Fremd im eigenen Land | Der Verlust ziviler Tugenden

In diesem zweiten Teil geht es um den Verlust von Verantwortungsbewusstsein und Würde in der deutschen Gesellschaft und Politik.

Lesedauer: 6 Minuten

Verantwortlichkeit

Dieses Land hatte mit Angela Merkel die Bundeskanzlerin, das es verdiente. Die Regierung Merkel machte Verantwortungslosigkeit zu ihrem Markenkern. Nicht nur wurden falsche Entscheidungen im Wissen getroffen, dass sie falsch waren. Mehr noch: in Merkels Kabinetten musste kein Minister wegen Fehlentscheidungen zurücktreten. Rücktritte wegen Fehlverhaltens erfolgten mit den bedauernden Worten, diese seien eigentlich nicht notwendig gewesen. An der Spitze der organisierten Verantwortungslosigkeit stand die Regentin selbst, die sich nicht einmal für die eigenen Wahlniederlagen zuständig fühlte. Ihr Bonmot 2017 im Angesicht historischer Verluste von fast 9% war, keine Fehler erkennen zu können.

In der neuen Regierung avancierte die gescheiterte Kanzlerkandidatin und Plagiatorin Annalena Baerbock schnell zum Star. Die Bundesaußenministerin fand zur Ukrainekrise die richtigen Worte (und die richtige Kleidung), besuchte schneller als ihr Vorgesetzter die politischen Zentren in Washington, Paris und Moskau und setzte empathisch Zeichen und Bilder. Die Meinung ist einhellig und wird über Parteigrenzen hinweg geteilt: Baerbock macht einen tollen Job. Entsprechend wird der Imagewechsel in der politischen Meinungsbildung der Bevölkerung goutiert, die Popularitätswerte der Anfang Vierzigjährigen erleben in diesen Tagen einen Boost.

Bei all dem Hype werden einige Hard Facts übersehen. Oder wahrscheinlich werden sie nicht übersehen, sondern entsprechen nur unserer lässigen Einstellung zu politischer Führung und dem, worauf es in unserer Gesellschaft ankommt. Das Amt des Außenministers kommt praktisch ohne Exekutivfunktion daher. Der oberste Diplomat des Landes ist nur für abwägende Worte zuständig, nicht jedoch für Regierungshandeln. Für die Positionierung eines Landes in der internationalen Gemeinschaft ist nicht das Statement des Außenministers relevant, sondern allein das des Regierungschefs.

Baerbock bekam dies bereits in den ersten Wochen vorgeführt. Bei ihrem letzten Besuch in der Ukraine hatte Selenskyj keine Zeit und in seinen Reden spricht er wie sein Botschafter ausschließlich den Bundeskanzler Olaf Scholz an. Die gravierenden protokollarischen Unterschiede sind nicht Baerbocks Verschulden. Sie tut, was sie kann in dem Amt, das sie unbedingt wollte. Aber es ist eins, das aus viel Reisen und wenig Einflussmöglichkeiten besteht. Und selbst im Vergleich zu ihrem Kabinettskollegen Habeck erreichte sie in den USA weniger Aufmerksamkeit. Denn die amerikanische Politik hat sehr wohl registriert: Habeck besitzt politischen Mut, Baerbock bewegt sich in ihren Milieus.

Im Normalfall überbringt der Chef des AA die Protokollnotizen des Bundeskanzlers, im besten Fall wird er in den Hauptstädten als einflussreiche Stimme wahrgenommen. Das ist Baerbock bisher nicht gelungen, wahrscheinlich ist das auch nicht das Ziel ihrer Politik. Ihre Reden sind eindeutig nach innen, nach Deutschland und ihre Community gerichtet, nicht nach außen, zu ihren Amtskollegen. Entsprechend wird sie von Teilen ihrer Partei gefeiert, die schon ihre ganzen Pannen und Fehltritte im Wahlkampf entschuldigten.

Aber auch das lieben die Deutschen: getragene Haltung ist wichtiger als die Fähigkeit zu Entscheidungen, Worte sind besser als Taten. Denn nur so können die heute dominierenden Politikertypen vom Schlage Merkels und ihre Abkömmlinge im engen Berliner Biotop überleben.

Die Grüne Anne Spiegel ist der Prototyp dieser Garde. Immer dabei, aber nie mittendrin und fern der Verantwortung. Die Familienministerin verursacht den ersten handfesten Skandal, typischerweise jedoch nicht wegen ihres Unterlassens im Amt, sondern der Ich-bezogenen Begleitumstände. Bevor Spiegel nach Berlin hochbefördert wurde, war sie Umweltministerin in der Ampelregierung in Rheinland-Pfalz. Als solcher wurde ihr maßgebliche Verantwortung für die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal vergangenen Sommer zugerechnet. Knapp formuliert war ihr Ministerium zuständig für die realistische Einschätzung der Wetterverhältnisse in der Region. Es relativiert nicht die politische Verantwortung der Landesumweltministerin zu sagen, dass in den verhängnisvollen Stunden, als die Menschen ihm Ahrtal regelrecht absoffen und mindestens 133 den Tod fanden, nicht allein ihr Ressort katastrophal versagt hat.

Es gab in diesem Land schon Politiker in Verantwortung, die aus weit geringen Anlässen und weniger Toten zurückgetreten sind oder zum Rücktritt entschlossen waren. Männer, sollte an dieser Stelle gesagt werden, wie der Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt z.B.

Spiegel war in jenen tödlichen Stunden in der Zeit vom 22 Uhr abends bis 8 Uhr morgens für niemanden zu erreichen. Angeblich surfte sie bis weit nach Mitternacht im Internet zu Recherchezwecken, fand aber offensichtlich nichts von Bedeutung. In ihrer letzten Anweisung am frühen Abend des 14. Juli gab sie ohne jeden sachlichen Einwand die – falsche – Mitteilung frei, dass eine Katastrophe nicht zu befürchten sei, erteilte jedoch noch die Anweisung zum Gendern.

In den Morgenstunden des folgenden Donnerstags dämmerte dann auch Frau Spiegel, dass da einiges schiefgelaufen sein könnte. Ihre Hauptkampflinie war dann, Verantwortung von sich zu weisen, ein Image aufzubauen und das richtige „Wording“ zu finden. So sagen es die SMS-Protokolle. Als Ministerin habe sie im Kabinett gewarnt und hingewiesen, das sei wichtig. Ich habe da eine andere Vorstellung von Politikern in Regierungsämtern. Politiker sind nicht dafür gewählt, gut analysieren und warnen zu können. Sie werden gewählt, damit sie hoffentlich die richtigen Entscheidungen für das Gemeinwesen treffen.

Würde

Viel ist in diesem Land verloren gegangen, nicht zuletzt Würde und Stil. Sie sind ersetzt worden durch gegenseitige Unbedenklichkeitsbescheinigungen: Du bist okay, ich bin okay. Vor aller Augen wurde der Verlust an Stil im Nachgang zur Rede des ukrainischen Präsidenten offensichtlich. Eines der jüngsten Parlamente seit der Wiedervereinigung arbeitete lieber die eigene Tagesordnung ab, wo der Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft nur einer von vielen war.

Gerade die Generation, die für sich in Anspruch nimmt, besonders empathisch für jede Ungerechtigkeit und Benachteiligung dieser Welt zu sein, zeigt sich besonders empathielos. Das verwundert nicht, wer sich für alles engagiert, brennt am Ende für gar nichts. Und ein Staat, der alle Probleme lösen will, löst am Ende gar keine. Da gibt es Leute, die Gendern auf Teufel komm raus, weil sie niemanden verletzen und niemanden vergessen wollen. Und die gleichen Leute bringen es fertig, mit Schimpfkanonen auf alles zu schießen, was konträr zu ihren Ansichten ist. Den Widerspruch sehen sie nicht.

Es ist ein Armutszeugnis für die Kultur in diesem Land, dass uns ausgerechnet schwierige EU-Mitgliedsländer wie Polen, Ungarn und Slowakei sowie der verschmähten Ukraine dies vor Augen führen müssen. Die Staatschefs der osteuropäischen Schmuddelkinder wie ihre Bevölkerungen zeigen, worauf es in zivilen, freiheitlichen Ländern wirklich ankommt: auf den Mut, für seine Überzeugungen zu kämpfen und Risiken einzugehen, manchmal auch existenzieller Art und die Fähigkeit Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Die ersten russischen Panzer waren gerade von Donezk und Luhansk vorgestoßen, da begaben sich tausende Ukrainer auf die Flucht nach Westen. Es war der Beginn der größten Flüchtlingswelle seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Nach aktuellem Stand haben bisher über 3 Millionen ihr Land verlassen. Sie fanden sofort Aufnahme in eben Polen (über 2 Millionen), der Slowakei und Ungarn. Aber es sind vor allem Frauen und Kinder, während viele Männer zurück in ihr Land gehen um gegen die Invasoren zu kämpfen. Dem Autor sind Fälle bekannt, in denen sich junge Ukrainerinnen noch auf der Flucht direkt bei deutschen Unternehmen beworben haben, um schnell Arbeit zu finden. Auch ein Unterschied zu 2015.

Der ein oder andere linksgrün gestrickte Moralapostel hält dies bereits wieder für Ausdruck von grassierenden Rassismus im Osten. Die Osteuropäer, die sich am heftigsten gegen die Aufnahme von Migranten aus muslimischen, arabischen und antichristlichen Ländern gewehrt haben, empfangen Kriegsflüchtlinge aus der christlichen Ukraine mit offenen Armen und warmen Suppen. Rassismus schalt es da von Leuten ohne echten interkulturellen Bezug.

Es ist nicht Rassismus, denn wer den Begriff so weit dekliniert, erklärt fast die gesamte Menschheit zu Rassisten – wer mit allem emphatisch ist, ist mit niemanden empathisch (siehe oben). Tatsächlich haben die meisten Menschen außerhalb der universitär geprägten Wohlstandsviertel noch ein feines Gespür für den Unterschied zwischen Migranten auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen und Flüchtlingen, die vor einer unmittelbaren Todesgefahr fliehen.

Die deutschen Rassismusverfolger machen sich in solchen Momenten so klein wie man als Mensch nur sein kann. Es ist niederträchtig um nicht zu sagen würdelos. In Berlin, diesem längst dysfunktionalen Staatswesen mit Putinverehrern an den Schalthebeln mokieren sich linke Politiker, Aktivisten und Behördenmitarbeiter derweil über die Hilfe der Polizei, die kurz die Ankommenden erkennungsdienstlich erfasst. Binnen Sekunden wird so klar, ob sich unter den Flüchtlingen in der Vergangenheit auffällig gewordenes Personal befindet, eine nicht ganz unwichtige Information für ein Land, wo schon Terrorakte durch vermeintliche Flüchtlinge begangen wurden.

Der Wesenskern eines jeden Staates ist die Gewährung der inneren wie äußeren Sicherheit für seine Bürger. Deutschland hat diese Verantwortung lange outgesourct. Terrorakte der letzten Jahre wie der Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz hätten ohne die Unterstützung ausländischer Dateien und Geheimdiensterkenntnisse nicht aufgeklärt werden können. Hier fehlt es wegen dem weitreichenden Datenschutz schlicht an gespeicherten Informationen und ansonsten an Ressourcen.

Über den miserablen Zustand der Bundeswehr sind in den vergangenen Wochen genügend Artikel geschrieben worden. Ebenso wussten viele Journalisten über die Millionenausgaben für Berater der ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zu berichten. Weniger in die Öffentlichkeit gedrungen sind die Feststellungen der Berater, also eigentlich die wesentliche Information. Im Fokus der Untersuchungen stand das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz. Dessen Neuorganisation war bereits Gegenstand des letzten Koalitionsvertrages von Union und SPD im Jahr 2018. Doch Verbesserungen konnten in der Merkel-Regierungszeit nicht festgestellt werden, wie auch? Die Bundeskanzlerin hatte immer ein gestörtes Verhältnis zum Militär und das Bundesamt ist in der Leitung SPD-dominiert und von der sehr linken Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beherrscht.

Seit Jahrzehnten besteht die deutsche Verteidigungsstrategie darin, gerade ausreichend Substanz vorzuhalten, um einen Vorstoß russischer Panzerdivisionen so lange aufhalten zu können, bis amerikanische Unterstützung kommt. Ansonsten hilft nur Beten. Man kann sich also den Schock in Expertenkreisen vorstellen, als in den USA Donald Trump Präsident wurde, der die Fraktion anführte: Wir kommen eher nicht.

Inzwischen lässt sich die Ampel für ihre historische Entscheidung feiern, die Militärausgaben auf das innerhalb der NATO vereinbarte Niveau von 2 Prozent des BIP anzuheben. Den meisten in den Regierungsfraktionen von SPD und Grünen geht das längst zu weit, sicher der wesentliche Grund, warum Olaf Scholz zwar seinen Finanz-Buddy Lindner über seinen Plan ins Vertrauen zog, nicht jedoch seine Partei oder seine Außenministerin. Nach dem ersten Schock über den Beschluss, die Aufrüstungsspirale anzuziehen (linker Jargon), sind die Relativierer ans Werk gegangen. 100 Milliarden für die Bundeswehr muss ja nicht bedeuten: 100 Milliarden für die Bundeswehr.

Unter Willy Brandt, dem Kanzler der Entspannungspolitik, der im Lager der Friedensdividendenbefürworter immer noch als Ikone gilt, waren es übrigens 3,5%. Da stand der Russe gerade ein paar Kilometer von Braunschweig und Hannover entfernt. Heute kennen die Polen und die Balten ihren kriegslüsternen Nachbarn und geben sich nicht solchen gefährlichen Illusionen wie die Deutschen hin. Erfüllten ihre Wehretats bereits vor dem Hallo-Wach-Erlebnis vom Februar das NATO-Kriterium, wollen sie weiter auf bis zu 3 Prozent aufrüsten. In Deutschland kann man bis auf weiteres nur darauf hoffen, dass die Amerikaner nicht noch einmal einen Politiker des Kalibers Trump ins Weiße Haus entsenden.

Die Ukrainer zeigen sich in diesen schlimmen Tagen als die echten Kämpfer für Freiheit, für die Ideale, welche die Westeuropäer nur noch in ihre Verfassung geschrieben haben. Für die Bürger an der Peripherie der Union, in Spanien wie Portugal, ist der Krieg weit weg. In Brüssel wird derweil ums Geld gefeilscht, die mediterranen Länder mit ihrer Vormacht Frankreich wollen ihre Staatshaushalte mit europäischen Schulden, sprich der Solvenz Deutschlands, konsolidieren. Während der ukrainische Präsident um Waffen bittet, fordern Macron und Draghi hohe Milliardenbeträge zum Erhalt ihrer Sozialillusionen.

Als Liberaler lebe ich heute in einem Land, das vergessen hat, was für ein solides Gemeinwesen unabdingbar ist. Die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Person und des Individuums wurde ersetzt durch einen klebrigen Paternalismus, perfektioniert in der Pandemie. Demokratie und Rechtsstaat haben schwere Schäden erlitten, wenn sie nicht offen von der Mehrheit und der Politik verachtet werden. Statt einer Kultur der Verantwortlichkeit herrscht allgemeine Verantwortungslosigkeit vor. Stil und Würde wurden ersetzt durch einen inhaltslosen Begriff von Empathie für alles und nichts. Die deutsche Gesellschaft ist in den Jahrzehnten immerwährender Bequemlichkeit innerlich morsch geworden. Ein Staat, der seine wesentlichen Aufgaben nicht erfüllen kann, in seinen Strukturen wie aus dem 19. Jahrhundert wirkt, belästigt seine Bürger mit ewiger Bevormundung – und das mit großer öffentlicher Zustimmung. Für dieses Deutschland will keiner mehr kämpfen, nicht einmal seine Nutznießer.

In diesem Land fühle ich mich fremd.

{ 44 comments… add one }
  • sol1 20. März 2022, 18:26

    „Ihre Reden sind eindeutig nach innen, nach Deutschland und ihre Community gerichtet, nicht nach außen, zu ihren Amtskollegen.“

    Und schon habe ich zu lesen aufgehört.

    „Für einen Erfolg der Resolution war mit Blick auf die abgegebenen Stimmen eine Zustimmung von zwei Dritteln nötig. Die 141 von letztlich 181 Stimmen werden als enormer Erfolg gewertet: 100 galten als Minimum, 120 als realistisch.

    Aus Deutschland war Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag persönlich angereist und warb in einer bewegenden Rede für die Resolution. Sie erntete dafür langen Applaus und Lob. Ihr Auftritt, ihre Vorwürfe gegenüber dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow und auch ihr Verständnis für die Belange anderer Länder der UN sollen mehrere Staaten dazu bewegt haben, für die Resolution zu stimmen, hieß es in diplomatischen Kreisen.“

    https://www.handelsblatt.com/politik/international/ukraine-un-vollversammlung-verurteilt-mit-ueberwaeltigender-mehrheit-russische-invasion/28124144.html

    • Stefan Pietsch 20. März 2022, 18:47

      Ah, dass China sich überraschend enthalten hat, ist dem Eindruck zu verdanken, den Baerbock gemacht hat? So funktioniert also Weltpolitik…

      • Stefan Sasse 20. März 2022, 19:12

        Mit Sicherheit nicht, aber du kritisierst sie einfach immer, egal was sie macht.

        • Stefan Pietsch 20. März 2022, 19:26

          Nein. Ich sehe Baerbock in diesen Wochen sehr positiv. Denn natürlich spricht sie mich an. Sie hat eine klare Sprache – im Gegensatz zum Wahlkampf -, sie zeigt eine Empathie, die man in dem Amt nicht gewohnt ist. Ich werde bis in alle Ewigkeit warten müssen bis Du Dich so überwältigend positiv zu Friedrich Merz oder Christian Lindner äußern würdest, selbst wenn sie nach allgemeiner Einschätzung einen Top-Job machen würden. Dazu ist Deine Ablehnung viel zu groß als dass Du über den Schatten springen könntest.

          Was Du nicht bemerkst: es geht nicht um Baerbock in der Passage, sondern zur allgemeinen Frage, warum wir 4x eine Politikerin in Kanzleramt befördert haben, die in jeder wichtigen Frage falsch lag und selbst wenig (tatkräftig) entschied und speziell was den Wetterumschwung bei Baerbock bewirkte. Mir geht es nicht um die Politiker, sondern uns, die Deutschen.

          • Stefan Sasse 20. März 2022, 22:07

            Ich hab mich schon zigmal positiv zu Lindner geäußert. Aber du willst ja lieber deine Vorurteile behalten.

            • Stefan Pietsch 20. März 2022, 22:32

              Stefan, Deine Maßstäbe. Positiv hast Du Dich in Bezug auf Lindner dann geäußert, wenn er einzelne, Dir gefällige politische Maßnahmen umsetzte. Das ist nicht gerade teurer Applaus.

              Ich habe im gesamten Artikel mich mit 5 Politikern der Ampel namentlich in kurzer Form und exemplarisch gemeint auseinandergesetzt: Christian Lindner und Marco Buschmann, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Anne Spiegel. Einzig die Bundesaußenministerin bekam positive Worte und das noch einen ganzen Absatz lang. Sie ragt damit im Ranking klar heraus. Deine Bewertung:

              Mit Sicherheit nicht, aber du kritisierst sie einfach immer, egal was sie macht.

              Ich merke an: ich habe sie nicht kritisiert, sondern das Muster der Bürger auf politische Verhaltensweisen aufgezeigt. Baerbock war die einzige Politikerin, die ich über 8 Seiten Text gelobt habe. No more words needed.

        • einfachnurRoland 20. März 2022, 21:33

          Stimmt nicht. Er hat doch zugegeben, dass ihre Garderobe besser geworden ist 😀

      • sol1 20. März 2022, 19:32

        Was soll der Pappkamerad China hier? Ich habe belegt, daß Baerbocks Reden keineswegs nur „nach innen“ gerichtet sind, sondern auch erfolgreich „nach außen“.

        Und das Geschwurbel in den Sätzen zuvor kann man eigentlich auch nur so interpretieren, daß Baerbock ihren Job besser macht, als du ihr zugetraut hast – und du nun das verschleiern mußt, weil es nicht in dein Narrativ vom Niedergang Deutschlands paßt.

        • Stefan Pietsch 20. März 2022, 19:44

          Sie wollen behaupten, Baerbock habe einen Stimmungsumschwung bewirkt dafür fehlt jede Evidenz und jeder Anhaltspunkt. Tatsächlich wusste immVorfeld niemand, wie die Vollversammlung abstimmen würde. Man hatte nur wenige Kennziffern aus der Vergangenheit.

          Fakt ist: Habeck hat bei seinem Besuch in Washington hochkarätigere Gesprächspartner bekommen Als die Außenministerin. Das sind Fingerzeige. Nicht der Glaube, eine gute, emotionale Rede vor abgehangenen Vollprofis im diplomatischen Dienst würde politische Positionen ändern. Das ist bester Hollywoodkitsch.

          • sol1 20. März 2022, 21:17

            „Sie wollen behaupten…“

            Nein, das hat eine erfahrene Journalistin des Handelsblatts geschrieben, die ich lediglich zitiert habe. Meine Zeit ist mir zu schade, um sie für das Aufstellen unbelegter Behauptungen zu verschwenden – oder um auf unbelegte Behauptungen mehr als summarisch einzugehen.

  • einfachnurRoland 20. März 2022, 21:21

    Was ist für dich das bemerkenswerte an Angie und wieso ist die Spiegel für dich prototypisch? Die ist doch nur ein kleines Kind im Gegensatz zu jedem CSUler, der es ins Bundeskabinett geschafft hat. Als ich zum ersten Mal wählen durfte, habe ich mitgewirkt Schröder und Fischer in ihre Ämter zu hieven. Damals hätte man diesen Text auch schon veröffentlichen können. Nichts von dem ist neu oder hat sich in den letzten zwei Jahren geändert.
    Verantwortunglosigkeit war unter Kohl doch schon Staatsräson – da war doch ein Ehrenwort unter Freunden wichtiger als 4 Eide vor dem Bundestag.

    • Stefan Pietsch 20. März 2022, 21:47

      Merkel gehört zu dem inzwischen übermächtigen Typus von Entscheidungsträgern, die Angst vor Entscheidungen haben und allein auf den Applaus anderer achten. Die Angst vor Entscheidung resultiert daraus, dass sie immer mit Konsequenzen, auch negativen, daherkommen. Dieser Typus ist mir in meinem Berufsleben bis hin zur Ebene von Vorständen und Geschäftsführern öfters begegnet.

      Anne Spiegel ist in bestimmten Communities sozialisiert worden, besitzt außerhalb des Kosmos Uni, NGOs und Umweltmilieus keine Expertise und Erfahrung. Auf die Art wird man sehr lange wohlbehütet und abgeschottet von realen Lebenswelten und konfrontativen Positionen und Kulturen. Viele, gerade der Jungpolitiker im Deutschen Bundestag, bilden genau das ab. Und dann geht es eben nicht mehr um die Übernahme von Verantwortung, sondern die Abwehr der selben.

      Unter Kohl gab es honorige und weniger honorige Rücktritte. Ebenso bei Schröder, der auch mal eine Ministerin feuerte, weil sie den amerikanischen Präsidenten beleidigt hatte. Merkel feuerte nur einmal einen Minister, weil dieser taktische und kommunikative Fehler im Wahlkampf gemacht hatte. Das war allerdings nicht ihr Standardprocedere. Unter Merkel sind Minister nur zurückgetreten, wenn sie plagiiert hatten, was im Volksmund als Betrug gewertet wird. Und das akzeptierte sie nur mit äußerstem Widerwillen.

      Das ist also kein Zufall, sondern Muster, wenn in 16 Jahren kein echter Rücktritt wegen Fehlverhaltens oder „nur“ Verantwortungsübernahme im Amt zu konstatieren ist.

      • Kning4711 20. März 2022, 23:15

        Schade, hier hatte ich mehr erhofft als die Wiederholung deiner schon an anderer Stelle geäußerten Vorbehalte gegenüber Merkel und Baerbock.

        Die Verantwortungslosigkeit kennt viele Gesichter: – eine Kirche, die die Aufklärung schwerster Straftaten noch selber organisieren darf und die Staatsanwaltschaften müssen zuschauen.
        – eine Partei, deren Mitglied von Rechtsextremisten ermordet wird, bleibt lange bei der Bekämpfung rechtsextremistischer Strukturen zaghaft und träge
        – ein Weltkonzern unterläuft bewusst Umweltauflagen, betrügt seine Kunden und sorgt für einen riesigen finanziellen Schaden, ist aber keine 3 Jahre dem Skandal, geachteter Partner
        – ein Verkehrsminister, der wider des Rates aller fachlicher Experten ein Wahlkampfversprechen durchzudrücken versucht und dem Steuerzahler einem Milliardengrab hinterlässt
        – ein anderer Minister, der das Flugzeug des BND Chefs nutzte, um für einen Teppich im Werte von 1.100 EUR Zoll und Einfuhrumsatzsteuer zu umgehen

        Das sind willkürlich herausgegriffene Beispiele die stellvertretend für die Verlust eines Verantwortungsgefühls in dieser Gesellschaft stehen. Die Konsequenz ist der geradezu erschreckende Verlust der Glaubwürdigkeit der politischen Eliten. Darin liegt ein Grundübel in unserer Gesellschaft, da wir politisch Handelnden zunehmend mit Misstrauen und Zynismus gegenüberstehen. Gerade aber in den aufkommenden Krisen und Aufgaben müssen wir den politisch Verantwortlichen Vorschuss geben, dass Sie das richtige tun wollen. Wenn jeder Gedanke von Anfang an zerredet, jegliche Initiative als persönliche Vorteilsnahme gewertet oder jeder Fehler (im Sinne von Irrtum) den Kopf kosten soll, werden wir als Gesellschaft an den Herausforderungen dieses Jahrhunderts scheitern…

        • Stefan Pietsch 20. März 2022, 23:48

          Wo stehen die Vorbehalte gegenüber Baerbock? Könntet Ihr mal konkret bezeichnen, was ich im Artikel angeblich an Baerbock kritisiere oder ihr vorwerfe? Danke.

          Tatsächlich geht es mir doch nicht um die Politiker. Sondern das seltsame Verhalten meiner Mitbürger, „die Deutschen“ genannt. Es ist doch bemerkenswert, dass praktisch alle derjenigen Kommentatoren, die andere Länder nicht nur vom jährlichen Strandurlaub mit deutschsprechendem Hotelpersonal kennen, durchaus große Bauchschmerzen mit der Entwicklung der deutschen Mentalität haben – die Jens Happels, Erwin Gabriels, Thorsten Haupts (ich ergänze meinen Freund Hanni Hartmann, der hier nicht mehr kommentiert), die anderen jedoch jede Kritik an der Verfasstheit unseres Landes abwehren.

          Daher: was bringt diese Aufzählung einzelner Politiker mit einzelnen Verfehlungen? Wo ist das Muster, die Struktur, die zu den Regierten passt? Fehler, Schlechtleistungen gibt es überall, in jedem Land, in jeder Gesellschaft. Das ist völlig unnütz. Wer im Politikerranking oben steht, der steht doch für etwas Typisches. Sonst würden nicht so viele Leute denjenigen gutfinden. Was sagt uns das, dass Merkel – eine absolute Ausnahme in dieser Form – 16 Jahre an der Spitze des Politikerrankings stand? Was sagt es uns, dass ein permanenter Kassandrarufer wie Karl Lauterbach, der in Sprache und Singsang eher Antipathien hervorrufen müsste, zeitweise der beliebteste Politiker des Landes ist? Wie ist Baerbocks Aufstieg zu werten?

          Finden Sie das wirklich uninteressant?

          Es geht im Artikel nicht um die Politiker. Das ist mir zu billig. Es geht um uns, besser um meine Mitmenschen, mit deren Mentalität ich so sehr hadere wie noch nie. Sie sind mir fremd geworden.

          • einfachnurRoland 21. März 2022, 22:21

            Vielleicht gab es früher ein paar Minister mehr, die gegangen wurden. Den Vogel haben aber immer die Kanzler abgeschossen. Das ist der eine Punkt, den ich Merkel zum heutigen Kenntnisstand zu Gute halten muss 😉

            Neben der Exekutive ist hier aber auch das Totalversagen aller Parlamente während der Pandemie zu nennen. Die Exekutive hatte ja zu Beginn zumindest versucht zu handeln (ja, ich sehe das als Pluspunkt), aber die Parlamente haben doch nur ihre Kompetenzen an die Regierungen übertragen und waren das erste Jahr fertig mit ihrem Job. Hatten ja alle auch viel mit ihren Nebenjobs zu tun…

            Das was du zu Merkel kritisierst, kenne ich aber nicht nur von der angestellten High-Society (wozu ich dann auch Vorstände zähle), sondern selbst von geschäftsführenden Gesellschaftern. Sowohl im Handwerk, als auch in der IT. Und meiner Erfahrung nach waren das noch nicht einmal Einzelfälle.
            Das ist wirklich traurig. Aber auch nichts neues. Weder in Bezug auf Corona noch auf die Ära Merkel.

            • Stefan Pietsch 22. März 2022, 10:13

              Ich halte Merkel gar nichts zugute. Ich mag es nicht, wenn Menschen unfähig zu Entscheidungen sind. Noch weniger mag ich Menschen in Verantwortung, die keine Entscheidung treffen mögen. Und am wenigsten mag ich es, wenn Menschen in Verantwortung die Dinge so lange treiben lassen, bis nur noch Müll herauskommt. Ist nicht speziell auf Merkel gemünzt.

              Selbst das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach gerügt, das Parlament käme seiner Regelsetzungs- und Kontrollfunktion nicht nach. Wie peinlich!

              Klar, ich behaupte nie (!) die Menschen in politischer Leitung, in der Führung von Unternehmen, die Prominenz seien charakterlich einwandfreier als diejenigen, denen sich hierarisch überstehen. Das ist auch nicht meine Lebenserfahrung als jemand, der eine Ewigkeit lang in Unternehmen ziemlich weit oben rangiert.

  • Jens Happel 20. März 2022, 22:33

    Ein Land, dass sich soziale Marktwirtschaft auf die Fahne geschrieben hat und „Eingenverantwortung“ als Floskel des Jahres wählt, ist einfach nicht mehr zu retten. Wer Eigenverantwortung als Kern unserer Gesellschaft ablehnt fordert letztlich eine Entmüdigung der Bürger. Eigenverantwortung und Freiheit gehen Hand in Hand, ohne das eine geht das andere nicht.

    Und genau da soll die Reise ja hingehen. Jeder kleine Schritt wird einem wegen Klimawandel, Corona oder Gleichberechtigung vorgeschrieben.

    Interessant ist auch wie solche „Abstimmungen“ zu Stande kommen und wie sie initiert werden.

    Ausgerechnet, diejenigen die sich an Zwangsgebühren laben, setzten so was in die Welt, bezeichnend.

    https://reitschuster.de/post/auch-eigenverantwortung-ist-jetzt-boese/

    Dieses Land besteht nur noch aus Sprechblasen, die sich irgendwie gut anfühlen, aber komplett faktenresistent und deswegen sinnbefreit sind.

    • Kning4711 21. März 2022, 07:04

      Könnte es eventuell daran liegen das Eigenverantwortung lediglich ein Chiffre ist für Leistungskürzungen im Sozialbereich und der einseitigen Verschiebung der Verantwortung zu ungunsten des Kunden / Bürgers?

      Ich bin selbst in der glücklichen Situation eingenverantwortlich handeln zu können, da ich entsprechend erzogen und in einem Umfeld aufgewachsen bin, in dem die Eigenverantwortung gefördert wurde und eine wirtschaftliche Sicherheit hatte mich auszuprobieren.

      Unser Bildungssystem bereitet uns unzureichend auf Eigenverantwortung vor, da es unterfinanziert und dadurch nicht das leisten kann, was es könnte. Es fängt beim Personalschlüssel an und insb. die Möglichkeiten des sich auszuprobierens der Schüler abseits des Unterrichts an der Schule hat zu wenig Raum. Die strikte Selektion begünstigt die soziale Schieflage, so dass sich schwächere Schüler die Eigenverantwortung gar nicht abschauen können, da Sie in einem Schulsystem gefangen sind, dass Sie abhängt.

      Eigenverantwortung muss erlernt werden? Wird diese verordnet kommen allzuviele unter die Räder.

  • Erwin Gabriel 21. März 2022, 10:11

    Hallo Stefan,

    vorab: Ich werde mich heute Abend noch ausführlicher äußern.

    Mein erster Eindruck ist aber, dass ich nicht so bei Dir bin, wie ich es erwartet hätte. Mein Eindruck ist, dass Du zu viel in den Sack stopfst, auch Kleinigkeiten bzw Unwichtigkeiten hinein packst, die nicht unbedingt in diesen Sack hinein gehören.

    Und zu Annalena Baerbocks Auftritten als Außenministerin haben wir halt andere Wahrnehmungen. Aber ob sie so redet, weil sie die Befindlichkeit der Partei im Auge hat, oder weil es eben ihre Art ist und es einen Grund dafür gibt, dass sie Grüne ist, würde ich eher unter Henne-Ei-Situation verorten.

    Wenn nicht mehr geht, liegen die Gründe dafür in dem Deutschland, das Merkel angerichtet hat, in den unsäglichen Auftritten ihres Vorgängers, in der Tatsache, dass das Bundeskanzleramt sich für zuständig erklärt, und bei den anderen Ländern, die eine eigene Agenda haben. Aber sie holt das derzeit mögliche Maximum aus ihren Auftritten heraus.

    Ich will hier nicht zu sehr darauf herumreiten, da Du sie inzwischen ja tatsächlich auch in besserem Licht betrachtest als vor ein paar Monaten, und sie auch für Deine Verhältnisse, für Deine Sicht auf die Grünen, durchaus lobst.

    Wie gesagt, heute Abend mehr.

  • cimourdain 21. März 2022, 11:23

    Auch bei diesem Teil kann ich Ihr Unbehagen mit der aktuellen Politikgeneration gut nachvollziehen, sehe aber ein Problem in Ihrer Diagnose: Sie führen zu viel auf eine andere Mentalität zurück. Das setzt Ihre Kritik aber in eine Reihe mit den vielen Zeugnissen des ‚Sittenverfalls der Jugend‘, der zu jeder Generation moniert wurde. Ich würde deshalb lieber die Frage stellen, welche Fehlanreize in der Politik zu dem geänderten Stil geführt haben. Hier mal eine Angebotspalette ohne Bewertung:
    – Geringer Entscheidungsspielraum. Viele Probleme lassen sich nur transnational lösen. Andere (Sozialpolitik) sind durch vergangene Entscheidungen so festgezurrt, dass sich wenig verändern lässt.
    – Starke Ränder des Spektrums und daraus resultierende Wagenburgmentalität des Mitte-Parteien.
    – Macht der Politikvermittler: Journalisten, PR-Agenturen, Berater, Lobbyisten
    – Eine schnelllebige Aufregungskultur, die einen peinlichen Tweet auf die gleiche Höhe hebt, wie einen Bestechungsskandal
    – ‚von Anfang an‘- Berufspolitiker, für die Politik die einzige Karriereoption ist
    Weitere Strukturprobleme werden Ihne sicher auch einfallen. Aber nur wenn wir die Wurzeln des angesprochenen Problems angehen, dann kommen wir auch wieder zu einer stärkeren Verantwortlichkeit der Politik.

    • Stefan Pietsch 21. März 2022, 11:49

      Ich widerspreche vehement und habe das bereits im Artikel. Die Mentalität einer Gesellschaft wird doch nicht von der Politik geprägt, es ist umgekehrt. In der Pandemie haben die deutschen Politiker doch nur beschlossen, was dem Vorsichtsbedürfnis der Bevölkerung entsprach. Und so war es in den Niederlanden und in Dänemark genauso. Dort wären die Regierungen abgelöst worden, wenn sie nicht gelockert hätten. Hier wird die eine Partei, die gegen das Konzert der anderen steht, in Politik, Medien und Gesellschaft angefeindet.

      Der Bundeskanzler hat eine erstaunliche Machtfülle für eine Verfassung, die keine Machtballung duldet. Aber seit 2005 wird sie nicht mehr genutzt. Der jeweilige Politiker erntet dafür hohe Popularitätswerte aus der Gesellschaft und macht sich damit immun gegen Angriffe aus seiner Partei. Warum belohnen wir eigentlich nicht tatkräftige Politiker, die durchaus schwierige Abwägungen treffen, mit hohen Popularitätswerten? Nehmen wir durchaus das Beispiel Anne Spiegel: Statt des fälligen Rücktritts wird die Familienministerin durch den Schutz der Ampelparteien gehalten, weil sie selbst nicht die Haltung für das Notwendige mitbringt. Das ist aber nicht kostenlos, die anderen Parteien werden bei eigenem gravierenden Fehlversagen einen Preis einfordern und ebenfalls die Solidarität der Koalitionspartner einfordern. Genau das ist von Übel. Das sind die Regeln der Mafia.

      Ein ganzer Landesteil hat Demokratie und Marktwirtschaft nicht angenommen. Dort lebt ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Das ist das Kernproblem unserer Demokratie. Es mangelt, durchaus adressierbar, an der Identifikation. Das zieht das nächste Problem nach sich: die „Vernünftigen“ können nur mit verstärkten Kraftanstrengungen Regierungen bilden. Damit diese funktionieren, braucht es mehr Geld (durch Steuern und Verschuldung), um die Konflikte zukleistern zu können. Das ist kein deutsches Phänomen: Studien haben gezeigt, dass in Regierungen mit wachsender Parteienanzahl das Ausgabenverhalten einer expotentiellen Kurve folgt.

      Zum letzten Punkt: Auch das ist nur ein Symptom: Wir müssen wieder lernen, uns schon im Kindesalter mit anderen auseinanderzusetzen und von unserem Nachwuchs nicht allen Unbill fernzuhalten. Treffende Analogie: 15 Jahre hat man im deutschen Nachwuchsbereich des Fußballs nur einen Spielertyp gefördert mit der Folge, das uns Mittelstürmer und Außenverteidiger fehlen. Inzwischen haben wir nicht einmal mehr gute Torhüter. Alles ist uniform.

    • Thorsten Haupts 21. März 2022, 14:39

      Hier mal eine Angebotspalette ohne Bewertung:

      Alles richtig. Aber – das ist ja alles nicht vom Baum gefallen, sondern die Folge einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Entscheidungen. Und genau darauf will Stefan P hinaus – er versteht das Volk, dass genau diese Anreiz- und Sanktionspalette vorhält, einfach nicht mehr.

      Ich folge ihm da teilweise durchaus – mit dem einen sehr starken Vorbehalt, dass vieles davon auch in den achtzigern schon sichtbar war, nur vielleicht weniger deutlich. Und dem anderen, dass einiges davon in entwickelten Mediendemokratien praktisch unvermeidbar (= theoretisch vermeidbar, aber nur mit einem ausserhalb eines Krieges nicht vorstellbaren gesellschaftlichen Kraftakt) geworden ist, Stefan P verklärt a weng das Ausland gegenüber Deutschland.

      In meinen etwas dunkleren Stunden (nach wie vor gottseidank selten) sage ich mir einfach, dass bisher alle grösseren Zivilisationen entweder durch Degeneration oder/und durch Kriege untergegangen sind – ich wüsste bis heute keinen guten Grund dafür, dass wir eine Ausnahme darstellen sollten.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • einfachnurRoland 21. März 2022, 23:01

        Du bist ja ein richtiger Pversteher 😀

        Zufällig habe ich gerade ein altes Interview von Thilo Jung mit Ulrike Guèrot gesehen. Sie kritisierte einen eigenartigen „Neoprenanzug“ in dem wir Deutschen in unserer Selbstwahrnehmung stecken. Als ursächlich nannte sie Aspekte, wie die Überwindung der deutschen Krankheit Mitte der 00er Jahre und konkret das Sommermärchen 2006. Seitdem redet man hier von „Deutschland“ nicht mehr von der „Bundesrepublik“. Ich denke, dass wir seit damals deutlich patriotischer sind und weniger genereller Deutschlandzweifel gepflegt wird. Rein dialektisch betrachtet ist hier natürlich eine entsprechende Reaktionsbewegung zu erwarten und im Rahmen der Eurokrise ja auch zu beobachten gewesen. Damals sollte an unserem Wesen ja sogar der Grieche genesen. Neulands Politiker, die liebe Qualitätspresse und der deutsche Michel waren sich ja völlig einig, dass Griechenland, Italien und Frankreich erstmal eine richtige Hartz-Reform brauchen, bevor man da mal über eine Änderung der europäischen Regeln sprechen konnte. Vom ewigen Auschwitz-Vermeider zum arrogantesten Vollar… hat der Deutsche nur ein paar Jahre seit der Wiedervereinigung gebraucht. Und jetzt – gut 10 Jahre später – schwingt das Pendel wieder zurück. Zum Einen merken wir, was wir sind, und zum anderen bekommen wir die Rechnung unserer Zeche: schon wieder ein Jahrhunderhochwasser, Krieg in Europa, chin. Hegemonie und Hunger in Somalia.

        Keine Bange, Stefan P., das macht nicht nur dir keinen Spaß. Und die anderen werden das auch schon noch merken. Nutz doch deinen zeitlichen Vorsprung konstruktiv und tritt in die Partei ein, die dich am meisten enttäuscht hat!

        • Stefan Sasse 22. März 2022, 15:19

          Ist nicht eben so, als hätte es vor 1990 keine Arroganz und Weltverbesserungsideen gegeben.

      • Erwin Gabriel 22. März 2022, 00:13

        @ Thorsten Haupts 21. März 2022, 14:39

        Aber – das ist ja alles nicht vom Baum gefallen, sondern die Folge einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Entscheidungen. Und genau darauf will Stefan P hinaus – er versteht das Volk, dass genau diese Anreiz- und Sanktionspalette vorhält, einfach nicht mehr.

        Sehr gut beschrieben.

        Ich folge ihm da teilweise durchaus – mit dem einen sehr starken Vorbehalt, dass vieles davon auch in den achtzigern schon sichtbar war, nur vielleicht weniger deutlich.

        Kann ich auch nachvollziehen. Schon Helmut Kohl hat spätestens nach Erreichen der Wiedervereinigung viel getan, um das Wahlvolk zu sedieren. Aber schon zu Helmut Schmidt galt im Falle der Mittelstreckenraketen-Nachrüstung „not in my Backyard“.

  • Erwin Gabriel 22. März 2022, 00:37

    @ Stefan Pietsch on 20. März 2022

    Verantwortlichkeit#

    Zu Baerbock: Die gehört in diesen Punkt überhaupt nicht rein.
    Zu Spiegel: Ja, aber … Für Warnungen ist das Innenministerium zuständig, für nichtfunktionierende Sirenen auch. Aber Zustimmung: ihre anschließende Reaktion war wirklich dürftig.

    Da gibt es deutlich bessere Beispiele: Heiko Mass beispielsweise, Andi Scheuer, oder Horst Seehofer, Thomas de Maizière, ganz weit vorne natürlich Uschi von der Laien Leyen und Angela Merkel; für die Verantwortungslosigkeiten der letzten Jahrzehnte eine Regierung verantwortlich zu machen oder als Beispiel heranzuziehen, die gerade 10x Tage im Amt ist, halte ich nicht für zielführend. Den grundsätzlichen Punkt verstehe ich aber.

    Würde

    Zur Ukraine: Volle Zustimmung. Haltung haben wir seit Gerhard Schröder und Joschka Fischer offenbar verlernt.

    Zu Flüchtlingen: Auch die im Grenzgebiet sitzenden Flüchtlinge nicht-kauksischer Rassen stehen an der Grenze, weil auch sie vor den gewalttätigen Russen fliehen. Wo ich wieder bei Dir bin: Die deutschen Wahrer der reinen Lehre agieren scheinheilig.

    Zur Bundeswehr: Volle Zustimmung. Ein Grausen.

    Die Ukrainer zeigen sich in diesen schlimmen Tagen als die echten Kämpfer für Freiheit, für die Ideale, welche die Westeuropäer nur noch in ihre Verfassung geschrieben haben.
    … Während der ukrainische Präsident um Waffen bittet, fordern Macron und Draghi hohe Milliardenbeträge zum Erhalt ihrer Sozialillusionen

    Ja. Schräge Welt.

    Als Liberaler lebe ich heute in einem Land, das vergessen hat, was für ein solides Gemeinwesen unabdingbar ist. Die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Person und des Individuums wurde ersetzt durch einen klebrigen Paternalismus, perfektioniert in der Pandemie. Demokratie und Rechtsstaat haben schwere Schäden erlitten, wenn sie nicht offen von der Mehrheit und der Politik verachtet werden. Statt einer Kultur der Verantwortlichkeit herrscht allgemeine Verantwortungslosigkeit vor.

    Große Zustimmung. Den Begriff „Verantwortungslosigkeit“ würde ich durch „Feigheit“ ersetzen; eigentlich wissen alle, woran es hapert, haben aber Angst, bei entsprechenden Entscheidungen ihr Mandat zu verlieren.

    Ich verstehe Deine Stimmung und teile sie, und manchmal bin ich froh über mein Alter, weil mir das in einem gewissen Rahmen erspart, die Konsequenzen dieser Veränderungen mitzuerleben. Aber ich habe Kinder, für die das nicht gilt, und deshalb bin ich meistens nur noch wütend.

    • Stefan Pietsch 22. März 2022, 10:06

      Es geht nicht um Baerbocks Eigenverantwortung, sondern warum sie von der Wählerschaft plötzlich geschätzt wird. Sie wird geschätzt, weil sie die Befindlichkeitslage der Mehrheit trifft, aber nichts entscheiden muss. So ist das Amt des Außenministers nun einmal angelegt: Selbst die jährliche Weltklimakonferenz wird vom AA organisiert. Abschlusspapiere unterzeichnet und vertritt aber der Regierungschef. Selbst der Wirtschafts- und Klimaschutzminister hat das weitreichendere Exekutivbefugnisse: Er verteilt Subventionen, vergibt Kredite, erteilt Verbote und Auflagen. All das kann ein Außenminister nicht.

      Ich habe Merkels Kabinett in toto mehrmals abgekanzelt. Irgendwann wäre das zu einseitig. Und es geht eben nicht um individuelles Versagen und Verhalten. Es geht um die gesamtgesellschaftliche Haltung. Dafür steht Andi Scheuer nun wirklich nicht.

      Mich hat unheimlich die niederträchtige Argumentation geärgert, die Polen und Ungarn seien ja nur Rassisten. Nein, sie unterscheiden nur völkerrechtlich absolut richtig und moralisch einwandfrei zwischen Menschen, die aus einer unmittelbaren Gefahr fliehen und solchen, die für ein besseres Leben in ein Land einwandern wollen.

      Das ist meine echte Befindlichkeitslage. Manchmal mag ich in diesen Wochen und Monaten mein Land nicht.

  • Erwin Gabriel 22. März 2022, 11:03

    @ Stefan Pietsch 22. März 2022, 10:06

    Es geht nicht um Baerbocks Eigenverantwortung, sondern warum sie von der Wählerschaft plötzlich geschätzt wird.

    Und es geht eben nicht um individuelles Versagen und Verhalten. Es geht um die gesamtgesellschaftliche Haltung. Dafür steht Andi Scheuer nun wirklich nicht.

    Ich finde, dass Du Dich entscheiden musst. Wenn Du Dich über die Gesellschaft ärgerst, brauchst Du nicht z.B. Baerbocks Namen ins Spiel bringen. Ärgerst Du Dich über Politiker, rede Dich nicht mit der Gesellschaft raus. Entweder, oder …

    Zu Baerbock: Selbst wenn sie nicht viel selbst entscheiden kann, kann sie doch wirken. Und das tut sie gerade in einer Weise, die unsere Gesellschaft das Kreuz ein wenig strammer durchdrücken lässt.

    Zu Deiner Gesellschaftskritik brauche ich nichts weiter sagen. Da schreiben wir beide hier seit Jahren das Gleiche. Und die Schwächen hier bleiben auch niemandem verborgen, der mit offenen nicht nur durch unser Land läuft, sondern vielleicht mal auch andere Gesellschaften kennengelernt hat.

    Diese Neigung, anderen erzählen zu wollen, wie es richtig geht (Atomkraft-Ausstieg, Energiewende, Flüchtlinge), während man sich standhaft weigert, von anderen zu lernen (nicht nur bei Corona), finde ich schädlich und schon mehr als bedenklich. Wenn man aufhört, von anderen zu lernen, ist man auf dem Weg nach unten.

    Ich habe zwar kein grundsätzliches Problem damit, dass wir uns zu einer Selbstverwirklichungsgesellschaft entwickeln. Aber gerade in diesem Punkt ist die individuelle Erwartungshaltung dahingehend gestiegen, dass jemand anderes dafür verantwortlich ist, dass man sich selbst verwirklichen kann, während man gleichzeitig davon ausgeht, dass wichtige Funktionen innerhalb der Gesellschaft von irgendwelchen anderen erledigt werden, auf die man dann auch noch herunterschaut.

    Mich hat unheimlich die niederträchtige Argumentation geärgert, die Polen und Ungarn seien ja nur Rassisten. Nein, sie unterscheiden nur völkerrechtlich absolut richtig und moralisch einwandfrei zwischen Menschen, die aus einer unmittelbaren Gefahr fliehen und solchen, die für ein besseres Leben in ein Land einwandern wollen.

    Wie an verschiedenen anderen Stelle geschrieben: Ich halte unseren Umgang mit Flüchtlingen (nicht nur seit 2015) für falsch. Will man ein Einwanderungsland sein, kann man nicht den Sozialstaat immer weiter aufblähen. Will man den üppigen Sozialstaat, kann man die Leistungen nicht unbegrenzt auf andere ausweiten.

    Diese Entscheidung wird nicht getroffen, diese Diskussion wird nicht geführt. Nicht, weil eine Entscheidung nicht möglich wäre, sondern weil man sich nicht traut.

    Scheinheiligkeit, wohin man schaut. Und wenn man ein Problem nicht in den Griff kriegt, spendiert man ein paar Milliarden (wem immer, wo immer, wofür auch immer) und hält das Problem für gelöst. Das führt aus meiner Wahrnehmung dazu, dass unsere Gesellschaft nicht nur den Eindruck gewinnt, dass alles eine Frage des Geldes ist, sondern auch zu der Meinung gelangt, dass für alles genügend Geld da ist; wenn nicht, gibt es ja immer noch die ‚Reichen‘. Die Sinnhaftigkeit, die Effizienz oder die langfristigen Folgen von Maßnahmen ist immer außen vor. Wie Schachspieler, die sich weigern, mehr als nur einen Zug vorauszudenken, und wenn sie dann verlieren, eine zweite Dame kaufen wollen.

    Aber was den Rassismus angeht: Die Leute im Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine, die nicht weiß sind und deswegen nicht durchgelassen werden, fliehen genauso vor den Russen wie die Ukrainer selbst. Auch für die muss es eine Lösung geben.

    • Stefan Pietsch 22. März 2022, 11:27

      Es geht um unsere Haltung, die die Politik nur repräsentiert. Um dies aufzuzeigen, benutze ich unser Verhalten zu Politikern. Wie Du an anderer Stelle schreibst: wir sind eine Besserwissergesellschaft. Wir ehren nicht den Entscheider, sondern den, der es besser weiß. Wie gesagt, Merkel war die beste Analytikerin im Amt des Bundeskanzlers. Nur gehört das nicht zu den ersten 5 Punkten der Job Description.

      Ich habe höchsten Respekt vor Politikern wie Robert Habeck. Der Wirtschaftsminister hat sich sicher besseres vorgestellt, als nach wenigen Monaten die blutigen Hände eines Ölscheichs schütteln zu müssen. Er tut das gegen seine inneren Überzeugungen, aber aus schierer Notwendigkeit in einer Notlage. Das gibt mir als Bürger kein Recht zu rufen: Siehste, ohne Öl geht es nicht! Das wusste Habeck auch schon im Dezember, was er nicht wusste, war das ein Despot, den er nicht als nett eingeordnet hatte, alles über den Haufen werfen könnte und ad hoc-Maßnahmen notwendig machen würde. Leute wie Du und ich kennen das aus unserem Berufsalltag. Doch für Beamte und Lehrer ist das eine nicht gekannte Situation.

      Polen hat binnen Tagen 2 Millionen Ukrainer aufgenommen. Und was einigen dazu einfällt, ist, Rassismus zu rufen. Ein Grund übrigens, warum ich den Artikel geschrieben habe.

    • Stefan Sasse 22. März 2022, 15:23

      Diese Neigung, anderen erzählen zu wollen, wie es richtig geht (Atomkraft-Ausstieg, Energiewende, Flüchtlinge), während man sich standhaft weigert, von anderen zu lernen (nicht nur bei Corona), finde ich schädlich und schon mehr als bedenklich.

      Ich finde es bezeichnend, dass in der Auflistung Haushalts- und Europolitik fehlen.

      • Stefan Pietsch 22. März 2022, 16:16

        Wieso bezeichnend? Das passt nicht in die Aufzählung. Deutschland steht bei der Haushalts- und Europolitik keineswegs allein in Europa, sondern ist Anführer der Nordländer in diesen Fragen. Das ist ein Grundsatzkonflikt in der EU. Nicht jedoch die aufgezählten Politikbereiche. Beispiel Atomkraft: Es fanden sich nicht einmal 7 Länder, die mit Deutschland gegen die Taxonomie gestimmt hätten. Corona gibt es kein anderes Land, das diese Vorsichtsstrategie praktiziert.

        Zur Haushaltspolitik folgt in den nächsten Tagen ein Artikel.

        • Stefan Sasse 22. März 2022, 20:23

          Die Österreicher sind was den moralisierenden Pazifismus angeht noch übler als wir, und ich finde sicher auch andere Nationen, die sonstige dumme Dinge machen. Mein Punkt ist, dass man gerne die Sachen sieht, die man selbst auch ablehnt, nationale Alleingänge aber weniger auffallen, wenn man sie gut findet.

          • Stefan Pietsch 22. März 2022, 21:06

            Deutschland gilt in Brüssel als Sonderling. Das kannst Du nicht übersehen. Und das nicht wegen der Finanzpolitik. Bei Nord Stream 2 war man völlig isoliert, die Einstellung zur Energiepolitik wird von keiner Regierung geteilt. Nirgends gibt es so eine Zurückhaltung bei Corona. Das ist keine Einbildung. Das so unterzuschieben, finde ich unseriös.

      • Erwin Gabriel 22. März 2022, 17:15

        @ Stefan Sasse 22. März 2022, 15:23

        Ich finde es bezeichnend, dass in der Auflistung Haushalts- und Europolitik fehlen.

        Schlicht vergessen.

        In Sachen Europa-Politik bin ich eher für ein Europa der Vaterländer als für die vereinigten Staaten von Europa, weil ich das großflächige Versagen und die Entscheidungsarmut sehe, die schon der jetzigen EU zueigen sind. gerade die deutschen Politiker geben zu bereitwillig Kompetenzen nach Europa ab; das gilt auf der einen Seite in der „Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass“-Fraktion als „gut“, andererseits hat man immer die perfekte Ausrede.

        Zur Haushaltspolitik kann ich nur sagen, dass die Anspruchshaltung, nur von den Wünschen her zu denken, nicht zielführend sein kann. Wenn die Steuereinnahmen deutlich stärker als die Inflationsrate steigen, muss man nicht alles über Schulden machen. Und wenn das Geld mal wirklich nicht reicht, liegt es in der Regel nicht an der Summe, sondern an der Effizienz.

        • Stefan Sasse 22. März 2022, 20:29

          Ich bin kein Fan von „Europa der Vaterländer“, mir scheint das immer so eine französische Nebelkerze. Ungefähr wie die britische Haltung, als sie noch in der EU waren. „Gib mir alle Vorteile ohne Nachteile“. In den EU-Institutionen gibt es Schutz für kleinere Staaten und wenigstens formale Gleichberechtigung, im „Europa der Vaterländer“ nicht.

          Kommt auf die Sicht aufs Geld an, siehe MMT-Podcast.

          • Erwin Gabriel 23. März 2022, 12:40

            @ Stefan Sasse 22. März 2022, 20:29

            Ich bin kein Fan von „Europa der Vaterländer“, mir scheint das immer so eine französische Nebelkerze.

            „Gib mir alle Vorteile ohne Nachteile“.

            Die jetzige EU ist nicht Fisch noch Fleisch. Die Entscheidungsträger werden bestimmt und nicht gewählt, das Parlament ist praktisch machtlos, der Apparat absolut überteuert, Entscheidungsfindungen sind intransparent (deutlich intransparenter als in nationalen Strukturen), und hierzulande kann man auf offensichtliches Versagen ein Namensschild kleben (e.g. Andi Scheuer); nicht so in der EU.

            Misstrauisch werde ich auch dann, wenn man versucht, Kompetenzverlagerungen nach Brüssel fast immer als verdeckte Operation durchzuführen, oder Gesetze und Verträge so lange umzuformulieren, bis man alles unter der Decke halten kann.

            Viel zu sehr wird die EU als Ausrede für Nicht-Handeln und Aussitzen hergenommen. Ein „Müssen wir europäisch lösen“ bedeutet in der Regel, dass sich eine Regierung vor eigene Entscheidungen bzw. der eigenen Verantwortung drücken will.

            Ja, ich möchte eher die Vorteile, nicht diese Nachteile dieser EU.

            In den EU-Institutionen gibt es Schutz für kleinere Staaten und wenigstens formale Gleichberechtigung, im „Europa der Vaterländer“ nicht.

            In der EU kann jedes einzelne Land alle anderen nach Lust und Laune blockieren, und lässt sich oft genug die Zustimmung zu bestimmten Projekten und Gesetzen teuer abkaufen. Das kann man als Neusprech-Fachmann natürlich auch „Gleichberechtigung“ nennen. Ich habe dazu eher weniger schmeichelhafte Begriffe im Kopf.

            • Stefan Sasse 23. März 2022, 13:14

              Ich teile einige Kritiken, aber insgesamt ist es mir zu scharf, zu absolut.

              0) Die EU ist nicht Fisch und nicht Fleisch – ja, die EU ist eine Institution sui generis. So etwas gab es bisher noch nie. Sie ist etwas komplett Neues.
              1) Die EU ist nicht maßlos überteuert, das ist ein Klischee, das zigmal widerlegt wurde und dich hartnäckig hält, weil es so schön zu passen scheint. Die EU ist ein Musterbeispiel des „schlanken Staats“, was Personal und Kosten anbelangt. So wenig Beamt*innen und Kosten für so viel Verantwortlichkeiten hast du in keiner anderen Institution. Der Vorwurf ist populistischer Unsinn.
              2) Entscheidungstragende werden bestimmt, ja, aber sie werden von demokratisch gewählten Regierungen bestimmt, das funktioniert auf nationalstaatlicher Ebene nicht großartig anders.
              3) Intransparenz: kein Widerspruch
              4) Auch hierzulande kriegst du das Namensschild nur selten unter. Wer ist denn etwa für den Zustand der Bundeswehr verantwortlich? Oder die grauenhafte Infrastruktur?
              5) Verdeckte Kompetenzverlagerung: sehe ich auch so.
              6) Ausrede: bin ich bei dir.
              7) Ich meine, klar, wer will nicht die Vorteile…?
              8) Blockaderecht und Gleichberechtigung gehen Hand in Hand. Ich kann das eine nicht ohne das andere haben. Wenn ich sage, die kleinen Mitglieder sollen nicht blockieren dürfen, dann sage ich eben auch, dass die großen dominieren dürfen. Mir ist etwas unklar, warum ein Prinzip, das völlig okay ist wenn in den USA damit radikale Minderheitenregierungen an der Macht hängen, in der EU plötzlich böse ist.

              • Erwin Gabriel 23. März 2022, 18:00

                @ Stefan Sasse

                0) Die EU ist nicht Fisch und nicht Fleisch – ja, die EU ist eine Institution sui generis. So etwas gab es bisher noch nie. Sie ist etwas komplett Neues.

                Das ändert doch nichts an der Problematik, die dieser Zustand hervorruft. Sie ist keine Dachorganisation, sie ist kein übergeordnetes Staatengebilde, sondern irgendetwas dazwischen, und damit weitgehend wirkungslos.

                1) Die EU ist nicht maßlos überteuert, das ist ein Klischee, das zigmal widerlegt wurde und dich hartnäckig hält, weil es so schön zu passen scheint. Die EU ist ein Musterbeispiel des „schlanken Staats“, was Personal und Kosten anbelangt. So wenig Beamt*innen und Kosten für so viel Verantwortlichkeiten hast du in keiner anderen Institution.

                Was nützen mir „schlanke“ Strukturen für „hohe Verantwortlichkeit“, wenn so wenig funktioniert? Nicht nur zu Außen- oder Verteidigungspolitik hat man zum Teil gegensätzliche Meinungen, und jeder Konflikt wird über Geld gelöst.

                In Brüssel arbeiten um die 40.000 Leute. Das klingt auf den ersten Blick wenig, aber es wird eben auch viel Arbeit nicht in Brüssel, sondern in den nationalen Stäben der Regierungen geleistet. Und da Gehaltsgefüge mit Zuschüssen für jeden Pups ist exorbitant.

                Der Vorwurf ist populistischer Unsinn.

                Das ist Dein Kommentar nicht minder.

                2) Entscheidungstragende werden bestimmt, ja, aber sie werden von demokratisch gewählten Regierungen bestimmt, das funktioniert auf nationalstaatlicher Ebene nicht großartig anders.

                Was innerhalb meiner Familie funktioniert, funktioniert nicht im ganzen Dorf. Für mich ist es dem Sinn nach (dem ich Wohl, anders als Du, mehr zuneige als nur dem Wortlaut) nicht demokratisch, wenn demokratisch gewählte Politiker kungeln, die dem Willen und den Interessen ihrer Wähler entgegenstehen, und die das durch Lügen, und Tricksen vertuschen.

                Soviel mag ich zugestehen, dass das auch ein Problem auf nationaler Ebene ist.

                4) Auch hierzulande kriegst du das Namensschild nur selten unter. Wer ist denn etwa für den Zustand der Bundeswehr verantwortlich? Oder die grauenhafte Infrastruktur?

                Gerhard Schröder und Angela Merkel

                8) Blockaderecht und Gleichberechtigung gehen Hand in Hand. Ich kann das eine nicht ohne das andere haben. Wenn ich sage, die kleinen Mitglieder sollen nicht blockieren dürfen, dann sage ich eben auch, dass die großen dominieren dürfen.

                Es ist ja nicht so, dass kleine gegen Große stehen, sondern meist Nord gegen Süd oder Ost gegen West. Ist in der Regel keine Frage der Größe, sondern der Weltanschauung zu den jeweiligen Themen (und ja, das macht einen Unterschied).

                Ich habe auch kein Problem mit einem Mitspracherecht und Abstimmungsprozeduren. „Veto“ mag klappen bei drei oder fünf Mitgliedern, aber nicht bei knapp 30. Und wer gegen eine Regelung der Meinungsfreiheit ist, blockiert dann eine andere Regelung für Fischfang?

                Wenn DU das für richtig hältst …

                Mir ist etwas unklar, warum ein Prinzip, das völlig okay ist wenn in den USA damit radikale Minderheitenregierungen an der Macht hängen, in der EU plötzlich böse ist.

                • Stefan Sasse 23. März 2022, 19:00

                  Weitgehend wirkungslos? Die EU? Sicher nicht. Wenn sie wirkungslos wäre, würde sie nicht die Ablehnung hervorrufen, die ihr aus bestimmten Ecken entgegenschlägt. Nein, die EU ist extrem wirkungsvoll. Nur nicht so wirkungsvoll, wie wir uns das manchmal wünschen würden und von nationalstaatlichem Handeln gewohnt sind.

                  1) Da kommen wir nicht zusammen, fürchte ich.

                  2) Ich verwehre mich nur gegen die Idee, die EU sei komplett undemokratisch.

                  4) Das ist mir zu simpel.

                  8) Ich bin kein Freund des Vetos! Ich hätte gerne Mehrheitsentscheidungen in der EU. Ich verstehe nur woher es kommt und welche Folgen es hat, wenn man es kippt. Denn ja, die cleavages, die du nennst, gibt es natürlich auch. Aber halt nicht nur.

                  (Ich hab dir übrigens ne Mail geschrieben falls du die noch nicht gesehen hast)

                  • Erwin Gabriel 23. März 2022, 23:49

                    @ Stefan Sasse 23. März 2022, 19:00

                    Weitgehend wirkungslos? Die EU? Sicher nicht. Wenn sie wirkungslos wäre, würde sie nicht die Ablehnung hervorrufen, die ihr aus bestimmten Ecken entgegen schlägt. Nein, die EU ist extrem wirkungsvoll.

                    Hab mich falsch ausgedrückt.

                    Ja, die EU ist eindrucksvoll wirkungsvoll, wenn es darum geht, Detailvorschriften zu erlassen. Neue, strenge Wärmedämmungskoeffizienten sind kein Problem. Bezahlbarer Wohnraum ist ein Problem, Strukturwandel ist ein Problem. Wenn Du auf die wichtige Ebene kommst, passiert nichts.

                    Einheitliche Außen- oder Sicherheitspolitik? Einheitliche Landwirtschaftspolitik, die über Subventionen hinausgeht? Angleichung der Bedingungen für eine einheitliche Sozialpolitik?
                    Alternativen zur aktuellen Verkehrspolitik? Angleichung der Lohn- und Unternehmenssteuerpolitik?

                    Aber bei Themen wie Größe und Krümmung von Gurken haben die was auf dem Kasten …

                    1) Da kommen wir nicht zusammen, fürchte ich.
                    Ist wohl so

                    2) Ich verwehre mich nur gegen die Idee, die EU sei komplett undemokratisch.
                    Ich verwehre mich nur gegen die Idee, dass die EU komplett demokratisch ist. Sie ist (nur als Provokation) weniger legitimiert als Wladimir Putin.

                    4) Das ist mir zu simpel.
                    Wenn wir unter Helmut Kohl 30 bis 40 einsatzbereite Bataillone hatten und haben jetzt nur eins (anderthalb, nach Deiner Wahrnehmung), und die beiden Folgekanzler waren 25 Jahre an der Regierung, gibt es keine andere Erklärung. War halt beiden halbwegs egal,

                    8) Ich bin kein Freund des Vetos! Ich hätte gerne Mehrheitsentscheidungen in der EU. Ich verstehe nur woher es kommt und welche Folgen es hat, wenn man es kippt.

                    Ich sehe die Folgen, die es hat, wenn man so weitermacht.

                    (Ich hab dir übrigens ne Mail geschrieben falls du die noch nicht gesehen hast)
                    gelesen und geantwortet

                    • Stefan Sasse 24. März 2022, 12:05

                      Ja, das ist völlig korrekt. Die EU erwirbt sich zwar hier ebenfalls ständig weitere Kompetenzen, aber halt im Gletschertempo. Also sie macht außenpolitisch sicher inzwischen mehr als in den 1990er Jahren, und in denen mehr als in den 1970er Jahren, etc., aber da ist viel Luft nach oben, keine Frage. Nur: eine grundsätzliche Änderung auf dem Feld erfordert eine Verfassungsreform, und die ist nicht in den Karten, dafür braucht es eine große Krise.

                      1) Agree to disagree 😉

                      2) Das ist tatsächlich eine Provokation ^^ Wir haben ein frei gewähltes Parlament und wir haben ein indirekt legitimierte Kommission und Rat. Würde ich mir hier mehr Demokratie wünschen? Ja, sicher. Ich denke, zumindest die Kommission demokratisiert sich auch langsam (der Rat leider gar nicht). Aber auch hier: viel Luft nach oben.

                      4) Klar, das fällt in deren Kanzlerschaften (in wessen auch sonst?) aber ich finde es halt nicht so einfach einer Person ein „Versager“-Etikett aufzukleben, wie das bei Andi Scheuer möglich ist. Der Typ ist einfach ein Totalausfall, und Schröder und Merkel halt nicht.

                      8) Da gilt wieder dasselbe für den Verfassungsprozess. Aber wäre schon hilfreich, wenn man sich an Lissabon hielte und das Einstimmigkeitsprinzip da aufgäbe, wo es geht.

                    • Erwin Gabriel 24. März 2022, 22:25

                      @ Stefan Sasse 24. März 2022, 12:05

                      2) Das ist tatsächlich eine Provokation ^^ Wir haben ein frei gewähltes Parlament und wir haben ein indirekt legitimierte Kommission und Rat.

                      Ist wie der Scheiß mit der Subprime-Krise.
                      Aktien für ein Unternehmen kann man einschätzen, einen Dax-Fond auch. Aber wenn ich Hypotheken bündle und ein Paket daraus mache, und andere Hypotheken bündle und ein Paket daraus mache, beide in einen Fon packe und mit anderen Dingen zusammenschnüre, versteht keiner mehr, worum es geht.

                      In Brüssel entscheidet eine zusammengekungelte Politikerkaste, die prozesstechnisch zu weit weg vom Wähler ist, um sich demokratisch legitimiert zu nennen.

                      Versteh mich nicht falsch: Ich sehe zahlreiche Vorteile, die die EU bietet. Aber eine gemeinsame Währung oder Schengen ginge auch mit einer EU der Vaterländer. Und ich bin auch nicht grundsätzlich gegen die vereinigten Staaten von Europa.

                      Aber momentan macht man etwas (meiner Meinung nach Undemokratisches) dazwischen, was die jeweiligen Nachteile der beiden Lösungen eher kombiniert als die Vorteile.

                    • Stefan Sasse 25. März 2022, 07:39

                      Ich glaube, uns vereint die Hoffnung auf eine grundsätzliche Reform und vertiefte Integration unter demokratischen Vorzeichen. Historisch gesehen ist das Problem, dass der demokratische Prozess sich oft als Blockadestein erwiesen hat (Referendum 2005, Kommissionspräsidentschaft 2019, etc.) und deswegen ständig auf exekutive Lösungen und damit Institutionen zurückgegriffen wird. Das ist ähnlich wie auf nationalstaatlicher Ebene die Selbstentmachtung der Parlamente.

      • Thorsten Haupts 22. März 2022, 20:11

        … dass in der Auflistung Haushalts- und Europolitik fehlen.

        Da haben wir anderen erzählt, wie es gehen soll? Helfen Sie mir doch mal auf die Sprünge – soweit ich mich erinnere, hat sich Deutschland nur (und nicht alleine) energisch dagegen gewehrt, für die Schulden anderer in Mithaftung gezogen zu werden. Ohne diese Mithaftung hätte sich Griechenland weiter bis zur Halskrause verschulden dürfen – nur eben zu den Kosten, die das dann so mit sich bringt.

        Gruss,
        Thorsten Haupts

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