Die Logik der Abschreckung

Zwischen 1949 und 1991 war die Welt in eine Szenario der Abschreckung gefangen. „Gegenseitig gesicherte Zerstörung“, „Erstschlag“, „Zweitschlag“ und „Nuklearer Winter“ waren Begriffe, die den meisten Menschen geläufig waren. Immer wieder kochte die Furcht vor einem alles vernichtenden Atomkrieg hoch, besonders in den 1980er Jahren. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist diese Angst weitgehend verflogen. Die zweite Generation, die ohne diese ständige Hintergrundfurcht aufwächst, wird gerade volljährig. Ich sehe mich gerade als Teil der ersten Generation – als die Mauer fiel war ich fünf Jahre alt, als die Sowjetunion zu existieren aufhörte sieben, ich habe keine Erinnerungen an den Kalten Krieg -, aber ich habe mich qua Profession viel mit dem Thema beschäftigt. Genug jedenfalls, um ziemlich entsetzt darüber zu sein, wie viele Leute diese Dinge entweder nie gelernt, oder noch verrückter, wieder vergessen zu haben scheinen. Und Grund genug, sich einmal damit zu beschäftigen, wie Logik der Abschreckung eigentlich funktioniert. Aus aktuellem Anlass, gewissermaßen.

Der Beginn dieser Geschichte ist ein Ende: das des Zweiten Weltkriegs. Bereits 1945 waren die Spannungen zwischen den (nun ehemaligen) Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition klar ersichtlich. Wer nun Schuld am Beginn des Kalten Krieges ist, soll an dieser Stelle nicht erneut prozessiert werden (geneigten Lesenden seien diese zwei Artikel empfohlen). Stattdessen sei die Ausgangssituation skizziert: unter dem Druck der öffentlichen Meinung in ihren jeweiligen Ländern waren die USA und Großbritannien gezwungen, ihre Armeen in gewaltigem Tempo zu demobilisieren. Ohne solchen Druck und einer gehörigen Portion Paranoia hielt Stalin seine eigene Armee auf einem wesentlich größeren Niveau; die konventionelle Überlegenheit der Roten Armee war erdrückend, und spätestens seit 1946 waren die westlichen Regierungen überzeugt, dass die Sowjetunion expansiv war ganz Europa unterwerfen wollte. Diese Wahrnehmung führte zu einem Politikwechsel – Stichworte Marshall-Plan, NATO-Gründung – die Europa gegen die Gefahr wappnen sollten. Doch die USA hatten ein Ass im Ärmel: sie besaßen als einziges Land weltweit Atomwaffen, und über ihre Basen in Europa waren sie in der Lage, diese zu Zielen in der Sowjetununion zu befördern.

Es war für alle Beteiligten offensichtlich, dass die Atomwaffen eine neue Strategie erforderlich machten und dass andere Länder ebenfalls versuchen würden, an diese Waffen zu kommen. Letzteres gelang den Sowjets dank ihres großartigen Geheimdiensts und gut platzierter Spione in einem Drittel der von den westlichen Analytikern geschätzten Zeit (und trug zur paranoiden Panik des Red Scare in den USA bei). Ersteres gelang den USA sehr schnell: bereits 1946 formulierte der RAND-Analysist Bernard Brodie eine Reihe von Annahmen für den Zeitpunkt, an dem auch die Sowjetunion Atomwaffen besitzen würde:

– Die Atomwaffen besaßen ein nie dagewesenes Vernichtungspotenzial und waren nicht zu stoppen.

– Der Versuch, die zu stoppen, würde unternommen werden und zu Weiterentwicklungen der Waffentechnologie führen (was ab 1958 mit Interkontintentalraketen auch geschah).

– Eine Überlegenheit im Atomwaffenarsenal ist nicht sonderlich hilfreich, weil die hohe Zerstörungskraft bedeutet, dass „überschüssige“ Waffen keinen Vorteil verschaffen – das eigene Land liegt in Trümmern, auch wenn noch dreißig B-52 in der Luft sind.

Brodie glaubte nicht, auf irgendein geheimes Super-Rezept gestoßen zu sein. Er ging vielmehr davon aus, dass die Gegenseite zum gleichen Ergebnis kommen würde, ja musste. Dieses Wissen würde eine gewaltige Furcht vor dem Einsatz von Atomwaffen auslösen – und diese Furcht dazu führen, dass sie nicht eingesetzt würden. Entsprechend will ein Land auch Atomwaffen haben, weil diese vor einem Angriff schützen. Diese Drohung „muss nicht zu 100% sicher sein, es reicht, wenn die Wahrscheinlichkeit hinreichend groß ist beziehungsweise ein Glaube besteht, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist. Die Vorhersage ist wichtiger als die Tatsache.“

Diese Annahmen führten zur zentralen Neuerung der Logik der Abschreckung: „Daher ist der erste und wichtigste Schritt jedes amerikanischen Sicherheitsprogramms im Zeitalter der Atombombe, Maßnahmen zu ergreifen, die uns im Falle eines Angriffs einen Gegenschlag garantieren. Der Autor dieser Zeilen befasst sich in diesem Augenblick nicht mit der Frage, wer den nächsten Krieg gewinnen wird, in dem Atombomben eingesetzt werden. Bislang war der Hauptzweck unseres Militärs, Kriege zu gewinnen. Künftig ist es ihr Hauptzweck, sie zu vermeiden. Es kann beinahe keinen anderen nützlichen Auftrag haben.“

Diese Logik setzte sich im US-Militär nicht von Anfang an durch. In den 1940er und 1950er Jahren investierte das Land in massive Bomberflotten, deren Auftrag war, im Falle eines Krieges mit der (weit überlegenden) Konventionalstreitmacht der Sowjetunion deren Städte in Schutt und Asche zu legen. Offiziell ging es natürlich um die Industriegebiete, wie beim Flächenbombardement des Zweiten Weltkriegs auch, aber die Vorstellung von „Präzisionsangriffen mit Flächenwaffen“ (offizieller Duktus der Zeit) war natürlich völlig paradox.

Das alles änderte sich mit dem Sputnik-Schock 1957. Heutzutage ist weitgehend vergessen, worin der Schock eigentlich bestand, den ersten piependen Satelliten in die Weltumlaufbahn zu befördern. Gerne wird es in das Narrativ eines Schwanzvergleichs verpackt, ein bisschen spinnertes Wettrennen ins All, ein Kampf um Prestige. Aber den Zeitgenoss*innen war die Bedeutung völlig klar. Wer einen piependen Satelliten in die Umlaufbahn schicken kann, kann auch eine Atombombe in die Umlaufbahn schicken. Und während ein Bomber zumindest theoretisch aufgehalten werden kann (auch wenn die USA in so viele Bomber investierten, dass dies de facto unmöglich war, um die Abschreckung zu erhalten), ist trotz aller Anstrengungen (Stichwort „Star Wars“) bis heute kein Mittel gefunden, mit dem Interkontinentalraketen aufgehalten werden könnten. Die Zerstörungsdrohung wurde durch Sputnik beinahe gesichert.

Und in diesem „beinahe“ liegt der Schlüssel für die gesamte Logik der Abschreckung. Diese Einschränkung war etwas, das Brodie nicht vorhergesehen hatte und das stattdessen 1958 von Albert Wohlstetter aufgeschrieben wurde. Interkontintentalraketen erreichen ihre Ziele in etwa 30 Minuten. Gelingt es also einer Seite, in einem Erstschlag sämtliche feindlichen Waffensysteme zu erledigen – die Standorte von Raketensilos und Flughäfen sind ja bekannt – würde ein Atomkrieg plötzlich „gewinnbar“ (für diese Logik müssen alle Sekundärfolgen außer Acht gelassen werden, aber das gelang den Militärs). Die „gegenseitig gesicherte Zerstörung“, das so genannte „Gleichgewicht des Schreckens“, war also ein sehr instabiles und prekäres. Die Herstellung dieses Gleichgewichts erforderte die Fähigkeit zum Zweitschlag.

Die Fähigkeit zum Zweitschlag diente dabei explizit nicht dazu, einen Atomkrieg zu gewinnen, sondern dazu, einen Sieg in einem Atomkrieg unmöglich zu machen. Erst dadurch wurden Atomwaffen zum ersten Waffensystem, das die Menschheit je erfunden hat, das dazu dient, niemals eingesetzt zu werden. Um aber Zweitschlagskapazität zu besitzen, muss das Atomwaffenarsenal eines Landes – laut Wohlstetter – sechs Bedingungen erfüllen.

  1. Stabilität
  2. Sicherheit
  3. Kommunikation
  4. Reichweite
  5. Penetrationsfähigkeit
  6. Schaden

Die Folge daraus ist die „nukleare Triade“: Interkontinentalraketen, Atom-U-Boote und strategische Bomber. Diese Triade haben nur die USA und die Sowjetunion (mit Ausnahme Chinas, das behauptet, das Ziel der Triade zu verfolgen, ohne das tatsächlich zu tun, haben alle anderen Atommächte dieses Ziel aufgegeben oder nie verfolgt und vertrauen darauf, dass ihre Abschreckungsfähigkeit auch so hoch genug ist).

Die Triade ist stabil, weil sie in Friedenszeiten keine Gefährdung für die Stabilität des Staates aufweist (anders als eine stehende Armee, die für Putsche verwendet werden kann). Sie ist sicher vor Erstschlägen: die Silos sind getarnt und ihre Standorte geheim, die U-Boote fahren unerkannt durch die Weltmeere und ein Teil der Bomber ist permanent in der Luft (ja, auch heute noch). Die politische Führung kann jederzeit mit den Teilstreitkräften der Triade kommunizieren und so eine Entscheidung zum Zweitschlag mitteilen. Die Waffen haben die Reichweite, um den Gegner zu erreichen, und sie haben die Penetrationsfähigkeit, gegnerische Abwehrsysteme zu überwinden. Und zuletzt richten sie genug Schaden um, um die Bedrohung aufrechtzuerhalten.

Da nicht klar ist, wie viele Bestandteile der Triade im Ernstfall ausgeschaltet werden – Bomber abgeschossen oder am Boden zerstört, Silos ausgeschaltet, U-Boote aufgespürt und versenkt – müssen große Arsenale vorgehalten werden, die den Erstschlag unmöglich machen. Nur: genauso, wie die Unterscheidung zwischen „Offensivwaffen“ und „Defensivwaffen“ eine reine Nebelkerze ist, so ist es die von Erst- und Zweitschlagsfähigkeit: Waffen, die einen Zweitschlag ermöglichen, können auch für einen Erstschlag benutzt werden. Für den jeweiligen Gegner ist das nicht zu unterscheiden. Er muss daher genügend Waffen vorhalten, um einen eigenen Zweitschlag möglich zu halten – was wiederum den Gegner zu größeren Arsenalen drängt. Das ist die Grundlogik hinter der „Rüstungsspirale“ und den absurd großen Atomwaffenarsenalen der Supermächte im Kalten Krieg.

Diese „gegenseitig gesicherte Zerstörung“ führt dazu, dass eine Atomwaffe völlig nutzlos ist, solange der Gegner über sie verfügt, und dieses „beinahe“ ist eben das Problem: wenn ein Gegner keine Atomwaffen besitzt, so ist ein Atomkrieg imminent „gewinnbar“. Die USA könnte jederzeit einen Atomkrieg gegen Ghana gewinnen, weil Ghana keine Atomwaffen besitzt und nicht zurückschlagen kann. Daher ist das Risiko für eine amerikanische Militärintervention in Ghana praktisch null. Aus dieser Logik ergibt sich der dringende Wunsch von Staaten wie Iran oder Nordkorea, über eigene Atomwaffen zu verfügen.

Mit diesen Grundlagen können wir nun zu den feineren Abstufungen der Abschreckungslogik kommen. In dieser Logik spielt die NATO eine gewaltige Rolle. Die NATO ist ein Militärbündnis (damals) Westeuropas mit der USA (und Kanada), das der Verteidigung der Mitgliedsstaaten dient. Artikel 5 des NATO-Vertrags besagt, dass ein Angriff auf ein Mitglied als ein Angriff auf alle Mitglieder gesehen wird, die dem angegriffenen Mitglied dann zu helfen haben. Wie genau diese Hilfe aussieht ist den Mitgliedsstaaten überlassen (ein Beileidstelegramm würde die Beistandspflicht technisch gesehen erfüllen), aber die USA behaupten, dass diese Beistandspflicht sich auch auf den Einsatz nuklearer Waffen erstreckt.

Ich sage hier behaupten, weil völlig unklar ist, ob das in der Realität auch der Fall wäre. Wenn etwa die NVA Westberlin besetzt hätte – hätten die USA dann dieser Verletzung des Bündnisgebiets einen Atomschlag auf Minsk folgen lassen? Hätte die Eroberung Paris‘ durch die Rote Armee einen Start aller Interkontintentalraketen (und damit dem sowjetischen Zweitschlag gegen amerikanische Städte) ausgelöst? Darüber besteht Unsicherheit, und die große Hoffnung wäre, dass uns diese Unsicherheit für alle Zeiten erhalten bleibt. Die USA behaupten, dass sie NATO-Bündnisgebiet wie ihr eigenes Hoheitsgebiet betrachten, und bislang hat noch niemand ausprobiert, ob es wirklich stimmt. Umgekehrt haben die USA niemals ausprobiert, ob sowjetische oder russische Verbündete für die Moskauer Führung eine rote Linie darstellen.

Bereits diese kurze Schilderung zeigt aber das Eskalationspotenzial, das in diesen Fragen steckt. Die USA stationieren nicht einige tausend Soldaten in Südkorea, Japan oder Lettland, weil diese im Fall des Falles einen Angriff Nordkoreas, der chinesischen oder der russischen Armee aufhalten würden, sondern weil sie die Eskalationsspirale in Gang setzen. Es sind so genannte „tripwire troops„, Stolperdrahttruppen. Wird der Stolperdraht durch einen Invasor gerissen (weil er beim Einmarsch auf US-Truppen schießt), so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die USA ihren Bündnispflichten nachkommen, wesentlich höher, als wenn diese Truppen nicht dort sind. Das ist auch der Hintergrund für die Stationierung gemischter NATO- und, neuerdings, EU-Verbände in Osteuropa: es treibt die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation in die Höhe und soll eine solche so, paradoxerweise, gerade verhindern.

Aus diesem Grund legt sich die USA auch nicht auf eine so genannte „no first use policy“ fest, wie sie vor allem von Friedensaktivist*innen immer wieder gefordert wird. Bei „no first use“ erklärt eine Atommacht, niemals als erste Atomwaffen einzusetzen, sondern nur als Zweitschlag bei einem Angriff. Das Problem daran ist, dass diese Atommacht – nach Lage der Dinge betrifft das nur die USA – damit die Garantie für das Bündnisgebiet aufgibt, unter dessen „nuklearem Schirm“ es aktuell steht, und damit eine Eskalation für den jeweiligen Gegner wesentlich gewinnbarer macht. Hätten die USA im Kalten Krieg eine „no first use policy“ verkündet, hätte dies die Sowjetunion unter Umständen ermutigt, aggressiver territoriale Expansion zu verfolgen – und damit das Risiko eines Atomkriegs erhöht. Dass die Sowjetunion solche Interessen hatte, bewies sie mehrfach, etwa 1956 und 1968.

Gerade an diesen Beispielen sehen wir aber auch die andere Seite dieser Medaille: beide Seiten legen größten Wert darauf, dass es zu keiner Situation kommt, in der Soldaten der einen Seite auf Soldaten der anderen Seite schießen könnten. Deswegen kämpfen (wenigstens offiziell) keine sowjetischen Truppen in Korea oder Vietnam, deswegen fanden sich keine amerikanischen Soldaten in Afghanistan. Der gefährlichste Moment des Kalten Krieges, die Kubakrise, war auch einer, in dem genau dieses Szenario blühte: die Falken in der amerikanischen Administration, vor allem Curtis LeMay, forderten Luftschläge auf Kuba, wo mehrere zehntausend Rotarmisten stationiert waren. Dies hätte einen direkten Angriff auf sowjetische Soldaten bedeutet, Soldaten zudem, die einsatzfähige Atomwaffen besaßen. Diese Eskalationsgefahr waren beide Seiten glücklicherweise nicht einzugehen bereit.

Bereits die Angriffe auf konventionelle Truppen setzen diese Logik in Gang, weil die Kommandostellen der konventionellen Truppen gleichzeitig Kommunikationszentren für die nukleare Triade darstellen. Wenn ein Angriff also das Kommandozentrum einer feindlichen Armee ausschaltet – ein wertvolles und legitimes Angriffsziel – schaltet er gleichzeitig das Kommandozentrum eines Teils der Zweitschlagfähigkeit aus und macht damit einen Erstschlag „gewinnbarer“. In dieser Logik liegt der Grund, warum die Atommächte selbst einen Zusammenstoß ihrer konventionellen Streitkräfte um jeden Preis zu vermeiden versuchen.

Und damit kommen wir zu der entscheidenden Logik von Handlungen unterhalb der Schwelle des totalen nuklearen Kriegs. Der französische strategische Denker André Beaufre nannte dies 1965 „indirekte Strategie“. Er beschrieb es als „die Kunst den größtmöglichen Nutzen aus dem begrenzten Gebiet strategischer Handlungsfähigkeit zu ziehen, das durch den Abschreckungseffekt von Atomwaffen bleibt“. Wir müssen uns dieses „Gebiet“ als eine Reihe von Optionen vorstellen, die durch die „Roten Linien“ des jeweiligen Gegners beschränkt werden. Ein Angriff auf Westberlin durch die Rote Armee ist ein klares Überschreiten der Roten Linien. Ein Angriff der Roten Armee auf Afghanistan ist das nicht. Wie sieht es mit einem Angriff der Roten Armee auf Ägypten (die geografischen Beschränkungen einmal kurz beiseite gelassen)?

Diese Unsicherheit ist immanent, weil die „Roten Linien“ immer eine Frage der Wahrnehmung und Einschätzung sind. Werden die USA einen Angriff auf Afghanistan tolerieren? Vermutlich. Gleichzeitig ist die Unterstützung der Mudjaheddin in Afghanistan durch die USA kein Überschreiten der sowjetischen Roten Linien. Diese Handlungen beschreibt Beaufre als „innere Bewegungen“; sie verändern das Betätigungsfeld nicht. Deren Gegenstück, „äußere Bewegungen“, dienen dazu, Rote Linien zu verschieben und somit das eigene Handlungsfeld zu vergrößern oder das Gegners zu verkleinern. Wenn etwa die USA glaubhaft machen, dass sie Südvietnam als engen Verbündeten sehen, so sind die Handlungsspielräume der Sowjetunion geringer. Wenn sie der eigenen Bevölkerung glaubhaft machen können, dass ihre Freiheit am Hindukusch verteidigt wird, können sie größere Operationen durchführen.

Das Androhen von Konsequenzen, Propaganda und ähnliche Aktionen helfen dabei, diese Bewegungen durchzuführen. Natürlich muss die Abschreckung bei all dem glaubhaft bleiben. Wenn die USA mit einem Atomschlag auf Beijing drohen, falls die Chinesen ihre „Belt and Road“-Initiative auf Ghana ausweiten, ist das keine glaubhafte Drohung. Sie wird zu einem Zusammenbrechen des ganzen Systems führen, weswegen es sehr wichtig ist, strategische Entscheidungen zu treffen und präzise zu kommunizieren.

Da ein methodisches Vorgehen dem Gegner zu viel Zeit für Gegenmaßnahmen lässt, ist das erfolgversprechendste Manöver im Zeitalter der Atombombe, vollendete Tatsachen zu schaffen. Es ist wesentlich leichter, für potenzielle oder im Gange befindliche Handlungen Konsequenzen anzudrohen als für solche, die abgeschlossen sind und einen neuen Status Quo geschaffen haben. Dazu verwenden die Mächte gerne eine „Salami-Taktik“, bei der scheibchenweise Ziele erreicht werden, diese aber dafür schnell und mit einer vollendeten Tatsache, einem neuen Status Quo. Als Russland etwa 2014 die Krim annektierte, geschah genau das. Ein schneller Einmarsch, ein „Referendum“, offizielle Annexion, fertig. Es gab für den Westen kaum eine Chance, die eigene Bevölkerung politisch auf ein mögliches Eingreifen vorzubereiten oder eigene Maßnahmen festzulegen. Er wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.

Genau deswegen ist es notwendig, dass Rote Linien glaubhaft gemacht werden. Wenn die Abschreckungswirkung durch Atomwaffen einerseits und die NATO andererseits funktionieren soll, dann müssen potenzielle Gegner der Überzeugung sein, dass ein Angriff auf NATO-Mitglieder grundsätzlich maximale Vergeltung bedeutet. Andernfalls öffnen sich die NATO-Mitglieder für eine solche „Salami-Taktik“. Wenn etwa Russland eine Chance sieht, einen Einmarsch in die überwiegend russischsprachigen Gebiete Estlands durchführen und damit durchkommen zu können, steigt die Eskalationsgefahr. Die NATO muss daher selbst für die kleinste Grenzverletzung maximale Vergeltung androhen, und Russland andererseits peinlich genau darauf bedacht sein, solche Grenzverletzungen zu vermeiden.

All diese Konzepte setzen rationale Akteure voraus – auf allen Ebenen. Die große Gefahr besteht darin, dass sich jemand vertut. Wir haben glücklicherweise bislang nur umgekehrte Beispiele, in denen ein Atomkrieg verhindert wurde, weil jemand gegen die Logik der Abschreckung gehandelt hat. 1962, während der Kubakrise, durchbrach ein sowjetisches U-Boot die Quarantänelinie. Ein US-Zerstörer versuchte, es mit Übungs-Wasserbomben zum Auftauchen zu bewegen. Der U-Boot-Kommandant interpretierte diese Wasserbomben aber als Angriff und wollte, der Doktrin entsprechend, mit einem nuklearen Torpedo reagieren. Glücklicherweise war der Vize-Admiral an Bord, der von der Doktrin abwich und so eine potenzielle Eskalationsspirale verhinderte.

1983 gab es gleich zwei solcher knappen Momente. Ein sowjetisches Alarmsystem meldete den Start von fünf amerikanischen Atomraketen. Der diensthabende Offizier hätte eigentlich seine eigenen Raketen starten müssen – unabdingbar für die nukleare Abschreckung. Er tat das nicht, weil er einen Erstschlag mit fünf Raketen für unwahrscheinlich hielt. Später stellte sich heraus, dass Reflektionen des Sonnenlichts auf Wolken für die Fehlermeldung verantwortlich war – das großartige sowjetische Equipment bei der Arbeit. Im selben Jahr sorgte das NATO-Manöver „Able Archer“, bei dem unter anderem die Kommunikation im Kriegsfall geübt wurde (die, wir vorher gesehen haben, für Zweitschläge essenziell ist, die sich wiederum vom Gegner nicht von Erstschlägen unterscheiden lassen) für Panik bei der sowjetischen Führung, die das als Vorbereitung eines Angriffs sah.

Der Grund dafür liegt darin, dass die sowjetische Doktrin fingierte Übungen als Vorbereitung für einen Angriff vorsieht. Das ist Teil der Salami-Taktik: die eigenen Truppen werden durch fingierte Übungen in Stellung gebracht und der Gegner so in Sicherheit gewiegt, um dann schnell zuschlagen zu können und vollende Tatsachen zu schaffen. Wer sich daran erinnert, dass russische Soldaten im Frühjahr 2022 für eine „Übung“ an der ukrainischen Grenze aufmarschierten, wird verstehen, woher diese Besorgnis kommt.

Die Logik nuklearer Abschreckung führt, abschließend, so zu einer instabilen Stabilität. Konflikte zwischen den Atommächten sind dank der Zerstörungskraft dieser Waffen extrem unwahrscheinlich. Gleichzeitig aber sind Konflikte zwischen den Atommächten und Staaten, die keine Atomwaffen haben, wahrscheinlicher, weil diese keine Gegenabschreckung durchführen können. Egal, wie mies der Krieg Russlands in der Ukraine läuft, die Gefahr eines Angriffs ukrainischer Truppen auf russisches Territorium ist praktisch null. Während Planer im Iran sich durchaus Sorgen um eine potenzielle amerikanische Invasion machen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit einer iranischen Attacke auf einen amerikanischen Trägerverband sehr gering. Attacken innerhalb des Handlungsfelds – „innere Bewegungen“ – sind also für die Atommächte mit sehr geringem Risiko verbunden.

Diese Logiken zu verstehen ist essenziell, wenn man in irgendeiner Weise strategisch denken will statt nur irgendwelche martialischen Phrasen in die Luft zu werfen. Dieser Artikel hat hoffentlich einen Beitrag dazu geleistet.

{ 112 comments… add one }
  • Tim 14. März 2022, 09:31

    Ein sehr empfehlenswertes Buch über Entwicklung & Betrieb des amerikanischen Atomwaffen sowie die langsame Genese der Nukleardoktrin ist „Command & Control“ von Eric Schlosser:
    https://www.amazon.de/Command-Control-Eric-Schlosser/dp/0141037911

    Heute wissen wir alle, was das „Gleichgewicht des Schreckens“ ist, aber in den 50er und 60er Jahren musste sich zentrale Elemente des Denkens in einer Welt voller Atomwaffen erst langsam bilden. Das Buch macht sehr gut deutlich, wie riskant der Kalte Krieg war und wie schnell er heiß werden können hätte: Neben technischen Defekten hätten auch haarsträubende organisatorische Probleme und strategische Fehlschlüsse sehr oft zum Atomkrieg führen können. Es ist ein Wunder, dass dies nicht passierte.

    Ein Beispiel: In den späten 50er waren die USA besessen vom „missile gap“. Die auch damals schon sehr eilfertige CIA hatte der Sowjetunion nonchalant ihre Propaganda geglaubt und ein riesiges sowjetisches Atomwaffenarsenal angenommen (tatsächlich waren die USA weit überlegen). Dies führte zu einer drastischen Steigerung der amerikanischen Raketenproduktion. Bei einer späteren Analyse stelle man dann fest, dass die „missile gap“ eben umgekehrt galt und die Sowjetunion mit ihrem kleinen Arsenal daher eigentlich nur eine einzige Option besaß: möglichst baldiges „all in“ auf Washington. Die USA hatten durch mangelhafte Analyse die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Erstschlags massiv erhöht. Brillant.

    Und so weiter und so fort.

    Übrigens sind die amerikanischen Atomwaffen heute stark unterfinanziert. Die Wahrscheinlichkeit technischer Defekte (etwa ungewollter Raketenstarts) ist wesentlich größer als während des Kalten Krieges. Und leider ist auch die atomare Weltlage viel unübersichtlicher als damals. Atomwaffen gehören definitiv nicht in die Hände von Verbrecherregimes. Die Sowjetunion war geprägt von unfassbarem Misstrauen gegenüber allen und jedem, Missbrauch von Atomwaffen war sehr unwahrscheinlich. Putin und Kim hingegen unterliegen praktisch keiner Kontrolle, Xi wohl zunehmend auch nicht mehr. Und sollte Russland in Folge der Krise zerbrechen, haben wir im schlimmsten Fall eine Reihe von Folgerepubliken mit Atomwaffen. Das wäre der worst case.

    Würde daher sagen, das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes in den nächsten 20 Jahren ist höher als während des Kalten Krieges.

    • Stefan Sasse 14. März 2022, 11:41

      Gute Ergänzungen, danke. Ich widerspreche allerdings beim Missile Gap: den Beteiligten war klar, dass das Schmuh ist. Das wurde aus politischen Gründen hochgejazzt.

      • Tim 14. März 2022, 12:03

        „Hochgejazzt“ durchaus. Man brauchte ja politischen Rückenwind, weil das Raketenprogramm sehr teuer und vor allem dringlich war. „Klar“ war die umgekehrte Missile Gap der amerikanischen Politik aber nicht. Die Sowjetunion war damals kein offenes Buch, wo man einfach mal nachschlagen konnte. Und das sowjetische Regime hat mit großem Aufwand versucht, eine starke Raketentruppe vorzutäuschen.

        Später – Ende 70er/Anfang 80er – war dem Westen dann klar, dass die Sowjetunion am Boden ist und man ihr Ende durch massives Aufrüsten beschleunigen kann. Trotzdem wurde sie im Westen ganz bewusst als militärisch stark, konventiell 3:1 überlegen usw. dargestellt. Hier kann man durchaus von bewusster Fehlinformation sprechen.

        • Thorsten Haupts 14. März 2022, 13:18

          Später – Ende 70er/Anfang 80er – war dem Westen dann klar, dass die Sowjetunion am Boden ist und man ihr Ende durch massives Aufrüsten beschleunigen kann.

          Das war DEM WESTEN klar? Dafür hätte ich gerne ein paar handfeste Belege.

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • Stefan Sasse 14. März 2022, 13:50

            Eher das Gegenteil ist der Fall. Und dieses „Totrüsten als Strategie“-Argument ist historisch auch nicht haltbar. Bin ich völlig bei Thorsten.

          • Tim 14. März 2022, 14:58

            Ende der 70er wusste man, dass die Sowjetunion große Schwierigkeiten in der landwirtschaftlichen Produktion hatte. Anfang der 80er wusste man durch einen Informanten, dass sie auch keine Absichten (mehr) hatte, den Westen als erstes anzugreifen. Vorher hatte der Westen die Sowjetunion für aggressiv gehalten; nun wusste man, dass die sowjetische Führung umgekehrt Angst vor dem Westen hatte – das war eine der wichtigsten Spionageleistungen des Kalten Krieges. Die Schlussfolgerung war, dass die massive Aufrüstungspolitik der 80er Jahre relativ risikolos zu machen sei.

            • Thorsten Haupts 14. März 2022, 15:51

              Die Belege dafür bitte, bis dahin ist das nichts als eine Reihe stolzer Behauptungen.

              • Tim 14. März 2022, 15:57

                Dafür ist eigene Lektüre nötig. Ich empfehle dieses Buch über die Geschichte Oleg Gordijewskis:
                https://www.amazon.de/Spy-Traitor-Greatest-Espionage-Story/dp/0241972132

                • Thorsten Haupts 14. März 2022, 16:57

                  Gut, danke. Sollte ein einzelner sowjetischer KGB-Oberst die einzige Quelle gewesen sein, durch die plötzlich der gesamte Westen (dessen wesentliche Funktionseliten) wissen sollte, dass die UDSSR angeblich „Angst vor dem Westen“ hatte, dann überschätzen Sie oder der Buchautor den Einfluss eines einzelnen Überläufers (und zwar gewaltig). Darüberhinaus muss es das geheimste Wissen der Weltgeschichte gewesen sein – ausser sehr präzise dem politischen Teil der westlichen Funktionseliten hat es damals sonst überhaupt niemand mitbekommen.

                  Ich empfehle aus eigener leidvoller Erfahrung dringend, solche durchaus spannenden Räuberpistolen nicht zum Erzählwert zu nehmen :-).

                  Gruss,
                  Thorsten Haupts

        • Stefan Sasse 14. März 2022, 13:48

          Mein Wissensstand ist, dass bereits in den 1950er Jahren völlig klar war, dass der Missile Gap ein Mythos ist.

          • Tim 14. März 2022, 15:11

            Vielleicht einer Handvoll Leute, aber das war ganz sicher keine Mehrheitsmeinung. Ein paar Jahre zuvor (bevor ICBMs entwickelt wurden) gab es ja exakt dieselbe Debatte bei den Atombombern. Es wäre auch absurd anzunehmen, die USA hätten diese milliardenteuren Programme (Bomber & ICBMs) aufgelegt, ohne an die Lücke zu glauben.

            • Stefan Sasse 14. März 2022, 18:33

              Wie gesagt, den betroffenen Politiker*innen war es klar. Die hatten ja auch den Zugang zu den Infos. Der „missile gap“ war ein innenpolitisches Kampfmittel, nicht mehr, nicht weniger.

    • Thorsten Haupts 14. März 2022, 13:09

      Bei einer späteren Analyse stelle man dann fest, dass die „missile gap“ eben umgekehrt galt und die Sowjetunion mit ihrem kleinen Arsenal daher eigentlich nur eine einzige Option besaß: möglichst baldiges „all in“ auf Washington. Die USA hatten durch mangelhafte Analyse die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Erstschlags massiv erhöht. Brillant.

      Aha. Sorry, fehlender Enthusiasmus: Ja, brilliant. Die Analyse mit der einzigen verbleibenden Option. Wirklich. Genial.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

  • Thorsten Haupts 14. März 2022, 09:34

    Die USA könnte jederzeit einen Atomkrieg gegen Ghana gewinnen, weil Ghana eine Atomwaffen besitzt und nicht zurückschlagen kann. Aus dieser Logik ergibt sich der dringende Wunsch von Staaten wie Iran oder Nordkorea, über eigene Atomwaffen zu verfügen.

    Nein. Der dringende Wunsch ergibt sich aus der hohen Abschreckungswirkung von Nuklearwaffen auch gegen konventionelle Angriffe, nicht aus der prinzipiellen Gewinnbarkeit eines Nuklearkrieges.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Tim 14. März 2022, 09:44

      @ Thorsten Haupts

      Übrigens ist die aktuelle Situation der Ukraine eine große Werbekampagne für Atomwaffen. Jeder Staat im Umfeld großer Mächte wird sehr aufmerksam registriert haben, dass der ukrainische Verzicht auf Atomwaffen ein historischer Fehler war. Auch die chinesische Führung wird daher wohl bald aus Eigennutz einsehen, dass ihre Parteinahme für Putin nicht besonders klug ist. Andererseits waren chinesische Führer noch nie große Strategen. Vielleicht kapieren sie auch hier die Situation nicht wirklich …

      • Thorsten Haupts 14. März 2022, 10:15

        Übrigens ist die aktuelle Situation der Ukraine eine große Werbekampagne für Atomwaffen.

        Yup. Üble Menschen wie ich (also Realisten) haben die ukrainische Abgabe der Nuklearwaffen ohne substantielle (!) Sicherheitsgarantie – irgendwelche unterschriebenen Papiere sind nicht substantiell – schon damals für schlicht idiotisch gehalten. Putin hat diese Idiotie jetzt öffentlich demonstrativ vorgeführt, was vermutlich mindestens einmal pro Generation fürs Lernen unverzichtbar ist …

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Kning4711 14. März 2022, 11:20

          Was wäre denn ein eine substantielle Sicherheitsgarantie gewesen? Das Budapester Abkommen ist sicherlich ein Kind seiner Zeit. Mitte der Neunziger war man offenbar noch der Auffassung, dass Versprechen der Großmächte noch etwas galten.
          Zumal das Abkommen ja auch im größeren Kontext der Helsinki Schlußakte und der UN-Charta eingebettet war. 1994 gab es keinen Grund anzunehmen, dass Russland diese Verträge nicht einhalten würde. Zwischen 1973 und 1994 hatte sich die Sowjetunion / Russland innerhalb Europas an die KSZE Schlussakte gehalten.
          Es war in meinen Augen nicht Idiotie, sondern eben der Wunsch nach fast 40 Jahren kalten Krieges, eine entspanntere Weltordnung zu versuchen.
          Das handeln der Ukraine in den 90er Jahren ist somit für mich nachvollziehbar, auch wenn es sich jetzt rächen sollte.

          Das Problem ist vielmehr, dass mit den zunehmenden Rechtsbrüchen Russlands nicht schon viel früher, eine härtere Haltung gegen Russland durch die EU gefahren wurde. Schon 2006 mit der Ermordung Alexander Litwinenko, zeigte sich, dass die Tauwetterperiode ihrem Ende zuging und spätestens 2008 mit dem Russisch / Georgischen Krieg, hätte man zu einer entschlosseneren Haltung gegenüber Russland finden müssen.

          • Stefan Sasse 14. März 2022, 11:44

            Ich sehe das ähnlich. Im Kontext seiner Zeit war das Abkommen durchaus sinnvoll. Der Kellogg-Briand-Pakt war ja auch sinnvoll, ungeachtet der Hitler-Aggression später.

            • Thorsten Haupts 14. März 2022, 11:52

              Der Kellogg-Briand-Pakt war ja auch sinnvoll …

              Welches Ziel wurde mit ihm erreicht, dass ohne ihn nicht erreicht worden wäre?

              Gruss,
              Thorsten Haupts

              • Stefan Sasse 14. März 2022, 13:47

                Der Pakt gehört als wesentliches Puzzlestück in das Mosaik, das Kriege zwischen Staaten ächtet. Wertebasierte Außenpolitik and all that. Ja, ich weiß dass du daran nicht glaubst.

                • Thorsten Haupts 14. März 2022, 15:48

                  Hat meine Frage nicht beantwortet? Welche Ziele wurden mit dem Pakt erreicht, die ohne ihn nicht erreicht worden wären?

                  • Kning4711 14. März 2022, 16:32

                    Der Kriegsgrund „Eroberung“ wurde in den internationalen Beziehungen diskreditiert. Seit 1945 ist die Zahl der Eroberungskriege faktisch bei 0 – zudem grundierte der Briand Kolleg Vertrag die Arbeit für den internationalen Gerichtshof und schuf den Tatbestand des „Verstoß gegen das Anfgriffskriegsverbot“

                  • Thorsten Haupts 14. März 2022, 17:36

                    Der Kriegsgrund „Eroberung“ wurde in den internationalen Beziehungen diskreditiert.

                    War er bereits vorher, sonst hätte es den Pakt überhaupt nicht gegeben bzw. niemand hätte ihn gezeichnet.

                    Seit 1945 ist die Zahl der Eroberungskriege faktisch bei 0

                    Und eben nicht seit 1928.

                    … schuf den Tatbestand des „Verstoß gegen das Anfgriffskriegsverbot“ …

                    für die Unterzeichner des Paktes bzw. von dessen Nachfolgeregelungen. Ist üblicherweise so, dass ein Vertragsinhalt Vertragsunterzeichner binden sollte. Es sei denn, es handelt sich um ein „Sicherheitsgarantie“.

                    Gruss,
                    Thorsten Haupts

                  • Stefan Sasse 14. März 2022, 18:35

                    Die Idee war eine Ächtung von Angriffskriegen. Das wurde erreicht. Der Pakt gehört in die größere Konstruktion der regelbasierten liberalen Weltordnung.

                    • Thorsten Haupts 14. März 2022, 20:45

                      Die Idee war eine Ächtung von Angriffskriegen. Das wurde erreicht.

                      Yup. Nur nicht dadurch und damit. Der mit Abstand viel wichtigere Treiber war, dass eine im Kern kapitalistische Weltwirtschaftsordnung auf der Basis der Massenproduktion von konsumgütern Eroberungskriege zu einem atavistischen Artefakt bei Imperialnostalgikern machte. Während Eroberungen bis zum Zeitpunkt X (über X kann man streiten, irgendwann nach Beginn der Industrialisierung) eine ökonomische Stärkung beinhalteten bzw. einhellig dafür gehalten wurden.

                      Gruss,
                      Thorsten Haupts

                    • Stefan Sasse 14. März 2022, 23:18

                      Sicherlich auch korrekt, klar. Ich sage ja auch nicht, dass der Vertrag allein das alles bewerkstelligt hätte. Aber dem jede Wirkung abzusprechen ist viel zu extrem.

            • sol1 14. März 2022, 12:59

              Und die Reihe läßt sich ja auch fortsetzen mit der NATO-Rußland-Grundakte von 1997. Alles Abkommen, die auch vorteilhaft für Rußland waren – nur eben nicht im neoimperialen Mindset, für das sich Putin entschieden hat.

          • Thorsten Haupts 14. März 2022, 11:49

            Was wäre denn ein eine substantielle Sicherheitsgarantie gewesen?

            Nichts. Langfristig sind Sicherheitsgarantien immer exakt soviel wert, wie der Wille der Garantiemächte, sie notfalls militärisch durchzusetzen. Gegen jedermann. Und das bedeutet, dass sie in einer gegebenen Situation den Wert von exakt „0“ haben können – genau das muss eine Regierung antizipieren und darf echte Sicherheit (hier Nuklearwaffen) niemals gegen Scheinsicherheit (Papiergarantien) eintauschen.

            Mich überzeugen die Gegenargumente – damals war eben die Wahrnehmung und die Stimmung eine andere – kein Stück. Die Grundlage, dass keine der Signatarmächte der ukrainischen Sicherheits“garantie“ bereit war, diese ggf. militärisch durchzusetzen, war damals nicht anders als heute.

            Gruss,
            Thorsten Haupts

        • Hanno Foest 15. März 2022, 12:23

          So viel waren die Nuklearwaffen in der Ukraine nun auch nicht wert. Die waren da lediglich stationiert, ähnlich wie US-Atomwaffen in Deutschland, die Ukraine hatte keine Verfügungsgewalt darüber, das waren ja sowjetische Waffen mit den Codes in Moskau. Und selbst wenn man argumentiert, daß man in der Ukraine derlei technische Beschränkungen hätte umgehen können, um sie in Eigenregie einzusetzen: Nuklearwaffen haben keine besonders hohe Lagerfähigkeit. Nach wenigen Jahren ist vom Tritium nicht mehr genug übrig, und die für die Sprenglinse benötigten konventionellen Sprengstoffe unterliegen der Radiolyse durch das direkt benachbarte Spaltmaterial. Und da die Ukraine keine eigene Kernwaffenproduktion hat und hatte, wäre die notwendige Wartung in Eigenregie auch nicht möglich gewesen.
          Gruß, Hanno.

    • Stefan Sasse 14. März 2022, 11:42

      Missverständlich ausgedrückt, gerade das ist ja mein Punkt: Es geht darum, dass ein Atomkrieg gerade NICHT gewinnbar ist. Hätte Ghana Atomwaffen, dann würde es von den USA nicht angegriffen werden können.

  • Thorsten Haupts 14. März 2022, 09:36

    Eines der erfolgreichsten Manöver im Zeitalter der Atombombe ist es, vollendete Tatsachen zu schaffen.

    Auxh das ist einfach Unsinn – das war schon immer und völlig ohne Atomwaffen eine der erfolgreichsten Militärstrategien und ist vom Beseitz von Nuklearwaffen vollkommen unabhängig.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 14. März 2022, 11:43

      Dann ist es nicht „einfach Unsinn“, sondern einfach immer wahr. Du darfst dich rhetorisch gerne ein bisschen zurücknehmen. Aber das ist doch hier nicht missverständlich? Es ist erfolgreich IM GEGENSATZ zu methodischerem Vorgehen, das eben KEINE Option ist. Hab es aber umformuliert.

    • Hias 15. März 2022, 00:00

      Jein.
      Ja, es war schon immer eine erfolgsversprechende Militärstrategie. Aber im speziellen Kontext NATO und europäischer Kontinent ist es nochmal deutlich interessanter.
      Beispielsfall: Russland greift die baltischen Staaten an und besetzt innerhalb weniger Tage den Großteil der drei Länder inklusive Teile der jeweiligen Hauptstädte. Ohne Atombomben würde man sich wohl nicht die Frage stellen, ob die NATO einen Gegenangriff macht. Dieser würde zumindest versucht werden, auch um das Bündnisversprechen einzulösen. Die Russen könnten diesen Gegenangriff nicht durch irgendwelche Drohungen verhindern.
      Gleiches Szenario, nun mit Atomwaffen. Die NATO trifft sich, es folgen erste Gegenschläge aus der Luft und von Schiffen, dann droht Russland damit, dass ein Gegenangriff mit NATO-Bodentruppen zu einem begrenzten Nuklearschlag auf z.B. europäische Militärbasen führen wird. Allen ist klar, dass das ein Chicken-Game ist, aber es könnte eben durch Eskalation zu einem großangelegten Nuklearkrieg führen. Und dann werden zumindest die Europäer die Frage stellen, ob man das Baltikum wirklich mit Bodentruppen befreien soll, oder ob der Preis nicht zu hoch ist.
      Ich sehe hier durchaus einen Unterschied zwischen den beiden Szenarien und ob Nuklearwaffen im Spiel sind oder nicht

  • Kirkd 14. März 2022, 11:59

    Ich habe nach Putins Drohungen mir die Destroyer of Worlds Podcast Folge von Don Carlin angehört, die schon lange auf meiner Hörliste war. Daraus habe ich auch den Eindruck einer sehr instabilen Stabilität der nuklearen Abschreckung gewonnen, wie Du es schilderst. Was mir dabei auffiel, war, wie sehr alle Doktrinen zum Einsatz von Nuklearwaffen immer von jeder Menge spieltheoretischer Annahmen abhängen (die Spieltheorie hat ja dadurch soviel Auftrieb bekommen). Erstaunlich viele Annahmen lassen sich auch mit logischen Erklärungen in ihr Gegenteil verkehren.

    Gleichzeitig hängt der Einsatz im Ernstfall an einem Entscheider. Interessanterweise waren sehr unterschiedliche US Präsidenten und Soviet-Entscheider durchaus vorsichtig.

    Das Problem mit den roten Linien ist, dass es in einer multipolaren Welt sehr viele Länder gibt, die ausserhalb eben jener roten Linien liegen.

    • Stefan Sasse 14. März 2022, 13:47

      Zustimmung zu allem was du sagst.

    • cimourdain 15. März 2022, 08:14

      „Gleichzeitig hängt der Einsatz im Ernstfall an einem Entscheider. Interessanterweise waren sehr unterschiedliche US Präsidenten und Soviet-Entscheider durchaus vorsichtig.“
      Deshalb funktioniert Abschreckung noch besser ohne menschlichen Entscheider, sondern mittels Computern.
      https://www.youtube.com/watch?v=2yfXgu37iyI

  • Marc 14. März 2022, 13:00

    Atommächte setzen rote Linien. Das ist ja nur eine Umschreibung für: „Die Welt ist in Einflusszonen aufgeteilt“. Klar, das ist so und das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in der Realität reines Sonntagsgewäsch. Ich hätte es gerne anders, aber die Welt ist nun mal so wie sie ist.

    Auf einen Punkt muss ich noch herumreiten, weil er immer wieder gerne ausgeblendet wird. Das ganze ist kein Kinderspiel, an dem jemand willkürlich rote Linien zieht und Militäreinheiten verschiebt. Es geht immer um handfeste ökonomische Interessen: Der Zugriff auf fossile Energien. In der Ukraine wurde das ja lang und breit dargestellt: Nord Stream 2 und die Gaspipelines durch die Ukraine.
    Ich weiß zu wenig und kenne weder die entscheidenden Player noch deren Motive. Ich weiß nur: Nur unter Berücksichtigung dieser Interessen ist ein Ende des Ukraine-Krieges möglich.

    • Thorsten Haupts 14. März 2022, 13:16

      … Gaspipelines durch die Ukraine.

      Aha. Wie genau hängen der „Zugriff auf fossile Energien“ und die ukrainischen Gas-Pipelines miteinander zusammen? Und mindestens ebenso wichtig – warum sollte wegen „Zugriffs auf fossile Energien“ der Eigentümer derselben (Russland) den Verbraucher und Durchleiter mit Krieg überziehen? Sorry to say – aber so wie präsentiert ist das ganze pures mystisches Geraune.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

  • Detlef Schulze 14. März 2022, 14:00

    Sehr interessant. Ich möchte noch zwei Sachen ergänzen. Zum einen gab es nicht nur auf sowjetischer Seite öfter mal einen falschen Alarm, sondern auch auf US-Seite; zuletzt 2018 auf Hawai. In den Jahren 1979/80 muss es wohl eine ganze Reihe falscher Alarme gegeben haben, die sich buchstäblich erst in letzter Minute als solche herausgestellt haben. Einmal wurde ein Simulationsprogram für eine sowjetische Attacke versehentlich mit dem echten Warnsystem verbunden. Die Sowjets hatten davon erfahren und Breschnew hat sich darüber bei der US-Botschaft beschwert.

    Wie geschrieben wird zielen die meisten der ballistischen Raketen der USA auf die Raketen-Silos in Russland und China. Ein nuklearer Angriff würde dann dazu führen, dass mit allen Raketen zurückgeschossen wird, da sonst die Gefahr besteht, dass das eigene Arsenal unbrauchbar wird. Daher plädieren Sicherheitsforscher dafür eher auf große Städte und urbane Räume zu zielen. Ein versehentlicher Abschuss einer einzelnen Rakete löst dann zumindest nicht zwangsläufig einen globalen nuklearen Winter aus.

    Und noch was:
    Aus diesem Grund legt sich auch keine Atommacht auf eine so genannte „no first use policy“ fest, wie sie vor allem von Friedensaktivist*innen immer wieder gefordert wird.

    Das stimmt so nicht. China und Indien hab eine „no first use policy“. Die Sowjetunion hatte 1982 ebenfalls eine entsprechende Erklaerung abgegeben, die aber von der NATO wohl nie ernst genommen wurde und dann in den 90er von Russland aufgehoben wurde. Ausserdem hat Russland eine „no first use policy“ gegenueber China abgegeben.

  • Detlef Schulze 14. März 2022, 14:29

    Auf einen Punkt muss ich noch herumreiten, weil er immer wieder gerne ausgeblendet wird. […] Es geht immer um handfeste ökonomische Interessen: […]

    Ich denke dieser Punkt wird eher zu häufig überbetont. Es gibt eine ganze Vielzahl anderer Gründe, wie z.B., geostrategische und Sicherheitsinteressen, Ausweitung der Einflussphaeren und der eigenen Ideologie, voelkische Motive oder ganz banale persoenliche oder gar innenpolitische Motive. Der Angriff Russlands auf die Ukraine war eher nicht durch ökonomische Interessen Russlands motiviert.

    • Marc 14. März 2022, 14:56

      Geostrategisch gab es keinen aktuellen Grund. Der EU Beitritt der Ukraine lag seit Jahren auf Eis, konkrete NATO-Beitrittverhandlungen gab es meines Wissens auch nicht. Ich kann natürlich nichts darüber sagen, was hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde und ob der russische Geheimdienst hierzu Erkenntnisse hatte. Diese Möglichkeit besteht.

      Persönliche und ideologische Gründe halt ich für unwahrscheinlich. Dafür ist Putin zu rational. Hätte er etwas persönlich gegen Selenskj, wäre doch ein Giftanschlag die naheliegendere Lösung.

      Putin sieht die Ukraine nicht als unabhängigen Staat. Das ist klar. Dennoch muss es einen Grund für den geplanten und misslungenen Regime-Change in der Ukraine geben. Ich will nicht ausschließen, dass es um einen bevorstehenden NATO Beitritt ging. Wenn das nicht der Auslöser war, kann es meiner Meinung nach nur noch um das Gas gegangen sein.

      • Thorsten Haupts 14. März 2022, 23:15

        Es gab einmal einen japanischen Admiral, der denselben Denkfehler machte, den Sie hier vorführen: Er setzte die Vorbereitung einer bedeutenden Seeschlacht einzig und alleine auf seine Annahmen über den psychologischen Status des damaligen Gegners. Der Admiral hiess Yamamoto und die seeschlacht Midway.

        Ihr gesamtes Argument beruht auf „Persönliche und ideologische Gründe halt ich für unwahrscheinlich. Dafür ist Putin zu rational.“ Und Ihr „rational ist noch einmal zusätzlich beschränkt durch „Rational im modernen westlichen Sinn“. Ich würde und werde niemals Vermutungen über meine Gegner auf dieser Grundlage anstellen.

        Und nur um das festzuhalten – mehr als Geraune haben Sie immer noch nicht anzubieten. Kriegen Sie wenigstens ein konsistentes Argument für „Muh, fossile Energien, amirite?“ zusammen?

        Gruss,
        Thorsten Haupts

        • Marc Schanz 15. März 2022, 12:55

          Kriegen sie es wenigstens hin, mich zu ignorieren. Danke.

          • Thorsten Haupts 15. März 2022, 13:25

            Nein.

    • Stefan Sasse 14. März 2022, 18:32

      Exakt. Ökonomische Interessen sprachen massiv GEGEN den Angriff.

      • Marc 14. März 2022, 19:57

        Die aktuellen Gas- und Ölpreise lassen die Kasse klingeln. Die Sanktionskosten wurden, da mit einem schnellen Enthauptungsschlag geplant wurde, kräftig unterschätzt. Der erwartete Gewinn könnte ausfallen.

        Ein Hinweis auf die ökonomische Zielrichtung des Konflikts war auch die auffällig niedrige Fördermenge im Vorfeld, um den Leidensdruck insbesondere auf Deutschland zu erhöhen.

        Auch diese Meldung interpretiere ich als voraus geplante Strategie:

        https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/russlands-invasion-in-der-ukraine-die-wichtige-schlacht-ums-ukrainische-energienetz-a-bcf1646c-0fe6-444b-b3fd-f741006701d9

        Die Integration der ukrainischen Pipelines in den russischen Staatskonzern halte ich für eine eingeplante Kriegsbeute.

        • Hias 15. März 2022, 00:11

          Naja, das ist eher Militärtaktik.

          Die Frage ist, ob es nicht eher andersrum ist. Ja, die Russen waren nie glücklich, dass sie Durchleitungsgebühren an die Ukraine zahlen mussten. Dafür haben sie viel investiert und nicht nur einen deutschen Kanzler eingekauft sondern auch zwei Ersatz-Pipelines ohne störende Zwischenländern gebaut: Nordstream I+II. Beide zusammen haben ungefähr die gleiche Kapazität wie die Transgas-Pipeline durch die Ukraine (55+55 Mrd. m³/a vs. 120 Mrd. m³/a).
          Russland hat also nicht nur Milliarden in eine Alternative investiert, zusätzlich haben die deutschen Regierungen die Inbetriebnahme beider Pipelines auch gegen alle westlichen Widerstände fast durchgekämpft (und die wäre ohne den Ukrainekrieg auch gekommen).
          Alles in allem, weder aus ökonomischen Gründen, noch aus strategischen Gründen spielen die Gaspipelines in der Ukraine eine große Rolle. Höchstens, dass er warten wollte, bis Nordstream 2 fertig war um Europa auch ohne die Transgas-Pipeline (die ja auch im Krieg zerstört werden könnte) beliefern zu können.

          • Marc 15. März 2022, 09:30

            Es ist eine ungewöhnliche Militärtaktik, zivile Infrastruktur zu übernehmen. Meistens wird sie einfach nur zerstört.

            Russland lag öfters mit der Ukraine im Streit, weil es Differenzen um die Gas-Durchleitungen gab. Wie der aktuelle Stand ist, weiß ich allerdings nicht.

          • Stefan Sasse 15. März 2022, 11:16

            Was wenig Sinn macht. Wenn es um ökonomische Gründe geht, warum nicht die Ukraine erobern und einen vorteilhaften Vertrag für die Pipeline erzwingen? Wäre doch dann viel simpler. Diese Argumentation führt zu wenig.

            • Marc Schanz 15. März 2022, 13:28

              Russland hatte schon die Kontrolle über den wichtigsten Gasspeicher in Deutschland:

              https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/gasspeicher-rheden-gazprom-russland-101.html

              Ich sehe den Krieg als Maßnahme zum Schließen der vertikalen Lieferkette.

              • Hias 15. März 2022, 14:10

                Ich sehe den Krieg als Maßnahme zum Schließen der vertikalen Lieferkette.

                Hab ich vielleicht zu umständlich geschrieben. Mit den beiden Nordstream Pipelines haben die Russen defacto eine Alternative zur ukrainischen Pipeline. Da die Russen entscheiden, wo sie das Gas entlang leiten, könnte ihnen mit Nordstream I+II die ukrainische Pipeline vollkommen egal sein, da sie die dann einfach nicht mehr befüllen.

                • Marc 15. März 2022, 15:27

                  Dieses Erpressungszenario wäre in der Tat bald möglich gewesen. Weshalb Putin nicht darauf gewartet hat und diesen „weichen“ Hebel zur Gefügigmachung der Ukraine nutzte, ist für mich einer der Rätsel. Worin bestand der Druck für den Krieg?
                  Ich glaube aber nicht, dass ihm die Pipelines egal sind, sondern dass er sie so wie die Ukraine als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtet.

          • Hanno Foest 15. März 2022, 14:37

            Nur als Ergänzung: Nordstream 2 wurde zur Hälfte von Westkonzernen finanziert – und die wollen das Geld jetzt vom Staat zurück.
            Gruß, Hanno.

    • Hanno Foest 15. März 2022, 13:06

      Ich hatte ebenfalls mir nicht vorstellen können, daß das Säbelrasseln Russlands tatsächlich in einem Angriff enden würde. Allerdings war das, bevor ich mitbekommen hatte, daß die Ukraine der Krim das Wasser abgedreht hatte, es bei den Kämpfen in den Separatistengebieten inzwischen 13.000 Tote gegeben hat und so 1-2 Mio. aus der Ukraine nach Russland geflüchtet waren. Mag sein, daß das alles keinen Krieg rechtfertigt, aber es mag halt auch sein, daß Russland das anders gesehen hat (ohne Wertung). Daß die Ukraine NATO-Beitritt als Verfassungsziel formuliert hat war wahrscheinlich auch nicht hilfreich. Vielleicht glaubte man in Russland an einen NATO-Beitritt über Nacht und wollte halt vorher Fakten schaffen – das ist eher eine Frage für die spätere Geschichtsschreibung.
      Ökonomische Interessen Russlands als Kriegsgrund kann man aber wohl in der Tat ausschließen.
      Gruß, Hanno.

      • Hias 15. März 2022, 21:08

        Würde mich überraschen, wenn ausgerechnet die Russen humanitäre Beweggründe hätten.
        Es ging auch nie um einen NATO-Beitritt. In Moldawien und Georgien verhindert Russland seit Jahrzehnten erfolgreich einen NATO-Beitritt indem sie dort Separatisten unterstützen und dann Friedenstruppen stationierten. Ähnliches hätte er in Donbas auch machen können.
        Putin hat selbst seine Beweggründe dargelegt, er sieht die Ukraine nicht als eine freie Nation sondern als Teil Russlands. Ich verstehe nicht, warum wir da immer mehr hineininterpretieren:
        http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181

        • Hanno Foest 16. März 2022, 11:05

          Was heißt hier humanitär – Russland sieht die Leute auf der Krim und in den Separatistengebieten als Russen, die „heim ins Reich“ gehören. Im Donbass *wurden* die Separatisten unterstützt, Friedenstruppen wollte die (Rest?)Ukraine nicht:

          https://www.ukrinform.de/rubric-polytics/3136787-stationierung-von-friedenstruppen-der-russischen-foderation-im-donbass-kommt-nicht-in-frage-arestowytsch.html

          Derlei Treiben wie in Moldawien, Georgien, und den Separatistengebieten zeigt IMO gerade, daß es durchaus um den NATO Beitritt geht, wenn auch nicht immer mit den gleichen Mitteln.

          Daß die NATO Osterweiterung für die Russen ein rotes Tuch war, dürfte bekannt sein. Inzwischen ist ja (endlich) auch mal eine klare Quelle aufgetaucht, daß es entsprechende Zusagen des Westens gab:

          https://www.welt.de/politik/ausland/article236986765/Nato-Osterweiterung-Archivfund-bestaetigt-Sicht-der-Russen.html

          und daß „The only thing that can provoke Russia into a hostile and vigorous response is the expansion of NATO to the Baltic states“ sei sagte Biden (!) bereits 1997 (!). Video:

          https://twitter.com/gypsybels/status/1502764078678220800

          Es ist sicher auch kein Zufall, daß sich die Lage zuzuspitzen begann, nachdem die Ukraine NATO Beitritt als Verfassungsziel formulierte, und Streichung des NATO-Beitritts immer ganz oben auf der List der Bedingungen der Russen stand. – Auch wenn der casus belli sicherlich nicht monokausal zu sehen sein mag, haben wir hier offenbar eine starke Motivation, die auf beiden Seiten bekannt war. Diese ignorieren zu wollen wäre abwegig.
          Gruß, Hanno.

          • Hias 18. März 2022, 00:47

            Die Ukraine kann gerne den NATO-Beitritt in die Verfassung schreiben, das ist egal. Wie bei Moldawien und Georgien hätte das Putin einfach dadurch verhindern können, indem er russische „Friedenstruppen“ in den Donbass-Republiken stationiert. Mit einem offenen Territorialkonflikt wird man nicht in die NATO aufgenommen und das auf die Dauer zu verhindern wäre ohne großes Blutvergießen einfach möglich gewesen, dazu hätte er keinen Krieg führen müssen.
            Wer wissen will, warum Putin krieg führt, muss ihm einfach nur zuhören.

            • Hanno Foest 18. März 2022, 01:52

              Das ist auf mehreren Ebenen nicht korrekt.

              1. Die umkämpften Separatistengebiete konstituierten bereits einen offenen Territorialkonflikt. Nach westlicher Lesart (je nach Rhetoriklevel) war das auch schon ein Krieg mit russischer Beteiligung. Daß es russische Unterstützung gab dürfte auch wohl niemand bezweifeln.

              2. Mit Moldawien und Georgien waren russische Friedenstruppen (bzw. GUS Friedenstruppen mit russischer Beteiligung) abgesprochen. Wie ich bereits verlinkte, wollte das die Ukraine nicht, und der Westen drohte mit maximalen Sanktionen bei Grenzübertritt russischer Truppen. Insofern war das keine niederschwelligere Option, bzw. vielleicht dachten sich die Russen „wenns eh die gleichen Sanktionen gibt, können wir auch gleich richtig zulangen“.

              3. Ich weiß, daß man mit einem offenen Territorialkonflikt nicht in die NATO aufgenommen wird – was ich oder andere im Westen wissen oder glauben zu wissen, interessiert aber nicht, wenn es um die Ansichten des Gegners geht. Wenn die Russen meinten, daß man mit irgendeiner Spitzfindigkeit das doch ermöglichen könnte, dann ist das nun mal deren Entscheidungsgrundlage, egal wie sicher wir hier uns des Gegenteils sind. (Aus einer Diskussion andernorts kam die interessante Idee, die Separatistengebiete Russland zuzuschlagen, und im gleichen Moment die Restukraine in die NATO aufzunehmen, da ja mit dieser dann kein Gebietskonflikt mehr besteht. Ich hab zwar keine Idee, ob die Ukraine sich auf diesen Deal eingelassen hätte, und ob das überhaupt diplomatisch zu stemmen gewesen wäre, aber auf rein technischer Ebene fand ich das einen interessanten Ansatz für den NATO-Beitritt.)
              Und unverbindlichen Zusicherungen wird Russland nach der Nummer mit der NATO Osterweiterung sicher auch nicht noch mal glauben.

              Und in der Tat: Einfach mal Putin zuhören ist für das Verständnis hilfreich. Seine Rede

              https://www.spiegel.de/ausland/der-kremlchef-und-seine-drohungen-gegen-den-westen-putins-ukraine-rede-im-wortlaut-a-fab35f1d-3a2e-494c-af44-72798d2aa42c

              besteht im ersten Teil zwar aus Schmähungen der Ukraine, aber der zweite Teil wird doch sehr konkret bezüglich der wahrgenommenen NATO Bedrohung. Diese als Vorwand abtun zu wollen wäre abwegig, zumal die Klagen über die NATO Osterweiterung ja nun wirklich nicht neu sind.
              Gruß, Hanno.

              • Thorsten Haupts 18. März 2022, 15:22

                … aber der zweite Teil wird doch sehr konkret bezüglich der wahrgenommenen NATO Bedrohung. Diese als Vorwand abtun zu wollen wäre abwegig …

                Klares „Ja“, wenn es darum geht, sich in einen Partner/Gegner hineinzudenken (wie nimmt der andere die Welt wahr?). Da hat der Westen einige Fehler gemacht. Und ein kategorisches „Nein“, wenn es darum geht, die vorgebrachten Bedenken als legitim zu akzeptieren.

                Die NATO hat als solche noch nie einen Angriffskrieg geführt und/oder einen souveränen Staat erobert. Das das auch die Russen wissen, beziehen sich die Bedenken gegen eine NATO-Erweiterung immer und automatisch nur darauf, dass ein NATO-Mitglied weitreichend dem eigenen Einfluss entzogen ist (ich kann es nicht mehr militärisch bedrohen und erpressen) – und das KANN ich zwar als Motiv eines Gangsters berücksichtigen, muss es aber unter keinen Umständen für legitim halten oder darauf irgendeine Rücksicht nehmen.

                Gruss,
                Thorsten Haupts

                • Stefan Sasse 18. März 2022, 16:32

                  Exakt.

                • Hanno Foest 18. März 2022, 18:46

                  Bitte den Kosovo-Krieg beachten. Der wird von vielen, wenn auch nicht allen Völkerrechtlern als völkerrechtswidriger Angriffskrieg der NATO bezeichnet

                  https://de.wikipedia.org/wiki/Kosovokrieg#Rechtliche_Beurteilung

                  womit die aufgestellte Behauptung zumindest strittig ist. Und zumindest die Völkerrechtswidrigkeit sehe ich als gegeben an, vgl.

                  https://taz.de/Zehn-Jahre-Kosovokrieg/!5165840/

                  Und seine Begründung war auch reichlich fadenscheinig:

                  https://de.wikipedia.org/wiki/Hufeisenplan

                  Ich will gar nicht bestreiten, daß man den Kosovo-Krieg deutlich besser verargumentieren kann als den Überfall auf die Ukraine, aber es ist offenbar zulässig, ihn als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu bezeichnen, bei dem gegen die Interessen Russlands gehandelt wurde. Insofern ist das schon Präzedenz.

                  Und zum „auf Motive eines Gangsters keine Rücksicht nehmen“ Teil: Das mag ethisch korrekt sein, und man hat das ja auch so gemacht. Der Ergebnis sehen wir gerade in der Ukraine. Vielleicht muß man doch auch auf Motive eines Gangsters Rücksicht nehmen, spätestens wenn der Gangster Nuklearwaffen mit Auslieferungssystemen globaler Reichweite hat.
                  Gruß, Hanno.

                • Thorsten Haupts 19. März 2022, 00:05

                  Kosovo-Krieg: Auch ausweislich Ihrer wiki-Quellen haben viele Völkerrechtler ihn zwar als völkerrechtswidrig betrachtet. Mittnichten aber als Angriffs- und Eroberungskrieg, den die Russen in der Ukraine gerade führen.

                  Vielleicht muß man doch auch auf Motive eines Gangsters Rücksicht nehmen, spätestens wenn der Gangster Nuklearwaffen mit Auslieferungssystemen globaler Reichweite hat.

                  Das Argument frisst sich selbst. Wenn man das muss, dann muss man das immer oder im Regelfall, was nichts anderes heisst als – ein nuklear bewaffneter Angreifer kann jede beliebige Forderung gegen jedermann durchsetzen. Wenn man diese Konmsequenz nicht zieht – implizit tun auch Sie das nicht – streiten wir uns nur noch über die Grenze, ab wann man Forderungen eines nuklear bewaffneten Verbrechers trotzdem bedingungslos zurückweist.

                  Sie würden ihm – das folgt aus Ihren Ausführungen – möglicherweise seine Nachbarstaaten zum Frass vorwerfen, aber bei Deutschland selbst denn vermutlich doch halt machen? Das ist für mich eine ebenso inkonsistente wie ethisch fragwürdige Position. Als Realist bezweifle ich darüberhinaus energisch, dass Sie einen Verbrecher damit ruhigstellen – hat der mit seiner Methode einmal Erfolg, entwickelt er Appetit auf mehr. Dafür gibt es dutzende von historischen Anschauungsbeispielen.

                  Ceterum censeo – ich halte einen nuklear bewaffneten Verbrecher besser vor meinen Bündnisgrenzen auf, weil an bzw. innerhalb meiner
                  Bündnisgrenzen die Gefahr des unmittelbaren Umschlages eines bewaffneten Konfliktes in einen Nuklearkrieg sehr viel höher ist, als ausserhalb. Es ist also neben ethisch zu 100% gerechtfertigt (wann hat man das schon mal) auch noch höchst rational, die Ukraine mit Ausnahme der direkten Kriegsteilnahme mit allem zu unterstützen, was man aufbringen kann. Gerade weil der Angreifer nuklear bewaffnet ist.

                  Ich war übrigens – aber da nur nebenbei – damals lange Zeit gegen ein militärisches Eingreifen. Aus einem Grund. für den man heute keinen Platz mehr in einem seriösen medium bekam: Ich hielt Bismarcks Dictum, der ganze Balkan sei nicht die Knochen eines einzigen preussischen Grenadiers wert, für korrekt.

                  Gruss,
                  Thorsten Haupts

                  • Stefan Sasse 19. März 2022, 11:04

                    Zustimmung zu allem.

                  • Hanno Foest 19. März 2022, 17:38

                    Was genau am Kosovo-Krieg paßt denn nicht zur Definition des Angriffskriegs?

                    https://de.wikipedia.org/wiki/Angriffskrieg

                    Vielleicht hab ich zu flüchtig gelesen, und sicherlich ist die WP auch keine autoritative Quelle, aber die Behauptung, der Kosovo-Krieg wäre kein Angriffskrieg gewesen, widerspricht zumindest dem Augenschein und bedarf daher einer gewissen Begründung. Ein Angriff auf NATO-Staaten = Bündnisfall lag offensichtlich nicht vor, UN-Mandat auch nicht, was bleibt?

                    Umgekehrt ist der Kosovo-Krieg augenscheinlich kein Eroberungskrieg. Allerdings…

                    1. wissen wir abseits von Spekulation noch gar nicht, was Russland jetzt genau mit der Ukraine vor hat.
                    2. erwähnt der zuvor verlinkte taz-Artikel einen „geheimen Zusatz, der die Stationierung von Nato-Streitkräften in ganz Serbien vorsah“ (ich hab das nicht überprüft).
                    3. ist die NATO immer noch im Kosovo präsent.

                    Das ist sicherlich nicht ident mit „Eroberung“, aber wenn man die russische Forderung nach Neutralität der Ukraine ablehnt mit der Begründung, dies entspräche einer Ausweitung des russischen Einflußgebiets, da Russland eine neutrale Ukraine militärisch bedrohen und erpressen kann (so habe ich dir vorigen Ausführungen zumindest verstanden), so liegt im Kosovo sicherlich auch eine Ausweitung des NATO Einflußbereichs vor.

                    NB. Mir sind die quantitativen Unterschiede der Verhältnisse durchaus klar. Ich will mich hier nicht als Putinversteher gerieren, sondern eher als advocatus diaboli, zumal ich finde, daß die dargestellten Argumente nicht *so* schlecht sind, daß man sie einfach ignorieren kann.

                    Ich finde übrigens gar nicht, daß das Argument mit der Rücksichtnahme auf schwerbewaffnete Gangster sich selbst fräße: Das ist einfach Realpolitik

                    https://de.wikipedia.org/wiki/Realpolitik

                    im Gegensatz zu ideologiegeleiteter Politik. Natürlich ist das ethisch fragwürdig, aber irgendwie ist mir eine Realpolitik, die den Frieden erhält, lieber als eine wertegeleitete Politik, die das nicht tut. Der Vorwurf der nicht funktionierenden Appeasement-Politik geht hier ins Leere, da es ja im Vorfeld keine Zugeständnisse an Russland gegeben hätte, die mir aufgefallen wären, und es dennoch zum Krieg gekommen ist. Kompromisse sind ja nicht notwendigerweise Appeasement.

                    Der Gegner/Gangster kann auch nicht beliebig Leute erpressen (hier sind wie wieder beim Titelthema Logik der Abschreckung), sondern nur die ohne Nuklearwaffen, und ohne anderweitige Sicherheitsgarantien. (In diesem Kontext fand ich es befremdlich, daß die USA erst ihre Diplomaten ausgeflogen und dann noch mal bekräftigt hat, daß sie die Ukraine im Falle eines Angriffs nicht verteidigen wolle. Auf mich wirkte das wie eine Einladung, und ich fühlte mich an den groben diplomatischen Schnitzer April Glaspies im Vorfeld des 2. Golfkriegs erinnert.)

                    Zu dem Themenkomplex empfehle ich dringend den Text aus dem Jahre 2014 von John Mearsheimer „Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault – The Liberal Delusions That Provoked Putin“

                    https://www.mearsheimer.com/wp-content/uploads/2019/06/Why-the-Ukraine-Crisis-Is.pdf

                    in dem er genau das Nichtstattfinden von Realpolitik für die Krim-Krise verantwortlich macht. Der gesamte Text mutet hochaktuell an, inklusive der aus heutiger Sicht geradezu prophetischen Warnungen aus den 90er Jahren.

                    Zu guter Letzt: Natürlich hält man einen nuklear bewaffneten Angreifer besser vor seinen Bündnisgrenzen auf. Das ist genau die Position Russlands – die NATO wird als (potentieller) Angreifer gesehen, und die möchte man halt nicht in der Ukraine, und damit direkt an seinen eigenen Landesgrenzen, sehen. In dieser symmetrischen Bedrohungssituation (egal ob real oder lediglich wahrgenommen) wäre eine neutrale Ukraine als Pufferstaat für beide Seiten, zumindest aus geostrategischer Sicht, eine Lösung gewesen – so positioniert sich Mearsheimer im obigen Text.
                    Gruß, Hanno.

                    • Stefan Sasse 19. März 2022, 18:48

                      Der zentrale Unterschied ist halt, dass Serbien der Angreifer war. Wenn du diese Vorgeschichte weglässt, ist das natürlich ein „Angriffskrieg“. Aber dasselbe gilt, wenn du die Geschichte des Zweiten Weltkriegs am 2. September 1939 beginnst.

                    • Hanno Foest 19. März 2022, 22:22

                      Ich antworte hier mal auf mich selber, da ich offenbar nicht auf den Kommentar von Stefan Sasse antworten kann, warum auch immer (maximale Kommentartiefe erreicht? Weitere Diskussion nicht erwünscht?)

                      Jedenfalls würde ich im Kosovo-Krieg nicht so apodiktisch einen schuldigen Angreifer ausmachen wollen, dazu war das Geschehen ein wenig zu komplex:

                      https://de.wikipedia.org/wiki/Kosovokrieg#Innerstaatliche_bewaffnete_Auseinandersetzung ff.

                      Und selbst wenn, war es nicht die NATO bzw. ein NATO-Mitglied, das angegriffen worden wäre. Wenn dann noch gar ein Kissinger (!!) die Ablehnung des Vertrags von Rambouillet wegen der darin vorgesehenen Stationierung von NATO-Truppen als absehbar bezeichnete, und außerdem sagt, daß es danach noch weitere Optionen außer dem NATO Angriff gegeben hätte, dann wirkt die Entschuldigung „Serbien war der Angreifer“ für den NATO Angriff doch reichlich platt.

                      Außerdem gilt mitnichten dasselbe (und nicht mal das gleiche) für den Beginn des 2. Weltkriegs. Es gab die Britisch-französische Garantieerklärung

                      https://de.wikipedia.org/wiki/Britisch-franz%C3%B6sische_Garantieerkl%C3%A4rung

                      bezüglich Polen, womit man Polen als Verbündeten von Frankreich und Großbritannien auffassen kann, und damit greift die im bereits zitierten WP-Artikel benannte Ausnahmeregelung. Ist das nicht offensichtlich?
                      Gruß, Hanno.

                    • Stefan Sasse 20. März 2022, 09:13

                      Es gibt eine maximale Kommentartiefe. Wenn du dann auf den vorhergegangenen Kommentar antwortest, erscheint er direkt unter dem letzten, das tut es üblicherweise als Krücke. Darum komm ich bei Wordpress nicht rum, aber ohne eine Tiefenbegrenzung wird es auch unübersichtlich.

                      Es gibt keinen Zweifel über die völkermörderischen Absichten Serbiens. Punkt.

                    • Thorsten Haupts 19. März 2022, 23:57

                      … irgendwie ist mir eine Realpolitik, die den Frieden erhält, lieber als eine wertegeleitete Politik, die das nicht tut.

                      Nachvollziehbar. Beruht auf einer bisher nicht genannten, aber gedanklich für die Striingenz absolut unverzichtbaren Voraussetzung: Dass Russland auf diesen Angriffskrieg und weitere Unruhestiftung verzichtet hätte, wenn man der Ukraine NATO- wie EU-Beitritt untersagt hätte. Ein rationaler, verhandlungsfähiger Kontrahent war (und ist).

                      Dafür gibt es nur überhaupt keinen Beleg. Dagegen gibt es inzwischen genügend Belege für das Gegenteil.

                      Und wenn man denn die von Russland explizit genannten Sicherheitsbedenken zum Nennwert nimmt, beinhalteten diese
                      – Rückgängigmachung der NATO-Mitgliedschaften aller osteuropäischen Staaten
                      – Rückzug der USA aus ganz Europa, also 0 US-Truppen auf europäischem Boden und keine US-Basen auf europäischem Boden

                      Ich habe ja echt nix gegen Realpolitik. Reagiere allerdings allergisch darauf, mir unter diesem Label einen Haufen von selbst erdachten Illusionen zu verkaufen. Russland hat seine Forderungen explizit gestellt, es existiert keine reale Welt, in der diese Forderungen auch nur verhandelbar wären, case closed.

                      Übrigens, und das nur am Rande und zum Abschluss – Russland hatte sehr wohl die Möglichkeit, seinen Aufmarsch mit einem Ultimatum an die Ukraine abzuschliessen, dass diese bei Annahme gezwungen hätte, auf EU- Und NATO-Mitgliedschaft zu verzichten. Ist nicht passiert, scheint also den Russen vielleicht doch nicht sooo wichtig gewesen zu sein?

                      Gruss,
                      Thorsten Haupts

                    • Hanno Foest 20. März 2022, 00:37

                      Antwort auf Thorsten Haupts, da auch hier eine direkte Antwort technisch nicht möglich zu sein scheint.

                      Die Situation ist die, daß es genug warnende Stimmen gab, daß im Zuge der Osterweiterung der NATO das passieren könne, was jetzt passiert ist: George F. Kennan – A Fateful Error, Biden 1997 (von mir bereits verlinkt), Mearsheimer. Ich halte es für, vorsichtig ausgedrückt, abwegig, einen Kontrahenten für „irrational“ zu erklären, wenn er sich so benimmt wie vorhergesagt – ungeachtet der Schuldfrage.

                      Außerdem würde ich dringend empfehlen, zwischen den seit den 90er Jahren geäußerten Sicherheitsbedenken Russlands gegen die Osterweiterung der NATO, und den Forderungen kurz vor der Eskalation des Konflikts zu unterscheiden. Die russischen Forderungen waren offensichtlich überzogen – aber ist das nicht immer so? Man geht mit Maximalforderungen in Verhandlungen, um Verhandlungsmasse zu haben, von der man sich runterhandeln lassen kann. Wurde irgendein Versuch in der Richtung unternommen? Mir ist lediglich bekannt, daß die USA nicht von einer Beitrittsperspektive der Ukraine zur NATO abrücken wollte, und damit war natürlich auch der Rest egal.

                      Und zum Abschluß – wenn ich nach „Russland Ultimatum“ google, finde ich mehr als eines. Eher in Richtung Westen als Ukraine, aber was da der bessere Adressat ist, sei dahingestellt.
                      Gruß, Hanno.

                    • Stefan Sasse 20. März 2022, 09:18

                      Dieser unsägliche Begriff „Sicherheitsbedenken“! Die haben keine „Sicherheitsbedenken“. Es besteht keinerlei Gefahr eines Angriffs der NATO. Russland hat Machtbedenken, Einflussbedenken. DIE hat es völlig zu Recht. Aber mit „Sicherheit“ hat das nichts zu tun. Es geht um Einflussssphären, nichts anderes.

                    • Hanno Foest 20. März 2022, 14:44

                      Ich zitiere der Einfacheit halber mal Mearsheimer “ And it is the Russians, not the West, who ultimately get to decide what counts as a threat to them.“ – Thorsten Haupts hatte bereits ein paar gute Gedanken zu dem Thema geäußert, warum es ein Fehler ist, anzunehmen, der Gegner müsse die gleiche Wahrnehmung haben wie man selber.
                      Gruß, Hanno.

                    • Stefan Sasse 20. März 2022, 18:36

                      Wir müssen uns das ja nicht zu eigen machen. Und auch nicht alles glauben, was gesagt wird. Die FDP behauptet ja auch, ihr sei ein ausgeglichener Haushalt wichtig.

                    • Hanno Foest 20. März 2022, 15:04

                      Es gibt keinen Beweis für die Existenz des von Fischer und Scharping designierten Kriegsgrunds (Hufeisenplan). Punkt.

                      Selbstverständlich gab es serbischen Völkermord, und nicht lediglich geplanten, sondern realen, nämlich das Massaker von Srebrenica. Das war allerdings schon 1995, und da hat die NATO als solche nicht ein/angegriffen.

                      Die Welt ist nun mal nicht so klar schwarz und weiß, gut und böse, so sehr man sich das auch wünschen mag. Etwas Ambiguitätstoleranz kann da verständnisfördernd wirken.
                      Gruß, Hanno.

                    • Hanno Foest 20. März 2022, 22:01

                      Was die Russen als Bedrohung empfinden, ist ziemlich unabhängig davon, was wir glauben oder uns zu eigen machen. Andere Aspekte der Realität auch. Aber wer’s braucht… so long, ich bin raus.
                      Gruß, Hanno.

  • Hias 14. März 2022, 23:46

    Der mit Abstand viel wichtigere Treiber war, dass eine im Kern kapitalistische Weltwirtschaftsordnung auf der Basis der Massenproduktion von konsumgütern Eroberungskriege zu einem atavistischen Artefakt bei Imperialnostalgikern machte.

    Falls die Aussage sein soll, dass eine tief verflochtene, größtenteils kapitalistische Weltwirtschaft Kriege verhindert, dann ist der 1. Weltkrieg der Gegenbeweis. Die Weltwirtschaft war 1913 in einem Ausmaß miteinander verflochten, dass erst wieder in den 1990er Jahren erreicht wurde. Und dennoch kam es zum 1. Weltkrieg. Und auch die zunehmende Verflechtung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion seit den 1990er Jahren in die Weltwirtschaft hat nicht zu einem weniger an Kriegen geführt, wie z.B. der Krieg um Bergkarabach oder die Republik Arzach vor zwei Jahren erst bewiesen hat.

    • Thorsten Haupts 15. März 2022, 08:50

      Falls die Aussage sein soll, dass eine tief verflochtene, größtenteils kapitalistische Weltwirtschaft Kriege verhindert, dann ist der 1. Weltkrieg der Gegenbeweis.

      Sollte sie nicht. Die Aussage war klar – Land und Leute, die einzige Quelle für nationale Produktion (und Armeestärke) prä Industrialisierung, sind nach derselben um Grössenordnungen unwichtiger geworden. Weshalb klassische Eroberungs(Angriffs)kriege zur Machterweiterung für halbwegs rationale Akteure unattraktiver wurden, weshalb widerum industrialisierte Mittel- und Grossmächte kein Problem damit hatten, sich mit und nach 1928 auf den Briand-Kellogg-Pakt zu einigen.

      Und zum Ersten Weltkrieg kam es – trotz Fritz Fischers steilen Thesen – in erster Linie auch nicht wegen Eroberungsphantasien, sondern im Kern wegen German Angst bezüglich Russland.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

      • Stefan Sasse 15. März 2022, 11:21

        Zu dem Thema hat übrigens Bret Deveraux auch was sehr Interessantes geschrieben: https://acoup.blog/2021/09/03/collections-teaching-paradox-victoria-ii-part-iii-worlds-fair/

        • Thorsten Haupts 15. März 2022, 13:23

          Victoria (I) war das deutlich bessere Spiel, nur leider (wie alle Paradox-Spiele mit dem Thema „Grand Strategy“) am Ende eher eine interessante Sandbox denn ein Strategiespiel. Die fälschlich als KI gelabelten Spielroutinen sind hier wie in EU und HOI (jeweils alle Teile) der Komplexität des Spiels nicht einmal dem Anschein nach gewachsen.

          Sorry, konnte mir das als alter Computerspieler nicht verkneifen :-).

          Gruss,
          Thorsten Haupts

          • Stefan Sasse 15. März 2022, 13:41

            Stimme ich dir zu, mit gefiel Victoria I auch besser.

          • Hias 15. März 2022, 14:14

            Hm, ich finde Victoria II besser, allerdings ohne die Erweiterungen.
            Ja, aber irgendwie scheint bei den meisten komplexeren Strategiespielen die KI nicht mehr wirklich mitzukommen. In CIV VI ist sie ja schon legendär schlecht und in Humankind fand ich sie jetzt auch nicht berauschend.

            • Stefan Sasse 15. März 2022, 14:21

              Ich hab auch irgendwie nicht das Gefühl, dass sich da in den letzten 20 Jahren wesentlich was verbessert hat.

              • Thorsten Haupts 15. März 2022, 15:09

                Stimmt.

                • Stefan Sasse 15. März 2022, 23:42

                  Was eigentlich echt weird ist. Wollen die nicht oder können die nicht?

                  • Thorsten Haupts 16. März 2022, 09:53

                    Können nicht. Mehrere Dutzend Parameter mit Spielinfluss plus hunderte spielbarer Länder. Echtzeitforderung in flüssig obendrauf

                    Man muss sich nuir einmal ansehen, wie lange die Entwicklung einer brauchbaren KI bei einem im Vergleich dazu einfachen Spiel (Schach) gedauert hat und wieviel Geld und Entwicklungsmannjahre da reingeflossen sind. Ich bezweifle, dass wir in den nächsten 10 Jahren jemals ein komplexes Spiel sehen werden, in dem die KI eine Herausforderung darstellt. Wenn man die KI-Enttwicklung zuverlässig an Computer übergeben kann, vielleicht.

                    Seit mindestens 2 Jahrzehnten gleichen eigentlich alle Grand Strategy (4X) Spiele überdimensionierten Sandkästen.

                    Gruss,
                    Thorsten Haupts

                    • Stefan Sasse 16. März 2022, 10:14

                      Ich meinte auch nicht nur auf Paradox bezogen, deren Spiele sind ja nochmal ne andere Hausnummer. Aber die KI von Starcraft2 war nicht besser als die von Starcraft, und die von Company of Heroes 2 ist schlechter als die von KKND, und da liegen, was 15 Jahre dazwischen?

                    • Thorsten Haupts 16. März 2022, 13:24

                      Machen wir uns bitte nichts vor: Dafür gibt es nicht ausreichend kommerziell verwertbares Interesse.

                      Wem PanzerCorps (PanzerGeneral in aufgefrischter Optik) auf der mittleren Schwierigkeitsstufe bereits schwer vorkommt, was soll der mit ner echten KI in einem Spiel? 90% der Spieler sind happy damit, sich gegenüber den Spielroutinen als King fühlen zu können – und ich finde das nicht im mindestens verwerflich, aber es limitiert das Verkaufspotential eines Strategiespieles mit „echter“ KI. Dann wäre die Welteroberung mit dem Erzbistum Mainz schlicht nicht mehr möglich.

                      Gruss,
                      Thorsten Haupts

      • Hias 15. März 2022, 14:07

        Okay, dann hatte ich es falsch verstanden.
        Teilweise Zustimmung, da für die Machterweiterung ja nicht mehr mehr Land und Leute notwendig war. Auf der anderen Seite benötigte die fortschreitende Industrialisierung speziellere Ressourcen (Kohle, Eisen, Öl), die deutlich ungleicher verteilt waren als Ackerland und dementsprechend waren Eroberungskriege oder Kriege um Einfluss sehr wohl noch attraktiv.

        Fritz Fischer hatte seine Meriten, indem er aufzeigte, wie das Kaiserreich hinter den Kulissen wirkte, aber seine These ist tatsächlich größtenteils widerlegt. Und mMn ist der Versuch, einen Akteur zu finden, der Schuld ist, sehr problematisch. Das war ganz ungünstige Melange aus Großmachtstreben, Angst den richtigen Zeitpunkt zu verpassen, Nationalismus und Bündnisverflechtungen.

        • Stefan Sasse 15. März 2022, 14:20

          Ist ja im historischen Geschäft auch normal. Mir würde spontan kein*e Historiker*in aus den 1960er Jahren einfallen, der/die noch uneingeschränkt Gültigkeit besitzt. Schon allein wegen der wesentlich veränderten Quellenlage.

          • Hias 15. März 2022, 21:15

            Hm, uneingeschränkt kann ich nicht sagen, dafür bin ich zu lange raus, aber spontan würde mir Abelshauser und seine Thesen zum Wirtschaftswunder einfallen, aber ich sehe gerade, die sind eher aus den 1970er/ Anfang der 1980er Jahre.
            Aber ja, die Quellenlage insbesondere seit den 1990er hat viel verändert. Nichtsdestotrotz ist oftmals auch der Weg das Ziel, sprich Fritz Fischer hat nun wichtigen Beitrag geleistet.

            • Stefan Sasse 15. März 2022, 23:43

              Abelshauser hat IMHO sein Buch auch mehrfach deutlich überarbeitet, aber ist schon ne Ecke her.

          • Thorsten Haupts 16. März 2022, 17:18

            Freundliche Anmerkung:

            Ich habe bei der Literatur zum „Great War“ nicht den Eindruck, dass sich die Quellenlage wesentlich verbessert hat. Sehr wohl aber (mehrfach) die vorherrschende Interpretation (wobei man da Deutschland nochmal abtrennen muss vom übrigen westlichen Historikerstrang).

            Beispiel: Ich selbst habe ja schon in der Schule „gelernt“, dass Serbiens „weitreichende Konzessionen“ im Anlauf zum ersten Weltkrieg diesen eigentlich völlig überflüssig machte. Was sich in vielen Überblickswerken genau so wiederfindet. Ich brauchte bis zu Clarks auszugsweisem Zitieren der serbischen Antwort, um zu begreifen, dass viele Historiker mich entweder verscheissern wollten oder einfach dumm waren. Da war nicht eine einzige substantielle Konzession im Antwortschreiben der Serben auf das österreichische Ultimatum, sondern der Sermon an cleverem Ausweich-Wording, dass ich aus dem Projektmanagement im Umgang mit Lieferanten und Vertragspartnern hinreichend kenne.

            Gruss,
            Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 15. März 2022, 11:15

      Korrekt. Der Faktor alleine reicht nicht aus.

  • Hias 15. März 2022, 00:29

    Gute und interessante Zusammenfassung.
    zwei Punkte:
    Die USA könnte jederzeit einen Atomkrieg gegen Ghana gewinnen, weil Ghana eine Atomwaffen besitzt und nicht zurückschlagen kann.

    Das muss doch „keine“ heißen, oder hab ich da was verpasst?

    Hätten die USA im Kalten Krieg eine „no first use policy“ verkündet, hätte dies die Sowjetunion unter Umständen ermutigt, aggressiver territoriale Expansion zu verfolgen – und damit das Risiko eines Atomkriegs erhöht. Dass die Sowjetunion solche Interessen hatte, bewies sie mehrfach, etwa 1956 und 1968.

    Hier verwirrst Du mich. Denn erstens hätte ich die Sowjetunion nach Stalin, spätestens aber nach der Kuba-Krise nicht mehr als expansionistisch eingeschätzt. Das war eher, dass man sich bietende Gelegenheiten genutzt hat um kommunistische Guerilla zu unterstützen, aber ansonsten ging es doch vor allem darum, seine Einflusssphäre abzusichern und zweitens waren doch gerade 1956 und 1968 die Paradebeispiele für Absicherung der Einflusssphäre und eben keine Expansion. Selbst den Afghanistankrieg passt eher in die Schublade „Absicherung der Einflussphäre“ als in die Schublade „Expansion“

    Es gibt aber noch einen blinden Fleck und das ist das Chicken Game. Man kann alles mögliche versuchen, rote Linien glaubhaft zu machen, aber der Gegenüber muss sie auch glauben wollen. Da habe ich momentan die größten Bauchschmerzen in Bezug auf Putin. Ich hab das Gefühl, dass er glaubt, dass der Westen eben nicht bereit ist, die Konsequenzen zu ziehen. Ich hoffe, ich liege falsch.

    • Stefan Sasse 15. März 2022, 11:18

      Korrekt, habs korrigiert, danke!

      1968 beweist, dass die UdSSR ihre Einflusssphäre mit Waffengewalt verteidigt – und das lässt den Schluss zu, dass sie diese, die Gelegenheit gegeben, auch erweitern würden. Was sie 1979 in Afghanistan dann ja auch versucht haben.

      • Hias 15. März 2022, 13:51

        Da bin ich anderer Meinung. 1968 beweist, dass die UdSSR ihre Einflusssphäre mit Gewalt verteidigt, soweit d’accord. Aber Afghanistan war nach dem Sturz Daoud Kahns (der scheinbar ohne Wissen der Sowjets lief) klar kommunistisch und deutlich im Machtbereich der Sowjetunion. Erst als man in Moskau (nach mehreren vergeblichen Bitten um Unterstützung) fürchtete, dass die afghanische Regierung sich mit der Bitte um Unterstützung an die NATO wendet, hat man interveniert.
        In meinen Augen waren die späte Sowjetunion eher ein sattes als ein expansives Imperium und hatte mehr damit zu tun, ihr Reich zusammenzuhalten als es zu erweitern.

  • cimourdain 15. März 2022, 09:06

    Kirkd hat einen wichtigen Punkt angesprochen: Die Abschreckungsstrategie beruht auf den Modellen der Spieltheorie, die wie jedes mathematische Modell einige abstrahierende Grundannahmen tätigt:

    a) Spieler haben die nötigen Informationen über den Istzustand des Systems. Diese ist nicht fehlerbehaftet. Was bedeutet : Fehlalarme gibt es nicht.
    b) Entscheidungen (auch zum Nichthandeln) werden auch komplett umgesetzt. Da es aber außerhalb der Regierung im Staat weitere autonom handelnde Akteure gibt (z.B. Terroristengruppen, Geheimdienste, Offiziere ‚going rogue‘), ist auch das utopisch.
    c) Die Anzahl der Spieler ist begrenzt. Die klassischen Untersuchungen von Neumanns und Nashs betreffen Zwei-Spieler-Matrixspiele. Ab drei Akteuren werden Nash-Gleichgewichte zunehmend instabil. Jetzt gibt es inzwischen neben den 3 westlichen Atommächten und UdSSR/Russland auch China, Indien, Israel, Pakistan, Iran, Nordkorea, die alle eigene Strategien verfolgen.
    d) Das Spiel ist per se nichtkooperativ, d.h. getroffene Verträge sind nicht inhärent binden und können nur durch ‚Bestrafungsstrategien‘ durchgesetzt werden.
    e) Entscheidungen werden rational (d.h. zur Optimierung einer Nutzenfunktion) getroffen. Ein psychopathischer oder größenwahnsinniger Spieler kann das Gleichgewicht zerstören.
    f) Spiegelbildlich müsste eine konsequente und damit glaubwürdige Abschreckung im Falle der vorher festgelegten Bedingungen auch wirklich umgesetzt werden. [Rote Linie heisst auch roter Knopf]. Der Spieler darf sich davon nicht durch Humanität oder Selbsterhaltungstrieb ablenken lassen. Lasst uns alle hoffen, dass nie ein solcher Fanatiker an die Macht kommt.

    Noch ein kleines Gedankenspiel dazu: In der Logik atomarer Abschreckung wäre ein effizientes Rezept für Weltfrieden, wenn jeder Staat genau eine Atombombe hätte, die er legal irgendwo auf der Welt versteckt (zum Beispiel in der Hauptstadt des Landes, von dem er sich am meisten bedroht fühlt). Da jeder dadurch bei Bruch des Friedens von einer nuklearen Katastrophe betroffen wäre, würde keiner einen Krieg beginnen.

    • Stefan Sasse 15. März 2022, 11:23

      a) Nein, diese Informationen haben sie nicht und können sie auch nicht haben. Das ist auch nicht vorgesehen.
      b) Hier gilt dasselbe. Das war das, was ich angesprochen habe: die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung muss groß genug sein. Das ist der relevante Teil.
      c) Korrekt.
      d) Es gibt praktisch keine Mittel zur Bestrafung bei Verträgen. Man ist darauf angewiesen, dass die aus Eigeninteresse eingehalten werden.
      e) Korrekt.
      f) Da hatten wir bisher Glück.

  • Hias 18. März 2022, 00:42

    Naja, ein grundlegender Teil der KI ist immer noch das durchrechnen aller möglichen Züge. Und das ist umso schwerer, je mehr Möglichkeiten es gibt. Und selbst vergleichsweise „einfache“ Spiele wie Starcraft2 bieten alleine aufgrund der verschiedenen Terrains soviel Möglichkeiten, dass das mit einem handelsüblichen Laptop nie zu schaffen wäre.

    Zusätzlich habe ich das Gefühl, dass die Spiele auch immer komplexer werden und damit die Weiterentwicklung in Sachen Rechenpower aufheben.
    Wenn ich meine Lieblingsspiele der 90er Jahre (CIV 2 und Imperialism) mit deren Nachfolger bzw. dann mit Spielen vergleiche, später rausgekommen sind, dann sind die meines Erachtens deutlich schwerer und komplexer. Auch innerhalb einer Spielserie wie Anno sieht man deutliche Unterschiede. Aus heutiger Sicht spielt sich Anno 1602 deutlich einfacher als z.B. Anno 1404 oder Anno 1800, ist zumindest mein Eindruck

  • Thorsten Haupts 18. März 2022, 12:07

    … Imperialism …

    Gehört zu den genau drei Strategiespielen, bei denen mich immer gewundert hat, dass es nie einen wirklichen Nachfolger gab (Imperialism II zählt nicht). Die anderen beiden sind Master of Magic und M.A.X.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • Stefan Sasse 18. März 2022, 14:42

      Oh Gott, ich hab so viel Imperialism gespielt! Es war nur so ätzend, dass im Multiplayer die Schlachten nur berechnet werden durften, das Endgame war da nicht mehr beendbar.

      • Thorsten Haupts 20. März 2022, 00:04

        Kam für mich einfach zu spät – ich hatte zu dem Zeitpunkt meine Drogen (MoO, MoM, Civ und PG)AG/FG, Stars! für Multiplayer) bereits intus. Imp war die Kombination von Strategie Light mit Militärtaktik Light – und ich hatte auf beiden Seiten dieser Kombination bereits bessere Alternativen kennengelernt.

        • Stefan Sasse 20. März 2022, 09:16

          Für mich war es das erste solche Spiel, aber, Geständnis: ich hab nie Civilization gespielt.

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