Strafen sind nicht immer die beste Lösung

Anmerkung: Der Artikel hieß früher „Die Lust zu strafen“. Ich habe das wegen der Kritik in den Kommentaren geändert.

„Strafe muss sein“, sagt der Volksmund. Nichts mögen Menschen so sehr, wie andere für echte oder vermeintliche Normenverstöße zu bestrafen, außer vielleicht, anderen genau das vorzuwerfen (ob Reichtum, ob Armut, irgendwas wird ja immer bestraft). Eine komplette Untersektion unseres Rechtssystems nennt sich bereits „Strafrecht“, in Abgrenzung von solchem Recht, das der Lösung von Konflikten dient. Ich habe zu wenig psychologische Kenntnisse um verlässlich herausarbeiten zu können, warum das Bestrafen uns Menschen so wichtig ist, aber es lässt sich verlässlich durch die Geschichte verfolgen, solange uns unsere Aufzeichnungen tragen. Wir sind dabei im historischen Vergleich milde geworden. Nicht umsonst sind „drakonische“ oder „mittelalterliche“ Strafen mittlerweile verpönt. Die Vorstellung, dass Verbrechen durch öffentliche Verstümmelungen gesühnt würden, ist glücklicherweise auf dem großen Misthaufen der Geschichte verschwunden (wenngleich sie dort nicht bleiben muss; Robert Heinlein hat ihre triumphale Rückkehr in seinen Science-Fiction-Vorstellungen verarbeitet). Trotzdem bleibt es uns eine Notwendigkeit, Strafen auszugeben. Wo das nicht geschieht, ist unser Rechtsempfinden gestört, gleich ob es sich um vergessene Hausaufgaben, Handtaschendiebstahl oder Mord handelt. Dabei wäre es an der Zeit, diese Lust am Strafen zu reflektieren und abzulegen. Sie ist nämlich für unser Gemeinwesen mehr als schädlich.

Das meint natürlich nicht, dass ab sofort keine Strafen für Mord mehr ausgegeben werden sollten. Aber lassen wir das Strafrecht erst einmal beiseite. Wir strafen nämlich nicht nur für das, was das Gesetz als Verbrechen definiert. Wir strafen auch für Verstöße gegen Erwartungen und Normen in der Gesellschaft.

Politik und Meinung

Verstöße gegen die herrschende Meinung waren schon immer durch Strafen bewehrt. Historisch gesehen durch staatliche und kirchliche Autoritäten, die direkte Maßnahmen ergriffen, aber immer schon durch soziale Strafen der jeweiligen Gemeinschaften. Wer gegen herrschende Normenvorstellungen verstieß, wurde sozial ausgeschlossen, entweder auf Zeit oder permanent. Das kann man auch in heutigen Debatten noch sehen. Die soziale Vernichtung von Gegner*innen ist leider ein permanentes Fixtum öffentlicher Diskurse.

Die Diskussion um „Cancel Culture“ etwa entsprach, bevor die Rechte den Begriff jeglicher Bedeutung entkleidete, genau diesem Problem. Studierende, die rassistische Lieder grölten, sollten von der Uni geworfen werden. Menschen, die hetzerische Facebook-Posts verfassten, sollten ihren Job verlieren. Und so weiter.

Auch gegnerische politische Gruppen werden oft bestraft. So ist es kein Zufall, dass Linke praktisch jede Politik mit der Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes verbinden. Genauso wenig ist die Vorstellung von Konservativen, dass man Transferempfänger*innen das Leben möglichst unangenehm machen müsste oder die Ablehnung von Angestellten des Öffentlichen Diensts und Beamt*innen durch Liberale zu nennen. Eine der größten Normenverstöße aber ist die Armut.

Armut

Armut ist ein Verstoß gegen Erwartungen der Gesellschaft. Menschen sollen in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, ohne anderen zur Last zu fallen. Tun sie das nicht, wird das als moralische Verfehlung gewertet. Diese Sicht gewann mit der Reformation (Stichwort calvinistische Erwerbsethik) deutlich an Gewicht, aber bereits vorher hatten arme Menschen deutlich weniger Rechte. In vielen Gesellschaften wurden sie in den Status der Unmündigkeit gestoßen. Mit der Aufklärung endeten solche Praktiken, um „aufgeklärten“ Maßnahmen Platz zu machen, etwa den Armenhäusern, wo die Menschen unter erbärmlichen Zuständen zwanghaft gehalten und ausgebeutet wurden. Die Zustände waren bewusst furchtbar, um „Anreize“ zu bieten, nicht mehr arm zu sein. Diese Logik findet sich, wenngleich natürlich stark abgefedert, auch in unserem heutigen Sozialstaat: Hartz-IV arbeitet ebenfalls explizit mit der Prämisse, dass arme Menschen einen Anreiz bräuchten, nicht arm zu sein, und drangsaliert diese, um ihnen die nötige Motivation zu geben.

Das Hartz-IV-Sanktionsregime ist sehr populär, wie übrigens alle solchen Spielarten. Es ist gleichzeitig völlig ineffizient und kontraproduktiv. Das „means testing“ in den USA etwa schafft Monsterbürokratien und kostet wesentlich mehr Geld als es potenziell sparen könnte, aber praktisch keine Mehrheit für eine Sozialmaßnahme ist ohne eine eingehende Prüfung der finanziellen Verhältnisse der Empfänger*innen vorstellbar. Armen Menschen werden entwürdigende Maßnahmen aufgebürdet und ihr Recht auf Privatsphäre wird praktisch aufgehoben, nicht weil es sinnvolle Politik wäre, sondern weil die Gesellschaft möchte, dass der Empfang dieser Leistungen mit einem Preis verbunden ist, einer Strafe.

Grundlage dafür sind zahlreiche Vorurteile und Mythen. Besonders hartnäckig hält sich der, dass Arbeitslose nicht engagiert nach Arbeit suchen. Das aber ist nachweislich nicht der Fall. Gleiches gilt für die Idee der „sozialen Hängematte“; in der gesellschaftlichen Imagination sind die Sozialleistungen immer absurd hoch und bequem. Dieser stets unterstellten staatlichen Bereitschaft, den Ärmsten auf Kosten der fleißigen Mehrheit ein schönes Leben zu machen (besonders absurd eingedenk dessen, dass arme Menschen praktisch nicht wählen) führt denn auch dazu, dass die meisten Sozialleistungen gar nicht den Armen zugute kommen. Und wenn, dann werden sie möglichst schnell wieder abgeschafft, wie das bei den Corona-Maßnahmen der Fall war.

Man sieht den Bedarf, Arme für die erhaltenen Leistungen zu bestrafen und zu kontrollieren, nirgendwo so deutlich wie in der Natur der Leistungen. Studie um Studie belegt, dass die effektivste Art, Armut zu bekämpfen, in möglichst direkten Geldtransfers besteht. Gleichzeitig sorgen die meisten Sozialsysteme dafür, dass die Transfers so indirekt und kompliziert wie möglich sind, am schlimmsten in den USA (ich sage nur: Foodstamps), am wenigsten schlimm in den skandinavischen Staaten. Aber gegen direkte Transfers regt sich immer massiver Widerstand. Sie müssen immer an Prüfungen, Durchleuchtungen, Offenlegungen und Bedingungen geknüpft sein, selbst wenn diese kontraproduktiv bei der Bekämpfung der Armut sind. Jüngst sah man das am Child Tax Credit in den USA. Die Ergebnisse waren überwältigend und brachten einen fast zehnfachen „return of investment„. Keine Corona-Hilfsmaßnahme war so erfolgreich, und keine wurde so schnell wieder abgeschafft: Direkttransfers an arme Menschen darf es nicht geben.

Obdachlosigkeit

Eine verschärfte Form der Armut ist die Obdachlosigkeit. In Deutschland hält sie sich als Phänomen glücklicherweise noch halbwegs in Grenzen, aber etwa in Großbritannien ist sie ein ständig sichtbares Phänomen:

Ich kann Simon beruhigen: das kann sehr richtig sein. Die Obdachlosen im UK sind selbst in den Touristengebieten der Städte ein alltäglicher Anblick. Natürlich tut die Stadt etwas dagegen: so werden vor Geschäften spitze Metallkegel installiert, werden Parkbänke mit metallenen Trennern versehen damit man sich nicht darauf legen kann oder laute Musik gespielt, damit die Obdachlosen nicht schlafen können. Was weniger gemacht wird ist, den Obdachlosen Unterkünfte zur Verfügung zu stellen.

Die Regel von bestehenden Obdachlosenunterkünften, in denen viele Menschen unter erbärmlichen Zuständen in einem Raum schlafen, ist, dass sie morgens verlassen werden müssen und dass man nicht mehrere Nächte hintereinander in derselben Unterkunft verbringen darf. Das zwingt die Menschen zu ständiger Wanderschaft und in prekäre Umstände, ohne irgendetwas an ihrer Situation zu ändern. Dabei gibt es eine ziemlich erfolgreiche Maßnahme, um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen: den Menschen Wohnraum zu geben.

Das Problem ist dasselbe wie oben bei Armut bereits beschrieben: der direkte Transfer ist nachweislich die beste Methode, um Wohnungsnot zu bekämpfen. Nichts bringt Menschen nachhaltiger in eigenen (!) Wohnraum wie ihnen einfach ohne jede Bedingung welchen zur Verfügung zu stellen. Aber genau das passiert nicht. Stattdessen überbieten sich die Systeme gegenseitig dabei, möglichst viele möglichst ineffiziente Programme aufzulegen, um ja das einfachste und effizienteste nicht tun zu müssen. San Francisco etwa baut keine Häuser, sondern Container. Billiger ist das nicht, aber dafür hat man sicher den Obdachlosen keine vernünftige Bleibe gegeben.

Kriminalität

Ein ähnliches Thema begegnet uns übrigens auch in der Drogenpolitik. Obwohl seit mittlerweile fast 30 Jahren genügend Belege vorliegen, dass die kontrollierte und beaufsichtigte Abgabe von geprüften Drogen für einen langsamen Entzug das beste Mittel ist, blockieren Regierende weltweit solche Umsetzungen immer wieder. Die Gründe sind stets die Gleichen: ein tiefsitzendes Unbehagen mit der Idee, illegale Rauschmittel an Kriminelle abzugeben (was sie effektiv sind). Obwohl die Maßnahme wesentlich bessere Ergebnisse erzielt als alle anderen, ist sie noch immer nicht über das Stadium von Feldversuchen hinausgekommen – vor allem, weil die Gesellschaft nicht bereit ist zu akzeptieren, dass Kriminelle für ihr Tun nicht bestraft werden, sondern dass man ihnen hilft.

Dasselbe gilt für die Strafen, die üblicherweise von Gerichten für Kriminalität vergeben werden. Sie dienen weitgehend dem „öffentlichen Interesse an Strafverfolgung“, also der Vorstellung, dass die Öffentlichkeit ein Interesse daran hat, dass es zu einer Bestrafung kommt. Wo Staatsanwält*innen dieses Interesse nicht sehen, können sie auf Strafverfolgung verzichten. Diese Strafen dienen denn zwei eigentlichen Zwecken: der Sühne und der Abschreckung. Was sie nicht leisten, ist nachhaltige Heilungsprozesse einzuleiten; häufig schaffen sie auch kein Unrechtsbewusstsein bei Täter*innen. Hier verspricht der Schwenk zur „restorative justice“ einen Paradigmenwechsel.

Überhaupt, Urteile. Wir sind bereits sehr weit gekommen, was die Haltung zu Verbrechen und Strafe angeht. Wegweisend war die Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre, die rhetorisch einen Schwenk von der Sühne als Hauptziel des Justizwesens hin zur Resozialisierung vollzog. Doch die Resozialisierung bleibt in vielen Fällen eine Worthülse. Es fehlt an Personal und an Einrichtungen, so dass häufig die Gefängnisrealität doch die einer Verwahrungsanstalt bleibt.

Den Grund dafür sehen wir in einem Kommentar von Thorsten Haupts zu einer Diskussion just zu diesem Thema in einem anderen Blogbeitrag hier: „Der reine Versuch, unsere nicht sonderlich strengen [Gefängnisstrafen, Anmerkung d. Autors] NOCH weiter zu reduzieren, wird eine Steilvorlage für Rechtspopulisten. Und clasht frontal mit dem Gerechtigkeitsverständnis der Bevölkerungsmehrheit.“ Haupts hat sicherluch Recht. Das Gerechtigkeitsverständnis der Bevölkerungsmehrheit ist, dass Strafe im Zentrum steht. Es ist die titelgebende Lust zu strafen. Und Rechtspopulisten haben sie sich schon immer zunutze gemacht. Bei praktisch jeder Wahl fischt die CDU in diesen Gewässern. „Tough on crime“ ist in den USA eine feststehende Redewendung (hierzulande vor allem „Recht und Ordnung“).

Es gibt praktisch kein Limit in der Diskussion, wenn es um Verschärfungen von Strafen geht. Man nehme ein besonders eindrückliches Beispiel: Kinderpornografie. Obwohl hinreichend bekannt ist, dass Pädophilie eine Krankheit ist, die die Betroffenen selbst mit unendlicher Willenskraft nicht ausschalten können und obwohl bewiesen ist, dass höhere Strafen nicht abschrecken (wohl aber die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden), ist die erste Reaktion, wann immer das Thema wieder in die Schlagzeilen kommt (wozu leider immer Anlass besteht), die Strafen zu erhöhen. Dass (angeblich) Pädophile im Gefängnis von ihren Mitinsassen drangsaliert werden, ruft meist ein Gefühl tiefer, moralischer Befriedigung hervor. Und so weiter.

Dabei gibt es, genauso wie bei der kontrollierten Drogenabgabe, längst Gegenbeispiele. Man nehmen diesen Bericht eines Gefängnis‘ in Norwegen, das Schwerverbrecher unterbringt und dennoch vor allem auf die Rehabilitation Wert legt, mit beeindruckenden Ergebnissen. Die Wächter dort laufen unbewaffnet herum. Notwendig dafür ist eine völlige Umstrukturierung: Gefängnisse dienen der Strafe, dienen dazu, möglichst viele Menschen auf möglichst engem Raum möglichst effektiv wegzusperren. Dieses Ziel steht aber Resozialisierung genauso entgegen wie das Verbringen von möglichst vielen Kindern in möglichst normierten, kleinen Zimmern, damit sie dort Denken lernen. Was uns zum nächsten Thema bringt.

Schule

Die Schule ist ein Ort, an dem Strafen in mehrerlei Hinsicht eine hervorgehobene Rolle spielen. Einmal ist das beim Erziehungsauftrag zu beobachten. Schulgesetz Paragraf 90 (in Baden-Württemberg) regelt „Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen“, also Verstöße gegen die Verhaltens-Norm. Gesetzlich geregelt sind zwei Strafen: Nachsitzen und Schulausschluss. Alles andere liegt im pädagogischen Ermessensspielraum (oder ist ausgeschlossen, etwa die Prügelstrafe). Explizit verboten ist übrigens auch das Bestrafen von Verhalten mit schlechten Noten, was leider zahlreiche Kolleg*innen nicht davon abhält, es trotzdem zu tun.

Diese Bestrafungen sind beliebt. Für mich als Lehrkraft ist es wesentlich einfacher, eine Strafe zu verhängen (vor allem, wenn es institutionalisierte Nachsitzen-Termine gibt, so dass der Aufwand für mich gleich null ist) als Maßnahmen zu ergreifen, die tatsächlich zu einer Verhaltensänderung führen könnten (oder, Schockschwerenot, zu der Einsicht, dass der Fehler vielleicht hinter statt vor dem Pult sitzt). Zu strafen befriedigt im Moment (Eltern können da ein Lied davon singen, siehe unten), hat aber meist keine dauerhafte Wirkung. Oft genug kommt man damit in eine Spirale. Da die letzte Strafe keine Wirkung zeigte, wird eine neue, harschere verhängt, die ebenfalls keine Wirkung zeigt (weil sie das zugrundeliegende Problem nicht löst). Die auch rechtlich vorgeschriebene „Eskalationsleiter“ wird so mit deprimierender Vorhersagbarkeit bis zum Schulausschluss durchgegangen.

Das heißt nicht, dass die Strafen nicht wirken KÖNNEN. Gerade bei solchen Schüler*innen, die intakte Elternhäuser haben UND anfällig gegenüber Strafen sind, weil das Fehlverhalten eine Ausnahme, einen Fehltritt, darstellt, können durch den „Schuss vor den Bug“ durchaus wieder in die rechte Bahn gelenkt werden. Aber wenn das nicht der Fall ist, müssen andere Mittel her, und viel zu oft ist das nicht der Fall.

Ein gänzlich anderer Bereich, in dem die Schule so systematisch und lustvoll straft, dass es uns schon gar nicht mehr auffällt, ist das Benotungswesen. Natürlich würden hier alle den Vorwurf entrüstet von sich weisen: Noten dienen der Leistungsmessung, nicht der Bestrafung! Allein, das ist nicht wahr, wie die jüngste Debatte um das „Leistungsprinzip“ zeigt. Der Präsident des so genannten „Lehrerverbands“ hatte gefordert, dass dieses „wieder“ Einzug in den Schulen halten müsse, was impliziert, dass es gerade nicht gilt (eine ganz eigene Debatte). Aber was er eigentlich fordert ist, mehr schlechte Noten zu vergeben:

„Was wir an unseren Schulen brauchen, und was gar nichts kosten würde, ist die klare Ausrichtung: „Leistung muss sich wieder lohnen“ […] „Schule ist ohnehin immer ein Schonraum, auch mit diesem Leistungsprinzip. Aber sie darf nicht zu einem alleinigen Schonraum verkommen,“ so der Chef des Lehrerverbands, der gymnasiale Lehrkräfte vertritt. „In viel zu vielen Schulen ist das Leistungsprinzip mittlerweile tabu!“ […] „Vielmehr ist seit einem guten Jahrzehnt ‚das Nicht-Beschämen der Schüler‘ das Prinzip, an dem sich viel zu viele Lehrkräfte orientieren.“ […] „Maximierung des Wohlfühlens der Kinder auf Kosten des Lernfortschritts.“ […] „Die Orientierung an anspruchsvollen Bildungszielen ist uns aber weitgehend verloren gegangen, sowohl für den Hauptschulabschluss wie für die Mittlere Reife und das Abitur“, schreibt Scholl. […] „Die Vergabe von vielen wertlosen Zeugnissen ist aber gerade kein Kennzeichen einer guten Schule oder eines guten Schulsystems!“ Auch Gymnasien seien nicht von der Tendenz zu immer besseren Noten verschont: „Das letztjährige Corona-Abitur hatte den besten Abi-Durchschnitt im Ländle, den es jemals gab“, legt der Verbandschef dar. (Quelle)

Das ist die Definition von „Leistungsprinzip“ bei Scholl. Einige wenige haben gute Noten, und die müssen sich dadurch abheben, dass es viele schlechte Noten gibt. Dahinter steckt das Verständnis von einer Notengebung als Belohnung und Bestrafung für „Leistung“ (was auch immer das genau sein soll). Es ist aber auch, wie PDrewes das treffend formuliert, dass „Wohlbefinden und Lernfortschritte nicht zusammen gedacht werden dürfen“. Die Qualität der Lehre zeigt sich quasi dadurch, dass viele scheitern. Diese Idee ist besonders in manchen Studiengängen an den Universitäten verbreitet, wo „herausgeprüft“ wird und Quoten von Durchzufallenden festgesetzt werden, was wohl die größte Perversion des „Leistungsprinzips“ überhaupt ist.

Erziehung

Der letzte Bereich, wo Strafen eine Rolle spielen – wahrscheinlich sogar die größte im Leben überhaupt – ist die elterliche Erziehung in der Kindheit. Hier hat glücklicherweise in der letzten Zeit ein massives Umdenken stattgefunden, das glaube ich in seiner Bedeutung noch weitgehend unterschätzt wird. Die Strafe war über Jahrtausende das ubiquitäre Erziehungsinstrument. Prügel und andere Körperstrafen; Stubenarrest; Entzug von Liebe, Nahrung oder sonstigen Dingen – sie bestimmten den Alltag von Kindern und wurden als völlig normal Generation um Generation reproduziert. Erst im 19. Jahrhundert fand ein langsames Umdenken statt, das vor allem am physischen Kindeswohl ausgerichtet war – Strafen mit physischen Langzeitfolgen fielen aus der Mode. Aber erst gegen Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts begann sich etwas Grundsätzliches in der Mentalität zu ändern.

Körperstrafen wurden bis zur Jahrtausendwende verpönt. Weiterhin war es zwar normal, dass Eltern „die Hand ausrutscht“, aber richtig organisiertes Verprügeln wurde tabu und war nun den Bösewichten von Kindergeschichten vorbehalten. Zog der Vater den Gürtel aus, war das ein klares Zeichen, dass er böse war. Die rot-grüne Regierung war es dann, die 2000 das Schlagen von Kindern generell kriminalisierte – gegen heftigen konservativen Protest. Es dauerte natürlich, bis sich diese Haltung auch wirklich in der Gesellschaft durchsetzte. Aber heute ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung weithin akzeptiert und wenigstens öffentliches Schlagen von Kindern stark tabuisiert.

Das gilt nicht für andere Formen von Gewalt. Hier findet in den letzten Jahren allerdings ebenfalls ein massives Umdenken statt, das Strafen generell als Gewalt betrachtett und aus dem Erziehungswerkzeugkasten verbannt. Dies folgt einer generellen Umdefinierung dessen, was „Gewalt“ eigentlich bedeutet. Wir sind weggekommen von einem rein körperlichen Verständnis, so dass psychische Gewalt mittlerweile in vielen Formen ebenfalls tabuisiert ist. Das Beschämen, Mobben oder Isolieren von Kindern, die bis vor Kurzem noch anerkannte Erziehungsmittel waren, gelten mittlerweile als verachtenswert.

Fazit

Ich glaube, dass der Wandel weg vom alten Strafenregime in der Erziehung auch deswegen so weit fortgeschritten ist, weil wir zu unseren Kindern am einfachsten ein emotionales Band knüpfen können, das diesen Wandel eingängig und nachvollziehbar macht. Es ist wenig verwunderlich, dass nach der privaten Erziehung die Schulen am weitesten fortgeschritten sind, während die zunehmende Entfernung von den Täter*innen – Universitäten und andere höhere Bildungseinrichtungen, Arbeitswelt, Politik, Kriminalität – umso bereitet macht, zu Strafen zu greifen. Da wir aber als Gesellschaft immer empathischer werden steht zu hoffen, dass wir in den kommenden Dekaden unser Mitgefühl auch auf Menschen ausweiten werden, mit denen wir nicht in direktem Kontakt stehen.

Linksammlung:

Armut:

Obdachlosigkeit:

Kriminalität:

Schule:

Erziehung

{ 64 comments… add one }
  • Tim 18. August 2022, 12:38

    Interessante Zusammenstellung, merci.

    Nichts mögen Menschen so sehr, wie andere für echte oder vermeintliche Normenverstöße zu bestrafen,

    Hinter der Neigung zu strafen steht letztlich der Glaube vieler Menschen, andere Menschen beherrschen zu dürfen. Genauer: Menschen in einem bestimmten Gebiet beherrschen zu dürfen, zu dem man sich selbst auch zugehörig fühlt. Noch genauer: Menschen auch ohne deren Zustimmung beherrschen zu dürfen („staatliches Gewaltmonopol“).

    Es ist wichtig, dies als Glaube zu identifizieren. Es ist eine Baustelle, die wir seit der Aufklärung noch mit uns rumschleppen.

    • Stefan Sasse 18. August 2022, 14:00

      Wohl wahr!

      • Thorsten Haupts 18. August 2022, 15:24

        Hinter der Neigung zu strafen steht letztlich derGlaube vieler Menschen, andere Menschen beherrschen zu dürfen. …

        Nein. Dahinter steht, dass sehr, sehr vielen Menschen das Selbstbewusstsein fehlt, ihr gewähltes Lebensmodell achselzuckend auch dann zu leben, wenn andere ein grundsätzlich anderes leben oder predigen. Simpler und uralter Gruppendruck, der in der Vergangenheit vermutlich überlebensnotwendig war. Ob er das heute noch ist, wird die Zeit zeigen.

        Hat weder mit Strafneigung noch Beherrschungsdrang zu tun.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

    • Erwin Gabriel 18. August 2022, 15:03

      @ Tim 18. August 2022, 12:38

      Hinter der Neigung zu strafen steht letztlich der Glaube vieler Menschen, andere Menschen beherrschen zu dürfen.

      Schon dieser Satz wäre viele Seiten Antwort wert. Angefangen mit: Was steht dann hinter dem Gedanken, sich über Recht, Gesetz und andere Regeln hinwegzusetzen? Zu schnell zu fahren? Die eigene Frau zu schlagen? Andere zu bestehlen?

      Genauer: Menschen in einem bestimmten Gebiet beherrschen zu dürfen, zu dem man sich selbst auch zugehörig fühlt. Noch genauer: Menschen auch ohne deren Zustimmung beherrschen zu dürfen („staatliches Gewaltmonopol“).

      Können Gesellschaften ohne regeln funktionieren? Wenn das (was ich glaube) nicht der Fall ist, muss es Regeln geben, muss es Sanktionen für Regelverstöße geben.

      Es ist wichtig, dies als Glaube zu identifizieren.

      Das sehe ich (siehe oben) nicht. Was ich aber sehe, ist, dass ich zur Weltherrschaft nicht tauge. Weder Neigung noch Lust, andere Menschen zu bestrafen oder zu beherrschen.

  • Thorsten Haupts 18. August 2022, 14:53

    Das Schöne an diesem Beitrag ist, dass ich die vor seinem Lesen mit mir selbst abgeschlossene Wette natürlich gewonnen habe:

    Der Autor geht auf die echten Knackpunkte von Strafe überhaupt nicht ein:

    1) Die Bestrafung für schwerwiegende Verbrechen, die deren Opfer psychisch (Einbruch) oder/und physisch (gewalttätiger Raub, Vergewaltigung von Kindern) schwer und häufig genug nicht reparierbar schädigt bzw. ihre Existenz beendet (Totschlag/Mord). Mit den diese Verbrechen begehenden Leute WILL ich keine emotionale Verbindung eingehen, die behalte ich deren Opfern vor.

    2) Die Bestrafung für Verbrechen, die das öffentliche Vertrauen nachhaltig schädigen, wie Amtsmissbrauch, Vorteilsnahme im Amt, Handtaschen- oder Brieftaschendiebstahl etc. Diese Vergehen sind oft „klein“, aber mit enormer Wirkung für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Vertrauen. Auch hier WILL ich keinerlei Verständnis entwickeln.

    Die von Stefan genannten Beispiele für fehllaufende „Straf“-Methoden kann ich weitgehend unterschreiben, habe nur den Eindruck, dass sie teilweise falsch gelabelt sind. Zumindest bewusst hat z.B. die Behandlung von Obdachlosen in Deutschland – in der Grössenordnung von mehreren hunderttausend Menschen übrigens kein kleines Problem – nichts mit Strafe zu tun, zumindest nicht bewusst. Und nicht alles, was als Strafe empfunden werden kann, ist auch eine (Noten sind ein point in case).

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 18. August 2022, 22:33

      1) So nicht pauschal korrekt. Es gibt zweifellos Fälle, in denen das so ist, aber es gibt auch Gegenbeispiele. Das heißt ja auch nicht, dass Mörder nicht mehr in den Knast kommen. Sondern dass sie eben viel mehr mit der Tat selbst konfrontiert sein sollen.

      2) „Verständnis“ ist keine relevante Kategorie.

    • einfachnurRoland 20. August 2022, 22:20

      Sie wetten mit sich selbst, dass sie zum Thema Strafen von einem Geschichtslehrer keine juristische Abhandlung erhalten?

      …wenn einem das Gewinnen soooo wichtig ist, bitte.

      Wenn Sie an ihren Punkten tatsächliches Interesse haben, können Sie ja mal bei ZON im Archiv nachsehen, ob dort noch die Kolumne „Fischer im Recht“ zu finden ist. Die war sehr erhellend.

      • Thorsten Haupts 21. August 2022, 21:23

        Meine rhetorischen Figuren kommentiere ich nicht :-).

        Ich habe Fischers Kolumne sehr geschätzt, war aber in bestimmt 50% der von ihm aufgegriffenen Fälle anderer Auffassung, als er. Sein unbestrittener Status als Spitzenjurist qualifiziert ihn weit vor mir als Interpret existierenden Rechtes, in Fragen der Ethik oder der politischen Praxis äusserte er auch nur den klassischen „educated guess“ gebildeter Staatsbürger.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

      • cimourdain 22. August 2022, 14:01

        Fischer schreibt immer noch erhellend und diskussionswürdig – jetzt auf SPON, hier z.B. zum Thema:
        https://www.spiegel.de/panorama/justiz/im-namen-des-volkes-wie-viel-strafe-muss-sein-kolumne-a-bf30a484-285e-41be-8021-6f7e9d60d62c

  • Erwin Gabriel 18. August 2022, 14:56

    @ STEFAN SASSE on 18. AUGUST 2022

    Vorab: Wirklich spannendes, nachdenklich machendes Thema. Danke dafür, und Respekt für Deine Kommentierfreude hier. Sind wohl gerade Ferien 🙂

    Ich weiß gar nicht, wo ich hier anfangen soll. Vermutlich mit den Beschränkungen, den meine Antwort unterliegt.

    Ich bin kein Wissenschaftler. Meine Empathie hat Grenzen (die durchaus auch in finanziellen Beschränkungen liegen). Ich bin eher gegen staatliche Geschenke ohne Gegenleistung. Ich unterscheide zwischen „wünschenswert“ und „machbar“. Ich bin der grundsätzlichen Meinung, dass jeder Mensch eine gewisse Verantwortung für sein Leben hat. Und ich bin nicht der Meinung, dass sich jede Person zum Besseren (was immer das im Einzelfall sein mag) wenden lässt, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Und ich lehne stark ab, jede Konsequenz auf Fehlverhalten als „Strafe“ zu brandmarken.

    Ich habe zu wenig psychologische Kenntnisse, um verlässlich herausarbeiten zu können, warum das Bestrafen uns Menschen so wichtig ist, aber es lässt sich verlässlich durch die Geschichte verfolgen, solange uns unsere Aufzeichnungen tragen.

    Wenn Dir die (psychologischen) Kenntnisse fehlen, um beurteilen zu können, was das in uns ist, dass uns zur Strafe treibt, stellt sich mir die Frage, was der Artikel für einen Sinn macht.

    Politik und Meinung

    Verstöße gegen die herrschende Meinung waren schon immer durch Strafen bewehrt. Historisch gesehen … immer schon durch soziale Strafen der jeweiligen Gemeinschaften. Wer gegen herrschende Normenvorstellungen verstieß, wurde sozial ausgeschlossen, entweder auf Zeit oder permanent.

    Gelegentlich, wenn es sich vom Thema her anbietet, schaue ich mir an, wie es Mutter Natur macht. Und da kann man bei vielen Lebewesen, die in Gruppen leben, eine starke gemeinschaftliche Bindung feststellen, die sich auch in starker Ablehnung von nicht der Gruppe zugehörigen Exemplare richtet.

    Kann es sein, dass dies ein grundsätzlicher Schutzmechanismus ist?

    Armut
    Armut ist ein Verstoß gegen Erwartungen der Gesellschaft.

    Sehe ich nicht so.

    Menschen sollen in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, ohne anderen zur Last zu fallen. Tun sie das nicht, wird das als moralische Verfehlung gewertet.

    Hier sehe ich den Verstoß gegen die Erwartungen der Gesellschaft.

    Die Zustände waren bewusst furchtbar, um „Anreize“ zu bieten, nicht mehr arm zu sein. Diese Logik findet sich, wenngleich natürlich stark abgefedert, auch in unserem heutigen Sozialstaat: Hartz-IV arbeitet ebenfalls explizit mit der Prämisse, dass arme Menschen einen Anreiz bräuchten, nicht arm zu sein, und drangsaliert diese, um ihnen die nötige Motivation zu geben.

    Linker Neusprech und Totschlag-Rhetorik– sorry.

    Wieviel, wie wenig jemand hat, ist doch egal, solange diese Person anderen nicht „auf der Tasche liegt“. Dementsprechend zielen Anreize nicht dahin „nicht arm“ zu sein, sondern sich so zu verhalten, dass man anderen nicht auf der Tasche liegt.

    Hartz IV (dass übrigens die Standards der meisten Länder dieser Welt übertrifft) „drangsaliert“ auch nicht; nachdem Du zuerst eine „Lust“ am Strafen postulierst, erklärst Du anschließend Konsequenz aus Fehlverhalten als Strafe. Ich sehe, was Du hier tust. Du auch?

    … aber praktisch keine Mehrheit für eine Sozialmaßnahme ist ohne eine eingehende Prüfung der finanziellen Verhältnisse der Empfänger*innen vorstellbar. Armen Menschen werden entwürdigende Maßnahmen aufgebürdet und ihr Recht auf Privatsphäre wird praktisch aufgehoben, nicht weil es sinnvolle Politik wäre, sondern weil die Gesellschaft möchte, dass der Empfang dieser Leistungen mit einem Preis verbunden ist, einer Strafe.

    Jetzt wird es albern. Natürlich muss eine geforderte Sozialmaßnahme mit einer Bedürfnisprüfung einhergehen. Sonst würde sich der Großteil der Bevölkerung für bedürftig erklären und mit Verweis auf die Privatsphäre die Bedürftigkeitsprüfung verweigern.

    Jeder, der für einen Hauskauf einen Kredit beantragt, wird auch einer solchen Prüfung unterzogen. Natürlich kann sich die betreffende Person dieser Prüfung entziehen, indem sie auf den Kredit verzichtet. Aber jeder Hartz-IV-Empfänger kann sich der Prüfung auf die gleiche Weise, durch Nichtbeanspruchung der Leistung, entziehen.

    Deine Vorstellung von „entwürdigend“ sind schon eigenartig.

    Besonders hartnäckig hält sich der, dass Arbeitslose nicht engagiert nach Arbeit suchen. Das aber ist nachweislich nicht der Fall.

    Da habe ich schon besser begründete Aussagen von Dir gelesen. Ein Institut befragt Arbeitslose, ob sie Arbeit suchen. 94 % sagen „ja“ – aha.

    Was hier wohl eher ein Problem ist, dass ein jeder eine Erwartungshaltung an Jobs bzw. an seine Lebensumstände hat, die über die reine Geldversorgung hinausgehen. Warum (nur ein beliebiges Beispiel, keine konkrete Forderung) sollte eine ausgemusterte Chefsekretärin nicht als Bedienung in einem Restaurant arbeiten, oder sich auf Altenpflegerin umschulen lassen? Zu viel Arbeit? Zu wenig Geld? Kaputte Füße? Andere muten sich diese Arbeit doch auch zu …

    Die Frage ist doch, was einen höheren Stellenwert hat: Das (vielleicht einstmals vorhandene) Niveau des Jobs bzw. der Anspruch auf ein gewisses Maß an Bequemlichkeit, oder die Fähigkeit, sich selbst über die Runden zu bringen, ohne die Gesellschaft zu belasten, selbst wenn es für einen selbst mit Komforteinschränkungen verbunden ist. Dieses Kriterium angelegt, wären vielleicht nicht alle, aber viele Arbeitslose weniger da.

    Versteh mich da nicht falsch: Das kann man durchaus offen diskutieren. Hier habe ich keine feste Meinung und bin durchaus auch ein Stück weit offen. Aber Deine Schwarz-Weiß-Zeichnung stimmt nicht.

    Gleiches gilt für die Idee der „sozialen Hängematte“; in der gesellschaftlichen Imagination sind die Sozialleistungen immer absurd hoch und bequem. Dieser stets unterstellten staatlichen Bereitschaft, den Ärmsten auf Kosten der fleißigen Mehrheit ein schönes Leben zu machen (besonders absurd eingedenk dessen, dass arme Menschen praktisch nicht wählen) führt denn auch dazu, dass die meisten Sozialleistungen gar nicht den Armen zugutekommen.

    Nun ja: Wo es über die reine Grundversorgung – Nehrung, Kleidung, Dach über dem Kopf, Krankenversorgung, Bildungszugang, körperliche Unversehrtheit, Rechtssicherheit – hinausgeht, diskutieren wir über Luxus; ein Fernseher ist ein Luxusgegenstand. Auch hier bin ich durchaus dafür zu haben, einen gewissen Lebensstandard sicherzustellen, aber das sollte man dann auch so nennen.

    Dass die meisten Maßnahmen weder von den wirklich Reichen bezahlt werden noch die wirklich Armen erreichen, ist leider wahr, bestätigt aber auch meine Aussage.

    Man sieht den Bedarf, Arme für die erhaltenen Leistungen zu bestrafen …

    Das ist nur Deine Einbildung. Es geht darum, ein System aufzubauen, was den Bedürftigen hilft, ohne dass es ausgenutzt werden kann. Dass man diesen Zweck nicht erreicht und die Umsetzung überbürokratisiert, ineffizient und sonst wie fehlerbehaftet ist, wird wohl von niemandem bestritten.

    Direkttransfers an arme Menschen darf es nicht geben.

    Hier liegen wir etwas näher beieinander. Könnte man mal ausprobieren.

    Obdachlosigkeit

    Nichts bringt Menschen nachhaltiger in eigenen (!) Wohnraum wie ihnen einfach ohne jede Bedingung welchen zur Verfügung zu stellen. Aber genau das passiert nicht.

    Ich verstehe den Punkt, teile ihn ein stückweit, und sehe die Machbarkeit angesichts des unglaublichen mangels an bezahlbarem Wohnraum nicht. Es gibt am unteren Ende der Nahrungskette einen knallharten Verdrängungswettbewerb. Wie will man jemandem mit geringem Einkommen, der vergeblich eine aus seinem prekären Gehalt bezahlbare Wohnung sucht, klarmachen, dass andere Wohnraum „geschenkt“ bekommen (z.B. Obdachlose) oder bei der Vergabe von Sozialwohnungen bevorzugt werden (z.B. Flüchtlinge)? Da liegt ein unglaublicher Sozialer Sprengstoff.

    Kriminalität

    Obwohl seit mittlerweile fast 30 Jahren genügend Belege vorliegen, dass die kontrollierte und beaufsichtigte Abgabe von geprüften Drogen für einen langsamen Entzug das beste Mittel ist, blockieren Regierende weltweit solche Umsetzungen immer wieder. Die Gründe sind stets die Gleichen: ein tiefsitzendes Unbehagen mit der Idee, illegale Rauschmittel an Kriminelle abzugeben (was sie effektiv sind).

    Mein Bauch teilt das Unbehagen, mein Kopf stimmt Dir zu. Aber ich würde versuchsweise mitgehen.

    … der Sühne und der Abschreckung. Was sie nicht leisten, ist nachhaltige Heilungsprozesse einzuleiten; häufig schaffen sie auch kein Unrechtsbewusstsein bei Täter*innen.

    Hier liegen wir weit auseinander. Auf Bestrafung etwa von Ladendiebstahl zu verzichten, weil es nichts bringt? Die Gesellschaft ist dafür verantwortlich, die Begeher von Straftaten sich ändern? Whoa …

    Ich kann mich, etwa für gewalttätige Jugendliche aus untauglichen Erziehungsumständen, durchaus mit dem Gedanken anfreunden, dass es Maßnahmen gibt, die ihnen in ein „normales“ Leben zurückhelfen. Aber vom notorischen Raser über Steuerhinterzieher, Alte-Omas-Betrüger, Frauenvergewaltiger oder erwachsenem Gewalttäter bin ich der Meinung, dass „Strafe“ (vom Erziehungsmittel bis zur Rache gedacht) sein MUSS. Nicht, weil ich „Lust“ daran empfinde, sondern weil ich das für nötig erachte, um die Gemeinschaft funktionsfähig zu halten.

    Das Gerechtigkeitsverständnis der Bevölkerungsmehrheit ist, dass Strafe im Zentrum steht. Es ist die titelgebende Lust zu strafen.

    🙁 Vielleicht hat Strafen bei Dir mit Lust zu tun; mich macht das nicht an. Für mich ist es eher eine Notwendigkeit, die ich mir gerne mangels Anlass verkneifen würde.

    Und Rechtspopulisten haben sie sich schon immer zunutze gemacht. Bei praktisch jeder Wahl fischt die CDU in diesen Gewässern. „Tough on crime“ ist in den USA eine feststehende Redewendung (hierzulande vor allem „Recht und Ordnung“).

    Never miss a chance? Der Laissez-faire-Ansatz der Linken ist halt andersherum, aber genauso Scheiße.

    Obwohl hinreichend bekannt ist, dass Pädophilie eine Krankheit ist, die die Betroffenen selbst mit unendlicher Willenskraft nicht ausschalten können und obwohl bewiesen ist, dass höhere Strafen nicht abschrecken (wohl aber die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden) …

    Wer sich durch was sexuell erregen lässt, ist sicherlich nicht frei steuerbar. Aber wenn eine „unendliche Willenskraft“ nicht ausreicht, kleine Kinder vernichtend zu schädigen und zu zerstören, eine hohe Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, dagegen schon, dann scheint mir die Willenskraft so unendlich nicht zu sein. Und selbst wenn man sich von dem Trieb nicht freimachen kann, ist doch der Weg offen, sich zu melden und um Hilfe nachzusuchen. Das nicht zu tun ist eine aktive Entscheidung.

    Hier gilt für mich: Im Zweifelsfalle wegsperren bis zum Tod – lieber den von der Krankheit Betroffenen belasten als unschuldige Opfer zu riskieren.

    Schule

    Abgesehen davon, dass mir Deine Methode nicht gefällt, alle Strafen in den gleichen Sack zu stecken, mache ich es mir hier leicht und folge Deiner höheren Kompetenz.

    Erziehung
    Hier halte ich mich lieber raus. Ich habe an der Erziehung meiner Kinder aufgrund meiner beruflichen Aktivitäten nur sehr eingeschränkt mitwirken können. Darüber hinaus habe ich nur Töchter, was mir einige Herausforderungen ersparte. Mehr als anekdotische Evidenz und fest gefügte Vorurteile habe ich hier nicht zu bieten, und die will ich Dir ersparen.

    • Stefan Sasse 18. August 2022, 22:39

      Danke für das Lob. An dem Artikel hab ich Wochen und Wochen geschrieben, das war eine echt schwierige Geburt…

      Politik: Gehe ich davon aus, ja. Aber: wir haben als Spezies schon diverse „natürliche“ Prägungen überwunden.

      Armut: Ich habe da nicht präzise genug formuliert. Eine grundlegende Bedürftigkeitsprüfung macht natürlich Sinn, aber H4 geht da teilweise schon weit über das notwendige Maß raus.
      Direkttransfers: da gibt es immer wieder Studien, deren Ergebnisse dann ignoriert werden 😀

      Obdachlosigkeit: Völlige Zustimmung, aber das mittlerweile jahrzehntlange Nichtstun des Staates beim Wohnraumproblem ist auch einfach indiskutabel.

      Kriminalität: Moment, es soll nicht darum gehen, auf Strafe komplett zu verzichten, sondern diese so zu gestalten, dass sie in stärkerem Bezug zum Vergehen und stehen und der Heilung/Wiedergutmachung dienen. Meine Kritik ist, dass das Bedürfnis ist, den Leuten möglichst weh zu tun als Strafe – DAGEGEN wehre ich mich. – Dass Strafen für viele eine Lust ist, kannst du in der Debatte gut sehen. Die emotionale Verve, mit der sie eingefordert werden, ist ziemlich offensichtlich.

      Schule: Danke 😀

      Erziehung: Verständlich.

      • Erwin Gabriel 19. August 2022, 10:06

        @ Stefan Sasse 18. August 2022, 22:39

        Politik: Gehe ich davon aus, ja. Aber: wir haben als Spezies schon diverse „natürliche“ Prägungen überwunden.

        Welche? 🙂
        Hier ist ein Punkt, wo wir weit auseinander liegen. Selbst wenn sich die Umstände ändern, ändert sich die Prägung nur selten.
        Beispiel Balzverhalten: Weibchen sucht in der Regel Stärke bzw. Schutzfähigkeit (ob die nun in Physis, Intellekt, Macht oder Vermögen liegen mag), Männchen geht im Normalfall auf Attraktivität (was immer das zur welcher Zeit auch heißen mag). Alpha-Männchen „posen“ immer noch gegeneinander, ob sie das über Statussysmbole, Macho-Auftreten oder Machtspielchen ausfechten. Überall dort, wo ein Krieg ausbricht, hast Du sofort Exzesse von hemmungsloser Gewalt. Überall dort, wo es um knappe Ressourcenverteilung (Wasser, Essen) geht, gilt automatisch das Recht des Stärkeren, und alle anderen fügen sich, bilden sich Gruppen und Banden mit klaren Hierarchien. Überall, wo direkte Bedrohungen auftauchen, wird es „irrational“, schaltet das Gehirn von Großhirn auf Stammhirn.

        Das mag nicht in jedem Falle für jede Situation, für jedes Exemplar unserer Spezies gelten, aber es gilt für unsere Spezies. Unsere „Programmierung“ ist 100.000 Jahre alt, und wird nur durch eine sehr, sehr dünne Schicht „Zivilisation“ halbwegs in Schach gehalten.

        Armut: Ich habe da nicht präzise genug formuliert. Eine grundlegende Bedürftigkeitsprüfung macht natürlich Sinn, aber H4 geht da teilweise schon weit über das notwendige Maß raus.

        Das denke ich auch jedes Mal, wenn wir mit einer Bank verhandeln. Bin mir nicht ganz sicher, ob das nur auf ein Strafbedürfnis zurückzuführen ist.

        Direkttransfers: da gibt es immer wieder Studien, deren Ergebnisse dann ignoriert werden 🙂

        Mag sein. Die allermeisten Leute, die ich kenne und die (meist unverschuldet) arbeitslos wurden (mich eingeschlossen), fielen auf die eine oder andere Art wieder auf die Füße. Ich habe auch sehr wenige kennengelernt, die hätten Arbeiten können, aber nicht wollten. Da stimmte eigentlich alles: Die waren körperlich und geistig fähig zu arbeiten, aber wollten einfach nicht, weil sie es sich bequem eingerichtet haben. Leute, die wirklich suchen und nichts finden, kenne ich aber nicht (und zugegeben, alleinerziehende Mütter fallen unten raus).

        Ich kenne Deinen Standardeinwand hier, und lasse ihn schon mal gelten. 🙂

        Obdachlosigkeit: Völlige Zustimmung, aber das mittlerweile jahrzehntlange Nichtstun des Staates beim Wohnraumproblem ist auch einfach indiskutabel.

        Absolut. Man hat es solange schleifen lassen, bis man nun nicht mehr in der Lage ist, das Problem zu lösen. Inzwischen gibt es Politiker, die wollen, aber das sind eben Politiker (Hauptkompetenz: Kompromisse machen).

        Und ja, das hat auch etwas mit der Höhe der Sozialausgaben zu tun (die Fettung soll betonen, dass ich mich wie stets nicht auf das beziehe, was die Leute bekommen, sondern auf das, was der Staat ausgibt – ist nicht das Gleiche, auch wenn ich in der Regel gerne in diese Richtung missverstanden werde).

        Kriminalität: Moment, es soll nicht darum gehen, auf Strafe komplett zu verzichten, sondern diese so zu gestalten, dass sie in stärkerem Bezug zum Vergehen und stehen und der Heilung/Wiedergutmachung dienen.

        Da können wir uns treffen. Steuersünder mit jahrelangem Knast zu bestrafen, anstatt ihnen VIEL Geld wegzunehmen, leuchtet mit nicht ein. Gewalttäter mit geringen (Bewährungs-)Strafen davonkommen zu lassen, ebenfalls nicht.

        Meine Kritik ist, dass das Bedürfnis ist, den Leuten möglichst weh zu tun als Strafe – DAGEGEN wehre ich mich.

        Hmm, da habe ich je nach Delikt ein Stückweit Verständnis für, erst Recht, wenn es um Menschen geht, die anderen sehr weh getan haben.

        Dass Strafen für viele eine Lust ist, kannst du in der Debatte gut sehen. Die emotionale Verve, mit der sie eingefordert werden, ist ziemlich offensichtlich.

        Kann man eigentlich nicht; man sieht etwas anderes: Der Tenor Deines Artikels geht schon sehr in die Richtung, dass Strafen blöd und weitgehend überflüssig sind, und Du hast Dir ja nun mit Themen wie Schule, Erziehung, Drogen, Armut etc. Punkte ausgesucht, wo man schon sehr darüber diskutieren kann, ob Sanktionen oder Reaktionen in diesen Bereichen sinnvoll oder auch mit „Strafe“ richtig umschrieben sind.

        Wenn Du aber beispielsweise die Benotung in Schulen mit „Strafe“ bezeichnest – ein Wort, dass im Großteil der Bevölkerung eher im Zusammenhang mit „härteren“ Vergehen verstanden wird – entsteht eben der Eindruck, dass Du Strafe auch für härtere Vergehen ablehnst. Das wird kein normaler Mensch verstehen.

        Und wo wir beispielsweise im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg die Diskussion hatten, dass keine Entscheidung auch eine Entscheidung ist – eine duldende, indirekt zustimmende, ist ein Verzicht auf Strafe eben auch eine zustimmende, duldende Einstellung zur Straf-Tat.

        Bei einem Schüler mag man ich ein nicht der Norm entsprechendes Verhalten dulden, beim Drogensüchtigen vielleicht den Besitz kleiner Mengen von Rauschmitteln nachsehen. Bei Gewalttätern habe ich keinerlei „Erbarmen“.

        Wo die Grenze für mein Mitgefühl liegt, habe ich mit dem psychisch angeschlagenen Jugendlichen beschrieben. Es mag auch Fälle in extrem schwierigen Beziehungen geben, wo man nach einer groben Tat eine Wiederholungsgefahr ausschließen, wo eine Behandlung/Resozialisierung Sinn machen kann.

        Darüber hinaus – erst recht, wenn es in Richtung Kindesmissbrauch geht – mache ich lieber den Täter kaputt, als ein weiteres Risiko für die Gesellschaft zu akzeptieren. Aber das hat nichts mit „Lust“ oder „Rache“ zu tun, sondern mit Notwehr.

        • Thorsten Haupts 19. August 2022, 14:41

          Re Strafe: Auf den Punkt, durchgehend.

        • Stefan Sasse 19. August 2022, 16:54

          Politik: Wir haben massive gesellschaftliche Wandel hingelegt. Von der Gewalt über die Rechte von Minderheiten zum Umgang mit Kindern. Ich bin da optimistischer als du, glaube ich.

          Armut: Mir ist etwas unklar, was das Thema Direkttransfers mit Leuten, die nicht arbeiten wollen, zu tun hat.

          Obdachlosigkeit: Zustimmung.

          Kriminalität: Diesen Eindruck wollte ich nicht erwecken. Aber ich sage bereits in der Übschrift, dass eine Lust zu strafen besteht. Das heißt weder, dass Strafen grundsätzlich schlecht sind noch dass diese Lust überall die gleiche Ausprägung hat. Ich

          • Erwin Gabriel 20. August 2022, 08:51

            @ Stefan Sasse 19. August 2022, 16:54

            Politik: Wir haben massive gesellschaftliche Wandel hingelegt. Von der Gewalt über die Rechte von Minderheiten zum Umgang mit Kindern.

            Schönwetter-Politik hierzulande, unter optimalen Bedingungen. Geh in ärmere Länder, lass einen Krieg oder eine Hungersnot kommen (oder lass die Taliban Kabul erobern und mal sehen, was im zivilen Teil der Bevölkerung von der Zivilisation übrigbleibt).

            Armut: Mir ist etwas unklar, was das Thema Direkttransfers mit Leuten, die nicht arbeiten wollen, zu tun hat.

            Sind Direkttransfers, die die Leute nicht auf die eigenen beine stellen. Ist aber vielleicht von der Schicht etwas hoch gegriffen, Du meinst vermutlich die Etage drunter. Dann: Missverständnis meinerseits.

            Kriminalität: Diesen Eindruck wollte ich nicht erwecken. Aber ich sage bereits in der Überschrift, dass eine Lust zu strafen besteht.

            Das sehe ich immer noch nicht. Da ist Tim mit seiner Erläuterung in Richtung „Macht ausüben“ meiner Meinung nach dichter dran.

            Das heißt weder, dass Strafen grundsätzlich schlecht sind …

            Soweit Zustimmung

            • Stefan Sasse 20. August 2022, 11:17

              Politik: Ich hoffe, dass das nicht so ist.

              Armut: Direkttransfers sind die einzige Möglichkeit, die Leute auf eigene Beine zu stellen. Diese überbürokratisierten zweckgebundenen Hilfen sind dafür doch scheiße.

              Kriminalität: Ah, verstehe. Ich denke, hinter „macht ausüben“ kann ich mich auch stellen.

              • Erwin Gabriel 20. August 2022, 17:08

                @ Stefan Sasse 20. August 2022, 11:17

                Kriminalität: Ah, verstehe. Ich denke, hinter „macht ausüben“ kann ich mich auch stellen.

                Ich sehe je nach Persönlichkeit eher Rache, verbunden mit Machtgefühl. Aber zum Beispiel nicht für mich. Ich will keine Strafen, weil ich keine vergehen will, und wenn, geht es bei mir in Richtung „Schutzmechanismus“.

                Die Verbindung der Themen „Strafe“ und „Lust“ gehört für mich eher in einen ganz speziellen zwischenmenschlichen Bereich, den ich aber nicht weiter erörtern möchte.

                • Stefan Sasse 20. August 2022, 18:05

                  Das ist natürlich aber auch Semantik 😉

                  • Erwin Gabriel 21. August 2022, 12:45

                    @ Stefan Sasse 20. August 2022, 18:05

                    Das ist natürlich aber auch Semantik

                    Lust ist für mich ein sexuelles Thema. Aber Rache ist kein sexuelles Thema. Macht kann sexuelle Aspekte haben, bzw. klarer formuliert, kann es im Bereich Sex auch mal um Macht gehen.

                    Strafe als gesellschaftliche Funktion ist etwas vollkommen anderes. Selbst wenn es Leute gibt, die sich durch Machtausübung angemacht oder erregt fühlen, und die das ein Stück weit „virtuell“ (etwa durch Forderungen nach oder Ausmalen von Bestrafungen) ausleben, ist das nicht die Triebfeder für Strafen. Auch wenn Du all diese Leute aus dem Prozesse heraushalten kannst und nur Leute wie ich oder Du (soll heißen, dass ich auch Dir nicht zutraue, lustvoll zu strafen) zu entscheiden haben, würde es Strafen geben.

                    Du schmeißt daher drei Dinge durcheinander, die nicht zusammen gehören.
                    • Die Strafe als Schutzfunktion der Gesellschaft (etwa durch Strafrecht)
                    • Ganz normale gesellschaftliche Konventionen und Normen (Bedürftigkeitsprüfung, Notengebung)
                    • Machtausübung als sexuellen Stimulans.

                    Selbst wenn es in irgendeiner kleinen Gruppe von Menschen Überlappungen geben mag, bleibt, dass es Strafe auch ohne einen möglichen Aspekt geben würde. Wenn Du also auf „Die Lust zu strafen“ abhebst und das wirklich Dein Thema sein soll, müsstest Du über diese betreffenden Personen kommen. Tust Du aber nicht.

                    Deswegen passen ich in Deinem Kommentar Inhalt und Überschrift nicht zusammen, und von den verschiedenen Impulsen, die Du durch diese Themenverquickung aussendest, versteht jeder etwas anderes. Auf der einen Seite spannend, und macht den Reiz der Diskussion aus. Auf der anderen Seite nicht zielführend, um irgend einen der drei Themenkomplexe angemessen zu behandeln.

                    Aber klar, das kann man auch Semantik nennen 🙂

                    Viele Grüße
                    E.G.

              • Thorsten Haupts 21. August 2022, 21:26

                Politik: Ich hoffe, dass das nicht so ist.

                Die historische Evidenz steht dieser Hoffnung massiv im Wege …

                • Stefan Sasse 22. August 2022, 10:35

                  The arc of history is long, but it bends towards justice.

                  • Thorsten Haupts 22. August 2022, 10:59

                    Unter Schönwetterbedingungen :-).

                • Erwin Gabriel 22. August 2022, 11:42

                  @ Thorsten Haupts 21. August 2022, 21:26

                  [Politik: Ich hoffe, dass das nicht so ist.]
                  Die historische Evidenz steht dieser Hoffnung massiv im Wege …

                  Volle Zustimmung.

                  PS: Ich mag den Stil. Ich kriege es leider nie selbst so knapp und auf den Punkt hin.

                  neidische Grüße
                  E.G.

      • Thorsten Haupts 19. August 2022, 14:38

        und der Heilung/Wiedergutmachung dienen.
        Wie genau macht man einen Ermodeten, verstümmelten oder psychisch schwer Geschädigten wieder „heil“? Die „Wiedergutmachung“ ist im Kontext schwerer Schäden nichts als ein Feigenblatt, um Täter besser zu behandeln (die Opfer sind ausweislich ihrer gesellschaftlichen Behandlung und Berücksichtigung auch für die Täter-empathischen Menschenrechtler seit jeher völlig irrelevant, die haben halt Pech gehabt).

        Meine Kritik ist, dass das Bedürfnis ist, den Leuten möglichst weh zu tun als Strafe – DAGEGEN wehre ich mich.
        Wenn Strafe nicht mehr wehr tut, ist es keine Strafe mehr?

        Gruss,
        Thorsten Haupts

  • Thorsten Haupts 18. August 2022, 16:56

    „Vielleicht hat Strafen bei Dir mit Lust zu tun; mich macht das nicht an. Für mich ist es eher eine Notwendigkeit, die ich mir gerne mangels Anlass verkneifen würde.“

    Trifft es sehr gut. Kenne von den meisten reflektierten Menschen auch nichts anderes. Nur die unreflektierten lieben überzogene Strafen oder glauben an die Wunderwirkung der Strafanschaffung.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  • sol1 18. August 2022, 20:29
  • frbn 19. August 2022, 09:06

    Whow! Das ist ein Spitzenartikel, der wie sonst ganz wenige andere die Armut, ihre Ursachen und ihre Hintergründe bei uns und in der westlichen Welt scharf beleuchtet.

    Ich werde ihn an jeden Interessierten weiterempfehlen.

    Leider wird er wahrscheinlich nichts ändern können, selbst wenn ihn jeder Wähler gelesen hätte.

    • Stefan Sasse 19. August 2022, 09:42

      Danke 🙂

    • Erwin Gabriel 19. August 2022, 13:25

      @ frbn 19. August 2022, 09:06

      Whow! Das ist ein Spitzenartikel, der wie sonst ganz wenige andere die Armut, ihre Ursachen und ihre Hintergründe bei uns und in der westlichen Welt scharf beleuchtet.

      Formulieren wir es so: Widersprechen werde ich nicht.

      Aber die gewollte Kernaussage, dass Menschen bestraft werden, weil andere Lust daran empfinden, sie zu strafen, sehe ich weder ansatzweise bestätigt, noch das Thema Strafe halbwegs zufriedenstellend abgehandelt.

      Dies nur als Hinweis (nicht als Vorwurf an den Autor, denn das wäre in dieser Form grundsätzlich nicht leistbar).

      Aber den Autor oder das Forum weiterzuempfehlen ist schon mal eine richtig gute Sache.

  • CitizenK 20. August 2022, 19:34

    „ob Sanktionen oder Reaktionen … mit „Strafe“ richtig umschrieben sind.“

    In dieser Vermischung sehe ich auch die Schwäche des Artikels, dem ich sonst über weite Strecken zustimmen kann.

    Es gibt sie, die Lust am Strafen, und sie resultiert mMn aus der Lust (dem stärksten Trieb nach Macht. Nach Alfred Adler stärker als der Sexualtrieb.

    Zustimmen kann ich den Kritikern (Thorsten Haupts und Erwin Gabriel), dass die Interessen der Opfer weitaus höher zu bewerten sind als die der Täter.

    Nicht zustimmen kann ich der völligen Verständnislosigkeit gegenüber allen Gewalttätern. Wer als Kind völlig ohne Liebe und Verständnis aufgewachsen ist oder gar unter brutaler Gewalt gelitten hat, ist u. U. nur bedingt schuldfähig. Hier die richtige Balance zu finden zwischen diesem Punkt und dem Schutz der Gesellschaft ist schwer, aber nicht unmöglich. Der Ansatz aus Norwegen zeigt mNn die Richtung.

    • Don Alfredo 20. August 2022, 20:15

      Wer als Kind völlig ohne Liebe und Verständnis aufgewachsen ist oder gar unter brutaler Gewalt gelitten hat, ist u. U. nur bedingt schuldfähig. Hier die richtige Balance zu finden zwischen diesem Punkt und dem Schutz der Gesellschaft ist schwer, aber nicht unmöglich. Der Ansatz aus Norwegen zeigt mNn die Richtung.

      Das ist ein weiteres Beispiel unzutreffender Sozialromantik. Es gibt nun wirklich mehr als genug Leute, die unter ungünstigsten Bedingungen aufgewachsen sind – und die trotzdem niemals bzw. wegen Bagatellen mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Das sind sogar die weitaus meisten. Umgekehrt gibt es da schon einige Zahnarztsöhnchen oder Professorentöchterlein, deren Führungszeugnis sich liest wie eine Rundfahrt durchs Strafgesetzbuch.

      Es ist eben nicht so, dass eine gewaltkriminelle Karriere ein unentrinnbares Schicksal wäre. Es handelt sich vielmehr um einen bewusst gewählten Lebensstil. Und schon gar nicht ist das etwas, was in irgendeiner Form zu pathologisieren wäre (bedingte Schuldfähigkeit).

      Schließlich muss man Vergleiche mit dem Ausland auch in diesem Bereich mit größter Vorsicht genießen. Zum einen, weil hier von geneigter Seite sehr gerne einmal problematische Aspekte ausgeblendet werden. Und zum anderen, weil regelmäßig die Betrachtung soziokultureller Unterschiede ausbleibt.

      Für den Fall Norwegens ist dabei hervorzuheben (Aufzählung nicht abschließend):

      – Ausgesprochen geringe Bevölkerungsanzahl und -dichte: Norwegen hat rund 5 Mio. Einwohner auf einer Fläche die größer ist als die der Bundesrepublik; die Schweiz hat 8,6 Mio. Einwohner auf etwas mehr als einem Zehntel der Fläche
      – ethnisch und kulturell homogene Gesellschaft
      – (auch dadurch) relativ hoher Konformitätsdruck
      – de facto eine Ölmonarchie, sodass genug Geld da ist, um Probleme damit anzugehen oder zumindest zuzukleistern.

      • CitizenK 21. August 2022, 08:16

        Hat mit Sozialromatik nichts zu tun. Psychische Schäden/Krankheiten werden vom Gericht bei der Urteilsfindung berücksichtigt. Die Täter kommen dann in die Psychiatrie. Bestimmte Erziehungsmethoden führen zu psychischen Krankheiten.

        Die genannten Faktoren für Norwegen spielen sicherlich eine Rolle. Das nüchtern-rechtsstaatliche Verfahren imFall Breivik hat aber mMn gezeigt, dass diese nicht entscheidend sind.

    • Erwin Gabriel 21. August 2022, 00:54

      @ CitizenK 20. August 2022, 19:34

      Es gibt sie, die Lust am Strafen, und sie resultiert mMn aus der Lust (dem stärksten Trieb nach Macht. Nach Alfred Adler stärker als der Sexualtrieb.

      Mich stört der Gedanke sehr, dass man allgemein straft, um eine Lust zu befriedigen. Das ist schon seeehr speziell.

      Nicht zustimmen kann ich der völligen Verständnislosigkeit gegenüber allen Gewalttätern. Wer als Kind völlig ohne Liebe und Verständnis aufgewachsen ist oder gar unter brutaler Gewalt gelitten hat, ist u. U. nur bedingt schuldfähig.

      Mir ist eine Schuldunfähigkeit oder bedingte Schuldfähigkeit unklar. Wer jemanden zusammenschlägt und NICHT weiß, das das schlecht ist, gehört von der Gesellschaft getrennt. Diese Diskussion kommt mir gelegentlich so vor, als suche man Rückblickend nach Erklärungen für etwas, dass sich eigentlich nicht erklären lässt. Der eine wird als Kind von seinen Eltern verdroschen und verdrischt seine Frau und eigenen Kinder. Der andere wird als Kind von seinen Eltern verdroschen und geht gewaltfrei durchs Leben. Dann kann das frühere Verdroschenwerden doch nicht der Grund sein; es ist vielleicht nur die einzig offensichtliche Erklärung, die einem „aufgeklärten“ Richter oder Therapeuten einfällt.

      Hier die richtige Balance zu finden zwischen diesem Punkt und dem Schutz der Gesellschaft ist schwer, aber nicht unmöglich.

      Keine „Balance“. Aber wenn der Schutz der Gesellschaft sichergestellt ist, kann man über alles andere gerne reden.

      • CitizenK 21. August 2022, 08:30

        Gilt ja auch nicht „allgemein“. Was bedingte Schuldfähigkeit meint, habe ich weiter oben erklärt. Der Schutz der Gesellschaft hat Vorrang, da gibt es kein Vertun. Die Frage ist doch, ob härtere Strafen das bewirken.

        Im Grundsatz bin ich für „Helfen statt Strafen“, wo immer es geht. Das Strafrecht ist kein Mittel, gesellschaftliche Mißstände zu heilen. Das sehen immer mehr Anwälte und Richter auch so. Dass es nicht immer möglich ist, zeigen grauenhafte Rückfalltaten. Da suchen auch Experten noch nach Lösungen.

        • Erwin Gabriel 22. August 2022, 11:53

          @ CitizenK 21. August 2022, 08:30

          Die Frage ist doch, ob härtere Strafen das bewirken.

          Im Grundsatz bin ich für „Helfen statt Strafen“, wo immer es geht.

          Wenn jemand meine Tochter vergewaltigt, ist ihr und mir kein Trost, dass man dem Täter zu helfen versucht. Dass man überspitzt formuliert durch gut zuhören eine Behandlung zu verhindern versucht, dass es das wieder tut, während man sich gleichzeitig bemüht, ihn möglichst schnell wieder auf die Straße zu bringen.

          Ich verstehe durchaus Deinen Aspekt, aber der orientiert sich doch sehr am Täter. Der hat für mich (da kommt wohl der Konservative in mir durch) unabhängig von Vorgeschichte / Kindheit eine niedrigere Priorität.

  • einfachnurRoland 20. August 2022, 22:32

    Interessanter Rundumschlag zum Thema. Und auch sehr interessante Reaktionen hier im Forum.

    Für mich ist der Strafbegriff zu unscharf geblieben und der Lust-Aspekt nicht ganz deutlich herausgestellt, aber irgendwie ist das beim Thema ja auch wieder passend. Die Herausarbeitung, dass die Strafe aber gerade durch die Rechtsreformen der Erziehungsberechtigungen vielleicht gesellschaftsweit zurück gehen könnten finde ich sehr charmant! Ich weiß noch nicht, ob es mir nur gefällt oder ob ich dem auch wirklich zustimmen kann…

    • Erwin Gabriel 21. August 2022, 00:55

      Zustimmung zu allem, auch zum letzten Satz

    • Stefan Sasse 21. August 2022, 13:33

      Freut mich, dass es zum Nachdenken anregt. Viel mehr kann ich ja nicht verlangen. Lass mich wissen, falls du zu einem Schluss kommst!

  • CitizenK 21. August 2022, 09:34

    Obdachlosigkeit: Mannheim setzt auf „housing first“.
    https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-angebot-fuer-wohnungslose-menschen-_arid,1978541.html

    Weil: Die Quote derer, die zurück ins Leben finden und nicht wieder auf der Straße landen, ist deutlich höher als beim vorherrschenden Hilfesystem der „Wohnfähigkeit“.

  • Pirat 21. August 2022, 18:57

    Spannender Text! Danke dafür!

    Viele der Themen beschäftigen mich auch schon länger, oft aus persönlicher Erfahrung. Beispiele:

    1) Hartz IV.

    Die Sicht der gesellschaftlichen Mehrheit darauf ist ja auch zugegebenerweise von interessierter Seite gefüttert worden. Von liberalen und konservativen Politikern, die ihre wohlhabende Wählerklientel bedienen wollten, denen man versichern wollte, dass Geld nicht gefühlt „oben weggenommen“ wird (Stichwort: Umverteilung. Da kriegen alle Wohlhabenderen ja plötzlich Schnappatmung, als wenn man ihr persönliches Konto auf Null setzen würde. Als wenn es für die persönliche Lebensführung einen nennenswerten Unterschied macht, ob ich auf 5 Millionen Euro Einkommen 10 % mehr oder weniger abführen müsste). Und auch von der Wirtschaft, wo man daran interessiert ist für die bessere Rendite die Löhne unten zu halten. Natürlich konnte man den Menschen nicht sagen „Hartz IV darf nicht zu freigebig werden, sonst haben wir Wohlhabenden Schiss um unseren Reichtum“. Stattdessen musste man der Bevölkerungsmehrheit mit mäßigem Einkommen einreden, dem normalen Bürger würde was unrechtmäßig genommen, wenn ein Arbeitsloser morgens ohne Angst aufwachen darf. Das war die Grundlage ein interessantes Konzept zur Grundlage des H4-Satzes zu machen: Das Lohnabstandsgebot.

    Das klingt erstmal logisch: Wer tatsächlich arbeitet, soll mehr haben, als jemand ohne Arbeit. Ein Prinzip, dass einem hierzulande jeder unterschreibt, außer natürlich es geht um eine Erbschaft, da erstaunlicherweise nicht mehr, aber anderes Thema. Jedenfalls ging man nicht so daran: Wir legen einen auskömmlichen H4-Satz fest und dann schauen wir, dass wir die Löhne darüber halten. Nein, stattdessen wurde H4 einfach immer weiter nach unten gerechnet, damit die Löhne schön niedrig bleiben können. Das merkte man dann sogar beim Mindestlohn, der vielleicht nicht verhindert, aber zu niedrig angesetzt werden konnte. So niedrig, dass man als arbeitender Mensch mit Familie beim Mindestlohn in H4 landet. Als Aufstocker. Ich weiß es, ist mir passiert. Ich hab zeitweise 50 bis 60 Stunden die Woche im Lager abgerissen und hatte trotzdem noch Restanspruch auf 100 Euro H4, um mit meiner Familie (damals Frau mit frisch geborenem Kind und kein U3-Kitaplatz abbekommen) über die Runden zu kommen. Und wennste erstmal in dieser Mühle drin hängst, kommste so schnell nicht wieder raus.

    Weil die ganzen mit Strafandrohungen versehenen Regeln was Du noch darfst oder nicht, Deine Möglichkeiten vielleicht auch mal kreativer an nen besseren Job zu kommen oder Dich fortzubilden arg einschränkt. Es hilft eben nicht, für jeden Versuch einen anderen Weg raus aus dem miesen Job zu finden, der über einfach stures Weiterschuften hinausgeht, um Erlaubnis fragen zu müssen. Nachdem die Übernahme aus der Leiharbeit offensichtlich zu keinem Ziel führte, trotz guter Arbeitsleistungen, trotz Engagement und Überstunden, schlug ich vor, mich fortzubilden. Die Antwort war: Wozu, Sie haben doch einen Job. Ja, schon, aber einen zu gering bezahlten. Ich hatte unterschrieben, an der Verringerung meiner Bedürftigkeit zu arbeiten, wollte genau das tun – und wurde vom Jobcenter selbst daran gehindert. Und weil die Strafen über einem schweben, kann man dann nix dagegen tun. So geht es übrigens durchschnittlich rund einer Million Menschen im Land – arbeitend, trotzdem H4-Bezieher und kommen kaum da raus. Die machen einen nicht unbeträchtlichen Teil aller H4-Bezieher aus. Der beste Beweis dafür, dass viele H4-Bezieher eben nichts für ihre Armut können.

    Ich selbst kam auch erst da raus, als ich durch die Trennung von meiner Frau plötzlich alleinerziehender Vater war und einen ganz anderen Hebel hatte um dem Jobcenter zu sagen: Wir müssen anders über meine Arbeitszeiten nachdenken. Erst wollte das JC, das ich nach einer Teilzeitstelle suche. Es fand sich keine. So ging noch ein Jahr ins Land, bevor dem JC dämmerte: Vielleicht sollten wir doch eine Umschulung oder sonstige Weiterbildung finanzieren. Was ich schon vier Jahre vorher erstmals vorgeschlagen hatte. Wunder über Wunder: Die Umschulung brachte mir den erhofften besser bezahlten Job ein, der unseren gesamten Haushalt aus dem H4 katapultierte. Was hätte sich das System Geld sparen können an mir, wenn man meine Sicht ernster genommen hätte, wenn nicht über jeder Eigeninitiative das Damoklesschwert der Strafe schwebt. Ha!

    2) Obdachlosigkeit.

    Ich wohne in Köln. Obdachlosigkeit wird seit Jahren zu einem immer größeren Problem. Die Ursachen dafür sind komplex – manche sind durch doofe Zufälle, manche durch schlechte Entscheidungen auf der Straße gelandet. Aber wenn man diese Menschen beobachtet, so führt das Leben auf der Straße faktisch bei allen zu mehr oder weniger großen seelischen „Deformierungen“, Narben und Traumata. Die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft, wie man diese Menschen wieder in eine Behausung kriegt halte ich für völlig realitätsfern. Man müsste tatsächlich damit anfangen, halbwegs angemessenen Wohnraum einfach seitens der Behörden zur Verfügung zu stellen, aber in enger Begleitung der Betroffenen – es braucht therapeutische und praktische Hilfe für diese Menschen, wieder in ein „normales“ Leben zurückzukehren. Einfach „hier ist der Schlüssel, viel Spaß“ für ne neue Wohnung wird nicht helfen. Auch hier ein persönlicher Erfahrungsschatz: Die Wohnung neben der meiner Eltern hatte noch bis in die 2000er Jahre Sozialbindung. Die Stadt setzte eine Frau mit Suchtproblemen darein (gegen den Willen der Genossenschaft), damit sie nicht obdachlos ist. Es gab aber keinerlei Begleitung wegen der Sucht etc. Folge war, dass sich der straffällige und ebenfalls süchtige Freund der Frau auch dort einnistete. Und dann die gesamte Nachbarschaft terrorisierte. Wohnraum zur Verfügung stellen ist also enorm wichtig, aber es braucht begleitende Programme, um eine gewisse Integration der Menschen zu ermöglichen (übrigens gilt selbiges für über das Asylsystem hier angekommene Migranten). Das würde natürlich erstmal viel Geld kosten. Aber an anderer Stelle wieder viel sparen: Es wäre nicht zuletzt eine der besten Präventionen von Kriminalität.

    3) Kindeserziehung.

    Ich erwähnte es schon, ich bin Vater und zeitweise faktisch gänzlich alleinerziehend. So gesagt: Nicht der einfachste Job auf diesem Planeten. Natürlich ging ich mit dem festen Vorsatz ran, meinem Kind keine Gewalt anzutun. Und zumindest geschlagen hab ich den Kurzen nie. Aber ohne Strafe und – aus Sicht vom Sohn sicherlich – psychischer Gewalt ging es dann leider trotz aller guten Vorsätze doch nicht. Mein Ansatz war: Jede erzieherische Maßnahme erkläre ich dem Kind. Selbst wenn es das noch nicht versteht, zwingt mich das, die Begründung auszusprechen. Als Selbstkontrolle gegen reine Willkür. Und: Immer erstmal den Weg des Erklärens, Besprechens etc. gehen. Zumindest den ersten Punkt hab ich glaube ich ganz durchgehalten. Der zweite Punkt…nix unterläuft den Weg der friedlichen Konfliktlösung durch Erklären so gut wie ein motziges Kind, das einfach beschlossen hat, jetzt einfach mal einen Tag der Anti-Haltung auszurufen. Mehr als einmal wurde meine Erziehungspolitik von Verständnis, etwas mehr Leine und erklärende Begleitung damit belohnt, dass Sohnemann ausprobierte, wie weit er den Bogen spannen kann, bis er überspannt war. Und ich mit meinem Latein am Ende war. Und dann eben doch eine Strafe her musste (z.B. Konfiszierung des aktuellen Lieblingsspielzeugs), damit er merkt, dass er sich gerade wirklich wie die Axt im Walde verhält. Es waren jeweils die furchtbarsten Momente meines Vaterdaseins. Rückblickend war es aber als Gesamtstrategie wohl doch gar nicht so schlecht. Ich habe nie einfach gestraft wie ein Racheengel, sondern die Maßnahme immer erklärt, auch die Gewichtung der Strafe. Und wenn sich die Gemüter beruhigt hatten, haben wir auch immer nochmal drüber gesprochen wie wir uns dabei fühlten etc. Kamen wir dabei zusammen zum Schluss, dass ich als Papa doch überzogen hatte, entschuldigte ich mich immer und leistete auf irgendeine Art Wiedergutmachung (z.B. ganz viel knuddeln bei einem schönen Kinderfilm). Das war bei einer Handvoll Gelegenheiten der Fall. Meistens jedoch bekundete Sohnemann am Ende dann doch ein gewisses Verständnis und nahm wieder konstruktiver am Alltag teil (womit nicht sklavisches Gehorchen gemeint ist, im Gegenteil wir nehmen seine Ansichten zu Dingen immer sehr ernst…sondern ich spreche hier wirklich davon, Fehlverhalten zu Lasten anderer verringert zu haben).

    Inzwischen ist er fast 10 und verglichen zu vor vier, fünf Jahren kommen wir wesentlich besser klar. Er hört mir besser zu, achtet mehr darauf sich sozial angemessen zu verhalten, kriegt dafür zurück, dass wir ihn in Entscheidungen einbinden etc. Schwere Strafen musste ich schon sehr lange nicht mehr verhängen. Ich glaube wir haben trotz Reibungen und unschöner Momente und trotz Strafen eine gute Entwicklung hingelegt. Das halte ich meinem Vater gern unter die Nase, der gelegentlich meinte, ich müsste härter durchgreifen, damit er spurt. Ich habe zwei Erkenntnisse daraus: 1. Ganz ohne Strafe kommt man bei Kindeserziehung wahrscheinlich nicht klar; (angebliche) Einzelfälle, die anderes belegen, sind mutmaßlich nicht repräsentativ. Jedes Kind ist anders, es gibt halt genauso die maximal pflegeleichten wie die maximal problematischen. 2. Es darf aber nie eine unerklärte, kontextlose Strafe aus reiner Authoritätswillkür sein, bloß weil man es kann. Denn als Eltern ist man nicht frei von Irrtümern und es ist wichtig, dass ein Irrtum im Fall einer Konfliktsituation mit dem Kind korrigiert werden kann. Das Kind ist nicht zur Erbauung der Eltern dar, sondern für sich selbst und der Job als Eltern ist nicht herrschen, sondern dem Kind zu helfen, seinen Weg in dieser Welt gehen zu können.

    4) Strafrecht.

    Mein erstes persönliches Erleben des Strafrechts war der Bursche, der mir eines schönen Sonntagnachmittags im Jahre 2004 auf einem Spielplatz auf den Kopf schlug. Platzwunde, kurze Bewußtlosigkeit. Weil ich ihm nicht passte. Angriff von hinten, ganz mutig. Wie sich herausstellte, war es von einer recht auffälligen Clique unterbeschäftigter Jugendlicher der gelangweilteste und deshalb Intensivstraftäter. Er hatte ohne schon einige Gerichtsauftritte auf dem Kerbholz, vor der Kölner Jugendjustiz, die damals bekannt dafür war, eher milde zu urteilen. Eher Bewährung als anderes. Und wenn Knast, dann kurze Aufenthalte im Jugendknast, zwei Wochen oder so. Mit einem solchen Aufenthalt brüstete sich besagter Intensivstraftäter. An seinem Verhalten änderte nichts daran. Er terrorisierte einen bestimmten Teil des Viertels, durch den ich sonst nicht oft kam, deswegen war er mir nie aufgefallen. Ich war dann der erste, der sagte: Ok, Anzeige. Verlauf war dann so: Obwohl bekannt war, wo sich der Typ aufhält, ich sogar einmal den Aufenthaltsort meldete, brauchte die Polizei über einen Monat, den Burschen festzunehmen. Ich sagte sofort: Ich werde vor Gericht aussagen. Ich freute mich richtig auf den Termin. Am Tag vorher rief die Staatsanwaltschaft an: Ja, Gerichtstermin fällt flach, er gesteht alles, dafür kriegt er Bewährung. Da war ich ehrlich gesagt angepisst. Dieser Mensch hatte schon eine kurze Jugendhaft, mehrere Bewährungen. Und terrorisierte dennoch ein halbes Viertel. Ich war ernsthaft verletzt worden und er kriegt als Reaktion seitens der Gesellschaft etwas, das er nicht ernst nimmt und verlacht.

    Bis heute hätte ich lieber gesehen, man hätte ihn erstmal für zwei, drei Jahre eingebuchtet. Klar, es hätte mein (menschlich wohl nachvollziehbares) Rachegefühl etwas mehr befriedigt. Aber darum geht es nicht allein. Ginge es nur um mein Rachegefühl, hätte ich ihm gerne den Schädel gespaltet. Wesentlich wichtiger wäre mir gewesen: Dass er von der Straße wegkommt und die Menschen in seiner Nachbarschaft zumindest eine Weile weniger Angst haben müssten. Das müsste der eigentliche Zweck härterer Strafen sein: Wirklich gefährlichen Straftätern (und da rede ich nicht vom Ladendieb, sondern von gewalttätigen Menschen) schlicht die Möglichkeit nehmen, anderen Menschen wieder zu schaden. Dafür müssten die meisten salop gesagt schlicht von der Straße runter. Das allein wird aber einmal mehr nicht reichen und deshalb greifen härtere Strafen zu kurz.

    Den Umgang innerhalb der Haftinstitutionen müsste man dennoch ändern. Wenn Resozialisierung irgendeine Chance haben soll, muss man das Umfeld dort aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zur sozialen Entwicklung von Menschen umgestalten. Das wird Geld kosten und das wird der Punkt sein, wo sich die breite Gesellschaftsmasse vom Rachegedanken verabschieden muss. Also gerne: Längere Haftstrafen. Aber: Veränderte Bedingungen innerhalb der Haft. Pädophile Täter sind da nochmal ein Spezialfall: Wir brauchen mehr Therapieangebote für die Pädophilen, die dem Drang nicht nachgegeben haben, damit genau das auch so bleibt. Das halte ich für eine der gewaltigsten Herausforderungen, denen sich ein Mensch stellen kann und jeder Pädophile, der das schafft, hat größte Achtung verdient. Das große Problem sind Pädophile, die dem Drang schonmal nachgegeben haben. Ich bin nicht sicher, ob ich glauben soll, dass sie jemals wieder unbeaufsichtigt auf die Menschheit losgelassen werden können. Sie haben quasi von der verbotenen Frucht gekostet. Keine Ahnung ob es wirklich so ist, aber mein Eindruck aus der Ferne ist, dass ist wie angefixt werden auf eine sehr starke Droge. Als Vater kommen mir da natürlich nicht sehr sozial verträgliche Gedanken, aber ich weiß natürlich, dass wir eine allgemeintaugliche gesellschaftliche Lösung brauchen. Mir fiele da nur ein: Jeder Pädophile, der seinem Drang schonmal nachgab, müsste eigentlich zum Schutz der Kinder lebenslang eingesperrt werden. Ich sehe allerdings auch, dass man sich gesellschaftlich schuldig macht, wenn man die Bedingungen einer solchen Haft unmenschlich gestaltet. Daher: Von mir aus, soll er innerhalb der Einrichtung ruhig ein angenehmes Leben haben. Von mir aus Großbildfernseher, Pool und Mojitos. Mir egal. Der schlagende Punkt wäre, dass er keinem Kind mehr begegnet.

    Ich habe keine Ahnung ob diese Überlegung auch nur annährend realistisch ist. Das gebe ich offen zu! Es sind nur Gedanken in einem extrem schwierigen Kontext mit derzeit unzufriedenstellender Situation.

    • Stefan Sasse 22. August 2022, 10:33

      Wow, danke für den ausführlichen Kommentar. Den kann ich ja fast als neue Replik veröffentlichen 😀 Ich hab mir die Freiheit genommen und ein paar Absätze reineditiert, das macht es leichter zu lesen.

      1) Widerspruch bei „10% macht nichts für die Lebensführung bei Millionär*innen“. Klar macht das was. Die leben ja nicht auf Basis von 3500€ netto im Monat, sondern auf Basis von, sagen wir, 15k und mehr im Monat. Egal, wem du 10% vom Lebensstandard wegschneidest, merken werden die das sicher. Aber Zustimmung zum Rest, was die Psychologie der Reichen bezüglich H4 angeht.

      Das Lohnabstandsgebot finde ich richtig, nur wird das meist als Kürzungsmandat für H4 begriffen statt für gescheite Löhne. Das ist mein Problem damit.

      Dass die Jobcenter fast nicht fördern, sondern vor allem fordern, ist seit 2004 das Riesenproblem und gehört in meinen Augen mit zu dieser Lust zu strafen.

      2) Ich hatte natürlich auch nie eine Wohnung als reines Panacea gedacht. Dass vernünftige Sozialarbeit begleiten muss (die wir uns natürlich auch nicht leisten, weil das Geld zu verbrennen indem man die Leute in ihrer Situation hält ist ja so viel effizienter) ist für mich selbstverständlich gewesen. Danke für die Ergänzung.

      3) Ich würde hier zwischen Strafen und Konsequenzen unterscheiden. Wenn meine zwei Kids sich etwa prügeln, trenne ich sie, indem ich sie auf ihre Zimmer schicke. Ist das eine Strafe? In meinen Augen ist es eine erzieherische Konsequenz. Ich muss ja meinem Schutzauftrag nachkommen (ist ja nicht so, dass das kleinere Geschwister im Zweifel eine Chance hätte, und ich will keine Verletzungen). Oder ist es eine Strafe, wenn der Sohnemann seine Hausaufgaben um 18 Uhr nicht fertig hat und dann halt ranmuss statt zu zocken? Das halte ich für keine Strafe. Und solche Konsequenzen braucht es natürlich. Was ich halt nicht mache ist Strafen zu verteilen, die quasi zusätzlich zu Konsequenzen draufkommen. Arrest, Verbote, etc. gibt es bei uns praktisch nicht. Ansonsten halte ich es wie du: erklären, drüber sprechen, reflektieren. Viel entschuldigen. Wenn ich selbst überreagiere etwa, was oft genug vorkommt. Let’s face it, die meisten Strafen – verbal, psychisch, physisch – verteilen wir Eltern doch, wenn wir gestresst sind. Und das ist unser Versagen, nicht das der Kinder.

      4) Dass Leute, die eine Gefahr darstellen, physisch entfernt werden müssen, sollte in meinen Augen klar sein. Ich bin ja auch nicht dafür, dass man Massenmörder nicht einsperrt oder so Blödsinn. Aber gerade die Überlastung des Justizsystems mit viel kleinem Bullshit ist ja mit an den von dir beschriebenn Problemen Schuld. Und auch hier haben wir wieder: viel zu wenig Ressourcen für Sozialarbeit, die präventiv wirken würde. Schlechte Strukturen (Ghettoisierung). Mangelnde Chancen (Bildungssystem, Arbeit, etc.)

      • Thorsten Haupts 22. August 2022, 11:03

        … viel zu wenig Ressourcen für Sozialarbeit, die präventiv wirken würde …

        Ahem. Wo finde ich die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit „präventiver Sozialrabeit“?

        • Stefan Sasse 22. August 2022, 14:41

          Erfinde eine Zeitmaschine, die die entsprechenden Versuche ermöglicht, dann kriegst du die. Wie willst du denn empirisch feststellen, was nie passiert ist? Du formulierst einen Standard, der jede Diskussion erstickt.

          • Thorsten Haupts 22. August 2022, 15:44

            Es wird ja wohl irgendwo schon mal Versuche präventiver Sozialarbeit gegeben haben. Und die müssten sich in der lokalen Kriminalitätsstatistik niedergeschlagen haben, sowohl komparativ zu Vorjahren als auch komparativ zu ähnlich grossen und zusammengesetzten Gemeinden?

            Falls es das noch nie gab – warum soll ich mich für ein Instrument erwärmen, an dessen Effizienz ich nicht glaube und das seine Praxistauglichkeit nie bewiesen hat?

            Gruss,
            Thorsten Haupts

            • Stefan Sasse 23. August 2022, 18:53

              Kann ich dir schlicht nicht sagen, ich les keine Studien.

        • CitizenK 22. August 2022, 17:33
          • Thorsten Haupts 23. August 2022, 17:31

            Sehr weit gefasst. Dass möglichst frühzeitige Unterstützung von Kleinkindern aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien grosse Wirkung hat, habe ich jahrelang gepredigt. Musste leider feststellen, dass der Stellenwert von Bildung in Deutschland – vermutlich wegen Statusängsten der Mittelschicht – den Sonntagsreden über deren angebliche Bedeutung diametral entgegensteht. In allen politischen Parteien, ausnahmslos.

            Nur ist das wirklich etwas anderes, als die angeblich präventiv wirkende Sozialarbeit.

            Gruss,
            Thorsten Haupts

  • Dennis 22. August 2022, 10:35

    Tja, wenn mehrere Straftheorien nebeneinander stehen, was seit Menschengedenken er Fall ist, entsteht natürlich die Frage: Welches ist die richtige Theorie? Standard: meine; und welche kann nur grottenschlecht und ganz falsch sein? Standard: die, welche ich mir NICHT ausgesucht habe.

    Wo sind jetze aber die objektiven Standards zwecks Theorieüberprüfung diesbezüglich? Es gibt sie nicht. Ist bei sozialen Theorien aller Art ja immer so 🙁

    Meine richtige und unschlagbar gute^, weil naturalistisch angehauchte Theorie geht ungefähr grob so: Es geht bei dieser facettenreichen Causa NICHT um Täter:innen, sondern um Taten. Das ist deswegen so, weil wir alle Täter für alles sind, indes jeweils lediglich von Gegenmotiven zurückgehalten werden, also zurückgehalten von all den Sachen, die aktuell als böse gelten, was allerdings auf der Zeitachse auch von Moden abhängt. Über Ehebruch zum Beispiel (einst heftig strafbar, auch mit Gefängnis oder noch größeren Übeln) brauch sich heute keine:r mehr Gedanken zu machen^, außer privat-emotionale.

    Vulgo: Abschreckung, da beißt die Maus keinen Faden ab. Man könnte sagen: Die Guten müssen ja gar nicht abgeschreckt werden. Sicherheitshalber mal davon ausgehen, dass es die nicht gibt, würd ich da einwenden. Abschreckung wiederum kann es allerdings in vielfältiger Form geben, vom Rädern und Vierteilen bis zum Stuhlkreis steht eine breite Palette zur Verfügung. Eine andere Kategorie dabei ist a) das mindestens Unangenehme danach oder b) die Pille davor, also das gute Zureden bzw. irgendwie „einwirken“, anständige Erziehung pp, auch Prävention genannt.

    Das mit dem lustvollen Strafen kennt man aus der psychoanalytisch angehauchten oder auch mehr als nur angehauchten Diskussion der 70er. Erich Fromm kann man da nennen oder auch diesen Herrn, der Psychoanalyse und Recht verheiraten wollte:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Ostermeyer

    Das ist mittlerweile stark aus der Mode und nur die ganz Alten erinnern sich; umso überraschender Stefan Sasses Reminiszenz. Ganz falsch ist das mit Sicherheit nicht, denn dass Exekutionen einst selbstverständlich öffentlich waren, weil ’ne große Gaudi mit Volksfestcharakter wie heutzutage Popkonzerte und Ähnliches , ist ja historisch belegbar. Im ultra-konservativen Frankreich gab’s die (bisher^) letzte öffentliche Hinrichtung 1939, was erwartungsgemäß zu einem Volksauflauf der, ich sach mal, „interessierten Öffentlichkeit“ führte. Da war der politischen Klasse dann doch zuuu atavistisch und seitdem gab’s die Gaudi nur noch indoors und ohne Öffentlichkeit, bis Mitterrand auch das abzuschaffen beliebte, was „demokratisch“ durchaus riskant war.

    Führt mich übrigens zu diesem Argument Stefan Sasses:

    „Wir sind dabei im historischen Vergleich milde geworden. “

    Dabei gibt es IMHO aber eine ganz hässliche Nachricht: Die Entbrutalisierung von Strafen – soweit das stattgefunden at – ist durch und durch undemokratisch. Das haben die da oben gemacht bzw. gewisse Leute da oben. Dass das ne gute Idee ist, muss denen da unten erst mühselig verklickert werden, was nicht unbedingt gelingt. Für die da oben wiederum ist es ’ne gewisse Herausforderung, mit den Intuitionen derer da unten NICHT zu spielen, denn Letzteres ist viel einfacher und von daher attraktiver. Man erinnere sich an Kopf-ab-Jäger:

    https://jungle.world/artikel/1998/21/kopf-ab-jaeger-stirbt-natuerlichen-todes

    Zitat Stefan Sasse:
    „Da wir aber als Gesellschaft immer empathischer werden steht zu hoffen, dass wir in den kommenden Dekaden unser Mitgefühl auch auf Menschen ausweiten werden, mit denen wir nicht in direktem Kontakt stehen.“

    Sehe ich zurückhaltender. Da unterscheiden wir uns womöglich in Sachen Vertrauen in den Fortschritt, denn dergleichen kann man schon in der Bibel nachlesen, was zwar reichlich Lip service am Sonntag nach sich zieht, aber wenig praktische Konsequenzen; und da reden wie über Jahrtausende und nicht über Dekaden. Das dauert also noch. Womöglich bis in alle Ewigkeit^.

    • Thorsten Haupts 22. August 2022, 17:17

      … kennt man aus der psychoanalytisch angehauchten oder auch mehr als nur angehauchten Diskussion der 70er …

      Und frühen achtziger. Ich erinnere mich mit Grausen an diese Esoterikspielart der gebildeten Erwachsenen (und solcher, die sich dafür hielten).

      Gruss,
      Thorsten Haupts

  • cimourdain 22. August 2022, 13:29

    Ein bedenkenswerter Beitrag und das Instrumentarium lässt sich auf andere Normabweichungen (z.B. psychisch Kranke) erweitern. Nur der plakative Titel ist etwas irreführend. Besser wäre es in meinen Augen von einem Strafbedürfnis zu sprechen. Denn das ‚wir‘, von dem du sprichst, kann drei verschiedene Bedeutungen haben:
    a) Einzelpersonen: Hier gibt es ein interessantes Paradoxon: Einerseits strafen die wenigsten gerne selber (Beim Referenzpunkt Milgram-Versuch ist das sichtliche Unbehagen der strafenden Versuchsteilnehmer dokumentiert). Andererseits möchten sie eine Bestrafung sichergestellt sehen, weswegen eine übergeordnete Instanz (heute Staat, früher Gott) sich darum kümmern soll. Besonders deutlich ist das im Bereich Erziehung/Schule sichtbar.
    b) Der Staat wiederum hat die Aufgabe für seine eigene Stabilität zu sorgen und dafür seine Regeln durchzusetzen. Da ist Bestrafung das Mittel, das zur Durchsetzung dient. Er kann in letzter Konsequenz gar nicht anders.
    c) Die Öffentlichkeit: Hier spielt sich am stärksten das ab, was du als Lust am Strafen beschreibst. In meinen Augen dient dies vor allem der Selbstbestätigung der ‚Anständigen‘, die sich regelkonform verhalten und dadurch signalisieren, dass es ihnen besser gehen soll, als den ‚anderen‘.
    Dazu kommt noch, dass die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver (Nichthelfen) Bestrafung in den Köpfen sehr relevant ist (siehe a). Da ist es vielleicht gedanklich besser, im Strafwunsch einen Mechanismus zur Abwehr von zu viel Empathie zu sehen. Nicht ohne Grund wird von vielen Kommentatoren hier die zu ‚täterorientierte‘ Sicht moniert.

    Besonderer Nachtrag : Ein Respektpunkt für den Abschnitt ‚Politik und Meinung‘. Selten habe ich eine so harte Analyse gegen eine einem selber sympathische Haltung gelesen.

    • Stefan Sasse 22. August 2022, 14:46

      Ja, ich hatte keine sexuellen Konnotationen, als ich das schrieb, aber rückblickend hätte ich den Titel wohl wie von dir genannt machen sollen, das wäre eindeutiger gewesen.

      a) Good point.

      b) Betonung „in letzter Konsequenz“. Es gibt halt vieles vorher.

      c) Sehr gute Punkte.

      Danke!

  • Thorsten Haupts 23. August 2022, 22:37

    Völlig irrelevante Nebenbemerkung:

    Ich finde es faszinierend, wie häufig mir bei Linken in den letzten 30 Jahren irgendein Bezug auf einen Roman eines mittelbegabten Science Fiction Autors mit mässiger Wirkung aus dem Jahre 1959 begegnete – Robert A. Heinleins Starship Troopers. In der Science Fiction Welt – ich habe alleine ungefähr ca. 250 Romane des Genres im Bücherschrank behalten und weitere 250 entsorgt oder verschenkt – ist Heinlein keiner der von Kennern zitierten Giganten. Und die politische Wirkung des genannten Romanes ist dann in den letzten 40 Jahren wohl an mir vorbeigegangen.

    Mein heimlicher Verdacht ist ja, dass der Roman den Linken die Schwachstellen ihrer Ideologie plastisch vor Augen führt und sie ihn deshalb so (nach meinem Eindruck) häufig zitieren/anführen/verdammen? Und ihm dadurch immer wieder Reichweite verschaffen …

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 23. August 2022, 23:14

      Ich kenne mich in dem Genre kaum aus. Starship Troopers habe ich vor allem gelesen, weil ich den Film mag. Meine anderen SciFi-Romane, die ich gelesen habe, kann ich an Händen und Füßen zählen. Daher fehlen mir Vergleiche.

      • Thorsten Haupts 24. August 2022, 10:49

        Der Film hat lustigerweise mit dem Buch nicht viel zu tun und verkehrt eine Reihe der Buchthemen darstellungsbedingt ins Gegenteil. Habe erst durch Deinen Wiki-Link erfahren, dass es eine ganze Reihe von Kritikern gab, die ihr Gehirn an der Garderobe abgegeben haben und ihn – ernsthaft – für Verherrlichung von Militarismus kritisieren.

        • Stefan Sasse 24. August 2022, 14:21

          Wie viele Leute den Film missverstehen, ist echt Wahnsinn. Musst auch mal die Begründung für die Indizierung durchlesen, da dreht sich alles.

  • Stefan Sasse 24. August 2022, 18:45

    Noch ein Fundstück zu Obdachlosigkeit:
    https://twitter.com/resnikoff/status/1562478837195087872

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