Rezension: Jeffrey Lewis – The 2020 Commission Report on the North Korean Nuclear Attacks Against The United States

Jeffrey Lewis – The 2020 Commission Report on the North Korean Nuclear Attacks Against The United States (Hörbuch)

Ein Atomkrieg galt bis zum 24. Februar 2022 als kaum vorstellbar. Sicherheitsexpert*innen erklären zwar immer wieder, dass ein solcher sehr, sehr unwahrscheinlich ist – Russland hat wenig zu gewinnen und Putin ist ein zu rationaler Akteur -, aber Rationalität spielt keine allzugroße Rolle, wenn das menschliche Element und Kommunikationsprobleme in den Weg kommen. Im Stil der faux history beschreibt Jeffrey Lewis den fiktiven Atomkrieg vom März 2020 zwischen Nordkorea und den USA. Die Prämisse hört sich nach einem billigen B-Movie-Plot an, aber das ist es leider ganz und gar nicht. Das Buch lohnt die Lektüre daher auch nicht zwingend wegen des gruseligen Spannungsgefühls, sondern eher wegen dem großen Lerngehalt, den es bietet.

Zuerst noch einige Bemerkungen zum Genre. Die Vorgänge selbst sind offensichtlich erfunden, aber das vorliegende Werk ist kein Roman. Stattdessen liest es sich wie ein Sachbuch, mitsamt Verweisen auf (ebenso erfundene) andere Quellen und Zeugenaussagen. Die Prämisse ist, dass die Lesenden grundsätzlich wissen, was passiert ist. Natürlich bekommt man alle relevanten Informationen, so dass man sich das Bild zusammenpuzzeln kann, aber die Qualität des Werks ergibt sich in nicht geringen Teilen dadurch, dass dieses „Puzzeln“ notwendig ist. Der Text erzählt weitgehend chronologisch, es wird aber immer wieder auf Ereignisse verwiesen, die noch in der „Zukunft“ liegen, die aber in der erzählten Zeit in der Vergangenheit liegen. Wer noch nie so etwas gelesen hat, wird dadurch vielleicht kurz verwirrt sein, aber man gewöhnt sich schnell daran. Ich mag so Kram eh.

Aber nun zum eigentlichen Inhalt. Lewis beginnt die Geschehnisse mit dem Abschuss eines südkoreanischen Zivilflugzeugs durch die nordkoreanische Luftabwehr. Der Grund ist ein bedauerlicher Unfall, aber was folgt ist eine Verkettung von Umständen, die Lewis meisterhaft in den Strukturen und Personen anlegt. Die Personen sind vor allem drei: der südkoreanische Präsident Moon, der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un und der US-Präsident Donald Trump. Die Strukturen sind die Regierungs- und Militärinstitutionen Südkoreas, Nordkoreas und der USA.

Der Regierungsbezirk Südkoreas, das „Blaue Haus“, ist vielmehr ein „Campus“ von verschiedenen Gebäuden, so dass die hochrangigen Regierungsmitglieder immer 10-15 Gehminuten voneinander entfernt sind – mindestens. Diese ungeschickte Struktur findet ihre nicht minder ungeschickte Entsprechung in Mar-a-Lago, Trumps Luxusferienanlage in Florida, die während seiner Amtszeit quasi als zweiter Regierungssitz firmierte. Die dortigen Einrichtungen waren sehr ungeeignet und erlaubten nur den wenigsten Regierungsmitgliedern und Berater*innen einen Zugang zum Präsidenten.

In Lewis‘ Erzählung entscheidet sich Präsident Moon aus innenpolitischen – er selbst war vorrangig deswegen ins Amt gekommen, weil er im Wahlkampf die langsame Reaktion seines Amtsvorgängers auf eine nordkoreanische Provokation ausschlachten konnte – und außenpolitischen – die Emanzipation von den USA, die eine Art „Vetorecht“ gegenüber dem südkoreanischen Militär besitzen – Gründen zu einem schnellen und nicht mit den USA abgesprochenen Gegenschlag. Es werden Raketen auf zwei Ziele abgeschossen: das nordkoreanische Luftwaffekommando und Kim Jong-Uns Wohnsitz. Während Ersteres in nachvollziehbarer Relation zum Abschuss der Maschine stand, würde sich Letzteres als fatal herausstellen.

Moons Überreaktion ist das letzte Mal, dass die Südkoreaner ins Licht des Narrativs rücken – bald wird Seoul und mit ihm Moon von einem nuklearen Angriff getroffen werden. Noch allerdings ist die Verkettung der Umstände noch nicht abgeschlossen. Lewis‘ Erzählung geht nun zu Kims Mindset über, der ständig einen amerikanisch-südkoreanischen Angriff befürchtet. Zeitgleich zum Abschuss der Maschine findet das alljährliche amerikanische Militärmanöver statt, dem ein massiver Truppenaufbau zuvorgeht. Spätestens seit Putins Angriff auf die Ukraine wissen wir nur zu gut, wie sich Manöver zur Tarnung von Operationen eignen. Die Erfahrungen Gaddafis in Libyen und Husseins im Irak waren zudem beständig präsent; Kim ist in dieser Erzählung vorrangig davon motiviert, ihr Schicksal zu vermeiden.

Zu diesem Zweck plant er, niemals einen amerikanischen Truppenaufmarsch zuzulassen (wie Hussein) oder sich nuklear entwaffnen zu lassen (wie Gaddafi). Stattdessen soll der amerikanische Aufmarsch zerschlagen werden, bevor er in Nordkorea zuschlagen kann. An dieser Stelle werden die nordkoreanischen Strukturen wichtig: wie auch Moon und Trump befindet sich Kim in einem Bunker, von weiten Teilen der Außenwelt abgeschnitten und mit sehr unvollständigen Informationen. Zugang zu analytischer Expertise hat er kaum – dafür aber Tweets von Trump, in denen dieser unverhohlen dazu auffordert, ihn zu erledigen (Tweets, die Trump real auch abgeschickt hat, nebenbei bemerkt).

Aus diesen unvollständigen Informationen zieht Kim den Schluss, dass die USA tatsächlich einen Angriff planen und lässt Kurz- und Mittelstreckenwaffen abfeuern. Diese treffen die Kommando- und Aufmerschplätze Südkoreas und der USA: Ziele in Südkorea wie Seoul, aber auch Tokio, Okinawa und Guam werden getroffen. Kims Kalkül ist es, die ICBMs, die die USA treffen können, in der Hinterhand zu behalten und die USA so an den Verhandlungstisch zu zwingen, die keine Möglichkeit mehr haben, ihm militärisch gefährlich werden zu können.

An dieser Stelle wechselt das Narrativ zu Trump. Die Quellenlage ist hier sicherlich die beste, und Lewis fährt mit beeindruckendem Detailwissen die inneren Strukturen des Trump’schen Sicherheitsapparats auf. Der amtierende Außenminister (wegen Tillersons Rücktritt ist das Amt aktuell unbesetzt) ist von Trump gehasst und wird bewusst außenvorgehalten. Stattdessen versucht man, über UN-Botschafterin Nikki Haley zu agieren, die aber vorrangig eigene politische Ziele verfolgt. Mattis, der beste „Handler“ von Trumps Launen, ist so etwas wie das Ass im Ärmel, aber nur per Videokonferenz verfügbar. Trumps Charakterschwächen haben dafür gesorgt, dass sein Stab ihn so weit wie möglich zu isolieren versucht, seine Launen erträgt und ihn sachte von impulsiven, schlechten Entscheidungen wegzusteuern versucht. In einer zeitsensitiven Krisensituation ist das tödlich. Die anfängliche Begeisterung, Trump in Mar-a-Lago von Leuten wie Miller oder Kushner isoliert zu haben, weicht schnell der Ernüchterung, als Trump fordert, China zu bombardieren (weil China in Trumps Weltsicht hinter den Angriffen stecken muss).

Als die nuklearen Angriffe dann passieren, reagieren die USA nur langsam. Mattis überredet Trump, vorerst nicht nuklear zu eskalieren und stattdessen Nordkorea mit konventionellen Mitteln zu erobern und seine ICBMs auszuschalten. Dieser Plan scheint möglich, weil die nordkoreanischen Attacken die Basen in Okinawa und Guam verfehlt haben und wegen des Manövers drei Flugzeugträger und zahlreiche weitere Kapazitäten vor Ort sind. Kims Kalkül aber geht nicht auf: die USA haben keinerlei Interesse an Verhandlungen und wollen Kim tot sehen. Dieser wiederum sieht ein Exil nicht als Option, versteckt sich in einem atomsicheren Bunker und gibt den Schussbefehl.

Dreizehn ICBM werden losgeschickt. Sieben davon erreichen Ziele in den USA (Lewis widmet der Frage, ob die Raketenabwehr in Alaska oder die schlechte nordkoreanische Technik für die Zerstörung der anderen sechs verantwortlich ist, ein ganzes Kapitel). New York wird direkt getroffen, eine weitere Rakete schlägt dicht an Mar-a-Lago ein, zwei Geschosse verfehlen ihr Ziel Washington und vernichten vor allem Vorstadtgebiete in Virginia, zwei weitere verfehlen San Diego (die pazifische Marinebasis) und explodieren im Meer, die letzte zerstört Pearl Harbor (die andere pazifische Marinebasis).

An dieser Stelle pausiert Lewis die Geschehnisse und nimmt die Folgen der Angriffe den Blick. Dasselbe hatte er bereits mit den Auswirkungen der Attacke auf Tokio vorher gemacht, wo der Atomschlag einen Feuersturm auslöste, der die Großstadt nachhaltig verheerte. Lewis beziffert die Zahl der Toten dieses ersten Schlags auf ca. 1,5 Millionen. In den USA sterben durch die sieben ICBM rund 3 Millionen Menschen, acht Millionen weitere werden teils schwer verletzt, viele Millionen sind obdachlos. Die Gesundheitssysteme kollabieren in der Folgezeit (die Strahlenkrankheit schwächt Immunsysteme und die vielen Toten sorgen für Seuchen), Ernten brechen weltweit ein, weil das Klima sich rapide um fast 1,5° abkühlt. Es ist eine apokalyptische Vision, die in bewusst dürren, sachlichen Worten gezeichnet wird – aus einem insgesamt sehr, sehr begrenzten Atomkrieg.

Das Ende ist geradezu antiklimatisch: binnen 48 Stunden zerschlagen die USA die nordkoreanische Armee. Kim Jong-Un begeht Selbstmord. Nordkorea kapituliert. Trump tritt nicht für eine zweite Amtszeit an, stattdessen wird Pence gewählt. Die Kommission endet mit sehr vielen Kompromissformeln ihre Arbeit.

Insgesamt besticht das Buch vor allem durch seinen Realismus. Ich habe hier nur die äußeren Konturen dargestellt; die Schilderung gewinnt vor allem in den offensichtlich kenntnisreichen Details. Für mich zeigt sich einmal mehr deutlich, welch unglaubliche Gefahr von Trump im Speziellen, aber nicht sonderlich verantwortungsvoll handelnden Staatenlenker*innen im Allgemeinen ausgeht. Aber auch die Relevanz von Kommunikation und stabilen Strukturen wird sehr gut dargestellt und betont, was mir sehr gefällt. Für interessierte Leser*innen eine absolute Empfehlung.

{ 5 comments… add one }
  • cimourdain 28. Juli 2022, 08:22

    Auch wenn deine Besprechung spannend klingt und mich das ganze erschreckend an die Weltuntergangsszenarien des kalten Krieges erinnert, einen Satz möchte ich dir nicht unwidersprochen durchgehen lassen: „Für mich zeigt sich einmal mehr deutlich, welch unglaubliche Gefahr von Trump im Speziellen, aber nicht sonderlich verantwortungsvoll handelnden Staatenlenker*innen im Allgemeinen ausgeht.“ Das ist genau die Logik des NRA-Slogans „Guns don’t kill People. People kill People.“ Die Gefahr geht von den Kernwaffen aus, auch verantwortungsbewusste Politiker können damit die Katastrophe auslösen. Sieh dir die ‚Welt am Abgrund‘ Krisen seit 1945 an (einschließlich der aktuellen). Eigentlich wurde keine davon von einem erratischen Trump ausgelöst, sondern alle von der „rationalen“ Logik der Eskalation.

    • Stefan Sasse 28. Juli 2022, 09:58

      Korrekt, aber die Kernwaffen sind nun mal da, weswegen entscheidend ist, ob rationale Menschen oder Idioten am Knöpfchen sitzen. Ich nehm eine Million Mal Obama bevor ich Trump nehme. Kernwaffenfreie Welt wäre natürlich das Ideal, aber…wir arbeiten mit dem, was wir haben.

  • Thorsten Haupts 3. August 2022, 14:19

    Kernwaffenfreie Welt wäre natürlich das Ideal …

    Mitnichten! Sie machte Kriege zwischen Grossmächten wieder realistisch führbar. Grausiges Szenario, Rückfall ins 19. und frühe 20. Jahrhundert. Solange Waffen und Mächte mit der Bereitschaft existieren, diese einzusetzen, nehme ich lieber eine Welt mit Atomwaffen denn eine ohne!

    • Stefan Sasse 3. August 2022, 18:24

      Das ist die große Unbekannte unserer Zeit. Wenn Kernwaffen so wirken, dann ja. Wenn nicht, hatten wir bisher einfach nur Glück. Ich hoffe einfach mal, dass diese Debatte nie entschieden wird, denn es gibt nur eine Art, wie das zweifelsfrei geklärt wird…

      • Thorsten Haupts 4. August 2022, 08:20

        Bei der Wirkung konventioneller Waffen (kurzer Blick auf die zerstörten Ortschaften der Ukraine) ist ein kriegführendes Land in einem Grossmachtkonflikt heute eh heillos zerstört, solange es mit Artillerie und Kampfflugzeugen erreicht werden kann.

        Soweit Zivilisten nicht woandershin fliehen können, gibt es dabei voraussichtlich eh Millionen Tote. Der unmittelbare Unterschied zum Einsatz von Nuklearwaffen ist heute weit kleiner, als 1945. Und bisher verhinderten Nuklearwaffen zuverlässig Grossmachtkriege für die letzten 75 Jahre … Ich wäre bereit, die Wette darauf einzugehen, dass das so bleibt.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

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