Für Seeck handelt es sich beim Klassismus um eine ignorierte Diskriminierungsform, und zumindest, was die Begrifflichkeit angeht, hat er sicher Recht. Verbreitet ist er im Gegensatz zu Sexismus und Rassismus nicht, und er hat durchaus einen Punkt, ihn etablieren zu wollen, erlaubt er doch recht präzise eine Diskussion des Gegenstands. Für Seeck ist Klassismus jede Diskriminierungsform, die Opfer aufgrund ihrer sozialen Herkunft diskriminiert. Er verbringt den Großteil des folgenden Buches damit, diese Formen genauer vorzustellen. Klassenzugehörigkeit ist für Seeck dabei eine Sache der Geburt; man wird in sie hineingeboren, und es ist extrem schwer, sie wieder zu verlassen.
Dies wird bereits in der Wohnsituation deutlich. Unter den Schlagworten „Plattenbau oder Eigentumswohnung?“ arbeitet Seeck nicht nur heraus, wie sehr klassistische Vorurteile mit der Wohnsituation verknüpft werden, sondern wie sehr diese über das Leben bestimmt. Je nachdem, wo Menschen wohnen, werden sie bereits diskriminiert, weil andere Menschen Vorurteile damit verknüpfen und ihnen somit aktiv Chancen verwehren.
Das sieht man bereits an der folgenden „Schwelle: Klasse und Bildung“, wo Seeck herausarbeitet, wie sehr das Bildungssystem nach sozialer Herkunft diskriminiert. Dies ist spätestens seit der PISA-Studie Allgemeingut und einer der bekanntesten Fälle von sozialer Diskriminierung, aber es das Ganze zieht sich auch mit in den Universitätsbetrieb, wo eine noch größere Aussortierung stattfindet als in den Schulen (die ihrerseits bereits stark selektieren).
Dies liegt auch an den fehlenden Teilhabemöglichkeiten. „Ausgeladen werden: Klassismus im Kulturbetrieb“ befasst sich mit diesen Strukturen. Die schlechte Bezahlung des Kulturbetriebs erlaubt es oft nur Mitgliedern der oberen Klassen, hier überhaupt tätig zu werden, und thematisch richtet er sich stark an den Interessen der oberen Mittelschicht und Oberschicht aus, deren Steuergelder und politische Wirkmacht ihn überhaupt am Leben halten. Hartz-IV-Beziehende gehen schließlich selten in die Oper.
Überhaupt, Hartz-IV. Seeck spricht auch ausführlich über das Phänomen „Erwerbslosenfeindlichkeit“, die zwar in meinen Augen ihren Zenit überschritten hat – wir sind glücklicherweise von den Auswüchsen der 2000er Jahre weit entfernt – die sich aber hartnäckig hält und die Erwerbslosen mit zahlreichen Klischees bedeckt, die ihnen das Leben schwer machen.
Ein ähnliches Schicksal trifft Obdachlose, deren klassistische Diskriminierung Seeck unter „Wohnungslosenfeindlichkeit“ beschreibt. Pauschal wird Wohnungslosen oft unterstellt, an ihrer Situation selbst Schuld und asozial zu sein, psychisch krank und alkoholabhängig. Seeck weist aber zurecht darauf hin, dass Obdachlose häufig unverschuldet in ihre Situation geraten sind und ihnen nun ein Rückweg verwehrt wird.
Wesentlich umfassender ist Klassismus im Falle des Gesundheitswesens. „Gesundheit: eine Frage der Klasse!“. Die Rede vom „Zwei-Klassen-System“ ist ja ein geflügeltes Wort und periodischer Evergreen in Talkshows, auf Magazintiteln und in Sonntagsreden. Dass arme Menschen hier noch zusätzlich innerhalb des Systems diskriminiert werden, liegt auf der Hand. Nicht nur ist das GKV-System schlechter als das der parasitär finanzierten PKVen, die ärmeren Gegenden (die Wohnsituation, wir erinnern uns) macht diese für niedergelassene Ärzte und Ärztinnen auch noch unattraktiver.
Mit einem historischen Blick auf „Klassismus in der DDR“ zerstört Seeck lobenswerterweise auch gleich die mögliche Mythenbildung, die DDR sei diesbezüglich das gelobte Land gewesen, und zeigt, dass das SED-Regime einen eigenen Klassismus pflegte und bestimmte Schichten bewusst und planmäßig diskriminierte. Erwerbslosigkeit gab es auch in der DDR; hier wurde ihr ein noch stärkeres Stigma angeheftet als im Westen, sie wurde kriminalisiert und als Repressionsmaßnahme missbraucht. Wie so oft zeigt sich, dass „drüben“ eigentlich nichts besser war, außer vielleicht das Ampel- und das Sandmännchen.
Am Schluss wird Seeck etwas Grundsätzlicher: „Klassismus kommt selten allein: Mehrfachdiskriminierung und Klasse“ ist dieses Kapitel etwas sperrig umschrieben, das sich um die Begriffsnennung (und Definition) von „Intersektionalität“ herumdrückt, als wäre es ein Stück heißes Eisen. Vermutlich versucht Seeck bewusst, hier eine Abgrenzung zu den Progressiven vorzunehmen (wir kommen da gleich nochmal im Fazit drauf). Inhaltlich ist es aber genau das: anhand der Beispiele von Ostdeutschland, Heteronormativität und Rassismus arbeitet er heraus, dass klassistische Vorurteile allzu häufig mit diesen Diskriminierungsformen Hand in Hand gehen, eine Erkenntnis, die im Jahr 2022 glaube ich auch keine besonders kontroverse mehr ist.
Sein letztes Kapitel, „Eng verknüpft: Kapitalismus und Klassismus“, war für mich das am wenigsten überzeugende. Hier argumentiert Seeck, dass Klassismus und Kapitalismus eine Art dualistische Beziehung führen, eine These, die besonders durch den vorhergehenenden DDR-Vergleich einigermaßen unüberzeugend daher und über einige Plattitüden aus dem linken Rhetorikbaukasten auch nicht hinauskommt. Derart grundätzliche Überlegungen sind für einen so schmalen Übersichtsband auch kaum zu leisten.
Seeck endet sein Buch mit einem „Aufruf zu Aufklärung“, dem ich mich zunächst einmal vorbehaltlos anschließen kann: ja, Klassismus ist eine weit verbreitete und weitgehend unbeachtete Diskriminierungsform, die viel Schaden anrichtet und die viel mehr angegangen werden sollte. Und dazu kann sein Buch einen wertvollen Beitrag leisten, weil es einen schnell und gut lesbaren sowie fundierten Überblick bietet, ohne sich zu sehr in Details zu verlieren.
Aber.
Ich habe gleichzeitig große Probleme mit dem Band. Ein Kritikpunkt ist ja bereits in den letzten inhaltlichen Kapiteln aufgesprungen: die starke ideologische Schlagseite. Seeck ist kein Armutsforscher wie Christoph Butterwegge, der zwar klare politische Positionen hat, diese aber durchaus von seiner Arbeit zu trennen vermag. Er vermengt seine Darstellungen permanent mit seinen eigenen politischen Präferenzen, die recht klar auf einem linken Profil beruhen, das sich am ehesten in der LINKEn politisch abbildet. Am deutlichsten wird das in dem fast schon unmotiviert eingefügten Kapitalismus-Kapitel, aber in vielen anderen schlagen die entsprechenden Vorstellungen deutlich durch.
Das verhindert einerseits eine Breitenwirkung der Themensetzung, andererseits ist es ein deutliches „preaching to the choir“ beziehungsweise Tragen von Eulen nach Athen. Abgesehen vom Kapitel über die DDR – das natürlich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht auch viel zu kurz und oberflächlich ist – war für mich hier nichts Neues zu finden, und ich finde den Ruf nach „Aufklärung“ am Ende eher zahnlos.
Letztlich wird das Problem „Klassismus“ zwar sehr gut erkannt, aber nach meinem Dafürhalten besteht die Sicht des Autors – so zumindest mein Eindruck – darin, dass die richtige Politik als „one size fits all“-Lösung auch dieses Problem beseitigen werden. Die gleiche unangenehme Sicht definiert auch einen großen Teil des Rassismus-Problems der LINKEn, die immer überzeugt ist, dass wenn nur eine „sozial gerechtere“ Politik gefahren werde sich alle anderen Probleme selbst erledigten, weil eben alles immer irgendwie mit Kapitalismus und damit Ungleichheit zusammenhängt. Da bringt man dann ein paar halbgare Sätze zur Überwindung oder Weiterentwicklung des Kapitalismus, einmal Zauberstab geschwungen und zack, alles gut. Das erinnert mich an die Marktgläubigkeit einiger Exponenten der anderen Seite, und das finde ich genausowenig überzeugend. Nein; es ist gut, dass das Problem benannt wird. Aber so wird es sich kaum verbessern.
Ich finde das Thema „Klassismus“ schon in der Definition ausgesprochen schwierig und halte es darüber hinaus für politisch aussichtslos, gegen die wahrscheinlich vorhandenen Elemente ernsthaft anzugehen.
Eine persönliche Vorbemerkung: Ökonomisch aufgewachsen bin ich eineindeutig in einer Mittelschichtfamilie par excellence (vermögensloser Vater vom Unteroffizier zum Stabsoffizier aufgestiegen in meine ersten 18 Lebensjahren). Kulturell aufgewachsen wahrscheinlich eher als „Oberschicht“kind aufgrund des familiären Backgroundes im weiteren Sinne. Mir waren Teile des „Klassismus“-Konzeptes alleine dadurch früh bewusst, dass ich von vielen Gegenübern immer (instinktiv?) als Bürgerlicher/Konservativer eingestuft wurde, auch wenn das oberflächlich betrachtet durch Kleidung, Erscheinung oder für Konservative „radikale“ politische Ansichten unwahrscheinlich war. Vermutlich einer der Gründe dafür, dass ich als formal betrachtet „Sachbearbeiter“ – ich hatte nach meiner Studentenverbandszeit nie mehr eine disziplinare Führungsfunktion – immer weit oberhalb meines formalen Unternehmensgewichtes punchen konnte.
Also ja, es gibt mit ziemlicher Sicherheit Urteile und Vorurteile von Menschen, die auf vor- oder unterbewussten Einstufungen beruhen. Und wenn der eigen Schwerpunkt Bildungspolitik ist (war), dann weiss man mit ziemlicher Sicherheit, dass das deutsche Bildungssystem auch dazu dient, der (gehobenen) Mittelschicht die Unterschicht vom Leibe zu halten. Sonst wäre es anders strukturiert und vor allem finanziert.
Aber damit kommen wir auch schon zu den Problemen von „Klassismus“. Eindeutiges „Opfer“ in dieser schwammigen Theorie ist die ökonomische UND kulturelle Unterschicht mit Wohnsitz und Lebensschwerpunkt in der Stadt – und das sind vielleicht 10% der deutschen Bevölkerung, nicht mehr. Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, dass damit ernsthafte Gegenmassnahmen politisch praktisch unmöglich werden. Insbesondere dadurch, dass ein Grossteil der damit verbundenen Diskriminierung in der Vergangenheit eher kulturell und indirekt als gesetzlich und direkt stattfand, womit es ausserordentlich einfach ist, sie auszublenden oder wegzuargumentieren.
Mein zweites Problem damit ist vermutlich ziemlich unpopulär und politisch zur Zeit gerade nicht korrekt: Ich persönlich bin davon überzeugt, dass ehemals der Unterschicht zugeordnete Umgangsformen, kulturelle Audrucksarten, Rhetorik etc. die Öffentlichkeit in Deutschland übernommen haben. Das ist eine radikale Wende gegenüber der – sagen wir um 1950 – ehemals vorherrschenden Bestrebung, sich kulturell nach oben (ehemalige Aristokratie) anzupassen. Und es hat dem öffentlichen Leben sichtbar nicht gut getan, weshalb ich davon überzeugt bin, wir haben nicht zu viel, sondern zu wenig „Klassismus“ im öffentlichen Leben.
Gruss,
Thorsten Haupts
Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, dass damit ernsthafte Gegenmassnahmen politisch praktisch unmöglich werden.
Mir ist völlig unklar, was hier die Argumentationskette ist.
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass ehemals der Unterschicht zugeordnete Umgangsformen, kulturelle Audrucksarten, Rhetorik etc. die Öffentlichkeit in Deutschland übernommen haben. Das ist eine radikale Wende gegenüber der – sagen wir um 1950 – ehemals vorherrschenden Bestrebung, sich kulturell nach oben (ehemalige Aristokratie) anzupassen.
Teils, teils. Wir reden nicht umsonst vom „Unterschichtenfernsehen“. Ich denke, die Habitusse (Habiti? Habituus?) sind nur paralleler vertreten, stehen nicht so stark getrennt, weil die alte Klassengesellschaft so nicht mehr existiert.
Mir ist völlig unklar, was hier die Argumentationskette ist.
„Klassismus“ in der Praxis:
Minderheit von 10% betroffen, Diskriminierung (so vorhanden) nicht über Gesetze und Vorschriften sondern über Einstellungen und individuelles Verhalten= a) wenig politischer Druck zu Änderung, b) Änderung würde massiven Aufwand bedeuten (Verhaltens- und Einstellungsänderung einer Bevölkerungsmehrheit), c) dem Änderungsdruck ist argumentativ leicht auszuweichen.
Ergebnis: 0 Chance auf signifikante Änderungen, politisch totes Thema.
Hoffe, das war jetzt klar genug :-).
Gruss,
Thorsten Haupts
Ja, das verstehe ich soweit. Ich hatte dich so verstanden dass du sagst, es wäre nicht nötig, etwas zu tun; dass die Chancen auf konkrete Änderungen nicht so gut sind sehe ich.