche Figuren einzuarbeiten, die dann aber auch wieder irgendwie Verbindungen zur Elite haben)

    Dazu kommt eben noch, dass ein Großteil der mittelalterlichen Geschehnisse dann für Christentum und jeweiliges Vaterland gerne rezipiert wurden, was sehr viel schwieriger aus den Köpfen zu bekommen ist als schlichtes Unwissen. Oder eben auch antikirchlich, gerade die Vorstellung über die Religion ist ja oft von beiden Seiten falsch.

    Zum Einen gab es die Christenheit eben nicht und ein Großteil der Glaubenskriege waren gegen andere Christen (bis zu den Protestanten und vielleicht noch den Katharern kommen andere christliche Spielarten ja quasi nicht mehr vor) und die Verhinderer von Wissen und Verüben von Gräueltaten ist auch arg einfach. Die modernen Ideen, die später verrückterweise dann auch als ketzerisch gebrandmarkt wurden, kamen ja selbst aus den Reihen der Kirche. (von wem auch sonst?) Genauso wie Wissen, Kunst und Kultur – also alles, was das helle Mittelalter ausmacht auch aus kirchlichen Reihen stammte.

    Und die kirchlichen Verbrechen, die heute bekannt sind wie Hexenverbrennung oder spanische Inquisition haben höchstens noch die Ausläufer des Mittelalters gestreift, während das Christentum am Übergang zum Mittelalter Dinge wie Menschenopfer und Sklaverei abschaffte. Was nicht heißt, dass alles toll war, aber gerade so das Laienwissen ist da oft sehr einseitig.

    Zur Stellung der Frau würde ich auch noch ergänzen, dass es auch gewisse Stellungen gab, da Frauen halbwegs eigenständig und nicht nur über Bande zb über die Ehemänner Einfluss hatten. Zum Einen über das Klosterwesen, die eben auch Äbtissinnen hatten oft mit eigenen Einnahmen und Landbesitz. Und dann war es auch nicht so selten, dass Frauen Regentschaften mit eigener Macht übernahmen, wie zb Adelheid von Burgund oder Eleonore von Aquitanien und das waren die damals größten Reichsgebiete in Europa wohlgemerkt, in kleinen Herzogtümern kam das häufiger vor. Nicht zu vergessen, Herrscherinnen aus eigenem Recht wie Elisabeth die Erste, Mary Stuart oder Isabelle von Kastilien. Selten, aber es gab die Rechtsform. Generell auch sehr komplexe Eigentums/Verwaltungsrechte für Frauen, weil ja gerade im Mittelalter die Männer noch selbst weg waren und Kriege geführt haben und auch zur Versorgung, wenn die Männer dann starben. Übrigens auch noch ein Unterschied: gerade die Elite wurde nach dem Mittelalter sehr viel sesshafter als im Mittelalter selbst.

    • Stefan Sasse 11. August 2022, 18:11

      Sehr gute Punkte, danke.

    • cimourdain 12. August 2022, 09:55

      Nonnenklöster sind ein ganz wichtiger Punkt. Mir fällt kein vergleichbares Netzwerk weiblicher Intelligenzia in vormoderner Zeit ein. Da ist natürlich die Universalgelehrte Hildegard von Bingen (vergiss einfach den Esoterikschrott der unter ihrem Namen verkauft wird) zu nennen, aber auch Katharina von Siena oder Theresa von Avila sind anerkannte kanonische Kirchenlehrerinnen.

  • cimourdain 11. August 2022, 17:26

    Klingt interessant, aber einige Dinge sind mir dann doch aufgefallen, die auch mir deinen Verdacht bestätigen, dass das Buch revisionistisch überschießt:

    Die Fortschritte in Technologie, Wirtschaft, etc… scheinen eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen – was in meinen Augen eine sträfliche Vernachlässigung darstellt.

    Der weiße Elefant, den Karl der Große von Harun al Raschid bekommen hatte, kam über Nordafrika aus Bagdad. [Kongo könnte ein Übersetzungsfehler sein] Was ‚Persien‘ als Herkunftsort plausibel macht – vielleicht handelt es sich um ein ‚weitergereichtes‘ Geschenk.

    Die Rolle der Frauen bei der Christianisierung klingt nach Anekdotischem, das in ein gewünschtes Narrativ passt – oder haben die Autoren dazu ’systematische‘ Evidenz.

    Gleich mit Frauen weiter: Dass bei der mittelalterlichen Literatur vornehmlich die Artusromane betrachtet wurde, verzerrt das Bild thematisch. Die anderen Literaturkreise ‚Metier de France‘ und ‚Metier de Rome‘ haben einen stärkeren Fokus auf fantastischen Abenteuern und Feldzügen (Beispiel: Roman de Troyes), wo Frauen eher ‚Objectives‘ darstellen.

    Zur Schlacht von Tours (darf man den Namen eigentlich ohne ‚und Poitiers‘ schreiben?): Die Kämpfe mit den Sarazenen wurden im MA natürlich bearbeitet – und da waren auch schon ideologisch-programmatische Werke dabei, z.B. „Das Rolandslied des Pfaffen Konrad“, eine Übersetzung des französischen Stoffs, bei der gezielt die Sarazenen dämonisiert wurden.

    Dass die Autoren die Disputation von Valladoid als Endpunkt des Mittelalters setzen, kommt mir willkürlich vor. Es weicht von den allgemein verbreiteten Daten um 1453-1492 deutlich ab. [Die Pest akzeptiere ich leichter, weil sie in vielen Punkten den Beginn des ‚Renaissance-Denkens‘ markiert]. Sie betraf nur Intellektuelle, andere hatten schon längst Fakten geschaffen. Es war ’nur‘ eine der theologischen Debatten jener Zeit. Wenn man in die Richtung denkt (was ich durchaus nicht falsch finde), wäre z.B. der Vertrag von Tordesdillas eine gute Trennlinie, bei dem zwei christliche Herrscher die Welt unter sich aufgeteilt hatten.

    • Ariane 11. August 2022, 18:02

      Die Rolle der Frauen bei der Christianisierung klingt nach Anekdotischem, das in ein gewünschtes Narrativ passt – oder haben die Autoren dazu ’systematische‘ Evidenz.

      Aethelbert, der erste christliche König von England soll durch seine Frau bekehrt worden sein, bzw sie war Christin. Ich glaub bei den Germanen, bzw Slawen gibts auch einige Fälle, bzw über die Taufe von den Kindern. Obwohl das logischerweise immer nur mindere Beweiskraft hat, weil die Quellenlage dürftig ist und von Priestern stammt. Das frühe Christentum soll allerdings tatsächlich bei Frauen sehr beliebt gewesen sein. Zumindest als Hinweis würde ich auch auf die zahlreichen weiblichen Heiligen hinweisen.

      Dass bei der mittelalterlichen Literatur vornehmlich die Artusromane betrachtet wurde, verzerrt das Bild thematisch.

      Naja, der Blick scheint ja sehr britisch, bzw sogar englisch zu sein. Ob eine Hexe und eine Ehebrecherin nun der Rolle der Frauen so geholfen haben? 😀

      Ich würde es auch genereller sehen, dass diese ganzen romantischen (Ritter-)geschichten generell durch ihren Vorbildcharakter zu einem zivilisierterem Umgang geführt haben – gerade Frauen gegenüber. Auf dem Kontinent darf man hier auch nicht die Troubadoure und Minnesänger vergessen. (obwohl ich als Feministin natürlich eher einen Hang zu mordenden, ehebrecherischen Hexen habe als zu liebreizenden, tugendsamen Burgfräuleins). 😀

      Wenn man in die Richtung denkt (was ich durchaus nicht falsch finde), wäre z.B. der Vertrag von Tordesdillas eine gute Trennlinie, bei dem zwei christliche Herrscher die Welt unter sich aufgeteilt hatten.

      Ph, christliche Herrscher, die die Welt aufteilen, ist doch nichts Besonderes. Wenn jeder sich was raussuchen darf, nehme ich den Buchdruck, den Aufstieg der Medici und Ähnliches, weil er für die höhere „Demokratisierung“ bzw den Aufstieg des Bürgertums steht, der die Weltordnung des Mittelalters endgültig zu Fall bringt und den Untergang des Adels einläutet.

      • cimourdain 12. August 2022, 10:25

        “ Zumindest als Hinweis würde ich auch auf die zahlreichen weiblichen Heiligen hinweisen.“ ist ein guter Punkt, auch wenn es sich bei den Heiligenviten weitgehend um Fälschungen handelt. Aber es gibt genug davon, um ernsthaft Statistik zu betreiben. [Bei dieser Gelegenheit möchte ich aus Kuriositätsgründen auf die ‚Trans-Heilige‘ Wilgefortis hinweisen, die um Verschonung vor einer Zwangsheirat (Jungfräulichkeit etc) gebetet hatte und erhört wurde: Sie bekam einen Vollbart.]

        „Ich würde es auch genereller sehen, dass diese ganzen romantischen (Ritter-)geschichten generell durch ihren Vorbildcharakter zu einem zivilisierterem Umgang geführt haben“ Henne-Ei-Problem: Umgekehrt kann man argumentieren, dass zur Blüte höfischer Dichtung die Umgangsformen zivilisierter waren und deshalb die Geschichten ‚zivilisierter‘ erzählt wurden. [Schon damals hat uns die ganze political correctness den ganzen Spaß an Geschichten übers Morden, Plündern. Vergewaltigen genommen]

        „christliche Herrscher, die die Welt aufteilen, ist doch nichts Besonderes.“ entscheidend ist, dass sie damit durchgekommen sind und damit das Argument Sepulvedas vom Recht des Stärkeren schon vorweg in die Praxis umgesetzt haben.

    • Stefan Sasse 11. August 2022, 18:15

      Ja, den Autoren geht es eher um eine Kulturgeschichte, weswegen Technik wenig vorkommt. Empfehle dazu den verlinkten Beitrag von Deveraux.

      Elefant: Danke, spannend!

      Frauen: Das mit den Objectives ist absolut richtig, das betont ja der verlinkte Blog auch.

      Sarazenen: Korrekt. Wie gesagt, die Autoren romantisieren das auch nicht.

      Ende: Sie setzen das eher an das Ende mittelalterlichen Denkens; das Mittelalter als Epoche lassen sie Ende des 14. Jahrhunderts ausgehen.

      • cimourdain 12. August 2022, 10:04

        Ende: Interessant. Genau für das Ende des 14.Jahrhunderts fällt mir für das westliche Europa kein einziges prägnantes weltpolitisches ‚Markerereignis‘ ein. Dafür wurden in Osteuropa zu der Zeit mehrere wichtige Spielsteine für den Verlauf der Neuzeit gesetzt:
        – Vormarsch der Osmanen auf dem Balkan (Amselfeld)
        – Ende der Goldenen Horde und damit der zentralasiatischen Bedrohungen
        – Vereinigung Polen – Litauen

  • cimourdain 12. August 2022, 10:33

    Nachtrag zu Frauen und Christianisierung: Vielleicht ist dabei die Religion gar nicht der entscheidende Punkt. Viel bedeutender ist, dass das System von feudalen Mesalliancen zu einem Kulturaustausch quer durch Europa geführt hat.

    • Ariane 12. August 2022, 12:47

      Na, die Religion ist schon nicht unwichtig, war sie doch der beständigste Faktor im Mittelalter. Ich finde es aber auch generell überlegenswert, ob die verschiedenen Machtzentren quer durch Europa (und darüber hinaus) nicht eben durch den permanenten Austausch sehr fruchtbar war. Vielleicht nicht um so ein beständiges Reich mit hohem Komfort zu schaffen wie Rom, aber eben vielseitiger, wo abseits auch ganz andere Ideen zum Zuge kommen können und man ganz Neues erschaffen konnte.

      • CitizenK 12. August 2022, 13:22

        „ganz andere Ideen zum Zuge kommen können“

        … ohne Komfort? Gute Chancen im kommenden Winter 😉

  • Thorsten Haupts 12. August 2022, 17:32

    Ich finde es aber auch generell überlegenswert, ob die verschiedenen Machtzentren quer durch Europa (und darüber hinaus) nicht eben durch den permanenten Austausch sehr fruchtbar war.

    Waren sie. Wettbewerb belebt das Geschäft. Nur gehört eben auch zur historischen Wahrheit, dass dadurch auf geographisch engstem Raum für ca. 1500 Jahre die mit Abstand grösste bekannte Zahl an Kriegen in der Weltgeschichte geführt wurden, eine der Grundbedingungen für Europas erfolgreiche Weltherrschaft zwischen (sehr grob) 1800 und 1900. Und was das für die einfache Bevölkerung bedeutete, kann man nachlesen. Wir profitieren heute von sehr, sehr viel vermeidbarem historischen Leiden.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 13. August 2022, 14:52

      Ja, das Leid unserer Vorfahren ist oft unser Ticket zum Glück. Ich finde das auch beim WK2 auffällig: dass Deutschland den so entschieden und gründlich verloren hat, war unser aller Glück.

      • CitizenK 13. August 2022, 14:58

        Gilt auch, wenn natürlich in weitaus geringerem Maße, für die Schlösser und Gärten aus der Feudal-Zeit. Wenn die damals „bezahlbaren Wohnraum“ geschaffen hätten…

        • Thorsten Haupts 13. August 2022, 20:13

          Wäre ein Thema für einen ganzen Essay. Die Zurschaustellung von Macht und Reichtum in der Moderne ist, verglichen mit z.B. der reneaissance, einfach unterirdisch. Die Vergangenheit hat uns sehr viel mehr Schönheit hinterlassen, als wir das – trotz immens gestiegenem gesellschaftlichen Reichtum – unseren Nachfahren hinterlassen werden. Auch in gleich langen Zeiträumen.

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • Stefan Sasse 13. August 2022, 21:00

            Wobei wir natürlich noch nicht absehen können, was in 200 Jahren plötzlich von unserer Kunst und Architektur plötzlich als todschick wieder ausgegraben wird…

            • Thorsten Haupts 13. August 2022, 21:48

              Von den Architekten in Deutschland abgesehen (denen wird das bewusst im Studium ausgetrieben), habe ich noch niemanden getroffen, der italienische Renaissance-Herrsensitze, mittelalterliche Stadtrathäuser oder die Steinschnitzkunst in St. Johns auf Malta nicht toll gefunden hätte. Und ausweislich von Knappheit und Preisentwicklung leben die Deutschen in Städten am liebsten in sanierten Altbauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Konstant, seit mindestens 50 Jahren.

              Ebenso habe ich bisher sehr wenige getroffen, die die Kastenarchitektur moderner Büro- und Appartmentkomplexe bzw. moderne Kirchen oder den Leicht-Stahlbau moderner Industriekomplexe bewundern.

              Was mich darauf schliessen lässt, dass die Architektur bestimmter Epochen einen ziemlich universalen Schönheitsgeschmack getroffen hat. Und nein, die wechselnden Moden von Kunst- und Kulturkritikern ist dafür überhaupt kein Masstab.

              Für einen kleinen Ausschnitt dessen, was ich meine:
              https://twitter.com/AcademiaAesthe1

              Gruss,
              Thorsten Haupts

              • CitizenK 13. August 2022, 22:18

                Ich staune schon über den Gestaltungswillen bei Fabrikbauten aus der Gründerzeit. Die sind ja nicht zufällig begehrt bei Kreativen. Und die hatten damals noch nicht unsere modernen Werkzeuge. Sogar die Gerüste waren noch aus Holz.

                • CitizenK 14. August 2022, 09:22

                  Dome wie der zu Speyer stehen da seit tausend Jahren. Bauten aus den letzten Jahrzehnten werden reihenweise abgerissen – und durch ähnlich hässliche ersetzt. Was ist das? Gigantische Ressourcenverschwendung, um die Wirtschaft am Laufen zu halten?

              • Stefan Sasse 14. August 2022, 09:59

                Kann gut sein, ist echt nicht meine Expertise. Ich hab null Kunstkenntnisse oder -geschmack 😀

  • Dennis 12. August 2022, 23:59

    Wie gut, dass die Leut damals gar nicht wussten, dass sie sich im „Mittelalter“ befinden, weil die einschlägige Epochen-Propaganda natürlich erst posthum nachgeliefert wurde. Man lebte in der Aetas Christiana, die würde mal vom jüngsten Tag im Sinne einer Vollendung abgelöst und dann kommt die Ewigkeit. Fertig. Letztere terminlich fixieren zu wollen war dabei wohl das eigentliche Problem. Man dachte wohl an das augustinische Tausend-Jahre-Konzept (je Zeitalter) und das ist deutlich zu wenig 🙁 . Die Hindus sind da großzügiger und setzen ein Kalpa, also einen anständigen kosmischen Zyklus, mal locker auf 4,3 Millionen Menschenjahre fest. Da kommt man nicht so schnell in die Bredouille.

    Unerachtet dessen muss, wer als hell erleuchtet dastehen will, behaupten, dass früher mal alles dunkel war. Die Mutter jeder retrospektiv-pejorativen Epochenbildung, also die Mutter auch des Mittelalters.

    Will man das Mittelalter jetze aus der Schmuddelecke rausziehen, also irgendwie rehabilitieren, was offenbar auch das Anliegen des besprochenen Buches ist („bright“), hat man das Problem am Hals, dass das ganze triadische Epochenkonzept ins Rutschen kommt. Zum Schluss weiß keiner mehr, was „Mittelalter“ eigentlich heißen soll. Jeder backt sich einfach sein eigenes Mittelalter, wie z.B. weiland die Romantiker, was ja vielleicht gar nicht so schlecht ist.

    Die Trias: Früher war’s schon mal hell, dann wurde es durch irgendwelche Idioten dunkel, aber jetzte, also seit locker 500 Jahren oder so, isses dank unserer Genialität wieder hell, führt im Übrigen zum Problem, dass die Trias abgeschlossen ist und man eigentlich nichts mehr ranhängen kann; so im Sinne von noch neuer als Neuzeit. Falls zukünftig oder gar schon jetzt also das Bedürfnis besteht, auch uns Neuzeitler für doof zu erklären, also wiederum in ein Dunkel zu tauchen, wird im Rahmen des gegebenen Epochenkonzepts alles schwierig, obwohl plausibel, denn ein Massenmord nach dem anderen is ja jetzt auch nicht soooo hell.

    • CitizenK 13. August 2022, 09:29

      Leben wir Leute heute nicht in der sogenannten Postmoderne? Und ist die ein Teil der späten Neuzeit (es gab ja auch eine frühe) oder ist die „Moderne“ eine eigene Epoche? Wobei ich noch nicht herausgefunden habe, was diese Moderne eigentlich war oder ist und wann sie angefanngen und wann aufgehört hat. Fragen über Fragen. Aber was hell oder dunkel angeht: Zwischen einem Bader und einem Zahnarzt sehe ich schon einen Unterschied.

      • bevanite 13. August 2022, 15:59

        Leben wir Leute heute nicht in der sogenannten Postmoderne? Und ist die ein Teil der späten Neuzeit (es gab ja auch eine frühe) oder ist die „Moderne“ eine eigene Epoche?

        Mit dem Begriff „Postmoderne“ wird derzeit solch ein ideologischer Schabernack betrieben (worst case: Jordan Peterson mit seinem Oxymoron vom „postmodernen Neomarxismus“), dass man glaub ich wieder klar daran erinnern muss, was „postmodern“ bedeutet, nämlich ganz simpel formuliert: „Das Zeitalter der Ideologien ist vorbei, es kommt nichts Neues mehr, es werden lediglich alte Ideen neu zusammengesetzt“. In der Architektur war das etwa der Neue Historizismus in den Achtzigern, der die Moderne des Brutalismus und des International Stils ablöste. In der Musik war es das Aufkommen von Zitaten, Cover-Versionen und Medleys (wobei man rückblickend sagen muss, dass die Achtziger auch viel genuin Neues hervorbrachten, aber es begann eben auch der Trend zur Retromanie), in der Literatur und Malerei die Abkehr von den Experimenten des Expressionismus. Persönlich glaube ich, dass politisch die Postmoderne nur in Westeuropa ganz grob zwischen den 1960ern und wahlweise 1991 (als in Jugoslawien die ersten Schüsse fielen und sich der Nationalismus als „große Erzählung“ zurückmeldete) oder spätestens 9/11 existierte. Rückblickend wird man dies alles wohl grob unter „Moderne“ zusammenfassen. Es gab ja quasi schon mal einen Vorläufer des Postmodernismus im ausgehenden 19. Jahrhundert („fin de siècle“).

    • Stefan Sasse 13. August 2022, 14:54

      Ich bin mir nicht ganz sicher, was dein Punkt ist. Epocheneinteilungen sind immer arbiträr.

      • Dennis 13. August 2022, 20:28

        Klar, das ist so. Deswegen ist die Suche nach sachlicher Rechtfertigung so wenig ergiebig. Es geht bei diesem „Geschäft“ ja vielmehr darum, Reputation herzustellen, entweder respektierlich oder despektierlich.

        Am Ende des Tages ist es wahrscheinlich eine gute Idee, sich historisch nicht zum Sklaven von angeblichen Epochen zu machen. Mal locker trans-epochal denken kann nicht schaden, IMHO.

  • bevanite 13. August 2022, 16:16

    Einige interessante Thesen, in der Rückschau neigt man immer dazu, Geschichte als linearen und unaufhaltsamen Prozess darzustellen, sodass die fließenden Übergänge oft ausgeblendet werden. Beim Übergang zwischen Antike und Mittelalter dauerten der Aufstieg des Christentums und Islams und die gleichzeitige komplette Verdrängung des Heidentums aus Europa ja mehrere Jahrhunderte, und im frühen Mittelalter gab es da sogar eine regelrechte „balance of power“ (in den englischen Königreichen gab es nach der Ankunft der Wikinger sogar nochmal ein heidnisches „Revival“).

    Mir fällt auf, dass das „klassische“ Mittelalterbild oft germanozentrisch bzw. mitteleuropäisch geprägt ist (insofern logisch, da wir es so im Geschichtsunterricht vermittelt bekommen) und dabei den Mittelmeerraum und vor allem Indien, China und die mittelamerikanischen Reiche ausspart. Vielleicht ist es teilweise auch die Schuld Max Webers, der in seiner These von der protestantischen Arbeitsethik ausklammert, dass die dominierenden Handelsmächte im Mittelalter die heidnischen Wikinger, die muslimischen Araber und die katholischen Republiken Venedig und Genua waren…

    Andererseits wird auch das antike Heidentum oftmals etwas naiv glorifiziert (Hamad Abdel Samad fällt mir hier ein, der mit seiner berechtigten Kritik am Monotheismus die Zeit davor zu schön färbt). Ja, wissenschaftlich haben die Ägypter, Phönizier, Babylonier, Griechen und Römer viel vorangebracht und die polytheistische Sagen- und Götterwelt gab wahrscheinlich der westlichen Kultur, Literatur und Kunst mehr Impulse als die monotheistischen Religionen. Allerdings war es eben auch eine Hochphase der Sklaverei und der Opferkulte. Nicht umsonst konnten sich dann sowohl Christentum als auch Islam so rasch ausbreiten, beide waren zu ihrer Zeit innovativer (ob nun in der Ablehnung der verschwenderischen Opferkulte oder der „Vielweiberei“) und „volksnaher“.

    Bei der Epoche der Kreuzzüge waren wir in deren Rezeption wahrscheinlich zu lange von der These des „clash of civilisations“ geprägt (auch wenn die erst in jüngerer Zeit formuliert wurden) und übersahen die damals auch viel größeren „clashes within civilisations“.

  • Thorsten Haupts 15. August 2022, 12:50

    … beide waren zu ihrer Zeit innovativer (ob nun in der Ablehnung der verschwenderischen Opferkulte oder der „Vielweiberei“) und „volksnaher“ …

    Nicht zu vergessen intellektuell deutlich anspruchsvoller. Die griechisch-römische und germanische Götterwelt bestand aus „normalen“ Menschen mit lediglich mehr Kraft/Schönheit/Macht. Thor z.B. ist ein glorifizierter Kneipenschläger, Mars ein glorifizierter Legionslegat.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • cimourdain 16. August 2022, 12:53

      Das würde ich so nicht unterschreiben:
      Das frühe Christentum war erst einmal ein personenbezogener Kult und damit den ‚philosophischen Religionen‘ Neuplatonismus oder Gnosis intellektuell eher unter- denn überlegen.
      Und die römische Götterwelt war auch deutlich differenziert und mit allegorischen Konzepten durchsetzt. Der zitierte Mars hatte zum einen auch einen Landwirtschaftsaspekt (Mars Silvanus), zum anderen ist aus seiner Beziehung (Ehe?) mit Venus unter anderem die römische Gottheit/ allegorische Konstruktion Concordia hervorgegangen.
      Noch ein Wort zu Thor, um die Kontinuität zwischen Heiden- und Christentum zu zeigen: Seine Ikonographie wurde 1:1 auf den christlichen Heiligen St. Olaf übertragen.

      • Stefan Sasse 16. August 2022, 18:02

        In meinen Augen ist das gar nicht vergleichbar. Die meisten Religionen sind Orthopraxien, während das Christentum (und Judentum und Islam) Orthodoxien sind. Nur bei letzteren sind intellektuelle Debatten über philosophische Konzepte relevant.

      • Thorsten Haupts 16. August 2022, 19:29

        Das frühe Christentum war erst einmal ein personenbezogener Kult und damit den ‚philosophischen Religionen‘ Neuplatonismus oder Gnosis intellektuell eher unter- denn überlegen.

        Ach tatsächlich? Seit wann ist der Neuplatonismus eine „Religion“? Und gnostische Gruppen entsprangen – mit wenigen Ausnahmen – dem Christentum.

        Meine Abgrenzung war gegen die hellenistisch-römische, keltische und germanische Gotteswelt. Denen gemeinsam ist das Fehlen eines einheitlichen Gottesbildes, von Lehrmeinungen oder religiösen Vorschriften, sie sind keine Heilsreligionen, haben keinen bekannten Religionsstifter, ihnen fehlt eine konkrete Erlösungsvorstellung und deren Himmel sieht auch eher aus wie ein vergrössertes Hochzeitsbankett.

        Und dagegen war selbst das frühe Christentum, das ja über eine Vielzahl von Schriften mehr verfügte, als später orthodox oder katholisch kanonisiert wurden, philosophisch-intellektuell im Grössenordnungen überlegen. Es gibt schon Gründe über reine Unterdrückung hinaus, warum die genannten Religionen heute praktisch spurlos verschwunden sind. Wie eigentlich alle polytheistischen Religionen weltweit ohne theologisches Lehrgebäude (Ausnahme: Hinduismus, aber der genau hat dieses Lehrgebäude).

        Gruss,
        Thorsten Haupts

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